Tarjei Vesaas «Die Vögel», Guggolz

Tarjei Vesaas ist einer der Grossen der norwegischen Literatur. Aber vielleicht ist Tarjei Vesaas mehr. Karl Ove Knausgård bezeichnete „Die Vögel“ einmal als den besten norwegischen Roman, der je geschrieben wurde. Dass der Guggolz Verlag die Romane Tarjei Vesaas in so wunderbaren Ausgaben, meisterhaft übersetzt und wunderschön als Buch, verdienstvoll herausbringt, ist ein grosses Glück – und „Die Vögel“ eine Offenbarung.

Nach seinem Tod 1970 geriet Tarjei Vesaas international in Vergessenheit, obwohl man ihn zu Lebzeiten immer wieder als Anwärter für den Nobelpreis machte. Vielleicht liegt unser Glück darin, dass Karl Ove Knausgård den Autor immer und immer wieder auf einen Sockel stellte, oder in der Tatsache, dass sich seine Romane um das Archaische drehen, so gar nichts mit dem flirrenden Zeitgeist zu tun haben und sich doch um urmenschliche Gefühle und grundlegende Fragen drehen. Vielleicht liegt die Faszination dieser Romane auch in der Nähe zur Natur, in einer Sehnsucht, die angesichts der menschgemachten, klimatischen Bedrohungen immer deutlicher nach Nahrung sucht. Aber vielleicht ist es auch ganz einfach die unbestreitbare Fähigkeit des Autors, in unnachahmlicher Weise Beziehungen, Szenerien und Innenwelten zu beschreiben.
„Die Vögel“ schreibt sich in die Welt eines noch jungen Mannes, der sich in seiner begrenzen Welt mehr und mehr an den Rand, an den Abgrund gedrängt fühlt. Ein Mann, dessen Welt abdriftet, eine Welt, die sich mit der aller anderen streitet, nichts Gemeinsames mehr findet. Tarjei Vesaas beschreibt einen Zustand, der seit der Pandemie auch in der Gesellschaft grassiert.

Tarjei Vesaas «Die Vögel», Guggolz, 2020, aus dem Norwegischen von Hinrich Schmidt-Henkel, mit einem Nachwort von Judith Hermann, 275 Seiten, CHF ca. 31.90, ISBN 978-3-945370-28-5

Mattis lebt mit seiner älteren Schwester Hege allein in einem kleinen Haus irgendwo in Norwegen, über einem See, nicht weit vom Wald, aber abgeschottet vom nahen Dorf. Mattis ist anders. Seine Welt ist klein. Im Dorf schimpft man ihn einen Dussel. Einer festen Arbeit geht er nicht nach. Vielmehr versinkt er immer wieder in stillen Versuchen, eine Antwort auf seine ganz eigenen Fragen zu finden. Hege, nach dem frühen Tod ihrer Eltern, sorgt für ihn, verdient das wenige Geld, das sie über Wasser hält mit Strickarbeiten. Hege ist hängen geblieben; das kleine Haus, die Abgeschiedenheit, die tägliche Sorge um ein Auskommen und Mattis. Manchmal taucht Mattis im Dorf auf, kauft sich im Kaufhaus Bonbons oder sucht nach den Ermahnungen seiner Schwester Arbeit, die ihn aber meist überfordert, auch wenn ihn der eine oder andere Bauer ein paar Stunden gewähren lässt.

Dafür sitzt Mattis viel am See oder in seinem alten Ruderboot und denkt nach, versucht seine Welt zu ergründen und jene seiner Schwester Hege – eine kleine Welt mit grossen Fragen. Mattis sieht und hört aber auch die Stimmen und Zeichen der Natur. Zuallererst die Vögel, Schnepfen, die in diesem Jahr viel früher ihre Bahnen übers Haus ziehen. Er versteht den jungen Jäger aus dem Dorf nicht, der eine dieser Schnepfen vom Himmel schiesst. Mattis fürchtet sich vor Gewittern, dem Blitz, der eines Tages einen der beiden verdorrten Bäume nicht weit vom Haus zerschlägt, zwei Bäume, die man bis ins Dorf Mattis-und-Hege nennt. Mattis ist überzeugt, dass eine neue Zeit angebrochen ist, dass sich die Dinge verändern werden. Und es wächst die Angst, dass alles, was sich verändert, zu seinen Ungunsten sein könnte, allein schon deshalb, weil niemand verstehen will, nicht einmal Hege.

Nach seinem Entschluss, nun doch Fährmann über See zu werden, auch wenn niemand darauf gewartet hat, und tatsächlich ein erster Gast auftaucht, der nach seinen Diensten fragt und nach nasser Überfahrt nach einer Unterkunft fragt, nachdem ihn zwei junge Mädchen von der Insel retten und diese Rettung zur triumphalen Einfahrt in den Dorfhafen wird, scheint sich für Mattis alles zum Guten zu wenden. Wenn nur Jørgen, der Holzfäller, den er über den See brachte, sich nicht im Zimmer unter dem Dach einquartiert hätte.
Mit einem Mal glaubt Mattis, die Zeichen stehen gegen ihn, Hege würde sich von ihm abwenden, gegen ihn entscheiden.

Was Tarjei Vesaas an Atmosphäre in diesen Roman hineinbringt, wie gut er sich in Mattis, einen Dussel, seine Welt, seine Sicht, seine Gefühle hineinversetzen kann, wie nah er sich in diesen Dussel hineinversetzt, ohne nur in einem Nebensatz einen solchen aus ihm zu machen, wie perfekt er die Dramatik in seiner Geschichte wachsen lässt, ist ausserordentlich. Mattis versucht seine Welt zu lesen, er sucht nach Erklärungen. Hege, seine Schwester, lebt unter dem gleichen Dach, auf der Schwelle zu einer ganz anderen Welt. Und die Tatsache, dass sie die Welt ganz anders liest, schmerzt Mattis bis aufs Mark.

Ein aussergewöhnliches Buch eines aussergewöhnlichen Dichters!

Tarjei Vesaas (1897–1970) war der älteste Sohn eines Bauern in Vinje/Telemark, dessen Familie seit 300 Jahren im selben Haus lebte. Vesaas wusste früh, dass er Schriftsteller werden wollte, verweigerte die traditionsgemässe Übernahme des Hofes und bereiste in den 1920er und 1930er Jahren Europa. 1934 heiratete er die Lyrikerin Halldis Moren und liess sich bis zu seinem Tod 1970 in der Heimatgemeinde Vinje auf dem nahe gelegenen Hof Midtbø nieder. Vesaas verfasste Gedichte, Dramen, Kurzprosa und Romane, die ihm internationalen Ruhm einbrachten. Er schrieb seine Romane auf Nynorsk, der norwegischen Sprache, die – anders als Bokmål, das »Buch-Norwegisch« – auf westnorwegischen Dialekten basiert. Abseits der Grossstädte schuf Vesaas ein dennoch hochmodernes, lyrisch-präzise verknapptes Werk mit rätselhaft-symbolistischen Zügen, für das er mehrmals für den Nobelpreis vorgeschlagen wurde. Als seine grössten Meisterwerke gelten «Das Eis-Schloss», für das er 1964 den Preis des Nordischen Rats erhielt, und «Die Vögel», das Karl-Ove Knausgård als «besten norwegischen Roman, der je geschrieben wurde» bezeichnete.

Hinrich Schmidt-Henkel, geboren 1959 in Berlin, übersetzt aus dem Französischen, Norwegischen und Italienischen u. a. Werke von Henrik Ibsen, Kjell Askildsen, Jon Fosse, Tomas Espedal, Louis-Ferdinand Céline, Édouard Louis und Tarjei Vesaas. Für seine Arbeit wurde er vielfach ausgezeichnet, u. a. (gemeinsam mit Frank Heibert) mit dem Straelener Übersetzerpreis der Kunststiftung NRW und zuletzt 2018 mit dem Königlich Norwegischen Verdienstorden.

Tarjei Vesaas «Boot am Abend. Nimm meine Hand. Der wilde Reiter», Rezension auf literaturblatt.ch

Beitragsbild © Rolf Chr. Ulrichsen

„Geschichten schreiben heisst misstrauisch sein. Lesen heisst, sich darauf einzulassen.“ Judith Hermann liest.

1999 bekam Judith Hermann den Bremer Förderpreis für ihr erstes Buch, den Erzählband „Sommerhaus später“. Ein vielversprechender Start in ein Schriftstellerinnenleben, dass mit seinem siebten Buch „Wir hätten uns alles gesagt“ längst sämtliche Versprechungen eingelöst hat; bei Leserinnen und Lesern, bei Buchhänderinnen – und mit Sicherheit auch bei ihrem Verlag.

4 Bände mit Erzählungen, 2 Romane und nun als siebtem, keineswegs verflixtem, ein Buch, das untertitelt ist mit „Vom Schweigen und und Verschweigen im Schreiben, Frankfurter Poetikvorlesungen“. Ein Buch weit weg von blosser Erklärung oder kühler Vorlesung, ungeheuer intim und grundehrlich. Aber auch verunsichernd und überraschend, nicht zuletzt mit Sätzen wie:
«Schreiben imitiert Leben, Verschwinden der Dinge, beständiges Zurückbleiben, unscharf werden, Erlöschen der Bilder.»


Judith Hermann, längst tief im Bewusstsein einer grossen Schar von Lesenden, als Grosse verankert, eine Autorin, die sich selbst noch immer nur schwer als Schriftstellerin bezeichnet, der ein Journalistikdozent einst nur mangelndes Schreibtalent attestierte, schreibt sich die Herzen der Leserinnen. Das bewies der volle Saal im Kunstmuseum St. Gallen!

Judith Hermann schreibt um ihre Person, ein Umstand, der in ihrem neusten Buch mehr als deutlich wird und ihre vorangegangenen Bücher noch einmal in ein ganz anderes Licht taucht. Eigentlich genau das, was unter dem Begriff „autofiktionales Schreiben“ in den letzten Jahren zu einer literarischen Welle wurde. Eine Welle, auf der Judith Hermann nicht reitet, aber eine, die sie mit auslöste. Judith Hermann umkreist Menschen, die ihr nahestehen, um festzustellen, dass jene nicht die sind, von denen man glaubt, sie zu kennen. So wie sie die Annäherung an ihre Prozesse des Schreibens nicht als eigentliche Annäherung versteht, sondern als wachsendes Bewusstsein nicht zu überwindender Distanz. «Ein allmählich dämmerndes Bewusstsein dafür, dass du selbstverständlich doch allein auf der Welt bist.»


Wer mit sieben Büchern, mehr Preise als Veröffentlichungen sein eigen nennt, scheint nicht nur bei Leserinnen und Lesern etwas ganz Spezielles auszulösen. Mit Sicherheit das Gefühl, dass das, was Judith Hermann schreibt, uns etwas angeht. Judith Hermann schiebt mich als Leser in Entscheidungssituationen, beschäftigt sich in ihren Büchern mit ihrem, meinem Bewusstsein, ihrem Zustand im Schreiben, weil Schreiben eine Form der Auseinandersetzung mit Bewusstsein ist.

Judith Hermanns Bücher, am meisten wohl ihr neustes „Wir hätten uns alles gesagt“, verunsichern und zwingen mich, der Lektüre mit einem Bleistift hinter dem Ohr zu folgen. „Geschichten schreiben heisst misstrauisch sein. Lesen heisst, sich darauf einzulassen.“

Rezension von «Wir hätten uns alles gesagt» auf literaturblatt.ch

Beitragsbilder © Gallus Frei-Tomic

Judith Hermann «Wir hätten uns alles gesagt», S. Fischer

Die Literaturhäuser St. Gallen und Thurgau laden ein:

In ihren Frankfurter Poetikvorlesungen unter dem Titel „Wir hätten uns alles gesagt“ steht der Untertitel „Vom Schweigen und Verschweigen im Schreiben“. Was Judith Hermann in ihrem berührend ehrlichen Buch mir als Leser offenbart, sind Geheimnisse aus ihrem Leben, die die Formen ausmachen, in die die Autorin ihr Schreiben bisher gegossen hat.

Mir gefiel in der Verlagsvorschau schon der Titel, zumal er im Vergleich zu den anderen ihrer Bücher erstaunlich lang ist. Aber das muss so sein, denn mit diesem Buch umarmt Judith Hermann ihre bisherigen Bücher, ihr bisheriges Schreiben. Sie klärt und umkreist erzählend. Von ihren 1000 Stunden Psychoanalyse bei Dr. Dreehüs, der in den 10 Jahren, in denen sie sich in seiner Praxis auf die Couch legte, kaum je etwas kommentierte, selten eine Frage stellte, einfach nur zuhörte, selbst dann, wenn sie schwieg. Von Ada, ihrer Freundin, die sie aus den Augen verlor, die sie an einem Geburtstag überraschend besuchte und niemanden sonst antraf, nur Ada selbst mit einer warmen Flasche Sekt. Von ihrer Grossmutter, die ihr mehr Zuhause gab, als es die mit sich beschäftigten Eltern je hätten geben können. Von ihrem Grossvater, vor dem sie sich fürchtete, der mehr und mehr abrutschte, bis er wieder sich selber wurde. Von Marco, einem Freund, einem Künstler, der am Schluss im Altenheim vor sich hindämmerte.

Und dabei ist „Als hätten wir uns alles gesagt“ alles andere als eine Familienaufstellung, die Erklärung dafür, warum das Schreiben zu einer Welt wurde, in der sie sich selbst wiederfindet. Eine Geschichte ist ein Schutzraum für die Erzählerin, ein Gehäuse wie die Schale einer Nuss. Judith Hermann schreibt, als würde sie ihr Leben offenbaren, macht aber klar, wie sehr das Geschriebene das Wirkliche verbirgt und das Ungeschriebene deutlich macht. Judith Hermann erzählt von der Auseinandersetzung, nicht so sehr von jener mit ihrer Umgebung, als mit der in ihrem Inneren. Wie sehr das Schreiben eine Linie zieht, die von allen anderen Möglichkeiten des Seins entfernt. Schreiben heisst auslöschen.

„Geschichten schreiben heisst misstrauisch sein. Lesen heisst, sich darauf einzulassen.“

Judith Hermann «Wir hätten uns alles gesagt», S. Fischer, 2023, 192 Seiten, CHF ca. 29.90, ISBN 978-3-10-397510-9

Judith Hermann entmystifiziert das Schreiben, dass das Schreiben sehr wohl aus dem Erlebten schöpft, aber nicht abbilden will, nicht einfach nur nacherzählen, ein Bild an eine leere Wand malen. Schreiben ist das Ausschliessen aller anderen Möglichkeiten.

Sie erzählt von ihrer Familie, einem Haus in dem vor allem geschwiegen wurde, von einem Leben, dass die Analyse zu brauchen schien, um aufzubrechen. Hier hörte jemand zu, so wie der Leser der Schreibenden zuhört. In ihrer Familie vergass man das Zuhören, auch wenn das Haus, in dem sie aufwuchs voll mit materialisierter Geschichte zu sein schien, zwischen Bücherregalen, Büchern in Stapeln.

Judth Hermann umkreist Menschen, die ihr nahestehen, um festzustellen, dass jene nicht die sind, von denen sie glaubt, sie zu kennen. So wie sie die Annäherung an ihre Prozesse des Schreibens nicht als eigentliche Annäherung versteht, sondern als wachsendes Bewusstsein nicht zu überwindender Distanz. Ein allmählich dämmerndes Bewusstsein dafür, dass du selbstverständlich doch allein auf der Welt bist.

Aus einer Laune heraus folgt sie auf der Strasse ihrem ehemaligen Psychoanalytiker, eigentlich nur, weil sie ihn fragen wollte, wie er die Beschreibung seiner selbst in einer ihrer Erzählungen gefunden habe, nachdem sie ihm ihr Buch („Lettipark“) mit der Erzählung «Träume» in den Briefkasten gelegt hatte. „Weshalb waren Sie sicher, dass ich klarkommen würde?“, fragt sie. „Weil ich Sie, trotz allem, immer als ein wenig wehleidig empfunden hatte.“ Weh und Leiden. Judith Hermann schreibt: ein Wort wie ein Talismann, ein Schutzwort. Vielleicht liegt genau darin der Schlüssel für Judith Hermanns Erfolg, für die Resonanz, die sie mit ihren Büchern erzielt. Jene Empfindsamkeit. Und mit Sicherheit sind es auch einzelne Sätze und Bilder, die bei der Lektüre ihrer Bücher unweigerlich zu eigenen Empfindungen werden, die sich einbrennen.

Judith Hermanns Sprache ist von grosser Zartheit. Es ist, als würde sie mit mir allein ein Geheimnis teilen.

Judith Hermann wurde 1970 in Berlin geboren. Ihrem Debüt «Sommerhaus, später» (1998) wurde eine ausserordentliche Resonanz zuteil. 2003 folgte der Erzählungsband «Nichts als Gespenster». Einzelne dieser Geschichten wurden 2007 für das Kino verfilmt. 2009 erschien «Alice», fünf Erzählungen, die international gefeiert wurden. 2014 veröffentlichte Judith Hermann ihren ersten Roman, «Aller Liebe Anfang». 2016 folgten die Erzählungen «Lettipark«, die mit dem dänischen Blixen-Preis für Kurzgeschichten ausgezeichnet wurden. Im Frühjahr 2021 erscheint der Roman «Daheim«, der für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert wurde. Für ihr Werk wurde Judith Hermann mit zahlreichen Preisen geehrt, darunter dem Kleist-Preis und dem Friedrich-Hölderlin-Preis. Die Autorin lebt und schreibt in Berlin.  

Illustration © leale.ch / Literaturhaus Thurgau

Die Gäste im Literaturhaus Thurgau zwischen Mai und August 2023

«Vielleicht braucht es für Genauigkeiten die totale Reduktion der inneren Betriebsamkeit.» Lisa Elsässer

Liebe FreundInnen des kleinsten aber feinsten Literaturhauses,
zücken Sie Ihre Agenden, Planer, Mobilphones oder Wandkalender und markieren Sie die folgenden Termine. Wir danken Ihnen für Ihr Interesse, Ihre Treue und den Mut, sich in Neues hineinzugeben.

Donnerstag, 4. Mai, 19.30 Uhr
Ein Abend mit Lisa Elsässer
„Elsässers Sprache, die aus dem Unbewussten kommt, funktioniert wie eine Lupe. Sie vergrössert und bündelt das Licht, bis es plötzlich brennt.“ Felix Schneider, SRF Literatur

Donnerstag, 11. Mai, 19.30 Uhr
Nadja Küchenmeister „Im Glasberg“
Samstag, 13. Mai, 16 Uhr: Nachlese
In der jungen deutschsprachigen Lyrik gilt Nadja Küchenmeister als einzigartige Stimme. Sie verwebt Erinnerungen mit Märchen und Traumbildern – und findet im Unscheinbaren das Besondere, im Nebensächlichen das Wesen der Dinge. Ihre Dichtung ist immer suchend, tastend unterwegs: sprachspielerisch und zugleich von hoher formaler Schönheit.

Donnerstag, 1. Juni, 19.30 Uhr
Robert Prosser „Verschwinden in Lawinen“, Performance mit Gespräch
Percussion: Lan Stricker
In einem Bergdorf in Tirol herrscht am Ende der Wintersaison gespannte Stille: Zwei Einheimische sind von einer Lawine verschüttet worden. Während die junge Frau um ihr Leben kämpft, fehlt von ihrem Freund vorerst jede Spur.

Freitag, 9. Juni, 19.30 Uhr
Milena Michiko Flašar
„Oben Erde, unten Himmel“
Herr Ono ist unbemerkt verstorben. Allein. Es gibt viele wie ihn, immer mehr. Erst wenn es wärmer wird, rufen die Nachbarn die Polizei. Und dann Herrn Sakai mit dem Putztrupp, zu dem Suzu nun gehört. Sie sind spezialisiert auf Kodokushi-Fälle.

Donnerstag, 15. Juni, 19.30 Uhr
„Der Garten“ von Paul Bowles
mit Florian Vetsch (Autor), Dagny Gioulami (Schauspielerin, Autorin) und Klaus-Henner Russius (Schauspieler)
Szenische Lesung und Gespräch zu Paul Bowles› Bühnenstück „Der Garten“ (Tanger 1967). Paul Bowles (1911–1999) zählt zu den bedeutendsten Autoren der amerikanischen Literatur in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts.

Mittwoch, 21. Juni, 20 Uhr
Judith Hermann „Wir hätten uns alles gesagt“ 
in Kooperation mit dem Literaturhaus St. Gallen, im Kunstmuseum St. Gallen
„Judith Hermanns Bücher sind unbeirrbare Erkundungen der menschlichen Verhältnisse.“ Roman Bucheli, NZZ

Donnerstag, 6. Juli
Tabea Steiner „Immer zwei und zwei“
18 Uhr „Literatur am Tisch“
20 Uhr Lesung
Natali heiratet Manuel, Mitglied einer Freikirche, und wird so Teil einer streng christlichen Gemeinschaft. Zunehmend ist sie um ihre eigene und die Unabhängigkeit ihrer Töchter besorgt. Als sie die alleinstehende Theologin Kristin kennenlernt, wird ihr klar, dass sie so nicht weiterleben kann.

Samstag, 19. August, 18 Uhr, Sommerfest; Ausstellung, Lesungen
18.30 Uhr: Ruth Loosli, Schriftbilder und Lyrik, begleitet von Quirin Oeschger am Hackbrett 
20 Uhr Sarah Elena Müller „Bild ohne Mädchen“
„Sarah Elena Müller bringt eindrucksvoll zum Ausdruck, wie viel Uneinsichtigkeit, wie viel Hilf- und Sprachlosigkeit die Aufarbeitung eines Missbrauchsfalls oft erschweren oder gar verhindern. Ein starkes Debüt.“ Julian Schütt
«Ruth Loosli schreibt, wie andere tanzen. Anmutig, leichtfüssig, den Menschen zugeneigt.» Susanne Rasser, Salzburg

Illustrationen leafrei.com / Literaturhaus Thurgau

Judith Hermann «Daheim», S. Fischer

Dreissig Jahre nachdem sie beinahe mit einem Zauberer und einer Kiste, in der sie dreimal pro Woche zersägt worden wäre, auf eine Kreuzfahrt nach Singapur gegangen wäre, erinnert sich die Frau. Sie erinnert sich in einem Haus, in dem sie sich einrichtete, das ihr Daheim werden sollte. Judith Hermanns Roman „Daheim“ ist voller überraschender Wendungen, ein einziger Strudel, der Gegenwart und Vergangenheit vermengt.

Ein kleines Haus nicht weit vom Meer. Im Erdgeschoss eine Küche, ein Wohnzimmer, ein Schlafzimmer und im ersten Stock ein weiteres Zimmer, das sie aber gar nicht braucht. Es ist das letzte Haus. Danach ist der Weg bloss noch Sand. Sie wohnt in dem baufälligen Haus, weil nicht weit davon ihr Bruder eine Kneipe, einen Schuppen direkt am Meer betreibt, weil er im Frühling die Bretter von den Fenstern nimmt und er eine Hilfskraft braucht, die den Laden am Laufen hält. Ihr Bruder ist Arbeitgeber, vielleicht auch ein bisschen Asylgeber, denn sonst hält sie nichts an dem Ort, schon gar nicht die neue Freundin ihres Bruders, mehr als dreissig Jahre jünger als er, unstet und verschroben, unergründlich, ihren Bruder quälend. Eine junge Frau, die er zwischendurch zur Trailersiedlung fahren und auf sie warten muss, bis sie eine halbe Stunde später einen der Trailer wieder verlässt. Sie heisst Nike!

Judith Hermann «Daheim», S. Fischer, 2021, 192 Seiten, CHF 31.90, ISBN 978-3-10-397035-7

Im Frühling gibt es in der Kneipe noch nicht viel zu tun. Sie freundet sich mit ihrer Nachbarin an, mit Mimi, die auch eines der freistehenden Häuschen bewohnt, das sie einst von einer alten Frau übernahm, vollgestellt mit Möbeln und Dingen, die aus der Zeit gefallen sind. Mimi ist nicht weit von den Häusern auf einem Hof aufgewachsen, den ihr Bruder Arild seit dem Auszug seiner Frau alleine führt. Er allein mit tausend Schweinen. Mimi nimmt ihre Nachbarschaft so selbstverständlich wie ihr Bruder die Tatsache, dass sie nun irgendwie dazugehört. Obwohl die Erzählerin eigentlich ihre Ruhe will, tagsüber ihre Arbeit in der Kneipe, die Abende und Wochenenden für sich, für eine Flasche Wein und ihre Erinnerungen.

Sie hatte Familie. Hat sie eigentlich noch immer. Aber nachdem ihre Tochter Ann ausgezogen war, sich auf eine Reise machte ohne Ziel und Rückkehrdatum, gab es keinen Grund mehr bei Otis, ihrem Mann zu bleiben. Auch wenn sie Otis noch immer Briefe schreibt, auch wenn ihr die Erinnerungen an die Zeit als Familie noch immer weh tut, auch wenn Otis irgendwie noch immer ihr Mann ist. Ein Sammler, ein Messi, unter einem Dach, dass er sein Archiv nennt, in dem er alles hortet, was man dereinst, wenn die Welt vor die Hunde geht, brauchen wird. Auch wenn von Ann nur ein paar kurze Mitteilungen kommen, eigentlich bloss Koordinaten von irgendwelchen Orten. Die Liebe aber ist geblieben.

Mimi ihre Nachbarin, Arild ihr Bruder auf dem Hof mit seinen Schweinen, der manchmal rüberkommt, um in der Marderfalle hinterm Haus den Köder zu ersetzen. Und vielleicht noch die Eltern von Mimi und ihrem Bruder, ihr eigener Bruder mit „seiner“ Freundin, der er sich verschrieben hat. Und die Otis und Ann. Eine Welt, die nicht mehr ihr gehört und sie trotzdem in eine Kiste einsperrt, eine Kiste, aus der sie es nicht schafft, trotz der Distanz.

Sie erinnert sich. An die gute Anfangszeit mit Otis, an die Familienzeit, an jenen Moment zuvor, als sie mit dem Zauberer und der Kiste nach Singapur hätte fahren können und es im letzten Moment mit schon gepackten Koffern sausen liess. Ein anderes Leben. Ein Leben ohne Otis, ohne Ann, ohne die Kiste jetzt. Aber dafür mit einer Kiste, mit der der Zauberer sie dreimal pro Woche in zwei Hälften zersägt hätte. Zwei Hälften, in die sie auch ohne den Zauberer damals geworden ist. Eine Hälfte, die existiert und eine Hälfte, die sich erinnert.

Judith Hermanns Roman „Daheim“ ist unkonventionell, überraschend, verunsichernd, kaum je vorhersehbar. Mit einem Mal eröffnen sich Bilder, die mich ebenso faszinieren wie verstören. Und hinter dem ganzen Roman steckt latent eine Endzeitstimmung, etwas Fatalistisches. Als hätte man allem die Zukunft geraubt. „Daheim“ bleibt hängen!

Judith Hermann wurde 1970 in Berlin geboren. Ihrem Debüt «Sommerhaus, später» (1998) wurde eine ausserordentliche Resonanz zuteil. 2003 folgte der Erzählungsband «Nichts als Gespenster». Einzelne dieser Geschichten wurden 2007 für das Kino verfilmt. 2009 erschien «Alice», fünf Erzählungen, die international gefeiert wurden. 2014 veröffentlichte Judith Hermann ihren ersten Roman, «Aller Liebe Anfang». 2016 folgten die Erzählungen «Lettipark», die mit dem dänischen Blixen-Preis für Kurzgeschichten ausgezeichnet wurden. Für ihr Werk wurde Judith Hermann mit zahlreichen Preisen geehrt, darunter dem Kleist-Preis und dem Friedrich-Hölderlin-Preis. Die Autorin lebt und schreibt in Berlin. Der Roman «Daheim» war für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert.

Beitragsbild © Michael Witte

Grossen Namen, z. B. Judith Hermann an den 1. Weinfelder Buchtagen 2017

Zuerst war da die Zusage der Schriftstellerin Judith Hermann. Diese machte Mut und es wurden daraus die 1. Weinfelder Buchtage 2017. Katharina Alder, Organisatorin und leidenschaftliche Buchhändlerin in Weinfelden, machte das eine schon klar: «Die 1. Weinfelder Buchtage werden nicht die letzten sein!»

Für Katharina Alder sind Bücher mehr als eine Verpflichtung. Erst recht in einer Welt, die sich immer mehr vom Fremden distanzieren, am liebsten mit hohen Mauern abschotten will. Wer liest, muss neugierig sein, auch auf das Fremde. Für Katharina Alder sind Bücher ein Teil ihrer grossen Leidenschaft, die sich nicht nur in ihrer Buchhandlung Klappentext mitten in Weinfelden zeigt. Sie will sie hinaustragen, zusammen mit einem Team, zusammen mit Autorinnen und Autoren wie dem Urweinfelder Peter Stamm und den weit gereisten Judith Hermann, Takis Würger, Lukas Hartmann, Christoph Poschenrieder, Tim Krohn und anderen.

Judith Hermann reiste mit dem Zug von Berlin nach Weinfelden, weil auf dem Berliner Flughafen das Bodenpersonal streikte. Damit wurde die Reise länger als geplant, beinahe episch. Aber sie war da, hinter einem kleinen Tisch im Rampenlicht, im edlen Rathaussaal zu Weinfelden und machte schon einmal klar, nur lesen wolle sie nicht, es müsse ein Gespräch sein. Nur schon weil es Geschichten sind, die man nicht einfach hintereinander vorlesen kann. Zu allem entschlossen, selbst in der tiefsten Provinz, die sich dann aber erstaunlich aufmerksam, engagiert und präzise gab, als Judith Hermann nach der ersten Geschichte den Blick ins Publikum richtete und auf Fragen wartete.

Judith Hermann erzählte vom Schreiben, wie das Private ins Schreiben versenkt wird. Wie sie beim Schreiben von Erzählungen oft nicht weiss, wo genau ihr Schreiben hinführt. Und selbst wenn die Geschichten geschrieben und veröffentlicht sind, bleibt ein Rest Geheimnis, die Unsicherheit selbst bei ihr, wo genau der Kern einer Erzählung ist. Geschichten führen die Autorin. Die Figuren selbst sind es, die die Geschichten zum Leben bringen und damit viel Geheimnis zurücklassen. Sie bereite sich auf das Schreiben vor wie auf eine Expedition. Der schönste Moment des Schreibens aber sei der Schwebezustand, während dem man als Schreibende ganz allein mit dem dem Text ist, der Geschichte und den Personen ganz nah. Erzählungen wissen nichts mehr als ihre Leser, würden dem Leser viel mehr überlassen als ein Roman, der in der Regel abgeschlossen ist. Judith Hermann lässt den Leser gerne allein, weil sie weiss, dass nur ein übrig gebliebenes Rätsel den Leser zum Mitdenken zwingen kann.

Schriftsteller sind beneidenswert. Wer sonst kann alte Bekannte einfach so zu sich zurückholen? Wer kann Menschen, seien sie nun real oder fiktiv, so nah wie ein Schriftsteller kommen? Wer kann Erinnerungen so lustvoll erfinden? Wer kann wie ein Schriftsteller ungelöst Heikles, Rätselhaftes mit Schreiben bannen, ohne verstehen zu müssen, was genau passiert?

Judith Hermann zwang zum Nachdenken. Und das verdanke ich den mutigen Organisatoren der 1. Weinfelder Buchtage!

Webseite der Buchhandlung Klappentext in Weinfelden

Judith Hermann «Lettipark», S. Fischer

Judith Hermanns neustes Buch «Lettipark» ist kein einem Roman nachgeschobener Erzählband, der im Schweif seines Vorgängers den Weg zu den Kassen finden soll. 17 Erzählungen, darunter Meisterwerke, gläserne Texte mit grösstmöglichem Deutungsspielraum. Geschichten vom Entschwinden, vom Verlust, keine fest eingerahmten und eingegrenzten Geschichten, sondern Szenen am offenen Herzen, der Zukunft ungewiss.

Nicht das Spektakuläre reizt Judith Hermann zu schreiben, aber Bilder aus Vergangenheiten und Gegenwart, die sich bei ihr einbrannten.
Vom kleinen Vincent, dessen Mutter im Winter zuvor gestorben war und er wie ein Grosser mit seiner kleinen Schubkarre Kohle in den Keller schippen will.
Von Freundinnen von einst, die sich auf einer Party begegnen, zwei, die einst gemeinsam in einer Studentenwohnung lebten, jetzt in fremden Welten voneinander getrennt, die eine als Fotografin Subjekt, die andere als Schauspielerin Objekt.
Von der Tochter, die ihren Messi-Vater besucht und beim Abschied das Gefühl vom allerletzten Küchenstück und gar nie wirklich einen Vater besessen zu haben mitnimmt.

u1_978-3-10-403716-5Judith Hermann beschreibt keine Verletzungen, aber die Narben, die sie alle mit sich herumtragen, die Male, Mutter- und Vatermale, Freundschafts- und Liebesmale, die nichts vergessen lassen. Und sie beschreibt sie mit Sätzen, die kurz und messerscharf sind, manchmal in ihrer Repetition wie Faustschläge auf blaue Flecken. «Er will es so. Genau so und nicht anders. Er will auf seinem gepackten Koffer inmitten einer Szenerie aus zusammenhangslosem Chaos sitzen, auf einem Trümmerhaufen, dann kann er sich den Anforderungen des Lebens halbwegs stellen.» Vielleicht einer der Schlüsselsätze im Buch. Einer jener Sätze so deutlich und klar in Geschichten, die ausufern, nicht in ihrer Erzähllänge, aber in der Potenz, die sie mit sich tragen.

Von zwei Paaren, die sich zum Essen in der Stadt treffen, vom Mond beschienen, jenem Ort, wo Neil Armstrong, den der eine Mann einmal getroffen zu haben behauptet, einen Teil des Astronauten zurückbehalten habe, so wie jeder Teile von sich zurücklässt, Teile, die unerreichbar verloren sind. Geschichten von Menschen, die wie gefaltete Papierflieger für Sekunden glauben, die Schwerkraft überwunden zu haben. Ein Buch über das Abhandenkommen von Nähe, das Verschwinden von Liebe, wenn nur noch die Hülle von Leere aufgeblasen zurück bleibt.

Judith Hermann geriet mit ihrem letzten Roman «Aller Liebe Anfang» übermässig in tadelnde Kritik, mit einem Roman, der mich beeindruckte. Mit diesem Erzählband straft sie jene mächtig, die ihr dumpf vorwarfen, sie könne nicht schreiben und habe nichts zu sagen. Unbedingt lesen!

AF_Hermann_Judith__562_Druck.jpg.43391514-1Judith Hermann wurde 1970 in Berlin geboren. Ihrem Debüt «Sommerhaus, später» (1998) wurde eine ausserordentliche Resonanz zuteil. 2003 folgte der Erzählungsband «Nichts als Gespenster». Einzelne dieser Geschichten wurden 2007 für das Kino verfilmt. «Alice» (2009), fünf Erzählungen, wurde international gefeiert. Zuletzt erschien der Roman «Aller Liebe Anfang». Für ihr Werk wurde Judith Hermann mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, darunter dem Kleist-Preis und dem Friedrich-Hölderlin-Preis. Die Autorin lebt und schreibt in Berlin.