Bernd Schroeder «Warten auf Goebbels», Hanser

Während sich in den letzten Monaten des 2. Weltkriegs das Grauen, die Bomben und Granaten immer unüberhörbarer Richtung Reichshauptstadt Berlin donnern, dreht in Altenburg in der Heide die letzte Filmcrew einen Spielfilm, der am 1. Mai 1945 in den deutschen Kinos den Endsieg mitfeiern soll.

Konrad Eisleben dreht einen Film über den Rückkehrer Hans Weimar, der als strahlender Sieger zu seiner Familie zurückkehrt. Ein Film, so das Ministerium, der Dank sein soll an «das deutsche Volk,  das durch seine Opferbereitschaft und seinen ungebrochenen Glauben an den Führer diesen Sieg möglich gemacht hat». So surreal die Szenerie zu Beginn der Dreharbeiten erscheint, potenziert sie sich laufend. Ein Regiesseur, zeitlebens immer im zweiten Glied hinter den Grossen, dann aber doch von Joseph Goebbels selbst in den filmischen Adelsstand des Professors geadelt, dreht einen Film, von dem es kein Drehbuch gibt. Tröpfchenweise erreicht das Filmset Order um Order aus Berlin und Eisleben versucht krampfhaft der Geschichte und den Protagonisten eine Richtung zu geben.

Zwischen Fanatismus und Fatalismus

Von der linientreuen Produktionsleitung, die auch nicht zögert, mit Drohungen und geladener Pistole ihre Macht zu unterstreichen bis zu zwei Juden, die man im Hühnerstall hält, um sie im richtigen Moment als Persilschein voranzustellen, wabert die Szenerie zwischen Lethargie und Hysterie. «Warten auf Goebbels» ist ein durchaus ernstzunehmender Einblick in die Produktion eines Nazi-Propaganda-Spielfilms, bei dem Parteibonzen realitätsblind und führergeil selbst im Winter 44/45 noch an den Endsieg des Tausendjährigen Reiches glauben. Witzig und böse zugleich. Das Personal dieser «Arche Noah» hat alles; vom linientreuen Bürgermeister des Ortes in unterwürfiger Habachtstellung bis zu Hauptdarstellerin Johanna Leise, die ihren Eltern mit falschen Papieren zur Flucht verhalf. Und als sich Propagandaminister Joseph Goebbels ankündigt, sich selbst im Film zu spielen, eine Rede zu halten, wird aus dem Set ein Pulverfass. Die Lunte brennt! Eine Rede zum Sieg über das internationale Judentum und die feindlichen Mächte, deren satanisches Ziel die Zerstörung der Welt nicht erreicht habe. Bis ein Schuss fällt, die Ratten das sinkende Schiff verlassen und ein englischer Soldat mit Gewehr im Anschlag das Set stürmt, droht die Situation mehrfach zu kippen.

Bernd Schroeder inszeniert ein irres Kammerstück, das glaubhaft zeigt, was passiert, wenn die Welt brennt und der Kampf ums Überleben die Masken von den Gesichtern reisst. Bernd Schroeder erzählt collageartig. Man liest, was in der Scheune in Altenburg passiert. Die Stimme Joseph Goebbels, der sich in fanatischer Ergebenheitan der Seite des Führers sonnt. Die kurzen Lebensläufe der Setmitglieder, die zeigen, wie unterschiedlich die Wege bis zur Schicksalsgemeinschaft am Ende der nationalsozialistischen Zeitrechnung sind. Und Meldungen von der Front, von den Tausenden von Tonnen Bomben und unsäglich vielen Opfern, die dem Tausendjährigen Reich ein Ende mit Schrecken bereiten sollen.

Bild: Peter-Andreas Hassiepen

Bernd Schroeder, geboren 1944 im heute tschechischen Aussig, wuchs im oberbayerischen Fürholzen auf. Er lebt in Berlin. Als Autor und Regisseur zahlreicher Hör- und Fernsehspiele erhielt er 1985 den Adolf-Grimme-Preis und 1992 den Deutschen Filmpreis. Zuletzt erschienen bei Hanser: «Hau» (Roman, 2006), «Alte Liebe» (Roman, 2009, mit Elke Heidenreich), «Auf Amerika» (Roman, 2012), «Wir sind doch alle da» (Roman, 2015) und «Warten auf Goebbels» (Roman, 2017).

Titelbild: Sandra Kottonau

Frédéric Zwicker am 30. März im Kulturforum Amriswil, Prolog Wortlaut 2017

Das 9. St. Galler Literaturfestival Wortlaut eröffnet seinen Veranstaltungsreigen um 19.30 im Kulturforum Amriswil. «Hier können sie im Kreis gehen» ist der Erstling des jungen Frédéric Zwicker, ein Roman, der mit viel Tiefgang und Witz bestens unterhält. Die Lesung dauert eine Stunde. Anschliessend Barbetrieb und Gelegenheit mit dem Autor in Kontakt zu kommen. Moderation: Gallus Frei-Tomic

Foto: Marlies Scarpino

Johannes Kehr ist 91. Und weil es irgendwann sowieso soweit sein wird, versteckt sich Kehr hinter einer vorgespielten Demenz in einem Pflegeheim der Stadt. „Ich habe das Gericht durch die Hintertür verlassen.“ Nachdem ihm der Tod seinen Sohn, seine Frau und seinen Freund nahm und er dem verbleibenden Rest der Familie nicht zur Last fallen will, verkriecht er sich hinter seinem selbst gewählten Vorhang. Eine letzte Inszenierung, die gar nicht so leicht zu spielen ist, akribische Vorbereitungen verlangte und keinen Fehler erlaubt. Endlich im Einzelzimmer in Ruhe gelassen kommentiert Kehr seine meist unfreiwillig mehr oder weniger anwesenden Mitbewohner und erzählt in kleinen Stücken die Geschichte seines Lebens. Als Waise ungeliebt bei Verwandten aufgewachsen hilft ihm der Zufall, aus den Mühlen von Armut, Stigmatisierung und Einsamkeit zu entfliehen. Er rettet das Leben eines Ertrinkenden, dessen Familie ihn am Ertrinken in seinem Unglück rettet. Er kämpft sich hoch, trotz einer verweigerten und nie überwundenen Liebe, durch ein Leben voller Arbeit und Pflichterfüllung, bis ihm am Ende nur noch Sophie bleibt, seine Enkelin. Aber auch Sophie weiht er nicht ein in seinen letzten Protest, seine Flucht nach innen. Ihr, ihrem Foto im Zimmer auf der Etage, erzählt er, ihr und dem Kater, einem Tier, das sich auch nicht einsperren lässt. „Am Ende bliebst mir nur du, Sophie. Aber ich hätte dir nicht so lange bleiben dürfen. Ich beklage mich nicht, aber das Leben hat mich abgenützt, hat seine Narben hinterlassen. Am Ende war es auch für mich zu viel. Ich habe die Kraft verloren, mich zu wehren. Ich wusste nicht mehr, wozu ich mich noch wehren sollte. Und ich sah keinen Ausweg. Ausser diesem hier.“

Vorverkauf Tickets Bücherladen Brigitta Häderli, Amriswil Webseite

Webseite WORTLAUT

Herta Müller «Die Lüge ist ein Klettertier», Wortcollagen

Schon erstaunlich. Minuten bevor Herta Müller den Saal im Naturmuseum Basel betritt, murmeln die Wartenden nur noch. Die Leiterin des Literaturhauses Basel Katrin Eckert steht vor den Stuhlreihen und flüstert: «Alles bereit?» Weil da jemand kommt, der alleine duch seine Anwesenheit adelt. Bis auf den letzten Platz besetzt, ausverkauft, in den ersten Reihen ein grosser Teil der Basler Literaturprominenz: Verena Stössinger, Simone Lappert, Rudolf Bussmann, Martin R. Dean und viele mehr.

Zuerst las die Nobelpreisträgerin Herta Müller aus ihrem letzten bei Hanser erschienenen Prosawerk «Mein Vater war ein Apfelkern», las Erinnerungen zu ihrer Kindheit und Jugend in Rumänien, überzeugt davon, eine Autorin dann am besten zu verstehen, wenn man weiss, woher sie kommt. Herta Müller wuchs unter der Diktatur Nicolae Ceaușescu in Rumänien auf, auf dem Land, eng verbunden mit Einsamkeit und den Repressalien eines totalen Überwachungsstaats. Eine Kindheit, in der sie mit sich selbst das Beobachten lernte. Herta Müller las über das Fremdsein, selbst als Kind, von der Angst, «von der Welt gefressen zu werden». Und wenn die Autorin aus ihrer Kindheit liest und erzählt, hört und spürt man, dass die Bilder, aus denen die Autorin heute noch schöpft, damals schon glänzten, wohl noch nicht in abstrakten Worten, aber in konkreten Bildern, die zeugen, wie ein Mädchen mit Geschichten und Bildern im Innern die Welt zu erklären versucht. Selbst ihre Sicht auf die Natur, die Pflanzen, dem einzig wirklich Ästhetischen in einer pseudosozialistischen Umgebung, Pflanzen, die sich nicht um Gewalt und Grausamkeit zu kümmern hatten, sie in keiner Weise kommentierten, schienen sich gegen sie zu verbünden, mit dem Machthaber und seinem Apparat zu kollaborieren.

Herta Müller, eine witzige, sprudelnde, feine Dame in hochhackigen Schuhen, die sich selbst im freien Sprechen auf der Bühne von Pointe zu Pointe hangelt, die ihr entgegenzurollen scheinen, die Lacher und den Applaus geniesst, das Publikum fesselt. Erst recht, wenn sie aufsteht, rückwärts an den Bühnenrand steht und ihre Gedichtcollagen liest, die gross auf eine Leinwand projeziert sind.

Sie habe aus einer Not, zufälltig mit den Collagen begonnen. Viel unterwegs wollte sie Karten schreiben, ein paar Worte an Freunde verschicken. Aber die Ansichtskarten in Rumänien waren derart hässlich, dass sie aus Zeitschriften Wörter und Bilder schnitt, sie zu Collagen klebte und diese auf selber gekauften Karten zu verschicken begann. Buntes Papier aus der grau-in-grauen Welt Runmäniens. Sie begann zu sammeln, farbiges Papier, Bilder und Wörter, viele Wörter, tausende von Wörtern, richtete zuhause einen Wörtertisch ein, der schnell zu klein wurde, kaufte Schachteln und Schubladen, begann alphabetisch zu ordnen, richtete Werkstätten ein, eine mit rumänischen, eine mit deutschen Wörtern. Wenn sie keine Prosa schrieb, sass sie an ihrer Werkstatt, einer Arbeit, bei der «die Wörter von aussen kommen», jedes Wort ein kleines Theater, eine Inszenierung, selbst die gewöhnlichsten, alle ein Unikat. Und dann die Schönheit der farbigen Schnipsel, die Ästhetik eines aufgeklebten Arrangements. Die Arbeit an den Gedichtcollagen gebe ihr Halt, nicht zuletzt darum, weil die Auseinandersetzung mit ihrer Prosa, mit Vergangenheit und Gegenwart, ein schmerzhafter Prozess sei, das Suchen und Kleben ein Ausgleich. Ganz oft entstehe ein Sog, nur schon deshalb, weil sie Wörter findet, denen sie gerne einen Platz geben würde, die sie nicht so leicht einfach in eine Schublade zurückgeben kann. Herta Müller spielt mit Wörtern und Sätzen, begegnet ihnen wie den verschiedensten Pflanzen in einem unendlich grossen Garten. Eine sinnliche Arbeit, ganz anders als die Prosaarbeit am Computer.

Es gibt «Dinge», die nicht erledigt werden können, nicht in einem ganzen Leben, um die sich das Denken ein ganzes Leben lang dreht. Es brauche unsäglich viel Kraft aus einem «beschädigten Leben», das Schreiben notwendig macht, dem Trauma entgegenzutreten, sich nicht zu ergeben.

Wer noch nicht mit dem Lesen Herta Müllers Collagengedicht begonnen hat, kaufe sich eines der Bücher beim Hanser Verlag, schlage es auf, lasse es liegen und wirken. Es besteht akute Ansteckungsgefahr.

Herta Müller eröffnte mit ihrer Lesung das 14. Internationale Lyrikfestival in Basel

 

Navid Kermani «Sozusagen Paris», Hanser

Navid Kermani, deutsch-iranischer Schriftsteller, Publizist und Orientalist, Träger vieler Preise, mit allem Recht den des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels 2015, ist eine Stimme, die sich einmischt. Ob als Berichterstatter aus Krisengebieten, als Begleiter von Flüchtlingen, als Redner oder gar als Kandidat eines hohen politischen Amtes schreibt und spricht er uns ins Gewissen. Umso erstaunlicher sein neuer Roman «Sozusagen Paris».

Ein Autor, eigentlich Navid Kermani, liest in irgendeiner deutschen Stadt aus seinem Buch. Nachdem man ihm freundlich applaudiert hatte und er sich fragt, was aus einem angefangenen Abend in der Provinz werden würde, stehen jene an, die ihr Buch gerne signieren lassen wollen. «Aber nicht für Jutta» schreckt ihn eine Stimme aus seiner Benommenheit. Die Frau, die neben ihm steht, war im Buch das Mädchen Jutta, das Mädchen einer Liebesgeschichte zweier Fünfzehnjähriger, aus der er eben vorgelesen hatte. Nach dreissig Jahren aus der Vergangenheit aufgetaucht, auch wenn sie im wirklichen Leben nicht Jutta heisst. Mehr aus Verlegenheit und Ertapptheit tröstet der Autor die Frau auf später, in ein paar Minuten, obwohl er weiss, dass Veranstalter und hiesige Kulturbeflissene auch noch ein Stück seiner Aufmerksamkeit beanspruchen werden. Später trifft er sie auf der Strasse vor dem Lokal, seine Romanliebe, dreissig Jahre älter. Irgendwann stehen die beiden in ihrem Wohnzimmer, sie mittlerweile Bürgermeisterin, verheiratet mit einem Arzt, Mutter halbwüchsiger Kinder. Man steht vor dem langen Regal mit Büchern, trinkt Wein, öffnet nach Mitternacht noch eine zweite Flasche, während der Ehemann unsichtbar ein Stockwerk höher an Arztrechnungen schreibt. Man trinkt und redet; vom Altern, von der Zeit, davon, dass wir den Dingen wie den Menschen mit inneren Augen begegnen, innerer Wahrnehmung, die sich nicht ans Objektive hält. Von der Liebe und davon, dass der Hass dazugehört, dass im Geliebten alles Heil und alles Übel liegt. Er von seiner Trennung, sie von ihrem Mann, der nach zwanzig Jahren Ehe unweigerlich nicht mehr der ist, den sie einst heiratete. Von den Vorstellungen dessen, was die Zeit bringen wird, im Kleinen auch in dieser Nacht, die sich der Autor in immer anderen Farben ausmalt. Während die Situation im Wohnzimer durch Wein und Rauch immer entrückter wird, die Gespräche immer offensichtlicher am Intimen vorbeischrammen, sitzt der Ehemann nebenan und schreibt Rechnungen.

Navid Kermanis Roman ist nicht die Wiedergabe einer Geschichte, ein nacherzählter Abend, auch nicht die Summe von Erinnerungen. So wie die beiden im Wohnzimmer vor dem Bücherregal stehen, scheint Navid Kermani vor einem imaginären Regal zu stehen. Aber im Vergelich zu den meist hübsch aussehenden Bücherwänden, sprechen die Autoren, mischen sie sich ins Denken des Autors ein, die grossen französischen Namen wie Proust, Flaubert, Balsac oder Standal. Unglaublich, mit welcher Vehemenz sich die Stimmen einmischen. Als wäre es im Kopf des Autors während des Gesprächs dauernd laut, als müsste er sich in einem fort darauf konzentrieren, das Wichtigste herauszufiltern.

«Sozusagen Paris» ist ein ungeheuer gescheites Buch, eine Mischung aus Essay und Roman, viel mehr als gute Unterhaltung. Ein Buch, das es lohnt, in kleinen Häppchen gelesen zu werden. Ein Buch, das anspornt, etwas zu sagen hat. Ein Buch mit Witz, das mit Erzählebenen spielt und in pures Lesevergnügen mündet, wenn Kermani zum wiederholten Mal mit seinem fetten Lektor hadert, dem er während des Abends im Geiste schon mit seinem neuen Roman gegenübersteht, diesem Fleischberg, der allerdings viel mehr als bloss Fettflecken im Manuskript zurücklässt.

Klar, wer die französischen Klassiker kennt, dem mehrt sich das Vergnügen!

Navid Kermani, geboren 1967 in Siegen, lebt in Köln. Für sein literarisches und essayistisches Werk erhielt er unter anderem den Kleist-Preis, den Joseph-Breitbach-Preis und 2015 den Friedenspreis des deutschen Buchhandels. Zuletzt erschienen bei Hanser «Dein Name» (Roman, 2011), «Über den Zufall» (Edition Akzente, 2012), «Große Liebe» (Roman, 2014), «Album» (Das Buch der von Neil Young Getöteten / Vierzig Leben / Du sollst / Kurzmitteilung, 2014) und  «Ayda, Bär und Hase» (2017) ist sein erstes Buch für Kinder

Am 24. Januar liest Navid Kermani im Kaufleuten in Zürich. Moderiert wird der Abend von Martin Ebel, Tages-Anzeiger

Margriet de Moor «Schlaflose Nacht», Hanser

Lucia, ihre Freundin, beschwört sie, lange nach dem Tod ihres Mannes endlich aus der Höhle zu kriechen. Es wäre eine Beleidigung für ihre Sinnlichkeit, für ihre elementaren Bedürfnisse. Aber die Freundin will nicht. Sie bleibt im Haus, dass sie nicht einmal zwei Jahre mit ihrem Mann teilte.

Der Mann ist tot, erschoss sich hinter dem Haus im Chicoréetreibhaus, wo die bleichen Pflanzen mit vorgegaukelten Jahreszeiten aus dem Boden gezwungen werden. Obwohl ihr alle raten, einen Strich zu ziehen, neu zu beginnen, bleibt die vom Mann im Haus Zurückgelassene. Der Schuss, mit dem ihr Mann seinem Leben ein Ende setzte, verwandelte scheinbares Glück mit einem Knall zu einem Alptraum. Irgendwann entschliesst sie sich, wider aller Vernunft, ein Inserat aufzugeben, eine Annonce, die Männer nach einem immer gleichen Ritual für ein paar Stunden, eine Nacht an ihre Seite lassen. Vielleicht auch bloss, um sich selbst zu beweisen, dass sie noch am Leben teilnimmt, auch wenn ihr toter Mann mit diesem einen Schuss ihr Leben beinahe mitriss.

Die Novelle, die 1994 zum ersten Mal auf deutsch erschien und die grosse De Moor Schlaflose Nacht Final_MR.inddholländische Autorin mit Recht prominent an der Frankfurter Buchmesse platzieren sollte, beschreibt eine einzige Nacht. Eine Nacht, die die Protagonistin nicht schlafen lässt. Eine Nacht, in der sie genau spürt, dass eine Zutat in ihrem Leben fehlt. Eine Nacht, in der sie in die Küche geht und einen Teig anrührt, den Beginn von etwas Neuem. Mehl, Salz, Zucker, Hefe und Eier. Ein Teig, der aufgehen und etwas freisetzen soll, was in den bloss vermengten Zutaten erst schlummert – Russischen Napfkuchen. Den Mut, den es brauch, um aufzubrechen.

Margriet de Moors 127 Seiten starke Novelle ist wie ein Film mit langen, stummen Einstellungen. Eine Geschichte, die mit ihren Figuren erzählt, viel offenlässt, in keiner Zeile ein Wort zu viel verliert. Eine Geschichte, die nichts erklärt und mit kleinstmöglicher Bewegung grösstmögliche Wirkung erziehlt. Sprachliche und inhaltliche Verdichtung, Bilder wie Gemälde von Edward Hopper.

margriet_de_moor_neefjesMargriet de Moor, eine der bedeutendsten niederländischen Autorinnen der Gegenwart, studierte Klavier und Gesang, bevor sie sich dem Schreiben zuwandte. Bereits ihr erster Roman  «Erst grau dann weiss dann blau» (Hanser, 1993) wurde ein sensationeller Erfolg. Heute sind ihre Romane und Erzählungen in alle Weltsprachen übersetzt. Ihr Werk erscheint im Hanser Verlag, zuletzt «Die Verabredung» (Roman, 2000),  «Der Jongleur» (Ein Divertimento, 2008),  «Der Maler und das Mädchen» (Roman, 2011),  und «Mélodie d’amour» (Roman, 2014). Margriet de Moor lebt in Amsterdam.

 

(Titelbild: Sandra Kottonau)

Wilhelm Genazino «Ausser uns spricht niemand über uns», Hanser

«Ich wurde das Gefühl nicht los, dass meine Art zu denken zu einem Siebzehnjährigen passte, zu einem erwachsenen Mann aber nicht.» Zumindest diese Erkenntnis holt den Protagonisten am Schluss des Romans «Ausser uns spricht niemand über uns» ein. In Wilhelm Genazinos neuem Buch dreht  sich das Geschehen um genau jene Sorte Protagonist, der keine Sympathie abverlangt, auch gar nie einen Versuch in diese Richtung wagt.

Er wohnt am Stadtrand, seine Freundin in der Stadtmitte. Man trifft sich mal hier, mal dort. Sein Bett ist breiter, ihre Wohnung aufgeräumter. Er ist nicht arbeitslos, geht aber auch keiner geregelten Arbeit nach, hangelt sich als abgehalfterter Schauspieler von Engagement zu Engagement, mal als Stimme im Funkhaus, mal als Rezitator launiger Ehegedichte bei irgend einer Hochzeit. Er sehnt sich nach Bedeutsamkeit, bleibt aber haften bei der Sehnsucht danach, froh darüber, bis jetzt vor «der Vernutzung des Lebens» bewahrt worden zu sein. Ein ewig Unentschlossener um die 40, der in seinem wohlig warmen Alltag herumdümpelt. Ein Typ, dem ich  während des vergnügten Lesens gerne öfters einen Tritt in den Hintern versetzt hätte. Nicht weil er ein Müssiggänger oder faul wäre, sondern weil es der Protagonist meisterlich versteht, seine Umgebung nach seinen Bedürfnissen ein- und auszurichten. Einer jener Sorte Mensch, der selbst durch «Schicksalsschläge» und mehr als deutliche Seitenhiebe nicht gezwungen werden kann, einen Blick über die eigene Nasenspitze hinauszuwerfen. Da wird Carola, seine Freundin, schwanger, wenn auch nicht sicher, eher Genazino_25273_MR1.inddunwahrscheinlich von ihm, aber so doch in seiner Nähe. Aber Carolas Schwangerschaft ist wie eine Schlechtwetterlage. Sie geht vorbei, schmerzhaft für Carola, fast ungerührt bei ihm. Ein Protagonist, der sich vor nichts mehr fürchtet als vor Zuständen und Dingen, die nicht sind, vor allem und im Speziellen vor dem «beginnenden Alter». Carola und er scheinen sich irgendwie zu verstehen. Was längst nicht bedeuten muss, dass es auch etwas zu reden gäbe. Was er als noble Distanz zu erklären weiss, ist in Wahrheit die Angst davor, sich mit allem Gegenüber zu sehr zu verstricken. Eine Partnerschaft, selbst eine Liebe, ist bloss Arrangement, nicht mehr, eine Zweckgemeinschaft der gegenseitigen Bedürfnisbefriedigung, die sich unter Umständen auch aufzwingen lässt. Selbst die Lust des anderen wird zum drohenden Gewitter, zur Laune der Natur, zur Anomalie der Normalität. «Leider (oder zum Glück) war es uns nicht gegeben, diese Feinheiten hinterher oder am nächsten Tag zu besprechen, was ich an manchen Tagen bedauerte, an den meisten Tagen aber in Ordnung fand, weil ich nicht zu den Menschen gehören wollte, die aus jeglicher Regung zwischen den Geschlechtern eine unausweichliche Sprechstunde machen mussten.»
Man muss den Protagonisten nicht mögen, auf keiner Seite, den Mann, der bloss sich selbst ernst nimmt, sehr, sehr ernst. Das Verlassenwerden von seiner Freundin nimmt er hin wie lästige Kopfschuppen.

Wilhelm Genazino ist Beobachter des Feinen und Unscheinbaren. Der Roman wurde eine Sammlung kleiner Begebenheiten, die vermuten lassen, dass auch der Autor selbst die Kunst des Müssiggangs versucht, wohl das einzige, was er mit dem Protagonisten gemein hat. Gut konstruiert, hat mich das «böse» Buch bestens unterhalten!

genazino_wilhelm_h7_2013Wilhelm Genazino, 1943 in Mannheim geboren, lebt in Frankfurt. Sein Werk wurde vielfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Georg-Büchner-Preis und dem Kleist-Preis. Bei Hanser erschienen zuletzt «Tarzan am Main» (Spaziergänge in der Mitte Deutschlands, 2013), «Leise singende Frauen» (Roman, 2014) und «Bei Regen im Saal» (Roman, 2014).

Wilhelm Genazino liest am 28. Oktober im Rahmen des Literaturfestivals «Zürich liest» in der coalmine in Winterthur. Die Lesung beginnt um 19.30.

(Titelbild: Sandra Kottonau)

Alex Capus «Das Leben ist gut», Hanser

Alex Capus ist nicht nur Schriftsteller. Er besitzt und führt eine Bar, unweit der Aare, einen Katzensprung vom Bahnhof Olten weg. Die Galicia Bar. Eine Bar, die einst von galizischen Fabrikarbeitern gegründet wurde, um gemeinsam dem Heimweh zu frönen, und dieses mit dem Staub der Büez (Arbeit) runterzuspülen. Und weil Pedro Lenz, ein guter Gast in dieser Bar, einmal meinte: „Eine Bar? Das ist so etwas wie Facebook, einfach ohne Internet.“ wurde aus den Geschichten aus dieser Bar ein Roman.

Es braucht keinen Mord, nicht einmal einen Einschlag welcher Art auch immer, um einen Roman zu schreiben. Aber muss man ein Buch über Alltägliches lesen, «wenn der eine oder andere genug mit dem eigenen Alltag hadert»?
Für einmal schreibt und erzählt Capus «bloss» Geschichten, kein grosser Plot zieht durch den neuen Roman. Was mit «Mein Nachbar Urs» und «Der König von Olten» über einen schwarzweissen, Oltner Kater namens «Toulouse» seinen Anfang nahm, spinnt Capus weiter. Er setzt dem Alltag und all den kleinen und grossen Geschichten, die sonst versteckt und verborgen bleiben, ein Denkmal. Capus erzählt von Max, der seit 25 Jahren Ehe erstmals für ein paar Tage allein im Bett schläft. Tina, seine Frau, fährt beruflich weg und lässt ihn mit den drei Jungs allein in der kleinen Stadt, in der er sich wohl fühlt wie «ein Eber im Schweinekoben». Morgens, nachdem alle Jungs unterwegs sind, macht sich Max mit dem Rad auf zu seiner Bar, der Sevilla Capus Das Leben ist gut Final_MR3.inddBar, nicht weit vom Bahnof, eingeklemmt zwischen kubische Glaspaläste der Neuzeit. Eigentlich ist Max Schriftsteller, aber so gern er manchmal schreibt, so gerne tut er das, was im alten Gemäuer seiner Bar an Arbeit anfällt, sei es auch nur der Gang mit zum Altglas auf dem Handwagen zur Sammelstelle. Seine Bar ist der Ort seiner Geschichten, wie jene, die der Bar den Namen gibt oder jene, die erzählt, warum an der einen Wand ein Stierkopf hängt, der einmal in der Not gar ersetzt werden musste. Geschichten von Menschen, die Stammkunden in der Sevilla Bar sind und über deren Leben Max als Barbesitzer und -betreiber unweigerlich vielmehr erfährt, als sässe er zuhause allein hinter seinem Schreibtisch: Von Ismail, der nie zur Ruhe kommt, von Miguel Fernando Morales Delavilla Miguelanes, dessen Frau Max einen Korinthenkacker und Hochtonfurzer schimpft. Oder von seinem ehemaligen Lehrer Toni Kuster und seinem Cowboy-Freund aus den Everglades.

Bei einer Lesung im Gewölbekeller der Buchhandlung zur Rose in St. Gallen meinte Alex Capus, viele Autoren würden sich beim Schreiben eines neuen Buches vornehmen, nun endlich ein ganz anderes Buch zu schreiben, um dann, während des Schreibens festzustellen, dass es doch wieder ein ähnliches werden würde. Aber Capus hat seinen Vorsatz verschriftlicht. «Das Leben ist gut» ist ein Buch über einen Mann, der mit 55 Bilanz zieht, was viele tun, wenn sie soweit sind. Eine Geschichte über «fast nicht», genau das, was er beabsichtigte. Und er müsse festhalten, dass Ich-Erzähler und Autor nicht zwingend deckungsgleich sein müssen, selbst dann nicht, wenn fast alles dafür spreche.

Alex Capus erzählt, schwadroniert, driftet ab, zeigt sich selbstgefällig, selbstzufrieden, ohne dick aufzutragen. Erfrischend dabei ist, dass er durchaus mit spitzer Zunge auf die Welt schaut, um festzustellen, dass sein Leben «dereinst auf dem Sterbebett im Zeitraffer abgespielt, ein Standbild sein wird». Capus, ein Streiter für das Wahrhafte, ein Leben ohne künstlich erzeugten Kick, ein Loblied auf die Kneipe, wo Langweiler und Wahnsinnige eine Heimat finden. Ein Buch fürs Nachttischchen.

Capus_hf_i[1]Alex Capus, geboren 1961 in der Normandie, lebt heute in Olten. 1994 veröffentlichte er seinen ersten Erzählungsband «Diese verfluchte Schwerkraft», dem seitdem weitere Romane, Bücher mit Kurzgeschichten und Reportagen folgten. Alex Capus verbindet sorgfältig recherchierte Fakten mit fiktiven Erzählebenen, in denen er die persönlichen Schicksale seiner Protagonisten einfühlsam beschreibt. Bei Hanser erschienen zuletzt die Romane «Léon und Louise» (2011) sowie der Western «Skidoo» (2012).

Webseite des Autors

(Bild: Sandra Kottonau, Güttingen, CH)

Ein Rückblick in 3 Teilen: Sonntag, Teil 3

Vor einem Jahr an den 37. Literaturtagen in Solothurn wurde einer meiner Literaturzirkel zu «Lesezirkel zu Gast» eingeladen. Zusammen mit Martin R. Dean sprachen wir im Palais Besenval über sein Buch «Verbeugung vor Spiesa_palais_lesezirkel_martindean-1_10x15_lightboxgeln». Eine denkwürdige Veranstaltung, ein Gefäss aber, dass trotz Bedauern keinen Platz mehr im neuen Programm fand. Obwohl ich Lesungen schätze, verraten Gespräche viel mehr, sowohl über das Buch wie über Autorinnen und Autoren, erst recht dann, wenn die Beteiligten zur Konfrontation bereit sind.

Im Programm stand; ‹Lukas Bärfuss SRF Live Sendung 52 Beste Bücher›. Aber weil der Wallstein Verlag mich mit Lukas Bärfuss neustem Buch «Hagard» auf  «Später» vertrösten musste, liess ich mich gerne von Charles Lewinsky verführen. Charles Lewinsky ist zwar kein Enfant terrible der Schweizer Literatur, aber wie in der Cantino del vino bewiesen durchaus bissig.

Charles Lewinsky lernte sein Schreiben durchs Schreiben. Er mache keinen Unterschied zwischen E und U, ernster und unterhaltender Literatur. Ein Text müsse bloss gut geschrieben sein, seine ganz eigene Form gefunden haben. Lewinsky mag es nicht, wenn Bücher «schwitzen», wenn man ihnen anmerkt, wie schwierig es sein muss, über schwierige Themen zu schreiben. Und seine Geschichte ist «schwierig». Charles Lewinskys neuster Roman «Andersen» Lewinsky_IchbinAndersen_P06DEF.indderzählt die Geschichte eines Folterchefs, dem die Fähigkeit zur Empathie gänzlich fehlt. Ein Fehlen, dass diesen zum Meister macht. Andersen ist Geburtshelfer der Wahrheit, weil die Wahrheit stets Last ist, die man mit sich herumträgt und doch viel lieber los sein will. Es sei viel interessanter, eine Figur zu erfinden, die weit von ihm entfernt sei. Der Roman wurde zu einer Versuchsanordnung mit der Frage: Wenn es frühere Leben gibt, was wäre, wenn man sich an sie erinnern würde? Das Böse aus der Geisterbahnperspektive ist interessanter als das Gute. (Der verschmitzt, verschwörerische Blick zu seiner Frau, während der Schauspieler Michael Neuenschwander Passagen aus seinem Roman liest.) Lewinsky spielt mit Bildern, mit dem Schauer des Bösen. «Ganz im Gegensatz zu allen anderen Büchern, die ich schrieb, war die  Figur dieses Romans mit einem Mal da und zwang mich zu schreiben. Und mit dem Schreiben entwickelte sich die Geschichte, die keine Botschaft haben muss, beim Leser aber etwas auslösen soll. Was, das kann ich nicht bestimmen, nur hoffen, das es passiert.»
Eine Live Sendung – ein spannendes Gefäss. Ein reibendes Gespräch mit Charles Lewinsky, der der Bücher- und Radiofrau Luzia Stettler unter allen Umständen das Gesprächsruder entreissen will, um nicht zu viel von der Geschichte zu verraten. Für mich als Zuhörer Hochgenuss. (Zur Sendung)

Fazit der Literaturtage in Solothurn: Literatur im besten Licht, nicht nur wegen der Wetterlage. Ganz langsam verabschiedet sich der Traditionsanlass von seinem etwas antiquierten Äusseren.  Noch mehr Mut täte gut. Das Lifting bewirkte einiges, wenn auch die eine oder andere Moderatorin sich in ihrem Erscheinen davon zu distanzieren schien. Solothurn war eine gute Mischung zwischen Festival der jungen Frauen und Huldigung grosser Namen. Ich  freue mich auf die 39!