«Sehnsucht nach Freiheit» ein Abend mit Cilette Ofaire im Literaturhaus Thurgau

Es war in vieler Hinsicht ein denkwürdiger Abend! Zum einen war es nach vier Monaten die erste Veranstaltung vor Publikum im ausverkauften Literaturhaus Thurgau, und zum andern spürten alle BesucherInnen an diesem Abend das Feuer für eine Autorin, die nur zurück ins Bewusstsein der Öffentlichkeit kam, weil der unermüdliche Streiter für das gute Buch, Charles Linsmayer, mit voller Leidenschaft in die Glut bläst!

Cilette Ofaires Roman «Ismé», der 1948 zum ersten Mal deutsch erschien, damals aber kaum von der Öffentlichkeit wahrgenommen wurde, ist viel mehr als der Reisebericht einer unerschrockenen Kapitänin in einer Zeit, in der sie wohl die einzige in einer solchen Funktion war. «Ismé» ist die Geschichte einer starken Frau, die alles daran setzte, ihr Leben nach ihrer Fasson zu gestalten, allen Widrigkeiten zum Trotz. «Ismé» ist auch eine Zeitdokument eines Abenteuers, das im Gegenwind von Geschichte und Bürokratie scheiterte. Und «Ismé» ist in seiner jetzigen Form, mit einer Biographie von Charles Linsmayer und dem abgebildeten, gezeichneten «Journal de bord», ein Gesamtkunstwerk, das seinesgleichen sucht.

«Ein kleines Schiff besitzen, damit die Ozeane durcheilen, sich
als ein freier Bürger der Welt fühlen – das genügt noch nicht, um weise zu werden. Dazu braucht man vor allem andern ein Herz, das fähig ist, zu lieben, eine Seele, die noch Wunder erleben kann, und ein Gewissen, das einem mit seiner Wachheit ständig in Erinnerung ruft, dass man ein Mensch unter Menschen ist und in Beziehung zum Universum steht. Aber auch das ist noch nicht genug. Es ist dazu noch nötig, dass das Leben, das konkrete, fordernde Leben, sich dieses Herzens, dieser Seele und dieses Gewissens bemächtigt, um sie zu zerreissen, zu zerbrechen, zu zerstossen, zu kneten oder anders zusammenzufügen. Dann, durch all diese Zweifel und Hoffnungen, Erleuchtungen und Verdunkelungen des Geistes hin-durch, zwischen den Erfahrungen der menschlichen Schwäche und dem allmählichen Erfassen jener unbekannten Macht, die den Lauf der Gestirne regelt, dann ist es, wenn man das kurze Erdenleben mit der Dauer der Ewigkeit in Beziehung zu setzen versteht, vielleicht möglich, ein klein wenig Weisheit zu erwerben.» (1959)

Ausschnitt aus dem «Journal de bord» von Cilette Ofaire vom 20. Januar bis 26. Februar 1939. An allen Tagen, an denen die Autorin weiter an ihrem Manuskript zu Ismé schrieb, ist ein Büchlein mit der Aufschrift «Ismé» gezeichnet.

«Es war schon was besonderes, dass ich zusammen mit Heidi Maria Glössner den ersten Abend im Thurgauer Literaturhaus bestreiten durfte, als die durch die Pandemie erzwungene Pause vorbei war. Wir stellten Cilette Ofaire und ihr Buch «Ismé» vor, und es war zu spüren, wie das Publikum sich dafür begeistern konnte. Besonders bewegend war es, als wir nach etwelchen technischen Bemühungen ab Tondokument die Stimme der Dichterin erklingen lassen konnten: In der einzigen Aufnahme, die überhaupt von ihr existiert.
Warum das so ist, ob es die alten Mauern und die hölzernen Balken ausmachen, die das jahrhundertealte Haus aufweist, oder ob es das ganz besondere Publikum ist: auf jeden Fall herrscht im Bodman-Haus Gottlieben immer eine ganz besonders intime, familiäre Stimmung.» Charles Linsmayer

Programm Literaturhaus Thurgau

Alle Fotos © Sandra Kottonau / Literaturhaus Thurgau

Cilette Ofaire «Ismé», herausgegeben von Charles Linsmayer, Th. Gut Verlag

Kein Mensch kannte den Namen Cilette Ofaire, als Charles Linsmayer 1988 als Band drei seiner Edition «Reprinted by Huber» ihren Roman «Ismé» von 1940 als «Ismé. Sehnsucht nach Freiheit» deutsch neu herausbrachte und mit einer Biographie der Autorin versah.

Cilette Ofaire – «Ismé», Charles Linsmayer zusammen mit der Schauspielerin Heidi Maria Glössner im Literaturhaus Thurgau,
Donnerstag 22. April 2021, 19:30 Uhr.
Wir bitte Sie um Anmeldung unter diesem Link.

Der Erfolg war so durchschlagend, dass das Buch nach kurzem nicht nur als Hardcover, sondern auch als pendo-Taschenbuch vergriffen war und die Édition de l’Air in Vevey, verblüfft durch den Erfolg im deutschen Sprachraum, auch die französische Originalfassung wieder zugänglich machte. Ja, es fand sich sogar eine Gruppe von Ismé-Fans zu einem Verein zusammen, der ein Schiff mit dem gleichen Namen nachbaute und auf den Spuren von Cilette Ofaire in See stach! 

33 Jahre lang war das Buch vergriffen, als Charles Linsmayer als Band 38 seiner Edition eine Neuausgabe herausbrachte, mit einer erweiterten Biographie und dem erstmaligen Abdruck des gezeichneten Bordtagebuchs der Autorin. Und diesmal machte die Édition de l’Air von Anfang an mit und brachte Linsmayers Neuausgabe in einer identischen französischen Fassung ebenfalls neu auf den Markt. Und das Wunder geschah! Wiederum war das Buch nach wenigen Wochen ausverkauft und musste eine zweite Auflage gedruckt werden, und zwischen Dezember 20 und März 21 figurierte der Roman die ganze Zeit auf der Bestsellerliste des SBVV!

Charles Linsmayer, Germanist, Literaturkritiker und -vermittler, lebt in Zürich als Journalist und Herausgeber von Schweizer Literatur. Er wurde mehrfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Preis des Schweizer Buchhandels, dem Deutschen Sprachpreis und dem Eidgenössischen Preis für literarische Vermittlung 2017. Legendär sind seine «Hottinger Literaturgespräche».

Gefragt, wie er sich diesen neuerlichen Erfolg erkläre, meinte Charles Linsmayer, der inzwischen als Biograf von Cilette Ofaire auch in der Romandie ein gefragter Interview-Partner ist, dass dieser Roman mit seiner tief empfundenen Menschlichkeit, seiner einfachen, bildhaften Sprache, seiner Begeisterung für die Seefahrt und die Weite des Meeres eben gerade in einer Zeit, wo niemand reisen könne, zu einer faszinierenden Lektüre avanciert sei. Ja, dass sich der Vorgang von 1940, als der Roman als Erstausgabe im deutsch besetzten Frankreich als Buch der Hoffnung und der Freiheit begrüsst wurde, sich angesichts der Einschränkungen und Bedrohunen der Pandemie zu wiederholen scheine.

Im Literaturhaus Thurgau wird Charles Linsmayer anhand von Texten und Bildern das Leben von Cilette Ofaire und ihre abenteuerliche Seefahrt mit der «Ismé» vorstellen, während die Schauspielerin Heidi Maria Glössner die schönsten Stellen aus dem Roman vorlesen wird. 

Heidi Maria Glössner, «Grande Dame» der Schweizer Theater- und Filmszene

Den Abschluss bildet ein Gespräch mit dem Herausgeber, in dem er erzählt, wie er auf Cilette Ofaire gestossen ist und was sie ihm persönlich bedeutet.

Beitragsbild © leafrei.com