Eine Handvoll Frauen treffen sich nach vielen Jahren wieder. Damals ermöglichte ihnen ein internationales Kunststipendium einen längeren Aufenthalt auf der Mittelmeerinsel Krk in der Villa de Artium. Eine Handvoll Frauen damals vor achtzehn Jahren, voller Verheissungen, Versprechen für die Zukunft.
Sie treffen sich in Zürich wieder, weil Adrienne Rytz-Bonnet, die ehemalige Präsidentin dieser Stiftung, zu einer Réunion einlädt, die erste Runde von damals, weil Adrienne spürt, dass ihre Krankheit sie schwinden lässt, weil es an der Zeit ist, die Kraft für einen letzten Kampf zu bündeln.
Aina, kasachisch-schweizerische Actionskünstlerin, die im Kunsthaus zur Aufseherin geworden ist, wenn auch mit subversiven Zügen. Kirsty, die mit einem sehr persönlichen Forschungsprojekt über ihre schreibende Grossmutter einmal mehr bei einer Preisverleihung abblitzt. Brigitte, die einst alles auf ihre Bratsche setzte und nun den Primaten im Zoo spielt. Cloé, mittlerweile längst dem Alter eines Shootingstars entwachsen und im Permastreit mit ihrem Verleger, der sich schlankere Manuskripte wünscht, Zeug, das sich besser verkauft. Und Yvonne und Nomi. Yvonne, Adriennes Privatmasseurin und Nomi, Adriennes Tochter.
Sie alle sind Versehrte. Irgendwann kam es zu Kapitulation. Einmal mehr, einmal weniger. Sie alle mussten klein beigeben; den Umständen, dem Misserfolg, den Männern, den Erwartungen, dem Kampf. Sie alle haben ihren Preis bezahlt, ihre Narben einkassiert. Schon möglich, dass es Berufsgattungen und Gesellschaftsschichten gibt, in denen sich die Gleichberechtigung dem Ideal gar nicht mehr so weit weg zeigt. Aber wenn es einen Bereich in der Gesellschaft gibt, in dem es noch immer viel zu viele männerdominierte Plattformen gibt, dann in der Kultur. Michèle Minelli zeigt dies in einer Art und Weise, die bei der Lektüre beinahe schmerzt. Michèle Minelli schneidet ohne Narkose. Die eitrigen Geschwüre ergiessen sich über den üppig angerichteten Tisch eines opulenten Bilderschmauses. Die Autorin breitet die Schilderung der verschiedenen Welten, in denen sich die Frauen in den beiden Tagen vor ihrem Treffen in Zürich bewegen und aus denen sie sich schälen, in einem eigentliches Erzählmosaik aus, ein Blitzlicht hier, eine Spot da. Lichter, die sich in die Tiefe bohren, die nicht chronologisch ausleuchten, sondern in verschiedensten Tiefen erzählen, wie das Leben mit ihnen spielt. Dass das zuweilen für mich als Leser verwirrlich ist, für den genauen Leser, ist ein Preis, den man gerne zahlt angesichts der Kraft und wörtlichen Leidenschaft, die der Roman ausstrahlt.
Michèle Minelli hat viel gewagt. Den Roman aber mit den ersten Sätzen schon zu schubladisieren, wird dem nicht gerecht, was der Roman will. Würde man den Roman als „Frauenroman“ titulieren, gäbe man den Männern einen Grund ihn nicht zu lesen. „Kapitulation“ ist ein kämpferischer Gesellschaftroman, der aber nicht aus sicherer Distanz erzählt, sondern mitten aus dem Kampfgebiet von Gleichberechtigung und jahrhundertelanger Immunisierung substanzieller Veränderungen. Mag sein, dass es Stimmen gibt, die mahnen, was Frauen in der Gegenwart im Vergleich zur Vergangenheit alles können, dürfen und tun. Aber die Stimmen vermögen immer weniger zu kaschieren, dass es immer noch ein Kampf ist und bleibt. Ein Kampf, der viele Opfer fordert, Opfer die eine scheinbar moderne und aufgeschlossene Gesellschaft so einfach hinnimmt und akzepiert. Dass dieser Kampf noch lange nicht ausgestanden ist und dass es viele Männer noch immer hinnehmen, dass männliche Privilegien Selbstverständlichkeit bleiben, dass die Welt in der wir leben, in vielem durch ein männliches Okular gesehen wird.
„Kapitulation“ will viel mehr als bloss unterhalten, viel mehr als bloss eine Geschichte erzählen, auch wenn es die Geschichte der Frauen im Europa der Gegenwart ist. Dass Michèle Minelli im letzten Kapitel eine der Frauen in ihrer Verzweiflung über all die Lähmungen und Zurückweisungen das Letzte riskiert und dabei in ihrer letzten Kapitulation wieder nur verlieren kann, ist pessimistische Konsequenz. „Kapitulation“ ist schwere Kost, fordert von mir als Leser alles – ganz sicher mehr als bloss Reflexion. «Kapitulation» ist kämpferisch, durchflutet von starken Bildern und Dialogen. Eine Breitseite literarischer Wucht!
Michèle Minelli, geboren 1968. Schriftstellerin und Filmschaffende. Koordinatorin der Franz-Edelmaier-Residenz für Literatur und Menschenrechte in Meran, Vorstandsmitglied Deutschschweizer PEN-Zentrum. Seit 2000 sechs Sachbücher und sieben Romane mit Übersetzungen ins Französische, Chinesische und Albanische. Die Arbeit an »Kapitulation« wurde mit einem Werkbeitrag der Kulturstiftung des Kantons Thurgau gefördert. Minelli lebt und arbeitet auf dem Iselisberg.
Fabian verliert seinen Job bei einer Lokalzeitung. Und weil ihm der Zufall eine Reise schenkt, macht er sich mehrfach auf; zweimal an den Strand von Sansibar und viel länger als beabsichtigt nach Zagreb, einer Stadt, die ihn aufnimmt und ihm etwas schenkt, was in seinem Städtchen zuhause nicht erreichbar schien. Frédéric Zwickers zweiter Roman „Radost“ berührt!
Fabian gewinnt eher zufällig einen Weihnachtswettbewerb: Einen Flug nach Sansibar und sechs Nächte Unterkunft im Hotel Emerson Spice in Stone Town. Fabian fliegt hin, weil es eine Schande gewesen wäre, das Geschenk in den Wind zu schlagen und weil er Mahmut, seinen Nachhilfeschüler nicht enttäuschen wollte, der für ihn beim Wettbewerb mitgemacht hatte. In Sansibar am Strand lernt er einen aufdringlichen, lauten Landsmann kennen. Einen Schweizer im Massai-Kostüm, mit Kurzschwert an der Hüfte und langem, dünnen Gehstab. Es bleibt nicht die einzige Begegnung zwischen Fabian und Max, dem auf- und abgedrehten Landsmann am Stand. Fabian rettet ihm wahrscheinlich sogar das Leben, denn der «weisse Massai» bleibt nach zwei Messerstichen im Sand liegen. Jahre später, nach einem Konzert von Johan, Maxens Bruder, treffen sich die beiden wieder im „Ochsen“ und Max schlägt ihm vor, nachdem Fabian eine durchaus erfolgreiche Reportage über ihn, den seltsamen Landsmann geschrieben hatte, eine Biographie über ihn zu schreiben. Fabian ahnt, dass er sich in eine wirre Geschichte hineinziehen lassen könnte, lehnt vorerst ab. Aber nachdem seine Stelle in einer Lokalzeitung nach der Fusion mit einer andern Lokalzeitung den „Synergien“ zum Opfer fällt, wird aus dem schnell abgelehnten Angebot ein Rettungsanker. Max stammt aus reichem Haus! Sein Vater war Besitzer einer kleinen aber feinen Privatbank!
Max ist nicht irgend ein Max. Max tritt auch nicht einfach so als weisser Massai am Stand von Sansibar auf. Max ist ein Getriebener, ein von einer Krankheit Gebeutelter: Er leidet unter schizoaffektiven Störungen, macht sich in manischen Phasen zum Narren. Max erklärt: „Es kommt mir vor, als gingen die Menschen in unserer Gesellschaft alle gradeaus, mit ausgestreckten Speeren. Wenn jemand aus dem Trott fällt, stehen bleibt oder die Richtung wechselt, wird er aufgespiesst.“ Das ist seine positive Sicht. Doch Max endet des öftern im Abseits; auf dem Polizeiposten, im Gefängnis oder in der Klinik. Und weil sich Max durch das Suchen und Finden eines anderen Klärung in seinem Leben verspricht, soll Fabian sein Biograph sein, Nachforschungen darüber anstellen, was in jenen Zeiten geschah, als das Leben von Max aufgespiesst wurde.
Fabian bekommt Geld, Kontaktdaten, Adressen und macht sich auf, weil auch sein eigenes Leben aus Tritt und Trott gefallen ist, auf die Spurensuche eines seltsamen Zeit- und Artgenossen. Zurück ins reiche Elternhaus, ins Nobelinternat in St. Gallen, seinen ersten Emanzipationsversuchen. Schlussendlich wird daraus eine Radtour über Kärnten bis nach Zagreb und wieder zurück an den Stand von Sansibar, wo zwei Messerstiche beinahe das Ende bedeutet hätten.
Fabian macht sich auf, weil ihn die Reise lockt, das Abenteuer, die Spur, das Fremde. Diese eine verrückte Radost nach Zagreb, für mehrere Monate weich finanziert in einer Stadt, die er bisher nur mit Trainerhosentypen verband und für ihn wie damals für Max zur Offenbarung wird. Er, dem es bisher nicht leicht fiel, Freundschaften zu schliessen, wird Teil einer ganzen Klicke, lernt Ana kennen, taucht ein in fremde Leben, erfasst immer mehr von Mad Max, macht eine Reise; eine Reise für Max, die dieser nicht zu tun vermag, eine Reise für sich, weg aus seinen starren Banden und eine Reise in die Welt – über Zagreb bis nach Sansibar.
„Radost“ heisst auf kroatisch „Freude“. Und es macht Freude, in Frédéric Zwickers zweiten Roman einzusteigen, um sich eine Reise lang in seinen Windschatten zu begeben. Wie schon in seinem Debüt „Hier können Sie im Kreis gehen“ erzählt Frédéric Zwicker witzig und pointenreich. „Radost“ löst die Rätsel um Max nicht. Max bleibt ein Rätsel, so wie letztlich alle Rätsel bleiben, selbst die nächsten, selbst jene, an die man sich verliert. Frédéric Zwickers Reise ist nicht überfrachtet, bleibt behutsam. Wer erfahren will, erfährt unweigerlich auch vieles über sich selbst. Wer aufbricht, gewinnt immer, wenn auch nicht dort, wo man sich den Gewinn erhofft.
Interview mit Frédéric Zwicker:
Dass es Sansibar und Zagreb sein müssen, scheint alles andere als zufällig. Ich weiss, dass es dich vor allem musikalisch in den vergangenen Jahren immer wieder nach Zagreb gezogen hat. Aber warum Sansibar? Liegt es an der Magie des Namens, der, zumindest für mich, Sehnsucht suggeriert?
Im Jahr 2013 war ich für einen sechsmonatigen Arbeits- und Reiseaufenthalt im östlichen und südlichen Afrika unterwegs. Zwei Wochen verbrachte ich auf Sansibar. Dort hörte ich die Geschichte der falschen Massai, also jener Männer, die keine Massai sind, sich aber als solche verkleiden, um erfolgreicher im Souvenir- und im Sextourismus-Geschäft zu sein. Diese Geschichte ging mir nicht mehr aus dem Kopf und wurde zur Initialzündung für «Radost». Sansibar steht für mich in gewisser Weise stellvertretend für die Erfahrungen, die ich während meiner Afrika-Reise in sechs verschiedenen Ländern machte. Meine Vorstellungen und Vorurteile zerschellten täglich an den Realitäten, denen ich begegnete. Da liegt für mich die Parallele zu Zagreb und zu Ex-Jugoslawien. Auch dort zeigte die intensive Auseinandersetzung mit Menschen und Kultur bald, dass mein Balkan-Bild völlig klischiert und verzerrt gewesen war. Die Magie des Namens, wie du es nennst, spielte aber durchaus auch eine Rolle. Ich wollte sie einem kritischen Blick unterziehen und schauen, was am Ende davon übrigbleibt.
Max beauftragt Fabian, über ihn eine Biographie zu schreiben. Max ist aber weder uralt noch berühmt. Er braucht diesen Text wahrscheinlich nur, weil er sich selbst verstehen will, sein Leben, seine Krankheit, seine Aussetzer, das, was er durch sein Tun auslöste und bewirkte. Und Max hat Geld. Ist dein Schreiben auch der Auftrag an dich, dein eigenes Leben besser zu verstehen? Eine Art Sicht von „aussen“?
Nein. Mir geht es beim Schreiben nicht um mich, auch wenn der Einfluss, den ich mit meinem Denken und Fühlen auf meine Texte habe, natürlich gross ist. Aber umgekehrt ist das auch der Fall. Ich bin für die Arbeit an „Radost“ mit dem Velo von Rapperswil nach Zagreb gefahren, habe dort ein halbes Jahr, auf Sansibar fünf Wochen gelebt und gearbeitet. Das hätte ich nicht getan, wenn ich nicht dieses Buch hätte schreiben wollen. Mein Leben beeinflusst also mein Schreiben, mein Schreiben aber auch mein Leben. Durchs Schreiben lerne ich so durchaus sehr viel über mich. Das ist aber nur da und dort das, was am Ende zwischen den Buchdeckeln steht.
Das „Städtchen“ hier und Zagreb dort. Das eine Rapperswil, das andere eine Metropole. Was hat das eine, was dem andern fehlt?
Zuerst eine Parallele: In beiden Städten gibt es Menschen, die sich für eine vielfältige, kritische Kultur interessieren und einsetzen. Und da wie dort gibt es politischen Widerstand gegen zu viel Lebendigkeit. Aber in Zagreb ist das kulturelle Angebot viel reichhaltiger als hier. Es gibt dort mehr Freiräume, auch wenn sich meine Freunde in Zagreb darüber beklagen, dass diese ständig schrumpfen. Ebenfalls ein Unterschied: In Rapperswil sind fast alle Häuserfassaden makellos. Zagreb bröckelt vielerorts. Könnte es sein, dass die Fassade in der Schweiz generell wichtiger ist als in Ländern, wo die Wirtschaft nicht gar so tonangebend ist?
Ist Max erfunden oder ein Zusammenzug verschiedenster Charakteren? Oder steckt in dieser nur schwer fassbaren Person gar ein Spiegelbild?
Max ist inspiriert von einem Freund von mir. Der war nie in Sansibar und hat Zagreb das erste Mal gesehen, als er mich dort besucht hat. Auch seine Familiengeschichte, wie sie im Buch dargestellt ist, ist frei erfunden. Aber im Kern ist Max› Biographie, die Fabian im Buch recherchiert und aufschreibt, eine wahre Geschichte.
Max passt nicht in die von unserer Gesellschaft vorgegebenen Schemen. Zumindest dann nicht, wenn ihn seine Krankheit packt und Dinge tun und sagen lässt, die sich allen Konventionen entziehen. Dabei tragen doch die meisten Menschen die Lust mit sich, aus Konventionen auszusteigen, sei es auch nur für einen kurzen Moment, alle Hemmungen zu verlieren. Wie sehr rüttelt diese Lust an dir? Ist deine Musik ein Ventil dafür?
Der Ausbruch aus der Norm ist etwas, was mich schon in meiner Kindheit antrieb. In der ersten Klasse sang ich dem Samichlaus vor versammelter Klasse eine Version von „Was isch das für es Liechtli“ vor, bei der der Samichlaus am Ende stirbt. Der Lehrer rief meine Mutter an und klagte, ich hätte etwas wahnsinnig Schlimmes gemacht. Sie dachte an sexuellen Missbrauch oder schwere Körperverletzung und konnte das Lachen knapp unterdrücken, als er ihr erzählte, was passiert war. Solche Geschichten gibt es viele. Und ja, meine Musik und die Auftritte auf der Bühne sind sicher auch von der Lust am Unkonventionellen und auch an der Hemmungslosigkeit geprägt. Allerdings bin ich in den letzten Jahren viel ruhiger geworden. Mein Interesse am Unkonventionellen ist aber unvermindert gross.
Welcher Buchtitel lässt dich warum nicht los? Welcher Song?
Das kann ich eigentlich unmöglich beantworten, weil es von beidem zu viele gibt. Aber wenn ich ein Buch nennen müsste, wäre es wohl «Frederick“ von Leo Lionni. Ich habe das Bilderbuch über die Maus, die keine Nüsse, dafür Farben und Wörter sammelt und Geschichten erzählt, zur Taufe geschenkt gekriegt. Wundersamerweise wurde es mir ein wenig zur Biographie.
Und ich entscheide mich für den Song „Ovaj ples dame biraju“ der wohl berühmtesten jugoslawischen Rockband „Bijelo Dugme“. Das war eines der ersten jugoslawischen Lieder, die ich hörte. Später befasste ich mich intensiv mit der Musik Ex-Jugoslawiens. Es lohnt sich sehr, das Musikvideo zum Song auf Youtube anzuschauen.
Frédéric Zwicker, geb. 1983 in Lausanne, aufgewachsen in Rapperswil-Jona am Zürichsee, wo er heute wieder lebt. Er studierte Germanistik, Geschichte und Philosophie. 2006 gründete er die Band ‹Knuts Koffer›. Seit 2008 ist er Kolumnist bei der ‹Linthzeitung› und der ‹Südostschweiz Glarus›. Er arbeitete u.a. als Werbetexter, Journalist, Reisejournalist in Ostafrika, Musiklehrer, Slam-Poet, Pointenschreiber für die Satiresendung Giacobbo/Müller, Drehbuchautor. Sein Romandebüt «Hier können Sie im Kreis gehen» erschien 2016 bei Nagel & Kimche.
Zora del Buono schreibt über Zora Del Buono, ihre Grossmutter. „Die Marschallin“ ist die Geschichte einer Frau, die die Geschicke einer ganzen Sippe durch ein wirres Jahrhundert zu führen versuchte, herrisch und temperamentvoll, in einer Zeit, in der es nicht üblich war, dass sich starke Frauen über Konventionen hinwegsetzten.
Sie schrieb sich das Del in ihrem Namen gross, um sich von einer adeligen Herkunft zu distanzieren. Nicht weil Zora Del Buono eine Frau des Volkes sein wollte, aber weil sie als überzeugte Kommunistin und Verehrerin Marschall Titos an ein Leben glaubte, das sich neu gestaltet, an eine Ordnung, die sich allen feudalen Gesellschaftsformen entgegenstellt. So wie Josip Broz Tito sich selbst ins Zentrum eines ganzen Landes stellte, so unumstösslich sah Zora Del Buono ihre Stellung innerhalb ihrer Sippe. Sie sah sich als Sonne im System. Die Planeten sollten sich um sie drehen, um dann gegen Ende des Lebens festzustellen, dass sich das System doch nicht um sie allein drehen wollte, dass es Kräfte in Politik, Gesellschaft und der Familie selbst gab, die sich ihrem Diktat verweigerten. Ganz am Schluss des Romans sitzt die greise gewordenen Zora in einem Altersheim im slowenischen Nova Gorica, an der italienischen Grenze. Von ihrer einstmals grossen Familie ist wenig übrig geblieben; ihr dement gewordener Ehemann Pietro Del Buono in Bari, ganz im Süden Italiens, ist weit weg, zwei ihrer drei Söhne tot, die Welt, auf die sie setzte weggebrochen und untergegangen. Ihr Blick zurück ist ein bitterer geworden, ihr Leben ein einsames, der Stern leuchtet kaum noch.
Zora del Buono, die Enkelin, zeichnet das Panorama eines Jahrhunderts. Einer Frau, die die Weltkriege miterlebte, die im faschistischen Italien mit einer grossbürgerlichen Vergangenheit und Gegenwart an die Ideen des Kommunismus glaubte, die Aufstieg und Niedergang des Duce erlebte, von Benito Mussolini, der ganz offen mit Hitler fraternisierte und Italien zu einem Trümmerfeld machte, die als gebürtige Slowenin mitansehen musste, wie ihre Landsleute in Lager gepfercht wurden und es nur einen einzigen Weg in die Freiheit zu geben schien; den an der Seite Titos, der Jugoslawien zu einem Musterstaat machen wollte, blockunabhängig.
„Die Marschallin“ ist auch der Roman einer Familie, die in den Wirren der Geschichte zerrieben wird, an den fixen Vorstellungen eine Patriarchin. Von einer Familie, die von sich ein Bild erzeugen will, die durch ein Jahrhundert wankt, nicht nur weil die Geschichte verrückt spielt, sondern das Schicksal mit aller Härte genau dort sein Opfer sucht, wo es am meisten schmerzt. Zora Del Buonos Ehe mit dem Radiologen Pietro Del Buono, den sie gegen Ende des ersten Weltkriegs kennenlernt, dem sie nach Bari folgt und zusammen eine Klinik eröffnet, mit dem sie sich den Kommunisten anschliesst, sich ganz nah an den Führungskräften jener Bewegung orientiert und aktiv am Widerstand gegen den grassierenden Faschismus teilnimmt, ist keine leichte. Zora lässt sich weder ein- noch unterordnen. Sie bleibt eigenwillig, so sehr, dass sie einmal sogar die Koffer packt, voll mit Medikamenten aus den Arzneischränken ihres Ehemannes, um den Partisanen in ihrer Heimat in Slowenien zu helfen. So sehr, dass die Jahrzehnte später zusammen mit ihrem Mann aus der kommunistischen Partei ausgeschlossen wird, weil sie zu einem verbrecherischen Puzzleteil einer Geldbeschaffungsaktion wird.
Das Leben nimmt nicht jenen Verlauf, den Zora ihrem Leben aufdrücken will. Nicht das politische Leben, nicht das gesellschaftliche, nicht einmal das Leben in der Familie. Bis hin zu ihren Enkelkindern. Zora, die Schriftstellerin, erzählt von von ihrer Grossmutter Zora Del Buono, eine Geschichte, in der eine ganze Familie in der Hitze von Gewalt, Krieg und Intrige zu verdampfen droht.
Man spürt als Leser das Feuer in diesem Roman, die Hitze der Leidenschaft; jene der alten Zora in ihrem Tun, jene der jungen Zora in ihrem Erzählen!
Zora del Buono, geboren 1962 in Zürich, lebt in Berlin und Zürich. Studium der Architektur an der ETH Zürich, fünf Jahre Bauleiterin im Nachwende-Berlin. Gründungsmitglied und Kulturredakteurin der Zeitschrift «mare». In der Reihe «Naturkunden» bei Matthes & Seitz veröffentlichte sie den Band «Das Leben der Mächtigen. Reisen zu alten Bäumen».
Wer die Romane von Usama Al Shahmani liest, begegnet einem Mann, der in zwei Kulturen lebt. Einem deutsch schreibenden Iraker, dessen Herzund Erzählkunst ganz in der Tradition seines Landes pulst. Einem Thurgauer, der sein neues Zuhause wie nur wenige andere schreibend, wandernd, spazierend begeht und dabei eine Offenheit ausstrahlt, die mehr als nur ansteckt.
Nach seinem ersten Roman „In der Fremde sprechen die Bäume arabisch“, mit dem er sich in die Herzen seiner Leserinnen und Leser nistete und dort ganz eng an seiner eigenen Biographie die Geschichte eines Ankommenden schildert, beschreibt sein neuer Roman „Im Fallen lernt die Feder fliegen“ beide Bewegungen; jene der Flucht und jene der Rückkehr. Zwei Richtungen, die sich aber sehr oft nicht klar zuweisen lassen, denn mit einem Mal kann aus der Rückkehr Flucht werden, so wie die Flucht immer auch die Möglichkeit der Rückkehr in sich trägt.
Eine junge Familie flieht aus dem von Saddam Hussein regierten Irak über den Iran bis in die Schweiz. In einem Land, in der Schweiz, wo die Eltern nie wirklich ankommen, wachsen die beiden Töchter Aida und ihre ältere Schwester Nosche auf. Sie gehen zur Schule, bereiten sich vor auf ein Leben in Ausbildung und Beruf, eingebettet in Freundschaften und Beziehungen. Aber dem Vater der beiden Schwestern, ein konservativer Theologe und seiner in Traditionen eingebundenen Ehefrau will es nicht gelingen, sich in das Gefüge ihres Zufluchtsortes einzuleben. Eine Sprache, die sich quer stellt, keine Familie mehr, die einem trägt und eine Gesellschaft, deren Rituale nur schwer oder gar nicht zu verstehen sind.
Während Aida in der Schule ist und die ältere Tochter schon in der Ausbildung aber noch nicht volljährig, beschliesst der Vater, in den Irak zurückzukehren. Aber was eine Rückkehr werden sollte, wird zur grossen Ernüchterung. Zum einen für die Eltern, die in ein Land, in ein Dorf, in ein Haus zurückkehren, wo nichts mehr ist wie es einmal war, man nicht versteht, warum man aus dem paradiesischen Westen zurückkehrt in ein Land, das vom Hass zwischen Sunniten und Schiiten zerfressen wird. Aber noch viel mehr für Aida und Nosche, für die es dort keine Zukunft zu geben scheint, ausser jener einer gefügigen Ehefrau.
Aida und Nosche beschliessen, mit Hilfe aus der Schweiz erneut aus dem Irak zu fliehen. Zurück nach Frauenfeld. Dorthin, wo sich vor ihrer Flucht ihr Leben abspielte. Die Flucht gelingt. Aber zu einem hohen Preis. Als Aida Jahre später Daniel, einen Schweizer kennen lernt und mit ihm zusammenzieht, merkt dieser, dass Aida ihre Vergangenheit weggesperrt hat, ihre Erinnerung, ihre Herkunft, den Alp, der auf ihrer Seele lastet. Und weil Daniel keine Ruhe gibt und immer wieder darauf hofft, etwas aus dem Davor seiner Freundin zu erfahren, droht die Liebe durch Verweigerung zu zerbrechen. Während Daniel sich eine Auszeit nimmt und ungewiss bleibt, ob es für sie beide eine Zukunft gibt, beginnt Aida, zaghaft aufzuschreiben, was wie ein Monolith quer in ihrer Seele alles Licht schluckt.
Wer ankommen will, muss etwas wagen. Das tun all die, die fliehen, die ein Heimatland zurücklassen, eine Familie, Freunde, ein Zuhause. Das Ankommen an einem anderen Ort ist nicht zwingend ein neuer Ort, eine freundliche Umarmung. Die einen bleiben immer auf der Flucht. Auf der Flucht vor sich selbst, den Bildern aus der Vergangenheit und einer zuweilen feindlichen Gegenwart. Andere schliessen sich in einer Kapsel ein aus lauter Angst, jenen kleinen Rest zu verlieren, den sie wie einen Schatz mit sich herumtragen.
Usama Al Shahmani erzählt genau davon. Vom Ankommen. Vom Kampf gegen permanente Flucht. Und weil es Usama Al Shahmani gelingt, in seinen Romanen nicht nur erzählerisch, sondern auch sprachlich diesen permanenten Kippzustand zwischen Hier und Dort zu beschreiben, werde ich als Leser mit all dem Zauber seiner Sprache an der Hand genommen.
„Im Fallen lernt die Feder fliegen“ ist Aidas Kampf mit sich selbst, ein Kampf in poetischer Kraft!
Usama Al Shahmani, geboren 1971 in Bagdad und aufgewachsen in Qalat Sukar (Nasiriya), hat arabische Sprache und moderne arabische Literatur studiert. Er publizierte drei Bücher über arabische Literatur, bevor er 2002 wegen eines Theaterstücks fliehen musste und in die Schweiz kam. Er arbeitet heute als Dolmetscher und Kulturvermittler und übersetzt ins Arabische, u. a. «Fräulein Stark» von Thomas Hürlimann, «Der Islam» von Peter Heine und «Über die Religion» von Friedrich Schleiermacher. Sein erster Roman «In der Fremde sprechen die Bäume arabisch» wurde mehrfach ausgezeichnet und war u. a. für das «Lieblingsbuch des Deutschschweizer Buchhandels» nominiert. Usama Al Shahmani lebt mit seiner Familie in Frauenfeld.
Wovor fürchten sie sich? Vor den „grossen“ Katastrophen oder den kleinen? Jenen, deren Fangarme in den Medien nach uns greifen oder jene, die sich ganz still und leise in unser Bewusstsein schleichen und dort hartnäckig als Ängste und Bedrohungen haften bleiben? Urs Faes erzählt in seinem neuen Roman in seiner ganz eigenen, seismographisch empfindsamen Sprache von drohenden Abgründen, die sich hinter der Normalität verbergen.
Herta lernt in einem Frankfurter Flughafenterminal einen Mann kennen. Einen, der so gar nicht in ihr Schema zu passen scheint, einen mit Cowboystiefeln und Cowboyhut, einen, über dessen ausgestreckte Beine sie beinahe stolpert. Sie wartet auf ihren Flug nach Zürich, er auf den seinigen nach New York. Ein paar Monate später steht der Mann vor ihrer Haustüre, mit einem grossen, abgenutzten Seesack und der Absicht zu bleiben, obwohl Hertas Kinder Dorit und Eliane ihre Mutter nicht verstehen und sie für überdreht und bekloppt halten.
Jakov Blumental war vor Jahrzehnten in die Staaten ausgewandert, war in der Textilbranche erfolgreich, hatte Familie, Kinder drüben und einen Sohn, der viel zu früh gestorben war. Herta war mit einem Internisten verheiratet, aber immer nur die Ehefrau des Internisten geblieben. Und als dieser sich mit einer Jüngeren in einen zweiten Frühling absetzte, war Herta allein. Was sich zwischen Herta und Jakov anbahnt und sich schnell als dauerhaft abzeichnet, wird für die beiden zu einem zweiten Leben, wenn auch nicht mit gleichen Vorzeichen und Auswirkungen. Schon nach wenigen Jahren zeigt sich, dass Jakov, der nie viel von seiner Vergangenheit freigeben wollte, zuerst der Zerstreutheit und später dem grossen Vergessen zum Opfer fällt. Und als Jakov dann bei einer genauen Diagnose nicht nur einer allmählich wachsende Demenz zugeschrieben wird, sondern der Aussicht, dass sich aus dem schwindenden Gletscher des fest Eingeschlossenen Verfestigtes auftauen werde, das sich einer Zuordnung verweigere und bei Jakov Ungeahntes auslösen kann, wird das Zusammenleben der beiden auf eine harte Probe gestellt.
«Ich bin vergesslich geworden, aber ich vergesse nicht, dass ich vergesse.»
Herta weiss, dass es in Jakovs Vergangenheit Dinge gibt, die ihr immer verschlossen bleiben. Und als sich das Vergessen bei ihm immer mehr im Alltag bemerkbar macht, in seinen Absenzen, Krisen, seinen Träumen und Notizen, kommt auch noch die Angst, einen Menschen ganz allmählich zu verlieren, auf verschlossene Kammern zu stossen, deren konservierte Atmosphäre das zu vergiften droht, was ihr noch geblieben ist. Kenne ich jenen Menschen, der mir am nächsten ist? Sind die Nächsten jene, von denen ich mir Jahrzehnte lang ein unumstössliches Bild zu machen traute? Was bleibt, wenn man mir nimmt, was stets in Stein gemeisselt schien?
Urs Faes schreibt die Geschichte von Herta und Jakov in Rückblenden, aus der Sicht Elianes, der Tochter Hertas. Herta sitzt am Tisch in ihrem Haus, in dem sich nach den Ereignissen um das langsame Sterben Jakovs langsam die Stille und Gleichförmigkeit wieder einstellt. Vor ihr auf dem Tisch stehen zwei Urnen. Herta will nur den einen Teil Jakovs Asche durch die Firma Ash Logistics nach Übersee liefern lassen. Ein Teil soll bei ihr bleiben. Einen Teil will sie für sich behalten. Nicht nur die Asche, sondern auch jenen Jakov, der ihr eine zweite Liebe schenkte.
«Kann man einen Menschen lieben, der einem kaum noch kennt, der nur noch selten zu einem spricht? Der oft spricht, ohne etwas zu meinen?»
An seiner Buchtaufe im Literaturhaus Zürich betonte Urs Faes, wie wichtig es ihm gewesen sei, nicht einfach einen weiteren Demenz-Roman in eine lange Reihe stellen zu wollen. „Untertags“ erzählt von den Sedimenten unserer persönlichen Geschichte. Davon, dass wir uns mit Bedacht eine Gegenwart zurechtrücken, die wir wie einen Garten hegen und pflegen. Davon, dass unter diesem Garten Magma- und Methankammern lauern, die jederzeit aufbrechen können, erst recht dann, wenn uns Demenz, Alter und Erschöpfung die Schaufel aus der Hand nehmen.
Urs Faes schildert mit aller Behutsamkeit genau das, was das Erkennen in der Liebe ausmacht. Es ist nicht die bedingungslose Offenbarung, sondern die bedingungslose Hingabe. Was am Anfang zwischen Herta und Jakov durchaus ein zweiter Frühling war, wird zu einem langen gemeinsamen Winter. Schweigen breitet sich aus. „Untertags“ ist eine berührende Liebesgeschichte frei von jeder Sentimentalität, eingetaucht in die Ehrlichkeit eines Autors, der nicht beschönigen will und es in seiner ganz eigenen Art schafft, die Liebe in ihrer ganzen Kraft zu besingen.
Interview:
Jakov ist untertags unterwegs, schreibst du. Er ist wohl noch da, aber eigentlich schon zum grössten Teil abgetaucht. Für Liebende muss es eine schreckliche Erfahrung sein. Ebenso schrecklich für jene, die langsam ins Vergessen einsinken. Steckt da auch eine Portion Angst von dir? Das Schwinden der Worte gehört zu den Verlusten, ein Abnehmen der Merkfähigkeit, also auch der Teilhabe an der Gegenwart, des Seins in der Gegenwart und der Rückkehr in Erinnerungen, jene Hallen des Gedächtnisses, in denen alles bewahrt ist, was ein Mensch erfahren hat. Für sein Gegenüber, das Du, ist das gewiss schmerzhaft, aber nicht nur schrecklich, denn es gibt darin auch tröstliche Momente. Sie finden andere Sprachen, immer wieder, noch spät, und darin die Fülle gelebter Augenblicke, Freude an dem, was schön ist. Der gemeinsame Blick auf eine Distel zum Beispiel, der Gang in Landschaften, sogar hoch zu Pferd. Es stimmt schon: die Erfahrung, wie bedürftig und gefährdet wir sind, die ich durch eigene Krankheit gemacht habe, diese Sicht auf unsere Hinfälligkeit, die war immer bewusst. So schwangen eigene Ängste im Erzählen unbewusst mit, auch wenn das Erzählte eine andere Geschichte ist.
Du erzählst die Geschichte von Herta, ohne sie auszuleuchten. Genauso die Geschichte Jakovs. Das scheint eine deiner Grundeinsichten in deinem Roman zu sein. Dass man weder sich selbst noch sein nächstes Gegenüber erkennen kann, auch wenn man den Begriff des „Erkennens“ beinahe mystifiziert. Du bist kein „Sezierer“, wohl eher ein Schriftsteller, der seinem Personal mit allem Respekt möglichst nahe zu kommen versucht. Gibt es Grenzen der Nähe? Im Schreiben und in der Liebe? Figuren sollen knapp und genau gezeichnet sein, aber immer so zurückhaltend, dass Ihnen auch ein Geheimnis bleibt, und das Portrait im Kopf des mündigen Lesenden entsteht (wie der letzte Vers eines Gedichtes auch erst im Kopf des Lesenden sich bilden soll). Der Erzähler hält sich zurück, das ist die halbe Kunst seines Handwerks: sich zurück – und die Geschichte von Erklärungen freizuhalten. Denn auch erzählte Figuren haben eine Aura von Würde, der man mit Respekt begegnen soll. Und wo sind neben dem Erzählen diese Grenzen von Nähe wichtiger als in der Liebe: Amo, volo ut sis, ich liebe dich, lautete ein Satz aus dem Mittelalter, damit du der sein kannst, der du bist. Dem andern seinen Raum lassen, damit er seine Autonomie wahren kann (vielleicht auch sein Geheimnis), die ebenso ein Grundbedürfnis ist wie jenes nach Liebe und der Verheissung auf Geborgenheit. Das Gebot von Nähe und Distanz ist wichtig.
Herta wagt noch eine Reise mit Jakov in die Staaten. In der Hoffnung, Jakov Anknüpfung zu bieten und sich selber Antworten auf all die Namen und Gesten ihres Mannes, die ihr Rätsel aufgeben. Eine Reise, die mehrfach nah am Fiasko vorbeischrammt. Drohen nicht in allen Beziehungen „Büchsen der Pandora“? Herta hofft mit ihren Reiseplänen auf jene Momente des Wiedererkennens von Menschen, Situationen, Orten, die ein Aufgehobensein in der Gegenwart noch einmal ermöglichen, erfüllte Augenblicke. Sie sind möglich, bis spät; es ist auch der Versuch, sich immer neu dem Leben zuzuwenden, zu leben, was noch möglich ist. Hier ist es allerdings schon sehr spät. Beziehungen müssen nicht eine Büchse der Pandora sein. Aber natürlich ist es so, dass Unvorhergesehenes zum Leben, zu Beziehungen gehört, die gefährdet sind, wie der Einzelne auch. Jede Form von Leben ist immer auch ein Weg ins Nichtversicherbare, so sehr wir das Ausblenden und hundert Versicherungen abschliessen. Aber diese Ambivalenz ist zu ertragen. Bei Jakov ist es ja auch nicht nur eine Büchse der Pandora, die sich öffnet, sondern aus der Vergangenheit taucht eine grosse Liebe auf, Ini, der dunkle Kern des Romans, und wird noch einmal, schon fast kindlich rein, Gegenwart. Traumatisch war allerdings ihr Ende. Auch das öffnet sich.
Du schreibst die Geschichte aus einer weiblichen Perspektive. Ist es leichter, damit Distanz zu wahren? Es geht im Buch, auf verschiedenen Ebenen, um das Erzählen. „Nur im Erzählen kehrt das Leben zurück“, heisst es einmal. Erzählen antwortet oft auf einen Verlust (Wer sein Land oder seinen Partner verliert, erzählt davon). So geht es auch Herta. „Sie musste erzählen. Den andern. Und sich. Vor allem sich.“ Im Erzählen findet sie wieder zu sich, gewinnt Halt, Ich-Kohärenz. Sogar Patienten mit Diagnose gewinnen im Gedächtnistraining eine zumindest temporäre Identität. Ich habe das beim Recherchieren mit Erstaunen beobachtet. Es verweist auf einen Gedanken in der jüdischen Erzähltradition, dass Erzählen heilt. Ich selber kehre immer wieder zum Erzählen zurück, im eigenen Leben, im Schreiben. So ist «Untertags» ein Buch, das wohl von Verlusten berichtet, aber eben auch vom Erzählen, das Verluste aufhebt in Geschichten. Mag sein, dass ich der weiblichen Perspektive aufmerksamer, behutsamer folge, weil ich sie immer neu wahrnehmen muss. Das war schon in meinem Erstling «Webfehler» so. Und seither immer mal wieder.
„Wenn man Sprache auch als ein Haus begreife, worin der Mensch wohne, dann müsse doch einer, der die Worte verliere, ins Nichts geraten, unbehaust sein“, sagt Eliane zu ihrer Schwester Dorit. Ist das nicht eine reichlich optimistische Anschauung? Müsste man nicht feststellen, dass viele Erdbewohner Teilobdachlose sind? Ich wäre in der „Obdachlosenfrage“ nicht so skeptisch. Ich habe schon als Kind im Quartierladen meiner Mutter beobachtet, wie sehr Menschen ein Urbedürfnis haben, zu erzählen, also Worte zu finden, für das, was sie angeht, sie beschäftigt oder bedrückt. Das ist Sprechen und Sprache. Man kann sogar sagen, dass Menschen eine Tendenz haben, oder in ihrem Bewusstsein eine solche besteht, erzählend zu verarbeiten, zu gestalten, sich zu rechtfertigen. Erzählen gehört zu unserer Art in der Welt zu sein, Welt zu erfahren. Kinder wollen erzählen, was sie gesehen und erfahren haben, Reisende auch, Stammtisch- und Partybesucher eben auch. Und durch das Erzählen entsteht, schon fast nebenbei, so etwas wie Empathie, denn wer erzählt, versteht auch, ein Stück weit wenigstens. Vielleicht ist das heute seltener geworden, weil viele die Wirklichkeit und die Menschen gegenüber nicht mehr wahrnehmen, da sie nur auf das Smartphone blicken, Nachrichten aus zweiter Hand. Erzählen könnte überall stattfinden, spontan, sprudelnd, ungeformt. Manche finden für ihre Geschichten später eine feste Form, eine bestimmte, gestaltete Art des Erzählens. Hier beginnt dann die Literatur.
Urs Faes, 1947 geboren, lebt und arbeitet in Zürich. Seine Werke wurden vielfach ausgezeichnet, u. a. mit dem Schweizerischen Schillerpreis und dem Zolliker Kunstpreis. Seine Romane «Paarbildung» und «Halt auf Verlangen» standen auf der Shortlist für den Schweizer Buchpreis.
Ein letztes Mal im Jahr 2020 lud das Literaturhaus Thurgau Literaturinteressierte zu einer Lesung im Bodmanhaus in Gottlieben ein. Joachim Zelter war Gast mit seinem aktuellen Roman «Imperia», mit dem der Schriftsteller lesend und performend das Publikum zu begeistern wusste – ein Publikum, das nach Kultur hungert!
Joachim Zelters zentrale Figuren in seinem Roman sind absolut gegensätzlich. Gregor Schamoni, ein mässig erfolgreicher Schauspieler mit einigen Geldsorgen und Iphigenie de la Tour, eine raumgreifende Frau und Professorin, deren Visitenkarte sich wie eine Speisekarte liest. Eine Frau, die sich als absolutes Zentrum ihres Sonnensystems sieht, ein Mann, der es wie ein kleiner Planet nie mehr schafft, aus der ihm zugewiesenen Umlaufbahn auszubrechen. Jeder kennt solche Archetypen wie die Professorin; Menschen, denen das Leben immer wieder Recht zu geben scheint, auch ihr Erfolg, ihr Geld, ihre Macht. Und weil Gregor Schamonis Verdienstmöglichkeiten begrenzt sind, gibt er ein Inserat auf: Schauspieler bietet Dichter- und Salonlesungen. Wenig später meldet sich am Telefon eine Frau Professor Iphigenie de la Tour. Man kommt ins Gespräch und trifft sich kurz danach in einem Café unweit des Münsters. Was mit diesem Treffen beginnt, wird für Gregor zu einem Strudel, der ihn immer mehr vereinnahmt. Auf der einen Seite seine immer wieder auftauchenden Panikattacken, die ihn um seine Existenz bangen lassen, auf der anderen Seite eine Frau, aus deren intrigierenden Fängen er sich nicht mehr befreien kann.
Was für den Schauspieler Gregor Schamoni Wirklichkeit ist, ist Wirklichkeit für viele Kunstschaffende: Wie weit soll, darf und kann man sich in Abhängigkeiten begeben, um nicht in Existenznöten unterzugehen. Es liegt einiges an Zündstoff in den Schilderungen, im Roman selbst, in der Dramaturgie des Geschehens, aber auch darüber hinaus, sind doch die Diskussionen über „Entmännlichung“ und Rollenverständnis nicht nur in vollem Gange, sondern Flächenbrand geworden.
Joachim Zelter inszenierte seinen Text auf der kleinen Bühne des Literaturhauses gekonnt und mit viel Leidenschaft, einer Leidenschaft, die sein ganzes Tun und Schaffen bezeugt, eine Leidenschaft, die im Publikum ganz selbstverständlich seine Resonanz findet.
«Ganz Europa befindet sich in einem Corona bedingten Lockdown. Ganz Europa? Nein, ein kleiner Ort am Bodensee lässt sich von keinem Virus der Welt einschüchtern oder unterkriegen und hält fest an der Unverzichtbarkeit lebendiger Autor*innen und lebendiger Zuhörer*innen in den Hallen des Literaturhauses Thurgau, die dort – Corona zum Trotz – sehnsüchtig aufeinandertreffen. Es ist eine Insel des gesprochenen/gehörten Wortes in einem verstummten Ozean, und es war mir eine Freude, gestern Abend auf dieser Insel weilen zu dürfen.» Joachim Zelter
Ein fast volles Haus, mit aller Vorsicht geführt! Das Literaturhaus Thurgau dankt dem Autor für den spannenden Abend
Freitag, den 6. November – es treffen sich die Basler Lyrikpreisträgerin 2020 Eva Maria Leuenberger und die Singer Songwriterin Pamela Méndez für einen Tag im Literaturhaus Thurgau in Gottlieben. Eva Maria Leuenberger und die Musikerin Pamela Méndez kennen sich bis zur Anfrage des Literaturhauses nicht. Eva Maria Leuenberger bringt einen unveröffentlichten Text mit, Pamela Méndez eine ganze Reisetasche voller Sound-Equipment. Um 19.30 wird dann unter dem Dach des Literaturhauses präsentiert, was aus diesem einen Tag der intensiven gegenseitigen Auseinandersetzung entstanden ist. Eine einmalige Performance – ein künstlerisches Unikat!
Hier können sie nachhören:
«Lieber Gallus, danke für die guten Tage im Literaturhaus und das schöne Experiment, danke für deine Offenheit und den Mut, uns einfach mal machen zu lassen!» Eva Maria Leuenberger
An der Hafeneinfahrt der Bodenseestadt Konstanz steht seit bald dreissig Jahren die neun Meter hohe Imperia. Ein üppiges Frauenzimmer in Beton gegossen mit grosszügigem Dekolleté und zwei schrumpligen Mannsbildern in erhobenen Händen. In Joachim Zelters neustem Roman «Imperia» windet sich ein Mann aus den Tentakeln einer raumgreifenden Muse, büsst ein Künstler dafür, sich verkauft zu haben.
Gregor Schamoni ist Schauspieler. Und weil seine Verdienstmöglichkeiten begrenzt sind, gibt er ein Inserat auf: Schauspieler bietet Dichter- und Salonlesungen. Wenig später meldet sich am Telefon eine Frau Professor Iphigenie de la Tour. Man kommt ins Gespräch und trifft sich kurz danach in einem Café unweit des Münsters. Was mit diesem Treffen beginnt, wird für Gregor zu einem Strudel, der ihn immer mehr vereinnahmt. Auf der einen Seite seine immer wieder auftauchenden Panikattacken, die ihn um seine Existenz bangen lassen, auf der anderen Seite eine Frau, aus deren intrigierenden Fängen er sich nicht mehr befreien kann.
Was ganz artig beginnt, den Schauspieler jedoch von Beginn weg gleichermassen verunsichert und befriedigt, da ihm die aufgeputzte Dame grosszügig dicke Briefumschläge mit Geldbeträgen übergibt, Geldbeträge, die seine in Schieflache geratene Existenz aufrichten, wird mehr und mehr zu einer emotionalen Achterbahn, aus der Gregor nicht mehr auszusteigen weiss.
Man kennt die Sorte Mensch; uneingeschränkt von sich eingenommen, selbstverliebt und besitzergreifend, fähig, die ganze Welt nach eigenem Gusto drehen zu lassen. Iphigenie de la Tour, Professorin an der Universität Konstanz, ist es gewohnt, dass man sich in ihre Sonne setzt, alles nach ihr ausrichtet, ihren Anweisungen Folge leistet. Da ist nicht nur das Geld, sondern die masslose Selbstverständlichkeit, die die Frau wie die Imperia an der Hafeneinfahrt übergross und bedeutsam macht. So wie die Betonfrau am Hafen die kleinen Männer herumjongliert, so tut es Iphigenie de la Tour; mit Gregor Schamoni, dem Personal in den Restaurants, in denen man sich trifft, mit allen, die sich in die Aura inszenierter königlicher Weiblichkeit trauen. So wie sich Gregor in seinen Panikträumen verlieren kann, in seiner Angst, irgendwann den Text auf der Bühne zu vergessen, nicht mehr weiterzuwissen, den Bühnenboden unter den Füssen zu verlieren, so sehr dreht er sich im Strudel rund um die Professorin, die ihn mit Geld, Komplimenten, Aufgaben und Zukunftsträumen einwickelt und vereinnahmt. Sie will ihn für sich, als ihr Instrument. Sie will ihn als Mitarbeiter, Sprecher, Freund, Schauspieler, Partner. Irgendwann übergibt Gregor Pia, der Studentin, die an Iphigenies Seite alles zu Papier macht, was in den Unendlichkeiten des de la Tour’schen Archivs an Bedeutsamkeit lagert, sein Handy. Iphigenie de la Tour will aus den SMS zwischen ihr und Gregor einen Briefwechsel transkribieren, will sie doch aus Gregor Schamoni einen bedeutsamen Schauspieler machen.
Gregor beginnt zu kämpfen, will sich aus den Fängen der Matrone befreien. Etwas, was ihm im direkten Gegenüber mit der Frau nicht gelingt, denn Iphigenie schafft es meisterlich, ihre scheinbare Verletzlichkeit zum Kampfstoff zu machen.
Joachim Zelters Iphigenie ist köstlich, wenn auch nur für mich als Leser. Für Gregor wird sie zur Katastrophe. Jenes Loch, das sie aufzureissen droht, ist ebenso gross, wie die Angst, die Gregor in seiner ganz privaten Panik peinigt. Joachim Zelter peitscht die Drehungen des Karussells, aus dem Gregor nicht mehr entfliehen kann, genussvoll an. Wenn Joachim Zelter die Erscheinung der Professorin schildert, wird aus dem Betongrau der Imperia über dem Hafen Konstanz ein tiefes Rot, wird das Dekolleté beider Frauen bis zur Aufdringlichkeit ein erdrückendes Gebirge.
„Imperia“ ist eine literarische Berg- und Talfahrt in einem Gefährt, von dem man bis zum Schluss nicht weiss, ob es sich bremsen lässt oder mit voller Wucht und Geschwindigkeit in ihr Ende rast. Eine Buch gewordene Metapher darüber, was Käuflichkeit aus Leben macht. Dass Joachim Zelter aus dem Kammerstück zweier Personen ein Gegenüber zwischen fast allmächtiger Weiblichkeit und wirkungsloser Männlichkeit macht, heizt die Szenerie nur noch an.
Joachim Zelter, 1962 in Freiburg im Breisgau geboren, studierte und lehrte englische Literatur in Tübingen und Yale. Sein literarisches Werk wurde vielfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Thaddäus-Troll-Preis, dem Jahresstipendium des Landes Baden-Württemberg, dem Gisela-Scherer-Stipendium der Stadt Hausach im Schwarzwald. 2010 war er mit seinem Roman «Der Ministerpräsident» für den Deutschen Buchpreis nominiert. Seine Romane wurden mehrfach ins Französische, Italienische und Türkische übersetzt.
„Schreibende Paare“ heisst eine der neuen Veranstaltungsreihen im Literaturhaus Thurgau. Im Falle von Dana Grigorcea und Perikles Monioudis hätte man den Abend auch „Eine Literaturfamilie“ nennen können, denn die beiden reisten mit ihren Kindern an und einer ganzen Kiste voller Bücher.
Das Leben, der Alltag der Familie Grigorcea Monioudis ist durchsetzt von Literatur, ihr Haus ein Ort, an dem alles durch eine papierene Lunge atmet. Das Paar ist sich Inspiration, Kritik, Motivation. Der jeweils andere der Erstleser, man trägt sich gegenseitig, selbst ihre beiden Kinder tun es an diesem Abend im Literaturhaus Thurgau.
Dana Grigorcea gab Kostproben aus ihrem letzten Buch, der Novelle „Die Dame mit dem maghrebinischen Hündchen“ und ihrem Roman „Die nicht sterben“, der im kommenden Frühling erscheinen wird. Dana Grigorcea erzählte, dass „Die Dame mit dem maghrebinischen Hündchen“ nicht zuletzt auch ein Versuch war, sich von dem Thema zu emanzipieren, mit dem man sie mit ihren letzten beiden Büchern, vor allem mit dem Roman „Das primäre Gefühl der Schuldlosigkeit“, immer wieder zu reduzieren versuchte; Rumänien. Nicht dass sich die Autorin ablösen wollte, denn in ihrem neuen Roman spielt ihr Herkunftsland wieder eine zentrale Rolle, die Macht totalitärer Regierungen, der Wunsch vieler nach einer starken Führung, einem Phänomen, das sich trotz aller historischen Erfahrungen nicht ausrotten lässt. Aber kein Schriftsteller, keine Schriftstellerin will in eine Schublade gezwängt werden. Dana Grigorcea wollte mit „Die Dame mit dem maghrebinischen Hündchen“ „austesten“, ob man sie auch liest, wenn Rumänien kein Thema ist. Ein Versuch, der sie nur bestärkte. „Die Dame mit dem maghrebinischen Hündchen“ war und ist sehr erfolgreich. „Die nicht sterben“ ist die Geschichte einer jungen Bukarester Malerin, die sich nicht nur mit dem totalitären kommunistischen Machthaber Rumäniens konfrontiert sieht, sondern auch mit dem langen Schatten Graf Vlad des Pfählers, der der Welt als Dracula bekannt ist.
Dana Grigorcea und Perikles Monioudis wollen mehr als „bloss“ schreiben. Sie wollen nicht nur ihre eigenen Bücher zu Geschenken machen, sondern auch jene anderer Autorinnen und Autoren. Solchen, die ihre Manuskripte schon Jahrzehnte mit sich herumschleppen und nirgends in ein Verlagsprogramm zu passen scheinen. Texte, die zu vergessen drohen. Ihr Leben als Schriftstellerpaar ist untrennbar mit jenem eines Verlegerpaars verbunden. Ihr beider Leben in allem Schreiben, Auseinandersetzung, Buch, Papier, Gestaltung, Kunst und täglich Brot.
Perikles Monioudis, der schon bald dreissig Jahre schreibt und ein weigefächertes Werk präsentiert, will sich mit jedem Buch neu erfinden, Perspektiven ausloten, Textarten auskosten. „Azra und Kosmàs“ ist eine Liebesgeschichte und doch keine Liebesgeschichte. „Azra und Kosmàs“ ist eine Erzählung, die aufgebaut ist wie eine liegende Acht, als könne ich als Leser überall und immer in die Erzählung einsteigen und mich von den Geschehnissen um die beiden wegtragen lassen. Perikles Monioudis setzt sich in seiner Erzählung mit grossen Themen auseinander, sei es die Flüchtlingskatastrophe am Mittelmeer oder der Wunsch, sich aus seinem Leben abzusetzen, zu verschwinden. Ein Thema, das nicht nur für Menschen, die sich im Brennpunkt der Öffentlichkeit befinden, existenziell werden kann, sondern sich als Phänomen durch sämtliche westliche Gesellschaften zieht. Für Perikles Monioudis ist literarisches Schreiben alles andere als Handwerk. Er gibt sich in seine Stoffe hinein. Schreiben ist Kunst!
Der Abend war tief beglückend.
«Wer einen handfesten Beweis dafür braucht, dass uns die Literatur zu genussfähigeren, glücklicheren Menschen macht, sollte zu Gallus Frei-Tomic ins Literaturhaus Thurgau. Den Abend, den inspirierenden Gedankenaustausch, das goldene Licht im Dachbodenlesesaal des Bodmann-Hauses und das grossartige Publikum werden wir nie vergessen.» Dana Grigorcea
Das Literaturhaus ist ein Treffpunkt für Schreibende und Literaturfreunde – ein Ort, an dem nachgedacht, gearbeitet und diskutiert werden kann.
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Mit der Eröffnung des Literaturhauses Thurgau wurde in Gottlieben eine Gedenkstätte für den Schriftsteller Emanuel von Bodman geschaffen, der Anfang des 20. Jahrhunderts die Bodenseeregion wählte, um hier sein Leben der Schrift zu widmen. Sein Werk umfasst eine Reihe von Dramen, viele Erzählungen, Hunderte von Gedichten sowie Aufsätze zu Kunst und Literatur seiner Zeit. Heute ist das Literaturhaus ein lebendiger Begegnungsort mit Literatur, Kunst und einer eigenen Buchbindewerkstatt.
Literaturhaus Thurgau Mit dem Literaturhaus Thurgau bietet die Thurgauische Bodman-Stiftung der zeitgenössischen Literatur einen einmaligen Ort für ihre Präsentation: ein Literaturhaus auf dem Land mit einem hochwertigen Programm und einer beeindruckenden Resonanz – ein Treffpunkt für Schreibende und an Literatur Interessierten, ein Ort der Begegnung und des literarischen Gesprächs. Bei seiner Eröffnung im Jahr 2000 war das Bodman-Literaturhaus, heute Literaturhaus Thurgau, nach Basel und Zürich das dritte Literaturhaus in der Schweiz. Durch seine Nähe zu Konstanz hat es eine wichtige Funktion für grenzüberschreitende Begegnungen in der Bodenseeregion.
Handbuchbinderei Im Bodman-Literaturhaus werden Bücher nicht nur präsentiert, sondern auch gebunden und repariert. In der Handbuchbinderei Merten wird traditionelles Handwerk modern interpretiert. Mit besonderem Blick für die Auswahl und Haptik der Materialien werden bibliophile Einbände gebunden, Künstlerbücher kreiert, Schachteln auf Mass angefertigt und lieb gewonnene alte Bücher restauriert. In der besonderen Atmosphäre der Werkstatt im Bodmanhaus in Gottlieben finden Kurse in kleinen Gruppen statt, in denen die vielseitigen Varianten des Handwerks erprobt werden können.
Das Bodmannhaus Mittelpunkt und Seele des Dichterhauses ist das nach der Renovation wiedererstandene Arbeitszimmer, das den Besuchern einen vertieften Einblick in das alltägliche Leben des Dichterehepaars Clara und Emanuel von Bodman vermitteln soll. Die Gäste des Bodmanhauses sollen das Gedenkzimmer so vorfinden, wie es verlassen wurde, mit all seinem unverwechselbaren Charme, seiner Bescheidenheit und Eigenheit. Alles ist wieder am angestammten Platz: Das schöne Schreibpult, der volle Bücherschrank, das schlichte Sofa, die sieben bescheidenen Tische und Tischchen, Stühle, Accessoires und der gesamte übrige Schmuck des randvoll gefüllten Zimmers. Das Arbeitszimmer soll den Raum so zeigen, wie ihn Emanuel von Bodman beim Tode hinterlassen hat, und wie er von seiner Gattin Clara in liebevollem Angedenken fast unverändert belassen wurde. Das Interieur ist gemäss dem Charakter des Hauses bewusst nicht restauriert und auf Perfektion getrimmt worden. Die über zwanzig Möbelstücke sind lediglich vom Fachmann gereinigt und wo nötig geflickt worden; einzig den Vorhängen widmete man erhöhte Aufmerksamkeit mit einer aufwendigen Restaurierung.