Michael Stavarič «Fremdes Licht», Luchterhand

Sie wacht auf aus dem Kälteschlaf auf einem fremden, erdähnlichen Planeten. Sie ist die einzige. Alle andern, die auf dem Flugschiff auf einen Neustart auf einem weit entfernten Planeten hofften, kamen bei der Bruchlandung im Eis ums Leben. Michael Stavarič begleitet zwei Frauen, in die Vergangenheit und in die Zukunft. Eine Vergangenheit, in der die Zukunft beginnt, eine Zukunft, in die man sich zurückgeworfen fühlt.

Die Geschichte der Menschheit ist verwoben mit dem Entdeckergeist von (männlichen) Pionieren: Roald Amundsen, der als erster den Südpol erreichte, Magellan, dessen Schiff als erstes die Welt umsegelte oder Fridjof Nansen, der Grönland zu Fuss durchquerte, mit den Inuits lebte und gar den Friedensnobelpreis erhielt. 

Eliane Duval lebt im 24. Jahrhundert. Und nachdem man der Erde mit Lichtkriegen beinahe den Garaus gemacht hatte, besiegelte ein riesiger Komet das Schicksal des Planeten restlos, liess ihn zerbersten und alles auslöschen, was sich nicht auf das einzige Flug- und Fluchtschiff retten konnte. Mit dabei Eliane Duval, die, Wissenschaftlerin geworden, die Stammzellen vieler Tiere mit in den Orbit transportiert, um auf einem erdähnlichen Exoplaneten neu beginnen zu können. Es sollte eine zweite Chance werden, nachdem man die erste zunichte gemacht hatte. Kommandant des Schiffes ist Dallas, mit dem sie mehr als eine Freundschaft verbindet. Doch in dem Moment, in dem das Flugschiff seine lange Reise weit über die bisherigen Grenzen beginnt, die Reste der Erde verglühen, wird klar, dass die Mission des Rettungsschiffes unter keinem guten Stern steht. Es sind viel zu viele Menschen auf dem Schiff und viel zu wenige Kälteschlafboxen. Viele der Geretteten werden die lange Reise nicht überstehen. Das Floss der Medusa droht nach gegenseitiger Zerfleischung unterzugehen. Die lange Kette von Katastrophen nimmt kein Ende.

nunaulluq (ᓄᓇ ᐅᓪᓗᖅ), Land des Tages

Lange Zeit später wacht Eliane auf in den Trümmern des Flugschiffes. Im Eis eines fremden Planeten, dem sie den Namen Winterthur gibt, weil sie einst in den kalten Laboratorien eines Grosskonzerns im schweizerischen Winterthur arbeitete. Sie scheint die einzige Überlebende zu sein. Und weil sie als Kind viel bei ihrem Grossvater auf Grönland lebte und weiss, wie man in der Eiswüste überlebt, dass die Kälte nicht nur ein lebensbedrohender Feind sein muss, nimmt sie als Letzte den Kampf auf. 

Michael Stavarič «Fremdes Licht», Luchterhand, 2020, 512 Seiten, CHF 32.90, ISBN 978-3-630-87551-4

«Fremdes Licht» ist eine virtuose Mischung aus Dystopie, Science Fiction und Abenteuerroman, den Michael Stavarič nicht einfach linear erzählt, den Überlebenskampf einer starken Frau, sondern in Rückblenden von Geschichte(n), der Geschichte der Inuit, der Geschichte ihrer Familie, der Geschichte eines untergegangenen Planeten. Im zweiten Teil des Romans erzählt Michael Stavarič das Zusammentreffen einer jungen Inuit mit dem norwegischen Entdecker Fridtjof Nansen, der mit seinem Schiff Fram nicht bloss den geographischen Nordpol erkunden will, sondern die Lebensart eines ganzen Volkes, das in einer scheinbaren Wüste aus Eis und Schnee nicht nur zu überleben weiss, sondern eine eigene, friedfertige Kultur entwickelte. Uki, die Nansen an seine Frau Eliane erinnert, neugierig und vom Kapitän des mit lauter Sonderbarkeiten beladenen Schiffes fasziniert, geht mit Mannschaft und Schiff mit auf die Reise nach Süden. Zuerst in den Hafen New Yorks, später mit einem Begleiter an die Weltausstellung von 1893 in Chicago, bei der alle Errungenschaften der Elektrizität den Besuchern als Tor zu einer neuen Epoche präsentiert werden. Uki wird zur Entdeckerin, nur von einer andern Seite, aus anderer Perspektive. Beinahe geschluckt von einer Welt, die sich im Rausch des Fortschritts im Spiegel sonnt, die sich mit Lichtgeschwindigkeit von der Welt entfernt, in der die junge Uki aufgewachsen ist.

atsanik (ᐊᑦᓴᓂᒃ), Nordlicht

Beide Geschichten, jene der Wissenschaftlerin Eliane Duval im 24. Jahrhundert und jene von Uki im 19. Jahrhundert, die Nansen an seine Frau Eliane erinnert, verbinden sich am Ende des Romans. Eines Romans, der mich als Leser in einen rauschhaften Zustand zog. Eine Geschichte, die Fiktion und Reales so gekonnt vermischt, dass man Lust bekommt, nachzulesen, über das Buch hinaus zu „forschen“. Sei es, wenn Michael Stavarič von der Sprache der Inuit erzählt, dem Leben auf der Fram, dem Schiff, mit dem man durch natürliche Eisdrift den Nordpol erreichen wollte, der Weltausstellung in Chicago, an der sich Tesla und Edison in ihrer Potenz duellierten oder vom Plan der Menschen irdisches Leben auf einer Art Arche auf einen anderen Planeten zu transportieren.

Wer „Fremdes Licht“ liest, fröstelt manchmal, sei es in Grönland an der Küste oder auf dem Exoplaneten Winterthur. Michael Stavarič hat die Kälte verinnerlicht und erzählt davon, dass weder Hitze noch Feuer, nicht einmal Wärme und Kraft das Leben in eisiger Kälte ermöglichen. Nur Leidenschaft und Hingabe. Grosse Erzählkunst!

Interview mit Michael Stavarič:

Zwei Frauen, zwischen denen ein halbes Jahrtausend liegt, beide in Schnee und Eis aufgewachsen. Sie beschreiben diese Leben, die Kälte, das Überleben auf das Wichtigste reduziert, als wären sie von einer langen Reise durch Grönland zurückgekehrt. Sie erzählen, als wären sie dem Volk der Inuit ganz nahe gekommen. Wie nahe?
Die Auseinandersetzung mit alten Kulturen interessiert mich seit je her, ich verorte im archaischen Wissen und Leben diverser Naturvölker so etwas wie „Wahrhaftigkeit“. Meine Auseinandersetzung mit dem Inuktitut (der Sprache der Inuit) und folglich auch mit dem kulturellen und sprachlichen Selbstverständnis dieser Völker erfolgte allerdings erst im Zuge der Romanrecherchen. Am Anfang stand die Faszination für die für mich futuristisch anmutenden Schriftzeichen, die Art und Weise der Metaphorik (Stichwort: das Wasser, das sich im Meer wie ein Fluss bewegt) – und diverse alte Reiseberichte.

itqujaq (ᐃᑦᖁᔭᖅ), lose im Meer umher irrende Schneeflocken, Quallen

Während man 1893 an der Weltausstellung in Chicago mit der „Weissen Stadt“ den endgültigen Sieg der Technik über das natürliche Leben feierte, die Elektrizität das Tor zu unbegrenztem Fortschritt sein sollte, schrammt ein halbes Jahrtausend später das, was von der Zivilisation übrig geblieben ist über das Eis eines fremden Planeten und zerschellt. Ist das eine Ikarus-Geschichte?
Man könnte das durchaus so interpretieren – zunächst schliesst sich ganz banal ein Kreislauf, wobei augenscheinlich ein neuer Zyklus beginnt (das vorangestellte Songzitat von Hooverphonic nimmt es vorweg: the end is always the start of a new episode). Der Fortschritt und die Zukunft bilden dabei stets den Widerpart zum archaischen, naturbelassenen Leben und der Vergangenheit. Was sich da genau aus dem Eis (nicht Asche) erhebt, darüber liesse sich jetzt wunderbar spekulieren. Es hat vor allem auch mit meinem allerersten Roman „stillborn“ zu tun, wo es eine Protagonistin namens Elisa gibt, die sich dem Element Feuer verschrieb und am Ende des Buches in einem Schneesturm verschwindet; jetzt muss man nur noch 1+1 zusammenzählen!

Sinnaliuqpuq (ᓯᓐᓇᓕᐅᖅᐳᖅ), versuch zu schla­fen, ganz egal, was der Frost auch im Schilde führt

Elaine Duvals Kampf ist ein Kampf gegen die absolute Einsamkeit. Ein Zustand, dem man höchstens dem Schwerkriminellen in Einzelhaft zutraut. „Fremdes Licht“, zumindest der erste Teil des Romans, ist eine Robinsonade ohne Hoffnung. Wie weit können Sie sich der Einsamkeit aussetzen?
Das erinnert mich an ein altes Filmzitat, das da lautet: Hoffnung ist etwas Gutes, und das Gute stirbt nicht! Die Einsamkeit setzt uns Menschen eklatant zu, vor allem deshalb, weil wir uns selbst nur durch andere Individuen als menschliche Wesen betrachten können. Fehlt dieser Kontext, verlieren wir auch unsere Menschlichkeit, gewiss auch im philosophischeren Sinne.

kiinarlutuq (ᑮᓇᕐᓗᑐᖅ), eine Frau, die ihr Trauergesicht wie ein Mahn­mal vor sich herträgt

Uki, die junge Inuitfrau, begegnet dem Forscher Fridtjof Nansen. Er nennt sie im Geheimen Elaine, nach seiner Frau, sie ihn Vogelmann, weil er ihrem Volk einen aufziehbaren Vogel präsentiert und der jungen Frau ein dickes Buch über die Welt der Vögel schenkt. Es verbindet sie eine scheue Liebe. Nansen ist Geschichte, Uki Fiktion. Ist ihr Roman die Liebesgeschichte von Geschichte und Fiktion?
Tatsächlich habe ich mich dafür entschieden, der historischen Figur von Fridtjof Nansen eine meiner Kreationen (Uki) vor die Nase zu setzen. Wobei mir auch sehr daran lag, mich ganz bewusst von der echten Historie zu lösen, man darf also bei weitem nicht alles für bare Münze nehmen, was ich Nansen hier als Wesenheit andichte. Wenn einander Genres innerhalb eines Werkes begegnen, so mag dies vielleicht manche überfordern – mich beflügelt dies. Da bin ich ganz bei den alten Universalgelehrten: Alles ist in allem, omnia in omnibus. Daher wohl auch das Enzyklopädische – pars pro toto – in diesem Buch.

An­ guta (ᐊᖑᑕᖅ), die Totensammlerin

Sie beschreiben eindrücklich, wie Uki langsam, in die von Zeit getaktete Welt der „Zivilisierten“ vordringt, bis an die Weltausstellung in Chicago, dem Tempel des Fortschritts. Uki als Entdeckerin, als Erobererin, die fast mit dem Leben bezahlt. „Fremdes Licht“ ist ein Roman über die Zeit, über die Beziehung zwischen Vergangenheit und Gegenwart, über Perspektivenwechsel. Wäre es nicht die Aufgabe eines jeden, wenigstens den Versuch zu starten, die begrenzte Sicht von einem Innen ins Aussen aufzubrechen?
Für Uki ist die Weltausstellung mit ihren Errungenschaften ein fremder Planet, der zugleich, bei aller Faszination, das Leben ihres Volkes bedroht. Ihre Nachfahrin Elaine wird im Grunde ihres ganzen Fortschritts entledigt und knüpft dort an, wo Uki einst in Grönland stand. Beide Figuren sind zweifelsohne Entdeckerinnen, Bewahrerinnen, Reisende, Suchende und – ja doch – Lichtträgerinnen. Wenn wir zum Himmel schauen und die Sterne bewundern, blicken wir in die ferne Vergangenheit und betrachten Dinge, die vermutlich gar nicht mehr existieren. Das Licht ist, wenn man so will, die sichtbare Zeit! Ich behaupte jetzt mal, es ist unsere Pflicht, über Grenzen hinweg zu denken, den Blick über den Tellerrand zu wagen und uns auf eine Reise zu begeben. Wenn man diese Schritte wagt, steht einem vieles (auch im eigenen Kopf) offen, nicht zuletzt auch die Abkehr von diversen Ängsten. Ich hoffe, meine beiden Protagonistinnen beweisen dies …

© Yves Noir

Michael Stavarič wurde 1972 in Brno (Tschechoslowakei) geboren. Er lebt als freier Schriftsteller, Übersetzer und Dozent in Wien. Studierte an der Universität Wien Bohemistik und Publizistik/Kommunikationswissenschaften. Über 10 Jahre lang tätig an der Sportuniversität Wien – als Lehrbeauftragter fürs Inline-Skating. Zahlreiche Stipendien und Auszeichnungen, zuletzt: Adelbert-Chamisso-Preis, Österreichischer Staatspreis für Kinder- und Jugendliteratur. Lehraufträge zuletzt: Stefan Zweig Poetikdozentur an der Universität Salzburg, Literaturseminar an der Universität Bamberg.

Beitragsbild © Yves Noir

Anna Silber «Chopinhof-Blues», Picus

„Chopinhof-Blues“ erzählt seismographisch von der Empfindsamkeit des modernen Menschen, von der Suche nach Vergebung, nicht zuletzt sich selbst gegenüber, von Verletzungen, die unter vernarbtem Gewebe weitereitern.

Nicht lange her, da war ich an einer Geburtstagsfeier. Ich kannte ausser dem Gefeierten niemand. Nicht wenig hätte gefehlt und das Fest hätte kippen können. Tat es dann nicht, weil die Betroffenen nicht aussprachen, was durchaus hätte gesagt werden können. In Anna Silbers Debüt „Chopinhof-Blues“ treffen sich ein paar Leute in Wien zu einer Geburtstagsfeier. Der kleine Felix wird ein Jahr alt. Daniel, sein Vater, hat eingeladen, weil er nicht alleine mit seiner Ex feiern wollte. Im Chopinhof hat nicht nur Daniel den Blues.

An dem Geburtstag im Chopinhof sind Ádám und seine Frau Aniko eingeladen, beide seit fünf Jahren in Wien, aus Ungarn ausgewandert in der Hoffnung auf ein besseres Leben. Ádám, eigentlich studierter Philosoph, hilft Daniel, dem Vater des kleinen Felix, in seinem Malergeschäft. Und Aniko versucht mit ihrem Leben zurechtzukommen, in ihrer Liebe zu Ádám, mit der immer unausweichlicheren Frage, ob man selbst Familie werden will oder nicht. Und Ádám mit Aniko, von der er mehr als deutlich spürt, dass sie ihre Antworten nicht mehr mit ihm zusammen sucht.

Anna Silber «Chopinhof-Blues», Picus, 2022, 243 Seiten, CHF 34.90, ISBN 978-3-7117-2117-4

Eingeladen ist natürlich auch Jacinta, die Mutter des kleinen Felix, Daniels Exfrau. Sie tauschen sich die Betreuung des Jungen. Eine Woche er, eine Woche sie. Eine wirkliche Trennung kommt nicht in Frage, denn Jacinta müsste dann mit einer Abschiebung zurück nach Zentralamerika rechnen. Aber Jacinta nimmt Tilo mit. Ihren Neuen. Und Tilo seine Schwester Katja. Katja und Tilo wuchsen im Heim auf, beide auf ihre Art traumatisiert von den Geschehnissen in ihrer Kindheit, einer abwesenden und in Drogen versinkenden Mutter, dem Verlassensein. Während Tilo sich als Künstler versucht, tut es Katja als Bankfachfrau. Aber ihr Beruf, ihre Machtlosigkeit, die Verdammnis, ihre Verstrickungen, schnüren ihr ebenso die Kehle zu wie der migeschleppte Alp zwischen ihr und ihrem Bruder.

Ebenfalls eingeladen ist Esra. Esra ist Krisenjounalistin, noch nicht lange zurück aus San Pedro Sula, einer Millionenstadt in Honduras. Zurück aus einem Krieg, von dem niemand spricht, einem Krieg, bei dem Kinder auf offener Strasse erschossen werden und es für niemanden dort eine Alternative gibt, weder eine realistische Möglichkeit zur Flucht noch eine menschenwürdige Zukunft. Esra zerbricht an der Machtlosigkeit, dem Bewusstsein, dass sie nicht einmal mit ihrem Schreiben etwas ändern kann, dass es nicht um Inhalte, sondern um den Marktwert einer Geschichte geht.

Dort im Hinterhof, im Chopinhof kommen sie zusammen. Sie alle, die gefangen sind in ihrer Geschichte. Anna Silber schreibt von Kämpfen, die sich langsam in Resignation verwandeln. Sie schreibt von der Depression, die sich in all die jungen Leben schleicht, weil man sich nicht in der Lage sieht, den Kampf aufzunehmen. Anna Silber schildert haargenau, in Dialogen, die entlarvend wirken, fern jeder Idylle. Es ist nicht der grosse Abgrund, aber die vielen kleinen, verborgenen, zugedeckten.

Ich wünsche „Chopinhof-Blues“ mutige Leserinnen, die aus dem, was ihnen Anna Silber Schicht für Schicht aus den Sedimenten dieses Abgrunds offenbart, Mut schöpfen können, jene Chancen zu ergreifen, die man sich nicht entgehen lassen darf. „Chopinhof-Blues“ ist sackstark!

Interview

Ich bin beeindruckt von Ihrem Roman, nicht zuletzt von seiner Konstruktion, wie sie ihn gebaut haben. Sie haben es sich nicht leicht gemacht. Ein dichtes Netz an Biographien und Geschichten! Wie schafft man es, die Übersicht, den Durchblick nicht zu verlieren?
Ich kann nicht für andere Autorinnen oder Autoren sprechen, aber für mich war ein aufgezeichneter romaninterner Zeitplan das wichtigste Hilfsmittel. Er hat sich vielfach geändert und ist mir trotzdem (oder vielleicht gerade deswegen) ein treuer Begleiter durch das ganze Projekt hindurch gewesen. Oft genug habe ich aber natürlich aller Vorbereitung zum Trotze keine Ahnung mehr gehabt, was eigentlich wie zusammenpassen kann oder soll. Dann hilft nur lesen, umschreiben, lesen, umschreiben,…

Allein die Geschichte der Geschwister Tilo und Katja hätte Stoff genug beinhaltet, um einen eigenen Roman zu schreiben. Ich erinnere an die Romane von Angelika Klüssendorf. Auch dieses tiefe Ohnmachtsgefühl von Esra, der Krisenjournalistin, die sich einst voller Enthusiasmus und Ideologie in ihre ersten Einsätze stürzte, wäre Stoff genug für einen Roman gewesen. Ging es Ihnen gar nicht so sehr um die einzelnen Geschichten, sondern um den „Zustand“ einer Gesellschaft, die sich zu verlieren droht?
Mir ging und geht es um beides, um eine Kombination aus beiden Thematiken: auf der einen Seite das kleinteilige Einzelschicksal, auf der anderen Seite das verwobene, grössere Bild, das durch das Zusammentreffen der verschiedenen Geschichtsfäden entsteht. Das Kleine im Grossen sozusagen, um sich auch als Leserin oder Leser die Frage zu stellen, wo man sich in den Figuren erkennt, wo man vielleicht aber auch verständnislos ob ihrer Taten und Einstellungen reagiert – und warum. 

Sie waren nach Ihrem Abitur für einige Zeit in Costa Rica. Spiegeln sich in den Erfahrungen Esras in der Millionenstadt Honduras eigene Erlebnisse?
Eigene Erlebnisse spiegeln sich zwar nicht unbedingt in Esras Erfahrungen wider, aber ich müsste lügen, wenn ich überhaupt keine Parallelen ziehen würde. Mit Sicherheit hat mich im Schreiben das beeinflusst, was ich in Costa Rica gelernt habe, zum Beispiel, dass soziokulturelle Realitäten in Zentralamerika vielschichter nicht sein könnten und dass historische Ereignisse der jüngsten Vergangenheit bedeutende Auswirkungen auf das politische Heute und Morgen haben. Ganz pragmatisch betrachtet halfen mir natürlich meine in Costa Rica gefestigten Spanischkenntnisse bei der Recherche zu San Pedro Sula und Honduras. 

Alle Protagonisten befinden sich in Sackgassen. Vielleicht ist diese Verortung gar nicht so sehr das Resultat einer Resignation, sondern die Anerkennung einer Tatsache, der sich jede(r) zu stellen hat. Ihr Roman ist ehrlich, schmeichelt nicht, entzieht sich aller Verklärung. Ist das das „Programm“ Ihres Schreibens?
Ich muss zugeben, dass ich bisher keine klare Antwort darauf gefunden habe, was das «Programm» meines Schreibens, was also in diesem Sinne mein «Schreibstil» ist. Insbesondere bei diesem Projekt hat es mir aber sehr viel Freude bereitet, durch Reduktion Raum für Interpretation durch die Leserin oder den Leser zu lassen. Was passiert wohl zum Beispiel mit all diesen Menschen, nachdem sie im Chopinhof aufeinandergetroffen sind? Diese Fragezeichen, die mir selbst als Leserin sehr zusagen, habe ich auch versucht, als Autorin entstehen zu lassen. 

Obwohl ich den Titel Ihres Romans nach der Lektüre verstehe, löste er während des Lesens nichts von dem ein, was ich mir vorstellte, als ich den Roman zu lesen begann. Selbst nach der Lektüre verstört er mich, weil er eine Leichtigkeit suggeriert, die der Roman mit keinem Satz will. Wie kam es zu diesem Titel?
Ist es vielleicht das Cover, das eine gewisse Leichtigkeit vermittelt? Für mich liegt tatsächlich ein gewisser Reiz in der Kombination aus Chopin, dem tristen Gemeindebau, der seinen Namen trägt, und dem Blues.

Anna Silber, 1995 in Mödling (Österreich) geboren, wuchs in Österreich und Deutschland auf. Auf das Abitur folgte ein Kultur-Freiwilligendienst in Costa Rica, anschliessend Studium der Transkulturellen Kommunikation und Internationalen BWL an der Universität Wien. Sie erhielt zahlreiche Förder- und Nachwuchspreise. „Chopinhof-Blues“ ist ihr Debütroman.

Beitragsbild © Paul Feuersänger

Evelina Jecker Lambreva „Im Namen des Kindes“, Braumüller

Dass sich Kinderwunsch und Kindeswohl mehr als nur streiten können, wie zerstörerisch Kräfte freigesetzt werden und alles auf eine nicht abwendbare Katastrophe hinausläuft, davon erzählt Evelina Jecker Lambrevas aktueller Roman „Im Namen des Kindes“.

Die Welt tut, als wäre die Liebe einer Mutter zu ihrem Kind gottgegeben. Ebenso heuchlerisch ist die Selbstverständlichkeit, Kinder müssten ihre Eltern lieben. Dass das Familiengeflecht filigran ist, wie sehr Fallgruben, Untiefen und ein labyrinthischer Unterbau jene kleinste Zelle der Gesellschaft zu einem immerwährenden Mysterium werden lassen, lehrt uns nicht nur die Psychologie. Die griechische Sagenwelt ist voller innerfamiliärer Grausamkeiten. Der Begriff Familie suggeriert Geborgenheit, Liebe, Heimat. Die Liste der Begriffe, die sich mit Familie kombinieren lassen, ist ebenso lange wie die Möglichkeiten des Entgleisens, die sich hinter wohlgehüteten Fassaden ereignen können.

Evelina Jecker Lambreva erzählt in ihrem Roman „Im Namen des Kindes“ von einer solchen Katastrophe, einer sich durch ein ganzes Leben hinziehende, nicht enden wollende Katastrophe. Davon, dass Kinderwunsch und Familienträume nicht unweigerlich in jenes Idyll resultieren, dass an sonnigen Sonntagen allerorten präsentiert wird. Davon, dass aus trautem Familienideal auch ein Gefängnis werden kann, Einzelhaft ohne Fluchtmöglichkeit, ein Martyrium ohne Ende.

Evelina Jecker Lambreva „Im Namen des Kindes“, Braumüller, 2022, 280 Seiten, CHF 35.90, ISBN 978-3-99200-327-3

Eine junge Frau verschwindet. Polizei und Therapeutinnen sind sich nicht sicher, ob die Frau nur untergetaucht ist oder sich gar etwas angetan hat. Maya, ehemalige Sozialarbeiterin und Mitarbeiterin einer Opferberatungsstelle kennt die junge Frau, sass ihr mehrmals gegenüber, gewann das Vertrauen der jungen Frau, die zwar nicht von Angesicht zu Angesicht aus den Tiefen ihres Lebens berichtete, aber in langen Briefen. Von einer narzistischen Mutter, der sie schon als kleines Kind nichts recht machen konnte, von immerwährenden Streitereien zwischen Mutter und Vater, von Gewalt und schrecklichen Drohungen, von Ängsten und Verunsicherungen. Vom Tod ihres Vaters und der absoluten und absurden Konzentration einer Mutter auf ihr einziges Kind. Einer tiefen Hassliebe beider und der Unmöglichkeit, selbst mit der Volljährigkeit der Tochter durch Distanz einen Riegel vorzuschieben.

Rebecca haut ab, taucht unter, besucht die einzige Frau, von der sie als Kind jene Liebe bekam, die man hätte Mutterliebe nennen können – Herminija. Sie nimmt den Zug über Mannheim bis nach Amsterdam.
In der gleichen Zeit geistern zwei Schreckensmeldungen durch die mediale Tagesaktualität: Zwei Ärzte sterben unerklärlich, der eine unter einem Zug, der andere durch Messerstiche.

Was der Polizei erst nach und nach klar wird, wird auch mir als Leser erst langsam klar, auch wenn man sich beim erneuten Lesen des Buches die Augen reibt, weil man sich bei der Lektüre nie von der schlimmst möglichen Variante leiten lässt.

„Im Namen des Kindes“ hätte ein Krimi werden können, ist er aber nicht. Evelina Jecker Lambreva schrieb als noch immer praktizierende Psychiaterin und Psychotherapeutin auch keine literarisches Fallbeispiel einer problematischen Tochter-Mutter-Beziehung und ihrer katastrophalen Auswirkungen. „Im Namen des Kindes“ ist Auseinandersetzung! Nicht jedes Leben ist automatisch ein Geschenk. Die Medizin kümmert sich mit künstlicher Befruchtung um potenzielles Mutter- und Familienglück. Ob jenes vermeintliche Glück automatisch das Glück jenes Kindes ist – davon erzählt dieser Roman. Davon, wie chancenlos jeder Ausbruchsversuch aus einem krankhaft besitzergreifenden Muttergriff sein kann. Wie bodenlos jenes Gefängnis, aus dem es kein Entrinnen gibt.

Evelina Jecker Lambreva schildert das Leiden von der ersten Seite weg. Und von der ersten Seite weg ist klar, dass es nur die Flucht nach innen geben kann. Eine Flucht, für die Rebecca einen hohen Preis bezahlen muss, eine Flucht, bei der es keine Rettung geben kann. „Im Namen des Kindes“ ist deshalb nichts für zart Besaitete, weil man den Roman nicht als Krimi gut unterhalten weglegen kann. „Im Namen des Kindes“ ist viel mehr.

Interview

Gegenwärtig setzen wir uns in allerlei Diskursen heftig mit Rollenbildern auseinander. Auch in der Familie gibt es Rollenbilder, die sich über Jahrhunderte in unserem Bewusstsein oder auch Unterbewusstsein eingraviert haben. Die fürsorgliche, liebende Mutter, das folgsame, dankbare Kind. Wäre dieses Rollenbild nicht beinahe genetisch verankert, würden doch nicht Heerscharen von jungen Menschen noch immer ins Abenteuer Familie starten!
Inzwischen verändert sich das Rollenverständnis der Frau bei den Frauen selbst und in der Gesellschaft zunehmend. Ich beobachte diesen Prozess der Veränderung seit 15-20 Jahren. Heute gibt es immer mehr Frauen, die offen dazu stehen, dass sie keinen oder nur einen schwach ausgebildeten Kinderwunsch haben, und zwar derart, dass sie sich ein Leben auch ohne Mutter zu sein vorstellen können. Sie verbinden ihr Frau-Sein nicht mehr zwangsläufig mit einem Mutter-Sein. Es gibt auch viele junge Paare, die sich aus verschiedenen Gründen freiwillig gegen einen Kinderwunsch entscheiden. Zwar ist der gesellschaftliche Druck der Rollenerwartungen auf Frauen noch immer hoch, in entsprechend traditionellen Rollenbildern zu leben, aber immer mehr junge Frauen entziehen sich diesem Druck. Wenn sich zwei Menschen heute entscheiden, eine Familie zu gründen, machen sie es immer häufiger aus Überzeugung, und nicht um familiäre und/oder gesellschaftliche Erwartungen zu erfüllen.

Ein Dürrenmatt-Zitat im Vorsatz zu Deinem Roman heisst „Die Gerechtigkeit wohnt in einer Etage, zu der die Justiz keinen Zugang hat.“ Dürrenmatts Kriminalromane beschreiben genau dies, eben genau im Gegensatz zu all den Tatortfolgen, die einem eine stets sauber aufgeräumte Geschichte präsentieren. Rebecca, die junge Frau in deinem Roman, übt Selbstjustiz. Gerechtigkeit ist keine Norm. Ist Gerechtigkeit die Befriedigung eines Wunsches?
Gerechtigkeit ist zwar keine Norm, aber sie hat Bezug zu moralischen und ethischen Verhaltensnormen. Das Problem, das ich sehe, ist, dass in der narzisstischen Wunscherfüllungs-Gesellschaft der Postmoderne die Individualnorm, das heisst die Norm des Einzelnen (oder die Norm von kleinen Gruppen) zunehmend das Verhalten in der Gesellschaft prägt und immer mehr Platz einnimmt. Ich befürchte, dass inzwischen je länger je mehr die Vielfalt individueller Normen und individueller Wertmassstäbe, die Vielfalt der Auffassungen von Gerechtigkeit bestimmt. Somit öffnet sich natürlich auch die Tür für mehr Selbstjustiz. Ob in diesem Sinn Gerechtigkeit die Befriedigung eines Wunsches ist, bleibt für mich völlig offen.

In einer kurzen Korrespondenz hast Du verraten, dass Du Dich sechs Jahre mit diesem Buch auseinandergesetzt hast, dass es unsäglich viele Fassungen davon geben musste, bis Du die finale gefunden hast. Was hat Dich bewogen, nicht einfach den Bettel hinzuschmeissen?
Im Verlauf der jahrelangen Arbeit am Text habe ich Rebecca und Maya viel zu sehr liebgewonnen, um sie aufgeben zu wollen. Im Schreibprozess habe ich die beiden immer besser kennengelernt und immer mehr in sie hineingehorcht. Rebecca und Maya wollten unbedingt, dass ihre Geschichten vor einer Leserschaft in Erscheinung treten. So war das.

Rebecca ist in einem Gefängnis eingesperrt, aus dem kein Weg führt, schon gar nicht jener über die Justiz. Kliniken, Spitäler, Praxen sind voller Menschen, die sich nur schwer oder gar nicht befreien können. Sind PsychiaterInnen und PsychotherapeutInnen GefangenenwärterInnen?
Das ist doch das Ziel einer jeden Psychotherapie: dass es dem betroffenen Menschen mit therapeutischer Hilfe gelingt, sich innerlich und äusserlich weitgehend zu befreien – von den Dämonen der Vergangenheit, von der inneren Gefangenschaft in sich selbst, von selbstdestruktiven Gedanken und Handlungen, von verinnerlichten Elternbildern, die einem im Weg stehen, die man aber trotzdem nicht gehen lassen kann, von Ängsten, die das Individuum daran hindern, sich weiter zu entwickeln und als gleichwertiger Mensch, zusammen mit den anderen Menschen im Leben fortzuschreiten. In diesem Sinn hat die hilfeleistende Aufgabe von PsychiaterInnen und PsychotherapeutInnen nichts mit GefangenenwärterInnen zu tun. Selbst dann, wenn eine Fürsorgerische Unterbringung nötig wird, wird diese zum Schutz des Patienten vor sich selbst oder zum Schutz von Drittpersonen ausgeführt. Und diese Unterbringung dauert nur so lange, bis keine Gefahr für das eigene Leben des Betroffenen oder für das Leben anderer mehr droht. Aber auch in solchen extremen Situationen ist der leidende Mensch nicht einer psychiatrischen Institution hilflos ausgeliefert. Er kann sich auf rechtlichem Weg gegen die Fürsorgerische Unterbringung wehren.

Rebeccas Mutter ist eine Narzisstin. So wie sie die Familie terrorisiert, terrorisieren auch all die Narzissten auf der grossen Bühne der Weltpolitik das Gros all jener, die ihnen ausgeliefert sind, die sich nicht wehren können. Warum ist Rebecca ihrer Mutter gegenüber wie gelähmt? Warum schaffen es Narzissten, durch Propaganda ganze Völker stramm brav und willenlos zu schalten?
Oft kann die bewusste oder unbewusste Ambivalenz, die wir unseren Eltern gegenüber empfinden, sehr lähmend sein. Je stärker diese Ambivalenz ist, desto lähmender wirkt sie sich auf die Beziehung zu den Eltern aus, insbesondere auf die Beziehung zu diesem Elternteil, von dem man für sein unmittelbares Überleben abhängig ist. So ist es auch bei Rebecca, die ihre Mutter nicht nur hasst, sondern auch liebt. Dazu kommt, dass NarzisstInnen oft sehr charmant sind, eine starke Anziehungskraft besitzen, und ihren Charme geschickt und manipulativ zu ihren Vorteilen zu nützen wissen.

Auf der grossen Bühne der Weltpolitik schaffen es grandiose Narzissten nicht nur durch Propaganda, «ganze Völker stramm brav und willenlos zu schalten». Das Zusammenspiel zwischen einem narzisstischen Landesführer und dem Volk, das er regiert, ist viel komplexer. Landesführer mit grandiosem Narzissmus sind oft eine hervorragende Projektionsfläche für kindliche Wünsche nach Schutz, Sicherheit, Versorgung und Ordnung. Solche regressiven Wünsche flackern bei Erwachsenen wieder auf, wenn diese mit einer hochkomplexen, verwirrenden und widersprüchlichen Realität überfordert sind. Man sehnt sich dann nach strengen, konsequenten Elternfiguren, die wissen, wo es lang geht und die einen durchs Leben führen können. Natürlich ist man ihnen gegenüber auch ambivalent, vor allem, wenn sie grausam, sadistisch und erbarmungslos sind, aber man verzeiht ihnen alles, denn auch die schlimmsten Eltern sind besser als gar keine, wenn es ums Überleben geht. Gewalttätige Machthaber können genauso geliebt und gehasst sein wie gewalttätige Eltern auch. Dieses Muster ist häufig bei Völkern zu treffen, die Jahrhunderte lang in Unfreiheit, Unterdrückung, Angst und masochistischer Unterwerfung gelebt haben. In solchen meistens vom Patriarchat total vereinnahmten Gesellschaften werden unter diesen Umständen grandios narzisstische Landesführer zu einer Art projektiven elterlichen (vor allem väterlichen) Autoritätsfiguren, die sowohl protektiv als auch repressiv, gleichzeitig haltbietend und sanktionierend agieren. Denen unterwerfen sich dann gehorsam ganze Völker, indem die Menschen zu den narzisstischen Machthabern mit der gleichen lähmenden Ambivalenz aufschauen, die sie aus ihrer Kindheit kennen.

Evelina Jecker Lambreva, 1963 in Stara Zagora, Bulgarien, geboren, lebt seit 1996 in der Schweiz. Sie arbeitet als niedergelassene Psychiaterin und Psychotherapeutin in Luzern und als Klinische Dozentin an der Universität Zürich. In deutscher Sprache liegen der Gedichtband «Niemandes Spiegel» sowie der Erzählband «Unerwartet» vor. Zuletzt bei Braumüller erschienen: «Vaters Land» (2014), «Nicht mehr» (2016) und «Entscheidung» (2020).

Lyrik von Evelina Jecker Lambreva aus ihrem Band «Niemandes Spiegel, Chora Verlag 2015

Beitragsbild © privat

Mischa Kopmann «Haus in Flammen», Osburg

„Haus in Flammen“ ist keine Unterhaltungsliteratur. Schon „Erbauungsliteratur“ passt nicht, „Betroffenheitsliteratur“ auch nicht. „Haus in Flammen“ von Mischa Kopmann ist in gewisser Weise eine Kampfschrift. Sie erzählt von der Verzweiflung all jener, die sich an Strassen kleben, Häfen blockieren und Brücken besetzen. Von jungen Menschen, bei denen die Verzweiflung längst in Aggression gekippt ist. Aggression als einziger Weg.

2010 veröffentlichte die UN einen Bericht, der zum Schluss kommt, dass wir kurz vor dem sechsten Massenaussterben der Erdgeschichte stehen und dass dieses Massenaussterben das erste der Erdgeschichte sein wird, das der Mensch zu verantworten hat. Seit diesem Bericht ist mehr als ein Jahrzehnt vergangen und nicht einmal die 2015 verbindlich gesprochenen Ziele des Pariser Klimagipfels scheinen in erreichbarer Nähe. Erstaunlich genug, dass sich die Literatur nur sehr zaghaft mit diesem Thema auseinandersetzt, zählt man all jene Dystopien nicht dazu, die sich mit einem möglichen Danach beschäftigen. So ratlos sich die Politik gebärdet, stets mit der Angst vor schwindender Unterstützung im Hinblick auf nächste Wahlen, so ratlos gibt sich die Kultur, die Literatur. Wer will schon jenen Moment vor dem Einschlafen, wo man den Tag mit ein paar Seiten in einem Buch versüssen will, mit einem Alp vergiften?

Mischa Kopmann «Haus in Flammen», Osburg, 2022, 160 Seiten, CHF 30.90, ISBN 978-3-95510-274-6

Der Autor Mischa Kopmann ist Familienvater. Wer in der Gegenwart Mutter oder Vater von kleinen Kindern ist, muss sich mit einer Gegenwart auseinandersetzen, die sich blauäugigem Optimismus verschliesst, vorausgesetzt man stellt sich Fragen, liest die Zeit (damit meine ich nicht zwingend die entsprechende Zeitung) und sieht sein Leben nicht als Gang durch einen Supermarkt. Was wird bleiben, wenn unsere Kinder erwachsen geworden sind? Welche Schreckensszenarien, wie jener UN-Bericht von 2010, werden das Leben in der Zukunft überhaupt noch lebenswert lassen? Man kann die Wut und Verzweiflung der radikalen KlimakämpferInnen durchaus nachvollziehen, auch wenn die Methoden, die Öffentlichkeit von der Dringlichkeit einer Kurskorrektur zu überzeugen, mehr als fraglich sind.

Lias Thaden erzählt in „Haus in Flammen“ die Geschichte von Freundschaft und Liebe, Verzweiflung und Angst. Von Minnigk, Yvette und ihm, einer Menage à trois, die kein gutes Ende finden wird. Alle drei sind jung, um die zwanzig. Lias immer wieder umgezogen, weil der Vater ein hohes Tier bei der Bundeswehr ist, Minnigk locker und eloquent, blitzgescheit, ein Überflieger und Yvette, die Schöne, Tapfere, Unnahbare, Geheimnisvolle. Schule ist längst zur Nebensache geworden, denn was die drei unablässig auf Trab hält, alles mitreisst und unausweichlich ist, ist eine Gegenwart, die keiner Zukunft mehr Platz lässt, eine Zivilisation, die blind auf einen Abgrund zusteuert. Irgendwann mischt sich in die pazifistischen Ziele derart viel Verzweiflung und Aussichtslosigkeit, dass die drei die DLB, die Dead Loss Brigade gründen, einen gut organisierten Haufen, der sich längst nicht mehr mit Nadelstichen begnügt, eine immer stärker werdende Gruppe von eigentlichen Ökoterroristen, deren einziges Argument die Gewalt ist.

So sehr sich die drei immer mehr im Strudel der Gewalt verlieren, so sehr entzieht es den dreien den Boden ihrer gegenseitigen Freundschaft. Lias liebt Yvette, die einzige. Und Yvette liebt Minnigk und Lias. Sie ziehen sogar in eine gemeinsame Wohnung, bis die Nähe für Lias unerträglich wird, genauso unerträglich wie die sich abzeichnende letzte Katastrophe in ihrem Kampf gegen die Stur- und Trägheit der Menschen.
Lias erzählt den Weg dieser Katastrophe, die ihm alles wegnehmen wird, seinen Freund Minnigk, seine Liebe Yvette und den Glauben, irgend ein Kampf wäre zu gewinnen.

Zugegeben, Mischa Kopmanns Roman streichelt auf keiner Seite. Alles läuft aus dem Ruder, alles. In vielen der sprachlich eingedickten Szenen, wird die Verzweiflung schmerzlich spürbar. Viele Szenen erinnern an Theaterszenen, an ProtagonistInnen, die sich nichts schenken, die sich förmlich aufreissen, um in einem letzten Akt der Verzweiflung Resonanz zu erreichen.
Vielleicht ist ein solches Buch der verzweifelte Versuch eines Familienvaters, seinen Kindern auch in Zukunft vor die Augen treten zu können. So wie die Kinder all jener die während der Gewaltherrschaft von Diktaturen Augen, Ohren und Münder schlossen, ihren Eltern später Fragen stellen. Unsere Kinder werden wieder fragen. Zum Beispiel warum wir nicht trotz Warnungen wie jener im UN-Bericht von 2010 umschwenkten.

„Haus in Flammen“ ist weit mehr als Ökoliteratur. Mit Sicherheit ein literarischer Höllentripp.

Interview

Unser Haus steht tatsächlich in Flammen, der ganze Planet. Besteht nicht die Gefahr, dass genau jene Leserinnen und Leser, die sich noch immer weigern, die Zeichen der Zeit lesen zu wollen, ein Buch wie das ihrige weglegen?
Ganz sicher wäre das so – sofern man sich der Illusion hingeben mag, dass eben diese Leserinnen und Leser mein Buch erst einmal in die Hand nähmen. Literatur ist in den seltensten Fällen Angelegenheit einer breiten Masse und somit fast immer elitär. Würde ich ernsthaft über mein etwaiges Lesepublikum nachdenken, könnte ich nicht die Bücher schreiben, die ich schreibe. Entscheidend, daran glaube ich fest, im Leben wie in der Literatur, ist nicht die Anzahl an Verkäufen, sondern der kulturelle Impact: Bewege ich mit meinem Buch Herzen, verändere ich etwas und etwas verändert sich.

Sie leben mit Ihrer Familie in Hamburg. Mag sein, dass man dort vom Geist der Fridays-for-Future-Bewegung etwas mitbekommt. Ich wohne in einem 14000-Seelen-Dorf, umgeben von satten Wiesen und Wäldern und spüre davon rein gar nichts. Im Gegenteil, hier fahren Baseballkapies mit ihren getunten Spielzeugen am Bahnhof vorbei und die Eingänge zu Schulhäusern sind nach einem Wochenende total vermüllt.
Ich neige zu einer pessimistischen Sicht in die Zukunft. Und Sie? Ich sehe mein Buch als ein Werk der Desillusionierung. Mitunter muss ich aufpassen, dass ich die Welt, die mich umgibt nicht als post-apokalyptisch geisterhaft erlebe. Unsere Regierung bezeichnet den aktuellen Klimabericht als «flammendes Dokument einer brennenden Welt». Da wir es seit Jahrzehnten gewöhnt sind, lediglich an den Symptomen eines Problems herumzudoktorn, weil es zu schmerzhaft, unbequem und nicht wirklich karrierefördernd ist, sich ernsthaft an den Ursachen abzuarbeiten, ist meine Sicht auf die Zukunft realistischerweise nicht sehr optimistisch.

Yvette, Minnigk und Lias sind Archetypen der Auseinandersetzung. Eine Visionärin, ein Radikaler und ein stiller Unterstützer. Ist es Zufall, dass die Visionärin weiblich ist? Oder trügt der Eindruck, dass die Rollen der Denkenden und Lenkenden mehrheitlich nicht in männlicher Hand sind?
Ich bin mir nicht sicher, ob Yvette tatsächlich visionärer denkt als Minnigk und Lias. Was sie von den beiden unterscheidet, ist der absolute Ernst, mit dem sie ihren Kampf ausficht. Ganz im Gegensatz zu Lias, wird ihr das Politische jedoch zunehmend wichtiger als das Persönliche – was wiederum vielleicht auch einem ganz persönlichen Motiv geschuldet sein mag. Und vergessen wir nicht: Alles, was über die Figuren (und somit auch über Yvette) gesagt wird, unterliegt der schmerzhaft gebrochenen, nach und nach versagenden Stimme eines nicht unbedingt verlässlichen Erzählers.

Sie sind Vater von Kindern. Die Wahrscheinlichkeit ist gross, dass ihre Kinder Sie irgendwann fragen werden, warum man damals nicht handelte, als es noch möglich war. Ich bin Vater von fünf Kindern. Im Nachhinein staune ich über meinen naiven Mut und die Tatsache, dass keines meiner Kinder meine Vergangenheit in Frage stellt. Ein bisschen Sorge?
Ich sehe meine Aufgabe, meinen Kindern (und Mitmenschen insgesamt) gegenüber darin, so authentisch, offen und zugewandt zu sein wie nur möglich. Ohne dabei den Humor zu verlieren. Ich glaube, darin liegt unsere eigentliche Bestimmung: Uns zu erkennen und zu erneuern, an jedem einzelnen Tag. Die sprichwörtliche Veränderung zu sein, die man in der Welt sehen will. Jede Veränderung im Kleinen bedeutet auch eine im Grossen.

Sie schreiben von der „explosiven Mischung Wut“. Das spürt, liest und sieht man überall. Nicht nur bei Fussballspielen, Demonstrationen, überall dort wo viele Menschen zusammenkommen. Warum habe ich das Gefühl, dass diese zerstörerische Kraft förmlich darauf wartet, bis sie sich der Kontrolle entziehen kann oder bis das filigrane Gefüge einer funktionierenden Gesellschaft zu wanken beginnt?
Alles bleibt solange in einer vermeintlich sicheren Schwebe bis das filigrane Gefüge, von dem sie sprechen, solche Risse bekommt, dass es zerbricht. Dies gilt für die Natur wie für die Menschheit: Solange es den Eliten gelingt, das soziale Ungleichgewicht nicht zu gross werden zu lassen, solange die Natur nicht solche Schäden heraufbeschwört, dass der soziale Frieden nachhaltig gestört wird, geht alles seinen gewohnten Gang. Seit einigen Jahren erleben wir jedoch, dass unser Alltag zunehmend Störungen unterliegt. Eine Gesellschaft, die es als ihr Recht ansieht, in sicherem Wohlstand zu leben, ist durch nichts darauf vorbereitet, wenn beide Faktoren, eng aneinander geknüpft, ihren explosiven Point of no Return erreichen.

Ist Ihr Schreiben Ihr ganz persönlicher „Kampf“?
Dieses Buch hat mir geholfen, meine Wut, meine Angst, meine Ohnmacht zu überwinden. Es gilt also im besten Sinne das Credo: Besser ich schreibe über Menschen, die Autos anzünden und Fast-Food-Ketten-Fillialen in die Luft jagen, als selbst damit anzufangen.

Mischa Kopmann wurde Ende der sechziger Jahre in einer Kleinstadt in der Südheide geboren. Um die Milleniumswende gewann er einige Literaturpreise (u. a. Allegra Kurzgeschichten Preis, Walter-Serner-Preis), unterbrach dann jedoch sein literarisches Schaffen, um seine zwei Kinder grosszuziehen. Im Februar 2017 erschien bei Osburg sein Debütroman «Aquariumtrinker», 2019 die «Dorfidioten». Der Autor lebt in Hamburg.

Beitragsbild © Kathrin Brunnhofer

Natalie Buchholz «Unser Glück», Penguin

Die Frage nach dem Glück stellt sich immer wieder, mit Sicherheit in jeder Lebensphase anders, aber permanent. Coordt hat ein genaues Bild davon, was Glück sein könnte, gemeinsames Glück, das mit seiner Familie, seiner Frau, seinem kleinen Sohn. Wie sehr sich vermeintliches Glück ins Gegenteil verschieben kann, erzählt Natalie Buchholz subtil und gekonnt.

Ganz persönliches Glück kann sich grundsätzlich von familiären Glück unterscheiden. Coordt selbst glaubt sehr genau zu wissen, was es dazu bräuchte. Coordt ist glücklich verheiratet, auch wenn sich Schatten in seine Ehe geschlichen haben. Coordt ist glücklicher Vater, auch wenn der Kleine zu oft schreit und alle Energie seiner Frau zu binden scheint. Coordt ist glücklich in seinem Beruf, auch wenn es da noch Spielraum gäbe, nicht zuletzt in Sachen Salär. Grund für das latente Unglück ist ihre Wohnung; zu klein, zu eng, zu laut, zu stickig. Aber in München für eine junge Familie bezahlbaren Wohnraum zu finden, grenzt an Zufall. Und wenn sich dann vor einem solchen Objekt der Begierde eine lange Schlange bildet, lauter junge Leute, Familien einen Blick in Wohnraum werfen wollen, der in der Annonce fast unglaubhaft schien, macht sich Mutlosigkeit schon vor der Absage breit. Aber Coordt bleibt in der Reihe, bis ihm eine adrett gekleidete Dame, die sich als Besitzerin vorstellt, die Wohnung zeigt; alles wie aus dem Hochglanzprospekt – grosszügig, noch nicht lange renoviert, der Boden wie frisch gebohnert, flächenmässig mehr als doppelt so gross, wie das kleine Verliess, in dem er mit seiner unglücklichen Familie haust.

Natalie Buchholz «Unser Glück», Penguin, 2022, 224 Seiten, CHF 30.90, ISBN 978-3-328-60188-3

Eine Sache sollten sie wissen. Das eine Zimmer bleibt untervermietet. Mein Ex-Mann. Er will nicht ausziehen. Mein Ex-Mann wird sie nicht stören. Coordt hatte eine Ahnung. Alles wirklich Gute muss einen Haken haben.Wohl auch der Grund dafür, dass alle vor ihm die Wohnung mit verzerrten Gesichtern verliessen. Und als dieser eine Mann dann urplötzlich im Flur steht, um die siebzig, gross, adrett gekleidet und den Satz parkiert Ziehen Sie hier ein, mache ich ihnen das Leben zur Hölle, scheint die Sache gegessen, wenn da die Not nicht wäre, das Wissen, dass die alte Bleibe seine Frau wie ein Mühlstein in dunkle Tiefen zieht.

Coordt geht nach Hause und erzählt seiner Frau. Wenig später ziehen sie tatsächlich ein. Aber während sich mit einem Mal das Familienglück zurückfindet, seine Frau Franziska regelrecht aufhellt und der Kleine seine Ruhe findet, nistet sich der unsichtbare Untermieter in Coordts ramponiertes Seelenkostüm ein. Noch viel mehr, als er feststellen muss, dass sich der Untermieter in seiner Abwesenheit seiner Familie ganz langsam annähert. Erst recht, als er ihnen ein Angebot macht. Er, Coordt, solle ausziehen, so lange, bis er, der kranke Untermieter, verstorben sei und die Wohnung als Geschenk an sie überginge, weil ich die Illusion brauche, eine Tochter zu haben, so wie ich sie mir immer gewünscht habe. Ein unmoralisches Angebot. Coordt solle unsichtbar werden zum Preis einer Wohnung, die sie sich nie würden leisten können.

Weil Coordts Frau Franziska mit Feuer und Flamme an diese Chance glaubt, willigt Coordt ein. Er zieht tatsächlich aus, mietet sich in einer kleinen Zweizimmerwohnung ein, trifft sich nur noch ausserhalb der Wohnung und an den Wochenenden mit seiner Familie und wartet. Aber kann man auf das Glück warten? Lässt sich das Glück versprechen? Während der seltsame Untermieter sein Glück gefunden hat, entfernt es sich von Coordt immer mehr. Statt sich in diese eigentümliche Situation hineinzugeben, verliert sich Coordt in seinem Unglück, der Art und Weise, wie sich der alte, scheinbar kranke Mann in ihr Leben drängt. Der Mann wird zur Obsession.

Natalie Buchholz Roman ist eine eigentliche Versuchsanordnung. So wie Literatur sehr oft ein „Was wäre wenn“ ist. Obwohl Coordts Frau Franziska wieder zu der wurde, die sie einmal war, die Coordt geheiratet hatte, obwohl das Glück in absehbarer Nähe wartet, obwohl Franziska mit der aufgezwungenen Situation sehr wohl zu recht kommt, reitet sich Coordt in sein eigenes Unglück. Und um die Geschichte noch zu komplizieren, wird nach dem Tod des Untermieters nichts so, wie man es sich vorstellte.
Ich erinnere mich an den Film „Ein unmoralisches Angebot“. Letztlich geht es auch bei diesem Roman um die Verlockungen sicheren Geldes. Dass das Glück nicht käuflich ist. „Unser Glück“ setzt sich nicht nur mit Rollen auseinander, der ewigen Ungleichheit der Rollen. „Unser Glück“ ist ein Roman darüber, wer und was Grenzen ziehen muss und soll. Spannend!

Interview

Ich weiss, dass die Mietwohnungsnot in deutschen Städten gross ist, dass immer mehr Immobilien zu unbezahlbaren Kapitalanlagen gemacht werden. Auch in der Schweiz ist in grossen Städten Gleiches feststellbar. Trotzdem ist Ihr Roman ja nicht einfach ein Roman um dieses Problem, sondern eine eigentliche Versuchsanordnung. Was würde passieren wenn. Wie kamen Sie auf diese Idee?
Wohnraum wird unbezahlbar. Das betrifft nicht nur München, sondern die meisten Metropolen. Was mich an diesem Thema am meisten interessiert hat, ist der immense Druck, den die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen auf die Menschen, den Alltag, die Beziehungen – einfach alles – haben. So entstand die Idee, ein Psychogramm einer jungen Familie zu entwerfen. Was passiert, wenn das Zuhause zu einer wirtschaftlichen Verhandlungssache wird? Im Roman ist es Bobo, ein ominöser Mitbewohner, der der Familie ein Angebot macht, das es in sich hat: es kann ihre Zukunft sichern oder sie für immer spalten. Woran liegt uns mehr, an unserer Unabhängigkeit oder an einem repräsentativen Zuhause, das Raum zur Entwicklung bietet? Mir war es wichtig zu zeigen, dass es die eindeutige und für alle richtige Entscheidung nicht gibt. Wie in einem Vexierbild ergibt sich aus der Perspektive jeder Figur eine andere Sicht auf Bobos Angebot.

Die beiden haben in Liebe geheiratet und eine Familie gegründet. Aber weil die erste Wohnung eher ein Loch war, die Rollenverteilung nie wirklich ausdiskutiert wurde, das Glück sich zu verabschieden drohte und man sich plötzlich in Sachzwängen verstrickt fühlte, wurde aus einem „schrägen“ Angebot ein möglicher Weg zurück ins Glück. Lassen wir Menschen uns zu leicht mit Versprechungen betäuben?
Es gibt einen wunderbaren Satz des Schweizer Künstlerduos Fischli & Weiss: «Sucht mich das Glück am falschen Ort?» Das trifft für mich den Kern der Frage nach dem Glück, weil es das Glück an sich nicht in Frage stellt, sondern die äusseren Begebenheiten, die auch mal aus einer betäubenden Versprechung bestehen können. Aber wer sagt denn, dass Versprechungen nicht zum Glück verhelfen können? Das auszuprobieren ist für manchen verwerflich, für andere vernünftig. Und wie so oft liegt die Wahrheit, und damit das Glücksversprechen, wohl irgendwo in der Mitte.

Müsste man sich zu Beginn einer Beziehung, des Abenteuers Familie nicht erst einmal ganz genau darüber unterhalten, was eigenes und familiäres Glück bedeutet?
Glück ist wandelbar – und was einst wichtig ist, muss für später nicht mehr gelten, weil ganz anderes an Bedeutung gewonnen hat. Vielleicht kann ein gemeinsamer Blick auf die Wandelbarkeit von der Vorstellung von Glück ein interessanter Abgleich sein. Und wahrscheinlich schadet eine offene Kommunikation, welche Vorstellung von Glück und Leben man hat, keiner Beziehung. Doch die Karten werden ständig neu gemischt – wäre es nicht vielleicht doch besser gewesen, den Joker zu legen und ihn nicht für später aufzubewahren?   

Dieser eine Mann, der sich in Franziska eine Tochter auf Zeit erzwingt, ist ebenfalls auf der Suche nach dem Glück. Ein Glück, das er sich letztlich erkauft. Und wenn man Ihren Roman liest, scheint ausgerechnet er der einzige zu sein, der sein Glück finden konnte. Hat Geld und Glück, Glück und Geld eben doch einen kausalen Zusammenhang?
Ja, den gibt es. Ich weiss, es würde weitaus sympathischer klingen, da weniger kapitalistisch, wenn ich antworten würde, dass man sich Glück und glücklich sein nicht erkaufen könne. Das kann man bekanntlich auch nicht. Aber was Geld kann: einem grundlegende Sorgen nehmen wie die Miete, den Kredit, die Kita, die Versicherungen und so weiter. Und damit kann Geld mehr Spielraum zur Entfaltung geben. Also eine gute Basis schaffen, auf der sich aufbauen lässt. Bobo weiss, dass er sich etwas erkaufen kann, weil er Macht hat. Dadurch gewinnt er Glück – wenn auch nur auf Zeit.

Ihr Roman ist auch ein Roman über Wahrnehmung. Coordt sieht die Situation ganz anders als seine Frau Franziska. Coordt sackt förmlich ab in den Interpretationen seiner Wahrnehmung. Wie soll man sich davor schützen? Wie schützt sich Natalie Buchholz davor?
Coordt ist jemand, der alles für seine Frau und seinen Sohn tun würde, damit sie zufrieden sind. Er ist insgesamt eher von passiver Natur, lässt andere die Entscheidungen fällen, statt zu sagen, was er möchte. Keine Entscheidung zu fällen ist allerdings auch eine Entscheidung. Das ist sein Dilemma. Coordt lässt sich in Situationen hineinsteuern und versucht erst im Nachhinein, Entscheidungen, die ihm widerstreben, zu revidieren, indem er sie untergräbt. Darin verliert er sich. Wie sich Coordt davor hätte schützen können und wie ich mich selbst davor schütze? Kopf und Herz zusammenzubringen, ist wohl die Königsdisziplin des Lebens. Im Zweifelsfall: geradeaus dem Herzen folgen, denn der Kopf hinkt ihm hinterher.

Natalie Buchholz, 1977 in Frankreich geboren, studierte Kulturwissenschaften und Ästhetische Praxis an der Universität Hildesheim und an der Université Aix-Marseille. 2018 erschien ihr Romandebüt «Der rote Swimmingpool». 2020 wurde sie mit dem Spiegelungen-Preis für Minimalprosa ausgezeichnet. Die Autorin lebt und arbeitet in München und im Inntal.

Webseite der Autorin

Beitragsbilder © Peter v. Felbert

Lucy Fricke «Die Diplomatin», Claassen

Fred ist deutsche Konsulin, ehrgeizig, taff und eigentlich nicht so leicht aus der Ruhe zu bringen. Sie ist beruflich dort, wo sie immer hinwollte, hat das erreicht, wovon sie immer träumte. Aber war es das wirklich? Zu welchem Preis? Lucy Fricke trifft pfeilgenau in das wunde Herz einer Frau, eines Lebens, eines Systems. „Die Diplomatin“ reisst den Vorhang weg!

Fred heisst eigentlich Friederike Andermann. Sie tut das, was bis vor wenigen Jahrzehnten noch fest in Männerhand war; sie ist Diplomatin. Sie studierte, dachte eine Weile, Richterin werden zu wollen, begann dann aber eine Diplomatinnenkarriere im Auswärtigen Amt. Ursprünglich aus der Idee, etwas bewirken, sich einbringen, an etwas Grossem teilhaben zu wollen. Aber diese Idee geriet schon länger ins Wanken. Nicht erst in Uruguays Hauptstadt Montevideo, ihrer ersten Stelle als Botschafterin.

Über Wochen muss sie sich im Hinblick auf das Fest zur Deutschen Einheit Anfang Oktober in Montevideo mit Grillfleisch, Bratwürsten, Gästelisten und anderen Kleinigkeiten herumschlagen. Sicher auch deshalb, weil sie sehen muss, wie andere Frauen Mütter werden und sie einsam. Und als dann noch eine bekannte Verlegerin aus Deutschland anruft und von ihr verlangt, alle Hebel in Bewegung zu setzen, weil sie seit 24 Stunden keine Nachricht mehr, keinen Post von ihrer Influencertochter erhalten habe und sich das Verschwinden nach ihrem Zögern als eine Entführung entpuppt, wird aus der Enge, in der sie sich fühlt, eine schlammig zähe Masse. Nachdem die junge Frau tot aufgefunden wird, sich das ganze zur Katastrophe mit unabsehbarem Ende auswächst, suhlt sich Fred in Schuldgefühlen, die ihr von niemandem genommen werden können. Bis sie versetzt wird, zuerst zurück nach Deutschland, später in die deutsche Botschaft in Istanbul.

Lucy Fricke «Die Diplomatin», Claassen, 2022, 256 Seiten, CHF 32.90, ISBN 978-3-546-10005-2

Aber so mondän die Räumlichkeiten und Einrichtungen der dortigen Botschaft sind, die Türkei hat sich unter dem jetzigen Präsidenten zu einem repressiven Staat entwickelt, dessen Vorstellungen von Rechtsstaatlichkeit und Demokratie, von Völkergemeinschaft und Europa ganz andere sind, als jene, die in Freds Seele noch immer als Idee herumschwirren. Istanbul, eine Stadt, die Fred gleichermassen liebt, fasziniert und überfordert. Wie ihre Arbeit.

Irgendwann taucht Barış (türkisch die ‚Versöhnung’) ein deutsch-türkischer Student auf, der seine Mutter in einem der türkischen Gefängnisse besucht. Jene Mutter geriet wegen Nichtigkeiten ins Visier der türkischen Polizei, wurde verhaftet und ohne Anklage und Verhandlung eingesperrt. In eine überfüllte Zelle, gezeichnet von den Strapazen, von mangelnder medizinischer Betreuung. Barış will seine Mutter frei, will Gerechtigkeit. Aber sein Besuch für die Mutter bringt keine Erleichterung. Auch er wird Ziel des türkischen Sicherheitsapparats, muss untertauchen, sich verstecken. Für Fred beginnt ein heikler Tanz auf Messers Schneide, ein Konflikt, den sie nicht nur auf diplomatischer Ebene verloren sieht, ein Konflikt, der ihr mit schmerzlicher Deutlichkeit zeigt, wie wenig Macht zur Veränderung nicht nur in ihren Händen liegt.

Dass Lucy Fricke ihren Roman zum grössten Teil in der türkischen Hauptstadt spielen lässt, dass sie Istanbul nicht bloss zu einer pittoresken Kulisse macht, dass sie glasklar zeigt, wie die Macht des türkischen Kontrollstaates eine Atmosphäre der Angst und permanenten Bedrohung erzeugt, dass hinter all den Fassaden aus Schein und Lügen Repression herrscht, ist mutig. Ich glaube kaum, dass Lucy Fricke, die mehrere Monate im Land und in dieser Stadt verbrachte, je wieder unbehelligt die Grenze wird überqueren können.

„Die Diplomatin“ ist ein Roman über eine Frau, die mitten in ihrem Leben ernüchtert und desillusioniert feststellen muss, dass jenes Leben, dass sie führt, jener Beruf, in dem sie zu wirken versucht, kaum mehr etwas davon hat, wovon sie einstmals träumte. Hoffnungen sind verschwunden, Leidenschaft erkaltet. Ein Kampf, den alle in ihrem Leben ausfechten müssen, Erkenntnisse, die allen drohen, unabhängig von Geschlecht, Stand oder Beruf. Was bleibt von den Idealen, die man einst wie Leuchtfeuer durch sein Leben trug? Wie schafft man es, dass jenes Feuer nicht erlischt? Auch die Sehnsucht nach Erfüllung und Liebe!

Lucy Frickes Roman ist mutige Literatur!

Interview

Ihr Roman lässt sich in verschiedene „Richtungen“ lesen. Zum einen ist es der Roman über die Ernüchterungen einer Frau, nicht nur in ihrer Arbeit, auch mit ihren Beziehungen, nicht zuletzt mit der Liebe. Und dann ist es auch ein Roman, der sich mit der Diplomatie direkt auseinandersetzt, wie sehr einem die Hände gebunden sind. Aktuell scheint es die Diplomatie noch schwieriger zu haben. Man verhandelt zwar irgendwie, aber im Ukrainekrieg sprechen beide mit einem Vokabular, dass vor 80 Jahren schon einmal Konjunktur hatte und mit Diplomatie rein gar nichts mehr zu tun hat. Ängstigt Sie das auch?
Es ist Angst gepaart mit Ohnmacht, die denkbar schlechteste Kombination. Wir, die wir nicht Macht haben, die grossen Entscheidungen zu treffen, können nur im Kleinen tun, was immer uns möglich ist. Humanitäre Unterstützung in jeder Form. 

Ein grösserer Teil Ihres Romans spielt in der türkischen Hauptstadt, in der Sie mehrere Monate verbracht haben. Eine Stadt, in die man sich genauso verlieben wie verlieren kann. Eine Stadt mit pittoresker Kulisse, fest im Klammergriff eines rigiden Alleinherrschers. Ihr Roman nimmt kein Blatt vor den Mund. Befürchten Sie, in Zukunft nie mehr in die Türkei einreisen zu können?
Nie mehr, das würde ich nicht sagen. Auch dieser Präsident wird nicht ewig an der Macht bleiben. Aber den nächsten Sommer werde ich sicher nicht in Istanbul verbringen, das ist ein kleines Opfer im Vergleich zu dem, was den Figuren im Roman und so vielen Menschen in der Türkei widerfährt. 

Fred fürchtet sich als Diplomatin permanent vor Fehleinschätzungen. Eine Furcht, die auch mich zuweilen lähmt. Wer weiss schon, welche Entscheidung die richtige ist. Diese Furcht schleicht sich bis in ihre Gefühlswelt, wenn sie nicht weiss, ob sie ihnen trauen kann. Mein Schwiegervater war ein Leben lang Bauer. Er meinte einmal, als ich mit ihm auf dem Feld bei der Aussaat mitfuhr, nichts garantiere ihm eine gute Ernte. Haben wir Instinkt und Urvertrauen verloren?
Vielleicht sind wir generell vorsichtiger geworden, oder auch umsichtiger. Meine Hauptfigur Fred hat dazu jeden Grund, ihre Entscheidungen und Einschätzungen betreffen das Leben anderer direkt. Das ist ein Fakt und kein Gefühl. Vertrauen ist schwierig, wenn Gespräche abgehört werden, Überwachung und Geheimdienst allgegenwärtig sind. Sie ist in ihrer Position einsam geworden, wie es oft einsam ist an der Spitze. Sie kann nie wissen, ob sich ihr Gegenüber für sie oder für ihre Funktion interessiert. Bevor sie Entscheidungen trifft, sammelt sie Informationen, sie muss permanent die politischen und menschlichen Konsequenzen ihres Tuns bedenken. Eine Diplomatin sollte nicht in erster Linie ihrem Instinkt vertrauen, aber sie darf in ihn auch nicht verlieren. Darin liegt eine grosse Herausforderung.  

Die Gefängnisse auf der ganzen Welt sind mit Menschen gefüllt, die zu unrecht eingesperrt sind. Meist sind wir im scheinbar kultivierten Westen gezwungen, dies zähneknirschend hinzunehmen, auch wenn Unrecht und Willkür offensichtlich sind. Sie nehmen ein Schicksal stellvertretend in ihren Roman. Ein Schicksal, das ein „gutes“ Ende findet. Hätte es nicht ebenso viele Gründe gegeben, die „Befreiung“ scheitern zu lassen?
Noch vor dem ersten Satz war mir klar, dass dieses Buch mit Hoffnung enden wird. Hoffnung, die daraus entsteht, dass Menschen sich engagieren. Denn daran glaube ich, und es hat mich wirklich glücklich gemacht, während meiner Recherche solchen Menschen zu begegnen. Anwälte, Künstlerinnen, Journalisten und eben auch Diplomatinnen, die nicht aufhören zu kämpfen. Irgendwann kommt immer ein Sieg dabei heraus, und auch wenn es nur ein einzelner sein mag, ist dieser eine alles wert.  

Hat Fred den Glauben an die Wirkung ihres Handelns nicht verloren? Und glauben Sie an eine positive Wirkung der Literatur?
Ich habe neulich gehört, dass mein Roman, in Verbindung mit Briefen an das Gericht, dazu beigetragen haben könnte, die drohende Abschiebung eines kurdischen Paares zurück in die Türkei zu verhindern. Sie wären nach ihrer Einreise dort direkt inhaftiert worden. Im besten Fall ist es so, dass Literatur den Blick auf die Welt oder auf einzelne Schicksale verändert und schärft. Wenn man sich mit diesem Anspruch ans Schreiben macht, hat man, glaube ich, einen guten Kompass für seine Arbeit.  

Lucy Fricke wurde in Hamburg geboren und lebt in Berlin. Für ihre Arbeiten wurde sie vielfach ausgezeichnet, zuletzt war sie Stipendiatin der Kulturakademie Tarabya in Istanbul. Ihr Roman «Töchter» erhielt 2018 den Bayerischen Buchpreis, wurde in acht Sprachen übersetzt und fürs Kino verfilmt.

Beitragsbilder © Gerald von Foris

René Frauchiger «Ameisen fällt das Sprechen schwer», Knapp

Wissen Sie, wer sie sind? Wirklich und tatsächlich? René Frauchigers Roman „Ameisen fällt das Sprechen schwer“ erzählt von einem Mann der ohne äussere Einflüsse von einem Moment auf den andern sein Gedächtnis und damit seine Identität verliert. Ein irritierender Roman über den Trott.

Irgendwann auf Hallers Weg von der Arbeit nach Hause ist Haller Haller abhanden gekommen. Er sitzt im Zug und wacht auf, ohne zu wissen, wer er ist. Er stellt fest, dass er im Schnellzug von Zürich nach Bern sitzt, beginnt in seinen Taschen zu kramen, sucht nach Hinweisen dessen, was alle andern mit Selbstverständlichkeit mit sich herumtragen. Auf Ausweisen findet er seinen Namen, sein Alter, irgendwann sogar eine Anschrift. Es ist Abend, der Zug voller Menschen, die sich ihren Feierabend herbeisehnen, die bloss ankommen wollen. Haller ist sich nicht sicher, ob er ankommen will und kann. Ob er jenes Leben, das er aus unerklärlichen Gründen im Zug nach Bern verlor, wiederfinden will und kann. Irgendwie findet er den Weg an den Ort, der sein Zuhause sein soll, den Namen einer Strasse und eine Hausnummer, die ihm nichts sagt. Er findet das Haus, das Stockwerk, die Wohnung, die Tür, die nicht nur mit seinem Namen, sondern auch mit dem Namen einer Frau beschriftet ist. Seine Freundin? Seine Frau? Sandra Zuberbühl.

René Frauchiger «Ameisen fällt das Sprechen schwer», Knapp, 2022, 113 Seiten, CHF 27.00, ISBN 978-3-906311-99-9

René Frauchigers Roman „Ameisen fällt das Sprechen schwer“ kann man als Gedankenspiel katalogisieren. Kann man. Aber in einer Zeit, in der nicht nur Demenz zunehmend eine gesellschaftliche Herausforderung wird und über Fälle von Amnesie immer offener geschrieben und gesprochen wird, in der man sich immer häufiger die Frage stellt, ob man der oder die ist, die oder der man sein will, in der Diskussionen über Identitäten beweisen, wie brüchig einstige Klarheiten geworden sind, wundert es nicht, dass sich ein Roman wie der von René Frauchiger ganz direkt mit der Frage auseinandersetzen, wer die Person ist, die einem morgens aus dem Spiegel entgegenschaut. Wir haben uns mit uns selbst arrangiert. Die meisten Menschen stellen sich kaum je die Frage, wer oder was sie sind. Ob sie nicht auch anders hätten sein können. Ob das, was ihr Leben ausmacht auch wirklich so sein muss.

Da tastet sich jemand in ein Leben hinein, in dem alles bis ins kleinste Detail eingerichtet ist. In ein Leben, in dem alles fixiert zu sein scheint, in dem aber der Herausgefallene feststellen muss, wie folgenlos die Tatsache bleibt, dass man als vollkommen fremd Gewordener in ein Leben einsteigt, das man Schritt für Schritt zurückerobern muss, dessen Bindeglied zum alten Leben einzig und allein der Körper geblieben ist, jenes Gefüge, das von der Umgebung als Haller identifiziert wird.

Während Haller in sein altes Leben zurücktappt, stellt sich immer dringender die Frage, ob jenes Leben, das ihn zurücknimmt, jenes ist, das er wiederaufnehmen will, sei es an seiner Arbeitsstelle, zuhause in der gemeinsamen Wohnung mit seiner Freundin oder mit dem klein gewordenen Freundeskreis. Haller schwankt. Will er? Muss er? Nicht einmal seine „Freundin“ Sarah scheint zu merken, dass Haller nicht mehr der ist, der er war. Ist Entfremdung Normalität? Reicht die Hülle, um ein Funktionieren zu garantieren? Man beteuert sich gegenseitig die Liebe. Man erwidert Erwartetes am Arbeitsplatz und unter „Freunden“. Warum bleibt man in der Spur, obwohl man spürt, dass man in einer Sackgasse gefangen ist.

René Frauchigers überraschender Roman ist nicht bloss ein Gedankenspiel. Der Autor stellt Fragen, die man sonst vermeidet, die nicht gestellt werden wollen, weil man sich vor Konsequenzen fürchten müsste, weil wir alle in Netzen gefangen und verstrickt sind, weil wir uns nicht trauen, Hallers Fragen zu stellen.

„Ameisen fällt das Sprechen schwer“ ist ein kluger Roman. Solange wir uns in der Kolonne bewegen, solange wir unfähig sind, aus der Reihe herauszutreten, solange fällt uns das ehrliche Sprechen tatsächlich schwer.

Interview

Menschen bilden sich einiges ein auf ihre angebliche Individualität. Letztlich ein ziemlich breites Feld, um reichlich Geld zu verdienen. Peter Haller macht sich auch ohne das, was ihn einst ausmachte, ganz gut in seiner Welt, bis ins gemeinsame Schlafzimmer mit seiner Freundin. Bilden wir uns da wirklich was ein?
Peter Haller hat sein Gedächtnis verloren und macht einfach weiter, eigentlich müsste sich ja sein Leben durch den Gedächtnisverlust grundlegend ändern, er müsste jemand völlig anderes werden. Nur lässt sein Umfeld eine solche Veränderung gar nicht zu.
Wir kennen das eher aus der umgekehrten Situation, wenn wir alleine verreisen, haben wir oft das Gefühl, jemand anderes sein zu können, weil diese Erwartungen, die unsere Mitarbeiterinnen, Mitarbeiter, Freundinnen, Freunde an uns haben, wegfallen.
Aber auch eine solche Ferien-Veränderung funktioniert meist nicht recht – oder wird zur grossen Enttäuschung, ein Stück unseres Alltags nehmen wir ja immer mit. Aber was bleibt dann noch von dieser «Individualität»?

Ameisen und viele andere Tiere funktionieren nur im Kollektiv, so wie viele andere Lebensgemeinschaften. Die Lebensgemeinschaft Menschheit allerdings macht sich ziemlich flott auf hin zum Abgrund. Optimist oder Pessimist?
Aber funktioniert das Kollektiv der Ameisen wirklich? Für die Geschichte ist die «Ameisenmühle» wichtig: Ameisen folgen Pheromon-Spuren, um Nahrung zu finden. Diese Spuren wurden zuvor von anderen Ameisen gelegt. Problematisch wird es nur, wenn eine Ameise im Kreis läuft und auf ihre eigene Spur stösst. Wenn sie dieser nachläuft, bewegt sie sich noch einmal im Kreis, verstärkt die Pheromon-Spur, so geraten andere Ameisen wiederum auf die Kreisspur und so weiter, bis Tausende von Ameisen sich in einem Kreis bewegen und schlussendlich verhungern. Das ist die Ameisenmühle. Was häufiger passiert als man glaubt. Ja, so gesehen ist das Buch äusserst pessimistisch…

Peter Haller erkennt sich mit einem Mal nicht mehr wieder, nichts, nicht einmal sein Spiegelbild. Ist sich René Frauchiger stets sicher bei dem, was er im Spiegel sieht? Zumindest bei mir schleichen sich angesichts dessen, was ich in den Spiegeln der Menschheit sehe, einige Zweifel ein.
Es gibt die deutsche Redewendung «jemandem den Spiegel vorhalten», das heisst, ihn mit den Dingen konfrontieren, die er tut. Und man sagt, jemand könne wohl nicht mehr in den Spiegel schauen – wenn er/sie etwas Schlimmes getan hat.
Ich denke jedoch nicht, dass es so einfach ist. Selbsterkenntnis funktioniert gerade nicht über den Spiegel. Im Gegenteil, die schlimmsten Diktatoren verbringen sehr viel Zeit damit, vor dem Spiegel ihre Haare zu richten. Aber was müssten wir den Diktatoren aber dann vorhalten, wenn nicht den Spiegel?

In der Mitte Deines Romans steht Er hatte herausgefunden, wer er war. Tun wir das wirklich oder beruhigen wir uns nur mit einem Konstrukt, einer dünnen Folie?
Nein, Peter Haller hat nicht wirklich herausgefunden, wer er war. Aber es könnte sein, dass er eine Spur gefunden hat …

Dein Roman ist nicht nur ein Buch über das Rätsel der eigenen Identität, sondern auch ein Roman über eine Beziehung, über die Frage, was es denn ausmacht, dass man über Jahre, Jahrzehnte oder gar ein ganzes Leben an der Seite eines anderen bleibt. Ist eine Langzeitbeziehung wie jene zwischen Haller und seiner Freundin nicht einfach Resultat vielfach liebgewordener Gewohnheiten?
Wie gesagt, der Roman ist von seiner Grundstruktur her sehr pessimistisch. So ist auch Hallers Beziehung nicht mehr als eine Oberfläche, sie besteht nur aus dem, was man in dem Spiegel sehen könnte. Ich selbst bin hier noch immer der unverbesserliche Romantiker. Nichts ist stärker als die Liebe – nicht einmal der Alltag.

René Frauchiger, geboren 1981 im schweizerischen Madiswil. Lebt in Basel. Er ist Autor von Kolumnen und Kurzgeschichten, die in diversen Zeitungen und Literaturzeitschriften erscheinen, sowie Gründer und Mitherausgeber von «Das Narr. Das narrativistische Literaturmagazin» (seit 2011). 2016 wurde er mit dem Werkbeitrag des Fachausschusses Literatur Basel ausgezeichnet. 2019 erschien der Roman «Riesen sind nur große Menschen» im homunculus Verlag.

Webseite des Autors

Sabine Scholl «Die im Schatten, die im Licht», Weissbooks

In Sabine Scholls Roman „Die im Schatten, die im Licht“ begleite ich neun Frauen durch die Wirren des letzten Weltkriegs. Ich las den Roman mit angehaltenem Atem, weil meine Lesart es nicht verhindern konnte, deren Schicksale mit jenem all jener zu verknüpfen, die in der Ukraine zwischen§ Panzer und Raketen geraten. In „Die im Schatten, die im Licht“ schreibt Sabine Scholl nicht über die Bösen und die Guten, sondern über Opfer, Opfer der Geschichte und ihrer selbst.

Wir lernen in der Schule über Kriege, lesen Bücher, sehen Dokumentationen, Filme. Und doch bleibt einem auf ewig fremd, was all jenen geschieht, die miterleben müssen, die ausgeliefert sind, die in irgend einer Weise zu Opfern werden. Wir sehen es in den Nachrichten, im Internet, in Zeitungen, aber es bleiben Bilder, stumm oder bewegt. Selbst dann wenn sie mir den Schlaf rauben, wenn sie mich lähmen, mir in meiner scheinbaren Sicherheit ins Gesicht schlagen.

Es mag jene geben, die fragen: Warum ein solches Buch? Warum immer noch eines? Es mag jene geben, die sich der Lektüre verweigern mit dem Argument, man habe schon genug darüber gehört. Viel lieber liegen wir auf einem Liegestuhl in der Sonne mit Aussicht auf einen See und lassen die Seele baumeln. Man müsse ihn geniessen, den Frieden. Dabei ist die Selbstverständlichkeit, mit der wir diese Selbstverständlichkeit geniessen und für uns beanspruchen doch eigentlich nur der Fähigkeit zu verdanken, den Schrecken möglichst weit ausserhalb unseres Bewusstsein zu verbannen.
Genau das will und kann Sabine Scholl nicht. Sie weiss, dass man es immer wieder benennen, dass man Zeugnis ablegen muss, jetzt erst recht, wo die letzten jener Generation sterben, die damals als Opfer den Schrecken zu erleiden hatten.

Sabine Scholl «Die im Licht, die im Schatten», Weissbooks, 2022, 352 Seiten, CHF 35.90, ISBN 978-3-86337-193-7

Sabine Scholl nimmt die Schicksale neun ganz unterschiedlicher Frauen, die der Krieg in die innere Emigration, zu fataler Anpassung, in eine Scheinwelt, ins Exil, in den Widerstand oder einfach ins tapfere Ausharren treibt. In vier Teilen Unheil 1938/39, Krieg 1941, Widerstand 1944, Testamente 1946 zeichnet sie das Leben jener, die nicht nur im Schatten des Lichts oder Schatten der Geschichte stehen, sondern in fataler Abhängigkeit einer vollkommen dominierender Männerwelt gerieten, sei es jene der Agitatoren des NS-Regimes, der Alliierten, sei es der einfache Soldat, der Abwesende oder Zurückgekehrte, der offene und versteckte Handlanger, all jener Männer, die mit Leben bezahlten, weil sie sich nicht einbinden lassen wollten.

Dabei bedient sich Sabine Scholl genauer Recherchen. So ist die Figur der Prinzessin Huberta, die sich stets als Auserwählte sah, selbst in den US-Internierungslager, in Zeiten der Entnazifizierung der Biografie von Stephanie von Hohenlohe entlehnt. Sie erheiratete sich ihren Adelstitel und wurde 1938 von Goebbels und Hitler als neue Gastgeberin ins Schloss Leopoldskron berufen, das Max Reinhardt, dem Begründer der Salzburger Festspiele mit seiner Flucht in die USA von den Nazis geraubt wurde. Oder die französische Schauspielerin Arletty, die in den Jahren vor dem Krieg zu einem Star avancierte, der man aber ihre Liebe zu einem deutschen Offizier als Kollaboration anlastete und die nach dem Krieg langsam in Vergessenheit geriet. Als Francine in Sabine Scholls Roman kämpft die verwöhnte Schauspielerin, stets ihrer Wirkung bewusst, als gnadenlose Opportunistin ihren Kampf gegen alles, was ihr zu schaden droht. Daneben die Namenlosen, die in Sabine Scholls Roman einen Namen bekommen. Wie die während des Krieges arbeitslos gewordene Schneiderin Gretel, die aus Hunger und Verzweiflung auf eine Annonce reagiert und sich zur Aufseherin ausbilden lässt, um stramm und stets korrekt mit greller Stimme und gezückter Peitsche ihren Kampf gegen unwertes Leben zu führen, auch nach dem Krieg sich keiner Schuld bewusst. Oder Rosi, die im steirischen Aussee Villen putzt, zuerst in den Diensten jüdischer Kaufleute, KünstlerInnen, später im Dienst jener, die sich diese Häuser im Laufe der Arisierung unter den Nagel rissen. Rosis Leben wird gezwungenermassen das einer Widerstandskämpferin, nur schon um am Leben zu bleiben.

Sabine Scholls Protagonistinnen sind alles andere als Heldinnen. Die einen sind Opfer im Licht, die anderen im Schatten. Der Focus lag lange genug auf den „HeldInnen“ der Geschichte. Sie sind wie wir, die wir von uns doch nie und nimmer behaupten könnten, in vergleichbarer Situation heldenhaft zu handeln.
Beeindruckend an dem Roman ist auch, dass es Sabine Scholl gelingt, das Dokumentarische literarisch zu gestalten, dass die Autorin den neun Frauen auch neun verschiedene Stimmen, Tonarten gibt. Ein wichtiges Buch! Und weil sich Sabine Scholl dessen so sehr bewusst ist, ist nichts, aber auch gar nichts an diesem Buch Fiktion.

Interview

Ich habe über die Jahre mehrere Literaturkreise gegründet, in denen man über gelesene Bücher diskutiert. Beim Bestimmen einer neuen gemeinsamen Lektüre mache ich immer wieder die Erfahrung, dass sich viele durchaus engagierte LeserInnen sträuben, Literatur, Bücher über den letzten Weltkrieg zu lesen. Immer und immer wieder mit dem Argument, man habe schon in der Schule genug darüber gehört. Können Sie das nachvollziehen?
Ich selbst habe in der Schule kaum etwas darüber erfahren. In der ländlichen Umgebung, wo ich aufgewachsen bin, gab es nur Schweigen. Vielleicht erklärt sich der Überdruss der Leserinnen daraus, dass viele Erzählungen vom Krieg sich ähneln. Dass die Schauplätze sich gleichen. Und dann meint man, eh alles zu wissen. Deshalb wollte ich Perspektiven finden, die unbeschrieben waren, Zusammenhänge, die sich nicht auf den ersten Blick offenbaren, Geschichten, die willentlich oder auch unwillkürlich gelöscht wurden. Und tatsächlich war mein Forschen nach weiblichem Erleben während des Kriegs veranlasst durch Erzählungen von aus Syrien Geflüchteten. Da habe ich die Perspektiven von Frauen vermisst und fragte mich in der Folge, was eigentlich die Frauen in Gegenden, die ich gut kenne, während des Zweiten Weltkriegs gemacht hatten, welche Handlungsspielräume es für sie gab.

Recherchefoto © Sabine Scholl

Es sind neun Frauen, neun ganz verschiedene Schicksale. Jedes Schicksal hätte genug Stoff geliefert, um einen Roman zu schreiben. Aber die Vielstimmigkeit ihres Romans gibt ihrem Buch eine ganz eigene, besondere Note. Wie kamen sie genau zu diesen neun Leben? Und warum nicht sieben oder zwölf?
Anfangs stiess ich auf eine Notiz über eine Aristokratin, die im Roman Vera heisst und der eine wahre Geschichte zugrunde liegt. Aus dem über sie recherchierten Material ergab sich die Frage nach Frauen, die anderen gesellschaftlichen Schichten angehörten, wie etwa meine Grossmütter, die als Mägde auf Bauernhöfen arbeiten mussten. So entwickelten sich nach und nach neue Notwendigkeiten, aus denen Forschungen erwuchsen und in der Folge weitere Frauenfiguren. Ich musste dann irgendwann aufhören, weil ich so viele spannende Geschichten fand, zwei Figuren musste ich sogar streichen, weil der Roman noch einigermassen übersichtlich bleiben sollte. Und so wurden es halt neun.

Dass im Vorsatz Ihres Romans je ein Zitat von Inge und Sophie Scholl steht, kann kein Zufall sein. Erklären Sie, warum?
Wenn man diesen Nachnamen trägt, wird man immer wieder mal auf etwaige Verwandtschaftsbeziehungen angesprochen, die es, soweit mir bekannt ist, nicht gibt. Ausserdem ist Sophie Scholl sozusagen zur Stellvertreterin weiblichen Widerstands geworden. Ihre Erzählung verdeckt damit sehr viele andere wichtige weibliche Helferinnen im Kampf gegen das Nazi-Regime. Ich bin ja dafür, die Definition von Widerstand zu weiten, weg vom Bild des Kampfes mit der Waffe als einzige Möglichkeit, sondern die Miteinbeziehung von sorgenden und unterstützenden Tätigkeiten, wie etwa im Roman die Figur der Rosi. Und das war im Zitat von Inge Scholl enthalten.

Recherchefoto © Sabine Scholl

Es ist ganz leicht, über Menschen zu urteilen. Genau das tun sie nicht. Was wir sind und was wir werden, ist oft erklärbar, oft auch nicht. Das eine Verbindende aller dieser neun Schicksale ist der Umstand, dass sie alle ihr Leben auf die ein oder andere Weise selbst in die Hand genommen haben. Auf ihre Art Widerstand war es bei allen, auch wenn dieser nicht in die Schublade Widerstand passt. Ist Schreiben ein genau solcher dehnbarer Widerstand?
Genau, ich wollte nicht aus einem Abstand von mehreren Jahrzehnten den moralischen Zeigefinger erheben. Denn, wer weiss, wie wir uns in derartigen Situationen tatsächlich verhalten hätten. Deshalb zeige ich verschiedene weibliche Strategien, ohne über sie zu urteilen. Traudi z.B. zieht sich in eine Traumwelt zurück, Vera geht darin auf, für die Freilassung ihres Mannes zu kämpfen, Francine will an die Liebe, die alle Grenzen überwindet, glauben, usw. Und egal, welche Themen ich in meinen Romanen behandle, diese Mehrstimmigkeit ist mir wichtig. Menschen verschiedener Positionen sollen vorgestellt werden, und aus diesem Zusammenklang ergibt sich ein vielschichtiges Bild, das auf Schwarz-Weiss-Denken verzichtet. In diesem Sinne ist mein Schreiben als widerständige Arbeit gegen das allwissende und autoritäre Erzählen zu verstehen.

Wir nähen alle unser Kleid selber. Wir hätten es in der Hand. Es ist also das Licht, dass die Farbe ausmacht, nie der Stoff selbst?
Hm, in dieser Frage werden die Metaphern des Kleides und des Lichts zusammengebracht. Das ist diffizil. Da ich die Tochter einer Schneiderin bin, kann ich mit Bestimmtheit sagen, nein, wir nähen uns nicht alle die Kleider selber, sondern lassen sie auch nähen oder kaufen sie fertig von der Stange. Aber Kleider dienen mir in meiner Literatur sehr wohl dazu, Menschen ein Stück weit lebendig zu machen. Da ich mich viel mit weiblichen Geschichten beschäftige, die oft nicht tradiert, nicht aufgeschrieben oder gelöscht wurden, greife ich auf derart sinnliche Gewissheiten zurück, um die vielen Lücken zu füllen. Mithilfe solcher Details bringe ich ihre Geschichten ans Licht. 

Sabine Scholl, 1959 in Grieskirchen (A) geboren,  hat in Wien studiert und lebte in Aveiro, Chicago, New York, Nagoya, wo sie an Universitäten lehrte. Nach ihrer Rückkehr in den deutschsprachigen Raum unterrichtete sie Literarisches Schreiben in Leipzig, Wien und Berlin. Für ihre Romane und Essays hat sie zahlreiche Auszeichnungen erhalten, zuletzt den Anton-Wildgans-Preis der Österreichischen Industrie 2018 und den Oberösterreichischen Landespreis für Literatur 2020. Seit 2019 lebt und arbeitet sie wieder in Wien. 2021 erschien ihr Essay «Lebendiges Erinnern – Wie Geschichte in Literatur verwandelt wird».

Webseite der Autorin

Beitragsbild © Uta Tochtermann

Patrick Tschan «Schmelzwasser», Braumüller

Eine Kleinstadt am See will nach dem verlorenen Krieg nur ihre Ruhe. Aber eine Buchhändlerin, eine Fremde, eine Zugezogene mit ihren MitstreiterInnen stemmt sich gegen die Starre, gegen die alten Nazis, die sich hinter einer neuen Ordnung verstecken.

Was sich in der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts als ein 1000jähriger Eiszeitgletscher über ganz Europa ausbreitete, war nach der Kapitulation Deutschlands im Mai 1945 nicht einfach weg. Eine von einer Rasse getragene Maschinerie der Unterdrückung, Gewalt und institutioneller Vernichtung löscht sich nicht mit einem Wisch ins Nichts. Hätten sich die Köpfe, die sich mit der Idee des Endsiegs, der Dominanz einer arischen Rasse, eines Grossdeutschen Reiches imprägnierten, nur ein paar Mal schütteln müssen, um sich von verinnerlichten Denkmustern zu trennen?

Patrick Tschans Roman „Schmelzwasser“ beschäftigt sich mit Schicksalen in den zwanzig Jahren nach dem Krieg. Mit dem langsamen Abtauen, dem stetigen Durchsickern jenes kontaminierten Schmelzwassers in einem Deutschland der Besiegten, der Verwundeten, der Abgesägten, der ewig Gestrigen. „Schmelzwasser“ ist die Geschichte einer Kleinstadt am Bodensee. Unverkennbar Überlingen, das nach dem Krieg in Schockstarre am liebsten in langes Vergessen versinken möchte, sich nur ja nicht konfrontieren will mit dem, was während Jahrzehnten der glorreiche Beginn einer tausendjährigen Ewigkeit hätte werden sollen. Der eigentliche Protagonist in Patrick Tschans neuem Roman ist diese kleine Stadt, ein Städtchen, das exemplarisch für viele Städtchen steht, weit über die Grenzen Deutschlands hinaus.

Patrick Tschan «Schmelzwasser», Braumüller, 2022, 336 Seiten, CHF 37.90, ISBN 978-3-99200-330-3

Im Frühling 1947 steigt die Buchhändlerin Emilie Reber aus einem Linienschiff in der Kleinstadt am Bodensee. Voller Tatendrang eröffnet sie mit Hilfe der französischen Besatzungsmacht in den Gassen der Altstadt eine Leihbücherei mit Antiquariat und Buchhandlung. Mit Büchern, die während der Nazizeit nicht gelesen werden durften, Bücher über die Nazizeit… Bücher, die helfen, zukünftig mit Rückgrat zu leben mit tausenden von Büchern aus der von Heinrich Mann in Paris gegründeten Freiheitsbibliothek. Emilie Reber, die in den Reihen der Resistance mit der Waffe in der Hand gegen die Nazis kämpfte, hat ihre Waffe nach dem Untergang der Schreckensherrschaft noch längst nicht an den Nagel gehängt. Nur die Waffe selbst ist eine andere geworden. Sie stellt sich dem modrigen Schmelzwasser, das alles durchdringt, das scheinbar friedliche und ruhige Städtchen am idyllischen Bodensee zu einem morastigen Sumpf werden lässt.

Kaum eröffnet, siegt die Neugier. Und natürlich sind die ersten die Schriftsteller, die in den Regalen nach ihren Büchern suchen, die meisten enttäuscht, weil ihre Bücher, geschrieben in der Zwischenkriegszeit oder im Schweif der Naziideologie, in der Auswahl Emelie Rebers ihren Platz in ihrer Buchhandlung nicht verdienen. Aber Neugier allein füllt die Buchhandlung nicht mit Kundschaft. Es harzt. Man scheint keine Lust zu haben, sich mit den Auslagen der Buchhandlung provozieren zu lassen. Man will nach den Jahren des Krieges seine Ruhe. Es soll erst mal Gras über die Sache wachsen. Aber Emilie Reber will nicht. Sie findet Verbündete; Fräulein Ilse, die den frivolsten Friseursalon Süddeutschlands eröffnet, Hildegard Zahnlaub, die in ihrem Laden zuerst bloss unter dem Tisch Artikel aus dem Beate-Uhse Sortiment verkauft und echte amerikanische Jeans der Marke Levi. Die Frauen treffen sich regelmässig zu einer Flasche Chablis und besprechen ihre Strategien zur Unterspülung, jene der Aufklärung und Reflexion. Mitstreiter wird Ignaz Franck, ein Heimatloser, einer, der sich am liebsten in einer Ecke des Buchladens aufhält, weil dort alles ist, was man ihm genommen hatte. Und Ignaz Franck schreibt.

Obwohl dem Buchladen immer mehr Kundschaft die Treue erklärt, die Karteikartensammlung Emilie Rebers, auf der sie die Eigenschaften ihrer Kundschaft notiert immer umfangreicher wird, hat das Gespann arg zu kämpfen gegen all jene, die sich in ihrem Innersten nach der verlorenen braunen Ordnung zurücksehnen. Immer wieder kommt es zu offenen Bösartigkeiten, bis eines Nachts sogar ein Schuss fällt. Aber Emilie Reber lässt sich nicht klein kriegen. Die, die Bücher liebt, liebt die Wahrheit, die Konfrontation, die Offenheit. Was in ihrem Buchladen beginnt, breitet sich immer mehr in den verkrusteten Strukturen eines verschüchterten, verwundeten, verstörten Nachkriegsstädtchens aus. Selbst die alten Nazis, die noch immer ihre Gefolgschaft zu mobilisieren verstehen, werden mit dem Geist einer „neuen deutschen Welle“ aus Literatur, Musik und Lifestyle aus ihren Löchern gespült.

Patrick Tschans Roman „Schmelzwasser“ ist ein höchst unterhaltsames und gekonnt erzähltes Sittenbild mit cineastischer Wirkung. Was sich in dem kleinen Städtchen am Bodensee ereignete, ist stellvertretend für einen Kontinent, der aus der Starre erwacht.

Patrick Tschan liest aus seinem Roman im Literaturhaus Thurgau am 24. November 2022!

Interview

Ein Faszinosum deines Romans „Schmelzwasser“ ist seine Beispielhaftigkeit. Sei dies nun im Rückblick auf die Zeit nach einem Krieg, nach dem Zusammenbruch einer alles dominierenden Ideologie oder im Ausblick auf all das, was noch kommen wird, wenn die aktuellen Diktaturen (zumindest vorübergehend) ihr Ende finden. Oder den ewigen Kampf zwischen Verweigerung und Konfrontation. War das auch eine der Intentionen beim Schreiben deines Romans?
Ideologien jeglicher Couleur sind immer ein Graus. Früher oder später werden ihre Exponenten intolerant und diktatorisch, da sie davon ausgehen zu wissen, wie das Glück der Menschen zu gestalten ist. Die einen sind mörderischer, andere weniger in ihren Methoden. Gehen sie zu Ende, hinterlassen sie „grosse Löcher“ und Orientierungslosigkeit. Da müssen sich die Menschen zuerst mal wieder zurechtfinden. Am einfachsten ist dies bei den „alten Ideen“, einer Verklärung der Vergangenheit (Putins Zarenzeit, Österreich anhaltender Kaiserkult). So sprangen viele im Deutschland der Nach-Nationalsozialismus-Zeit wieder ins gesellschaftliche Korsett der Kaiserzeit zurück. Dieses Gemisch aus Verklärung, nicht zurückweisbarer Schuld und Hilflosigkeit (Löcher) führte zu diesem Mief, dieser Verkrustung, diesem Schweigen, von dem mir viele Zeitzeugen berichteten.

Obwohl du den Namen des kleinen Städtchens am Bodensee nie nennst, ist Ortskundigen schnell klar, dass die Kulisse Überlingen beschreibt. Das muss mehr als Zufall sein. Was an deiner Geschichte ist Historie?
Macht Euch auf Spurensuche …

Drei Frauen und ein Mann stemmen sich gegen die verkrusteten und verhärteten Strukturen, die im Hintergrund einer Bodenseeidylle jede offene Auseinandersetzung zu verhindern versuchen, die sich mit letzter Kraft an alten Bündnissen zu halten versuchen. Auch die Gegenwart ist durchsetzt mit reaktionären Kräften, sei es in der Klima-, Integrations- oder Finanzpolitik. Würde uns nicht ein gutes Stück mehr Frauenpower näher an die Lösung vieler Probleme bringen?
Mehr Frauenpower bestimmt, keine Frage. Aber mit der nötigen Toleranz und auch fachlichen Kompetenz. Da schliesse ich alle Seiten (auch Männer) mit ein. Nicht einfach Quoten und Oasen, sprich unzählige Fachstellen schaffen. Das hilft auf Dauer auch nicht.

„Schmelzwasser“ aus einem dicken Gletscher, der nur ganz langsam schmelzt. Der Gletscher Nationalsozialismus hätte ja 1000 Jahre über Europa liegen sollen. Aber auch die drei Frauen bringen mit ihrem Kampf ewiges Eis zum Schmelzen, wagen sich dafür aber ziemlich weit aus ihrer Komfortzone. Sind wir eine Gesellschaft der Feiglinge geworden, die angesichts der Zeichen, die überdeutlich lesbar sind, zu keinem Kampf mehr bereit sind?
Bei meinen Figuren steht ihr Kampf um ihr privates Glück im Vordergrund. Das setzte damals wie heute einen unabhängigen Geist voraus. Gerade damals wurden die Frauen nach dem Krieg wieder ins zweite Glied gedrängt, nachdem viele durch den Krieg ganz andere Fähigkeiten an sich entdeckt haben, welche plötzlich nicht mehr gefragt waren. Das hat bei vielen Frauen zu Depressionen (Valiumkonsum USA, Frauengold als antidepressive Alkoholika in Deutschland) geführt. Meine Figuren wollen nur das private Glück, aber das weckt Widerstände und gegen die lohnt sich allemal zu kämpfen. Und dieser Kampf lässt sich nicht mit Gendersternchen führen. Dazu müsste man zuerst mal zu sich selbst finden und das Handy mal weglegen.

Emilie Reber ist mir über alles sympathisch. Eine Frau, die für ihre Überzeugung kämpft, wenn nötig gar mit mehr als „nur“ ihrem Verstand. Sie liebt Bücher, rettet die Bestände der Freiheitsbibliothek, die Heinrich Mann zusammen mit anderen in Paris zusammentrug. All jene Bücher, die die Nazis auf dem Scheiterhaufen ihrer Ideologie verbrannten. Dein Roman ist voller Querverweise, in die man sich verlieren kann. Was kann Literatur?
Ich glaube, Literatur kann enorm viel und gleichzeitig nichts. Viel, bei den wenigen die sie erreicht, nichts bei den vielen anderen. Nun, die Literatur hatte damals noch einen ganz anderen Stellenwert, da ein Buch, eine Geschichte, noch nicht mit derart vielen und unterschiedlichen Medien und Erzählformen in Konkurrenz standen. Ich glaube Emilie Reber spürt instinktiv, das die Zerstörung der deutschen Literatur eine unwiderrufliche Zäsur darstellt. Da nützt auch die Rettung der Freiheitsbibliothek nichts. Darum öffnet sie sich auch, weil sie ahnt, dass das, was sie möchte, das Aufbrechen des Eises, Literatur niemals alleine leisten kann, sondern die Literatur nur im Bund mit anderen Kunst- und Lebensformen (Mode, Musik, Freigeist, Erotik etc.) den Staub auf den Seelen der Menschen fortblasen kann.

Patrick Tschan, geb. 1962 in Basel, studierte Germanistik, Geschichte und Philosophie, führte in zahlreichen Theaterstücken Regie, war viele Jahre in der Werbung und Kommunikation tätig. Autor zahlreicher Essays und Kolumnen. Er ist Präsident der Schweizer Schriftsteller- Fussballnationalmannschaft. Nach Keller fehlt ein Wort», «Polarrot», «Eine Reise später» und «Der kubanische Käser» ist «Schmelzwasser» ist sein fünfter Roman.

Vormerken: Patrick Tschan liest am Donnerstag, 24. November, um 19.30 Uhr aus „Schmelzwasser“ im Literaturhaus Thurgau!

Webseite des Autors

Illustration © leafrei.com / Literaturhaus Thurgau

Lisa Elsässer «Im Tal», edition bücherlese

Eine Frau verlässt ihren Alltag, tritt für einen Weile aus. In eine Hütte ganz hinten im Tal, in den Hang hineingebaut, geschützt vor dem, was vom Berg kommen kann. Ein paar Bücher, Stifte, Papier und das Nötigste, um für eine bestimmte Zeit von sämtlichen Verpflichtungen losgelöst zu sein. Sie geht weg und kommt sich dabei ganz nah!

Lisa Elsässer erzählt unaufgeregt. Und doch! Was auf den ersten Seiten fast meditativ mit aller Stille und reduziert offenbart wird, macht deutlich, dass unter dem ruhigen Erzählfluss weitere Ebenen mitwirken, die sich erst mit fortschreitender Lektüre entschlüsseln, die aber niemals einfach dazu dienen, eine Geschichte bloss zu dramatisieren. So wie die Frau in dieser Hütte auf das wenige, das da ist und was sie aus ihrem Leben mitgenommen hat, reduziert ist; eine einfache, unverrückbare Einrichtung, ein Holzherd, ein Fenster, eine Türe, drei Bücher auf dem Tisch, Papier und Stifte, so reduziert ist das Geschehen, in das die Frau abgetaucht oder aufgetaucht ist.
Sie will für ein paar Tage ihre Ruhe, will Ordnung bringen, will Atem schöpfen. Etwas, was viele wollen, die meisten nötig hätten in der Hektik des Alltags. Etwas, was mit all den kleinen Gadgets, die man sich zur Erleichterung angeschafft hat, immer schwerer wird. Heute braucht es Mut, wirklich alles zurückzulassen, um sich der Ruhe und sich selbst auszusetzen. So wie die Frau in dieser Hütte, in der sie vor Jahren schon einmal war, an einem Ort, von dem sie weiss, dass er geben wird, wenn sie bereit ist.

„Niemand stellte hier Ansprüche an sie. Es gab nichts zu verlieren, nichts zu gewinnen.“

Lisa Elsässer «Im Tal», edition bücherlese, 2022, 112 Seiten, CHF 28.90, ISBN 978-3-906907-56-7

Sie macht kleine und grosse Spaziergänge, die kleinen manchmal blossfüssig, grössere mit Wanderschuhen, sitzt vor dem Haus oder im Schein der Petroleumlampe am Tisch. Sie liest und schreibt, schreibt Briefe, die sie nicht abschickt, Briefe, die ihre Gedanken, ihr Leben ordnen. Und manchmal bekommt sie Besuch vom Bauern, von dem sie den Schlüssel zur Hütte hat. Man macht einen Schwatz, redet nicht viel, schweift nebeneinander mit dem Blick über die Berge. Bis der Bauer sie zu einer Wanderung zu „seinem“ See einlädt, ein bisschen weiter oben, mitten im Wald. Dort bricht es aus ihm heraus, denn es ist der Ort, an dem er sein Kind begrub, jene Zäsur in seinem Leben, die ihm die Familie und die Frau nahm.

In die Stille des Tals bricht ein Leben, das fast alles verlor; ein Kind, eine Familie, eine Liebe, eine Frau und den Glauben an sich selbst. Aber der Bauer schaffte es, sich wieder aufzurappeln, nur ganz leise für sich. So wie die Frau in der Hütte in ihr Leben ganz still jene Ordnung zurückbringen will, die es braucht, um sich über das eigene Selbst im Klaren zu sein.

„Sie wollte erfahren, was die Stille mit ihr anstellte.“

In Rückblenden erzählt Lisa Elsässer ganz behutsam, nur wenig vom Leben, dass die Frau in der Hütte im Tal zurückliess; von den Männern ihres Lebens, von ihrer Arbeit, auch von ihrem Schreiben und nicht zuletzt von einer Fremden, die sie über die letzten Monate und Jahre kennengelernt hatte, die sie manchmal bediente, wenn sie in einer Café-Bar aushalf. Eine Frau, die ihr irgendwann erzählte von einem Leben, aus dem sie geflohen war und noch immer flieht.

„Du bist auch eine Narbe geworden.“

Lisa Elsässer wäre nicht Lisa Elsässer, wäre sie den Verlockungen einer expressiven Dramatisierung erlegen. Lisa Elsässer ist nicht nur eine begnadete Erzählerin, sondern auch eine preisgekrönte Lyrikerin. Vielleicht ist das der Grund, warum alles an diesem Roman reduziert und eingedampft ist. Alles ist glasklar, wenn auch nicht durchsichtig, so wie Leben nie durchsichtig ist. Wieder so ein Buch, das man nach der Lektüre noch einmal durchblättert, hier und dort hängen bleibt, um noch einmal zu geniessen.

Buchtrailer

Interview

Ist das ein Schlüssel beim Schreiben? Wenn man den Lesenden das Gefühl geben kann „Ich lese auch von mir“? Und es trotzdem vermeidet, jenes Anbiedernde, Dienliche aufkommen zu lassen?
Nein, das ist für mich nicht der Schlüssel, weil jede Vorstellung beim Schreiben an die Vorstellungen der Leserin, des Lesers mich der Präzision, der Genauigkeit, der Wahrhaftigkeit, der Literarizität berauben würde, und der grosse Einsamkeitsakt des Schreibens ein Vorstellungsakt über das Empfinden eines Gegenübers werden würde! 

Du bist Erzählerin und Lyrikerin. Lyrik schliesst das Erzählende nicht aus und das Erzählende kann lyrische Melodien annehmen. Vielleicht ist es genau diese durchlässige, verwischte Grenze zwischen Lyrik und Prosa, die dein Schreiben, deinen Roman „Im Tal“ so beeindruckend macht; das Reduzierte, das Konzentrat. Ist es nicht eigenartig, dass man unter „Opus magnum“ zu schnell bloss an Wälzer denkt? Dein Roman ist vielleicht eine solches „Opus magnum“, so wie jenes Buch, dss deine Protagonistin mit ins Tal genommen hat, „Die Wand“ von Marlen Haushofer.
Mein Schreiben war immer geprägt von Verdichtung und Reduktion! Sie lassen dem Leser den Spielraum, das entstandene (innere) Bild zu verfertigen, das nicht zwingend dem des Schreibenden entsprechen muss! 

„Im Tal“ ist vieles: Die Selbstreflexion einer Frau, ein Versuch der Ordnung, ein Begegnung mit Stille und Natur, die Geschichte einer zarten Freundschaft, aber auch eine Geschichte darüber, dass Selbstliebe der Schlüssel zu aller Liebe ist. Warum machen wir es uns so schwer, uns selbst zu lieben?
Selbstliebe: eine hoch philosophische Frage, die, so meine ich, nur jede/r sich selbst ehrlich und reflektiert beantworten kann! 

Stille und Einsamkeit zu ertragen wird immer schwieriger. Beides kann zu einer Last werden, mit viel Angst verbunden sein. Warum müllen wir uns zu? Warum halten wir Stille und Einsamkeit nicht mehr aus? 
Einsamkeit, sich selber nahe zu kommen, erfordert den bedingungslosen Entschluss, das auszuhalten, was die Stille laut und heftig werden lassen kann, was ansonsten leider das „Brimborium“ zu erledigen, zu entkräften weiss! 

Irgendwie ist „Im Tal“ auch eine Liebesgeschichte, denn die Frau im Tal in der Hütte ordnet ihr Herz. Sie begegnet Menschen, die an der Liebe fast zerbrachen. Sie liebt das Unmittelbare, das Einfache, Ehrliche, das, wonach sich doch eigentlich alle sehnen. Was in der Gegenwart passiert, ist weit weg von dem. Ist die Überzeugung, dass jede Form von Literatur Friedensarbeit ist, eine romantische Verklärung?
Einen Friedensauftrag sehe ich in meinem Schreiben nicht, vielmehr halte ich mich an das Zitat von Joan Didion: „Wir erzählen uns Geschichten, um zu leben“! Das erfüllt nicht immer den Begriff der Nostalgie, kommt aber dem Leben, das nun mal seine Brüche hat, viel näher als jede Verklärung!

Lisa Elsässer, geboren 1951 im Kanton Uri, schreibt Lyrik und Prosa. Von 2005 bis 2008 studierte sie am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig. Für ihr literarisches Schaffen wurde sie mehrfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Hauptpreis der Zentralschweizer Literaturförderung 2018. Zuletzt erschien  bei Wolfbach der Gedichtband «Schnee Relief» (2019).

Beitragsillustration © leafrei.com / Literaturhaus Thurgau