Fabian Schaefer «Argovia», Kameru

In seinem ersten Roman schickt der Schweizer Autor Fabian Schaefer drei Kantone in einen Bürgerkrieg und entfaltet darin Geschichten, die in ein buntes Kaleidoskop mit allzu menschlichen Facetten mündet. 

„Ein Plädoyer für Teilhabe“

Urs Heinz Aerni stellte ihm zu diesem Buch Fragen.

Urs Heinz Aerni: Mit Ihrem schwer in den Händen liegenden Roman «Artovia» schicken Sie die Lesenden durch eine Riesengeschichte, die den aktuellen Zeitgeist mit in die Zukunft nimmt und einen Schweizerischen Bürgerkrieg auslösen lässt. Erinnern Sie sich, durch was Sie auf diese Idee gekommen sind? Etwa bei der Lektüre von «Vom Winde verweht» oder durch den Film «Die Klapperschlange» von John Carpenter?

Fabian Schaefer: (lacht) Im Zug von Zürich nach Brugg. Die Leere um den Güterbahnhof vor Spreitenbach mitten in der Zugfahrt hat mich immer fasziniert. Ich habe mich eines Tages unvermittelt gefragt: Was wäre, wenn hier ein Wall stehen würde, ein wirklicher, nicht nur irgendein «geistiger». Und dann kam natürlich die Frage, warum könnte der da stehen? Auf der anderen Seite stand der Wunsch, was alles in einer mir derart vertrauten Geographie entstehen könnte, wenn die Fantasie einmal frei ist. Ein Thriller, wie eine Fernsehserie vielleicht, ja, aber nicht schon wieder in «New York», sondern hier, bei uns.

Aerni: Dieser Impuls mutierte sich nun zu diesem Roman…

Schaefer: Ja, aus den spontanen Gedanken hat sich Argovia entwickelt, eine nahe Zukunft, und darin verwoben meine eigenen Erfahrungen und Bilder zwischen Basel, Brugg, Aarau und Zürich, erlebte Anekdoten und erinnerte Gespräche und Personen. In diesem Sinne ist das alles auch autobiographisch. Und davor laufen dann Formen und Muster ab, die mir aus Romanen, TV-Serien, Filmen, Graphic Novels geblieben sind. 

Aerni: Eine Art das Zusammenführen von Puzzle-Teilen?

Schaefer: Alles Erzählungen, aber auch zeitlose Gleichnisse irgendwie, die Haltungen aufbauen und zusammengesetzte, wichtige Bruchstücke sind, um ein Ganzes zu beleuchten. Das ist vermutlich einerseits vielleicht Zeitgeist, aber es geht hoffentlich sogar tiefer.

Aerni: Ihr Roman bespielt diverse Ebenen. Eine davon ist auch die exakte Konstruktion von politischen und militärischen Ereignissen, die jedoch im Kontext stehen mit Heute oder sich daraus entwickeln. Wer von den gesellschaftlichen Verantwortungstragenden müsste dieses Buch unbedingt lesen?

Schaefer: Ich stimme zu – die meisten Themen von Argovia sind heute schon da, und können vielleicht Beteiligten in der politischen Debatte helfen, es sich bei wichtigen Themen wie Migration, Stadt-Land-Gefälle oder auch Künstliche Intelligenz mit schnell geäußerten Standpunkten doch etwas schwerer zu machen. Das betrifft dann aktive Politiker, aber etwa auch uns alle vor Abstimmungen. Diese Ableitung aus dem Heute ist sicherlich ein wichtiger Reiz von Argovia: bestehende Themen zu benennen, und sie weiterzudenken, auch kontrovers, um Nachdenken auszulösen.

Aerni: Also schon gewisse Appellationen an die aktuelle Generation?

Schaefer: Ich glaube, dieses Aufrütteln ist mir gelungen. Ich habe Bemerkungen erhalten wie: «Unsere Schweizer Armee würde so etwas niemals tun“ oder „Wir sind nicht so hier in der Schweiz». Vielleicht nicht. Es ist ja ein Roman, keine detailversessene Militär- oder Nationalgeschichte. Aber diese Aussagen zeigen doch, dass man sich angesprochen fühlt. Sie bestärken mich, dass der Roman etwas auslöst. Und das möchte ich auch erreichen. Er ist klar ein Plädoyer für mehr Offenheit und Teilhabe. Dazu braucht es eine bewusste Sicht auf das, was heute ist. 

Aerni: Der Verlierer eines Bürgerkrieges zwischen den verdichteten Agglomerationen von Basel und Zürich, ist der Aargau. Eine literarische Lektion für falsche Tendenzen in diesem Kanton?

Schaefer: Vordergründig brauchte es zuerst einmal Spannung und einen Konflikt. Ich wollte ja einen Thriller schreiben, ich wollte die Guten und die Bösen. Da ist eine lebensweltliche Grenze um das Gebiet des Aargaus einfach vermittelbar, und ein gerade zu Ende gegangener Krieg bietet ebenfalls vielfältige Ansätze.

Aerni: Die Geographie des Kantons spielte eine Rolle?

Schaefer: (nachdenklich) Das Geographische ist nur eine Art, wie wir Gegensätze wie den von «Heimatidentität» und dem «Fremden» verstehen und entschärfen müssen. Ich glaube, unsere Debatten und Abstimmungen in der Schweiz zeigen immer wieder, dass sich durch die Gesellschaft vielfältige Grenzen ziehen.

Aerni: Die Siegermächte…

Schaefer: …im Roman ist die Bilanz ja durchaus gemischter: Die Menschen in Turikum und Basilea nehmen etwa die Droge Tyla, nicht unproblematisch! Und angedeutet werden auch die Gefahren von Datenmissbrauch und Künstlicher Intelligenz. Eine gestiegene Bedeutung des Ständischen und der «Alten Familien», und eine hohe Militarisierung, bestehen auch in Basilea und Turikum, nicht nur in Argovia – überall gibt es weniger Demokratie als nach unserem heutigen Selbstverständnis. Auch Verrat gibt es zudem diesseits und jenseits der Wälle…

Aerni: Der ziemlich allgemein reich befrachtete Begriff «Heimat» scheint Sie auch umzutreiben?

Schaefer: Man muss das Thema «Heimat» schon genau lesen, sonst tappt man in die aufgestellte Falle: fast alle Hauptpersonen, die «Guten» wie die «Schlechten», sind ja Argovier, also, «Aargauer». Auch diejenigen mit vormals ausländischem Hintergrund sind alle dort aufgewachsen, etwa Enn oder Ibraïm! Und die wenigsten, ob gut oder böse, haben umgekehrt keine ausländischen Wurzeln. Es geht mir um die Frage, was ist überhaupt Heimat, was ist «das Fremde». Heimat als Idee wird dabei überhaupt nicht abgewertet.

Aerni: Sie benutzen Ortsbezeichnungen wie Basilea, Argovia und Turikum. Warum?

Schaefer: Das ist zunächst einmal eher lustvoll, es geht um Sprachklang und ein Spiel mit Referenzen. Aber dennoch: Diese Distanzierung, Verfremdung der bekannten, möglichst genau eingehaltenen Geographie schafft etwas Entfernung, die man nutzen kann, um sich nur noch deutlicher zu fragen, was ist wirklich, oder wird bald wirklich, und was ist Fiktion.
Dies betrifft etwa auch die Namensgebung für Personen. Man hat mich gefragt, warum keine der HeldInnen «Regula» oder «Felix» heißen, etwa, um den «Lokalkolorit» zu verstärken. Wobei übrigens hier hinzukommt, dass derartige Namen ohnehin heute in der Schweiz vor lauter Ann-Sophies, Chayennes, Tabeas, Leahs oder Kevins, Noahs, Lucas, Léons und Finns kaum noch zu finden sind.

Aerni: Die Lektüre lenkt uns nicht nur durch Konflikte, zerstörte Infrastrukturen – wir denken mal hier gar nicht an die AKWs, sondern auch durch durch Ängste und Hoffnungen von Menschen, wie beispielsweise des Biochemikers Chan Effas. Er scheint Ihnen nahe zu stehen, oder?

Schaefer: Ja, Chan ist ja in gewisser Weise eine Linse des Romans, ein Beobachter wie ich es als Autor bin. Das bringt uns schon Nähe. Es ist spannend, durch ihn alles aufbauen und erleben zu können. Er beobachtet sein Zuhause, Turikum, und das von Xhyna, Basilea, ganz genau. Etwa am Akademieball. Und dann folgt er mitten durch Argovia allen Seiten und Fraktionen. Argovia entfaltet sich vor Chan gewissermaßen, zusammen mit dem Lesenden. Ich will hier natürlich gar nicht alles erzählen, aber wie es das Cover des Romans ja schon zeigt, stehen dabei auch starke, prägnante Frauenfiguren im Vordergrund der Handlung. Auch wenn ich das alles natürlich nicht selbst erlebt habe, ist von mir hier auch manches autobiografisch gefärbte eingeflossen. In den Gedanken und Szenarien, aber auch in vielen Einzelheiten der Beschreibungen.

Aerni: Dystopie ist momentan in der Literaturszene in aller Munde, so als Kontrastprogramm zur Utopie. Wie groß ist Ihr Vertrauen nach dem Verfassen dieses Romans in die internationale Politik, Wirtschaft und Technik?

Schaefer: Mein Roman ist zu technisch-gesellschaftlichen Fragen bewusst ambivalent ausgelegt, vielleicht auf eine Art ausgewogen zu Chancen und den Gefahren. Ein Sinnbild hierfür sind etwa die Wälle, die trennen, aber auch transparent sein können und so verbinden, Tiere auf deren Weg nicht behindern und die selbst bewusst sind und irgendwie zu uns sprechen. Ich halte den Roman nicht für eine Dystopie – Eher möchte er zeigen, dass es zu allem ein Für und Wider gibt, das ist heute wohl nicht anders als zu früheren Zeiten. – Argovia ist ja Teil einer Triologie, ich arbeite jetzt an Turikum, mal sehen, wohin es sich in dieser Hinsicht entwickeln wird.

Aerni: Hat die Arbeit an diesem Buch auch gewisse Meinungen verändern lassen?

Schaefer: (überlegt) Durch die Recherche bin ich zu den einen oder anderen neuen Informationen gekommen, z.B. zu Diskussionen um ein «Hyperloop»-Projekt für die SBB oder zur Künstlichen Intelligenz im militärischen Bereich. Aber ich denke, der Hauptpunkt ist, dass ich mich selbst überrascht habe, wie wichtig mir Integration und auch der Glaube an das Richtige und Gute im Grunde sind. Wenn man in aller Ruhe nachdenkt, sich die Zeit nehmen darf, sein eigenes «Science Fiction» – Buch im Hier und Jetzt zu schreiben (lächelt), kommen die wesentlichen menschlichen Fragen und Erkenntnisse vielleicht immer irgendwie hervor. Werden fast zwingend.

Aerni: Das Wechselspiel zwischen dem Erzählen von großen Prozessen und den Dialogen und Gedanken der Protagonistinnen und Protagonisten währt bis Seite 458, dann folgt eine sachlich gehaltene Chronologie des Schweizerischen Bürgerkrieges. Wo lagen für Sie die größten Herausforderungen beim Verfassen?

Schaefer: Ich wusste zuallererst, ich will Wälle aufstellen, und ich wusste, wo. Dann wurde mir die allerletzte Szene im Roman, auf die alles, wirklich alles hinausläuft, klar. Aber ich wollte die Handlung in diesem Jahr 2031 aus dem Heute heraus glaubhaft entwickeln. Daher entstand, noch vor den ersten Skizzen zum Hauptteil des Romans, die Chronologie. Sie musste Heutiges in einer möglichen Weise weiterentwickeln. Sie gibt den Boden ab, auf dem sich dann die Handlungen und Nebenhandlungen, Personen und Dialoge wie auf Bahnen auf den Schluss hin entwickeln. Eine wichtige Herausforderung war, dass alles zueinander passen musste. Da habe ich oft und viel hin und her abgestimmt. 

Aerni: Mit welcher geistigen Verfassung, sollte die Leserin und der Leser Ihren Roman aufschlagen?

Schaefer: Neugierig, offen, auch kritisch. Aber vor allem darf man sich einfach genussvoll auf eine spannende Reise voller Wendungen begeben, den bekannten aber verfremdeten Orten wie auch den Wendungen der Geschichte folgen. Man hat hier wahlweise zum Beispiel einen Politthriller, einen Zukunftsroman, eine Liebesgeschichte und einen Heimatroman vor sich. Ich glaube, es ist mir gelungen, das Spielerische dabei nicht zu kurz kommen zu lassen. 

Fabian Schaefer, 1973, studierte Kulturmanagement an der Universität Basel. 2015 erschien im selben Verlag seine Kurzgeschichtensammlung «Aus der Erstarrung». Beruflich ist Fabian u.a. im Kulturbereich in der Umsetzung betrieblicher Strategien, der Organisationsgestaltung und als Unternehmensberater tätig. Zu seinen Interessen zählen klassische und moderne Literatur, Sprach- und Theaterwissenschaft, Anthropologie und Kulturwissenschaft und zeitgenössische bildende Kunst.

Dietmar Krug «Von der Buntheit der Krähen», Otto Müller Verlag

Vielleicht ist es eine der schwersten Aufgaben eines Lebens, sich der Wahrheit, den Wahrheiten zu stellen. Thomas und Karl, beide einst in der gleichen kleinen Schule im Dorf stellen sich ihren Wahrheiten in vollkommen gegensätzlicher Weise. Und dabei wird ein Dorf zu einem Schauplatz, der die Wahrheiten provoziert. Thomas, der fast ein ganzes Leben vor ihr floh. Karl, dessen Leben zu einem einzigen Kampf darum wird.

Thomas entfloh einst dem Dorf, hielt es nicht mehr aus, schälte sich aus dem scheinbaren Würgegriff und machte sich aus dem Staub. Weg vom Alp in seiner Familie, weg von den Ketten im Dorf, weg aus einem Geflecht von Erwartungen. Er tauchte ab in die Stadt, etablierte sich als gefragter Musikkritiker, bis ihn die alten Muster, gepaart mit Tablettensucht und Alkohol wieder von seinem Platz wegtrieben, zurück ins Dorf, das er einst hinter sich gelassen hatte. Thomas will Zeit, Klarheit und einen Weg weiter. Er weiss, dass es für ihn und seine Art des Schreibens bei den Tageszeitungen keinen Platz mehr gibt, dass er sich nicht nur beruflich neu orientieren muss, um zu überleben. Er richtet sich im Dorf, in dem er aufwuchs in einem kleinen Häuschen am Rand ein, einem Haus, das einst von Hippies bewohnt seit Jahrzehnten allein in einem wilden Garten sich selbst überlassen war.

Im gleichen Dorf lebt Karl. Scheinbar einer von der Sorte Mensch, denen der Looser in den Genen steckt. Karl wuchs beim Grossvater auf einem kleinen Hof auf, einem Hof, den er noch immer mehr schlecht als recht bewirtschaftet. Bei einem Grossvater, der ihm schon in Kindertagen die Härte des Lebens beibringen wollte. In einem Leben, in dem er höchstens von den Tieren im Stall den ungetrübten Blick, die unvoreingenommene Zuwendung geniessen konnte. In einem Dorf, das ihn gnadenlos zum Aussenseiter machte, obwohl seine Erscheinung, je älter er wurde, desto respekteinflössender war. In einem Körper gefangen, den er nie zu seinem eigenen werden lassen konnte. Provoziert von seiner Umwelt gerät er in die Mühlen der Justiz, ins Gefängnis, zurück an den mittlerweile verwaisten Hof, entschlossen in sich die Frau zu befreien, die im falschen Körper steckt. Ein Unterfangen, das in einem Dorf wie dem seinigen zum Spiessrutenlauf wird.

Dietmar Krug, selbst lange Zeit Mitarbeiter in Zeitungsredaktionen und Kolumnist, Meister der filigranen Beschreibungen, beschreibt die nach innen und aussen gerichteten Auseinandersetzungen der beiden Männer. Thomas stellt sich seinen Wahrheiten nicht, er, dem die Herzen der meisten Dorfbewohner offen stehen. Er schafft es auch nicht, das Grab seiner Mutter zu besuchen, das Haus, in dem er aufgewachsen ist. Aber er beginnt in dem kleinen Haus, im Garten, den er mit den beiden Kaninchen eines Mädchens aus der Nachbarschaft, die er in Pflege nimmt, teilt, zu schreiben, zaghaft zuerst, dann immer tiefer, weil er weiss, dass im Schreiben der einzige Weg für ihn offen steht.

Karl hingegen, vom Dorf wegen seines kriminellen Vaters und seiner unglücklichen Kindheit und Jugend stigmatisiert, nimmt den Kampf auf, stellt sich nicht nur den Geistern, sondern knackt das Gefängnis, in dem sein Körper steckt. Nach unsäglich vielen verschämten Versuchen, eingetaucht in Heimlichkeiten und den Dunst von Alkohol, zelebriert er ungeniert seine Transsexualität.

Dietmar Krug bettet die Geschichten in ein Dorf, in ein feines Geflecht, von Menschen, die sich ganz unterschiedlichen Dämonen zu stellen haben, in ein Dorf, das wie viele andere von den Verschiebungen zwischen Vergangenheit und Gegenwart zerrissen wird. Ein junges Mädchen erklärt Thomas in die „Die Buntheit der Krähen“, dass die schwarzen Vögel eigentlich zu den Singvögeln gehören und ihr Federkleid nur für den oberflächlichen Betrachter schwarz ist. Wer genau schaut, sieht, dass das Federkleid in allen Farben schimmert – und selten etwas ist, wie es scheint.

Der neue Roman Dietmar Krugs entwickelt einen ungemein leisen Sog. Eine der vielen Überraschungen des Lesens sind die Beschreibungen von Tieren und Klängen. Etwas, was ich in dieser Intensität nur ganz selten antreffe. Beschreibungen, die dem Buch das schenken, was die Qualität der Protagonisten ausmacht; eine Wahrnehmung, die der Wahrheit unweigerlich an die Oberfläche hilft. Ein ganz besonderer Lesegenuss.

© Pilo Pichler

Interview mit Dietmar Krug:

Ich kann nicht weitermachen wie bisher“, sagen beide, Thomas und Karl, jeder auf seine Weise. Warum muss ganz offensichtlich das Leiden stets existenziell werden, bis man sich an einen Richtungswechsel macht? Sowohl der ganz persönliche wie der globale! Erst wenn es offensichtlich um Kopf und Kragen geht, beginnt das Galoppieren auf den Abgrund zögerlich zu werden?
Der Klimawandel ist ein gutes globales Beispiel: Er ist jetzt plötzlich keine graue Theorie mehr, seitdem man an der eigenen Haut fühlen kann, dass es wärmer wird. Dann greifen auf einmal die eingebildeten Motive und Scheinrationalitäten nicht mehr. Der Mensch muss die Dinge offenbar regelrecht an Kopf und Kragen, das heisst körperlich, spüren, bis er sie im wörtlichen Sinn „begreifen“ kann. Dann erst geht’s ans „Eingemachte“.
Wenn es für Thomas und Karl existenziell wird, offenbart sich womöglich, worauf ihre Existenz eigentlich beruht.
Es reizt mich, Figuren in solchen Grenzsituationen zu schildern. Das bietet die Chance, sich dem anzunähern, was den Menschen im Innersten ausmacht, seinen Abgründen und Ängsten, aber auch seinen tiefsten Sehnsüchten. 

Die Borniertheit in ihren vielfältigsten Schattierungen scheint in ihrem Roman ein fast ausschliesslich männliches Problem zu sein. Es sind die Frauen, Mädchen, die aufbrechen und provozieren, selbst bei Karl, der im Laufe des Romans zu einer Frau wird, zu „Sissi“, sich einen Namen gibt, der sinnbildlich erscheint für den Ausbruch aus einem Korsett. Schält sich die Gesellschaft aus einer männlichen Umklammerung? Oder zerfällt das eine Klischee einfach zu einem neuen?
Borniertheit ist gewiss kein exklusiv männliches Phänomen. Aber wenn ein Ausnahmezustand auftritt, ein Bedrohungsszenario, gleich, ob echt oder eingebildet, dann sind stets die Männer an vorderster Front zur Stelle. Und dann liegt allzu rasch Gewalt in der Luft. Die Kasernen und Hochsicherheitstrakte der Welt sind nicht ohne Grund vor allem von Männern besetzt. In meinem Roman sind es in erster Linie die männlichen Dorfbewohner, die dem Wahn verfallen sind, ihr Dorf gegen die vermeintliche Bedrohung durch alles Fremde und Fremdländische verteidigen zu müssen. Das dafür nötige Ausblenden von sozialen und zivilisierten Regungen ist meinen weiblichen Figuren allein schon deshalb unmöglich, weil ihr mitfühlender Sinn durch ihr Lebensschicksal ungewöhnlich stark ist. Die eine (Agnes) hat ein schwer krankes Kind, die andere (Karin) ist für einen psychisch kranken Bruder verantwortlich. Aber es gibt ja auch noch Thomas› Tante Klara, die das, was sie für Mutterliebe hält, durchaus mit dem Soldatentum ihres Sohnes in Einklang bringen kann.

Geschechtsdysphorie (Geschlechtsidentitätsstörung) ist keine Krankheit, auch wenn der Begriff wie eine tönt. Karl leidet darunter, selbst als sie, als Sissi. Leidet die Gesellschaft darunter, dass sich das Menschsein nicht immer bloss einteilen lässt in das eine oder das andere; Frau oder Mann, richtig oder falsch, rechts oder links, Wahrheit oder Lüge? Wärs nicht an der Zeit, dass man schon den Kindern die Buntheit der Krähen erklärt?
Da berühren Sie einen wunden Punkt, der im Grunde die derzeitige medizinische Praxis in Erklärungsnot bringt. Denn auf der einen Seite gibt man sich dort inzwischen überaus aufgeklärt und betrachtet das Phänomen der Transsexualität nicht mehr als Krankheit, ja nicht einmal mehr als Störung. Andererseits bietet man den Betroffenen hoch wirksame Medikamente und radikale chirurgische Eingriffe an, die sonst nur bei schwer kranken Menschen zum Einsatz kommen. Und noch ein Paradox: Auf der einen Seite weist man immer öfter darauf hin, dass die Geschlechtergrenzen fliessend sind. Andererseits stellt man die Eindeutigkeit der Polaritäten am Ende ja gerade dadurch wieder her, dass man mit hormonellen und chirurgischen Mitteln aus einem Mann eine Frau macht – oder umgekehrt. Meine Utopie wäre eine Welt, in der Menschen mit fliessendem Geschlechtsempfinden sein können, was sie sind, und die Medizin gar nicht mehr nötig hätten.

Thomas Mutter war keine aus dem Dorf. Eine Fremde, eine aus dem Balkan, eine, die verstummte. Eine, die es nicht schaffte, sich von einem Alp zu befreien, die sich nie herauswinden konnte aus dem Korsett, das ihr den Atem stahl. Irgendwann kann Schweigen zu einer Mauer werden, die sich nicht mehr einreissen lässt. Fehlte ihr die Sprache?
Ja, sie hat ihre Sprache eingebüsst, ihr Sprachverlust ist im Grunde ein Vertrauensverlust. Ihr Bruder war der einzige Mensch, an den sie sich in ihrer kindlichen Not wenden konnte. Als er sich grob von ihr abwandte, gab es niemanden mehr, den ihre Worte erreicht hätten. Selbst die spätere Liebe und Fürsorge ihres Mannes hat die Mauer des Schweigens nicht mehr überwinden können. Und doch hat sie mit ihrem Sohn eine eigene, ganz und gar andere Sprache entwickelt – im Reich der Musik und in der Welt der Klänge. Hier haben die beiden eine tiefe Verbindung zueinander und können sich Dinge mitteilen, für die es sonst keine Worte gäbe. 

Thomas sitzt in dem kleinen Haus oder im Garten und schreibt. Er tippt in seinen Laptop. Und immer wieder erscheint auf dem Bildschirm «speichern, verwerfen, abbrechen». So wie beim Schreiben ist es doch wie im Leben, mit allem, jedem Bild, jedem Erlebnis. Oder bilden wir uns nur ein, wir könnten selbst entscheiden?
Als Thomas versucht, einige Erinnerungen und prägende Erlebnisse aufzuschreiben, scheitert er jedes Mal buchstäblich daran, das Notierte auf dem Computer zu speichern, dem „Dokument“ einen Namen zu geben. Diesem Zwang, sich entscheiden zu müssen, ist er nicht gewachsen. Das ist sicher symptomatisch für seine innere Flüchtigkeit und Getriebenheit. (Vielleicht hätte Thomas sich ja leichter getan, wenn er beim Speichern dem Dokument anstelle eines Namens einen Klang hätte geben können.) Andererseits: Gibt es etwas Schwierigeres, als einem eindringlichen Erlebnis einen passenden Namen zu geben, es mit einem Wort zu erfassen, das seinen wahren emotionalen Gehalt trifft? Hier hat mich nicht zuletzt das Phänomen gereizt, meinen Protagonisten seine intimsten Erinnerungen aufschreiben zu lassen, nur um sie dann wieder zu löschen. Und doch stehen sie da, zumindest in meinem Buch.

Dietmar Krug, geboren 1963 im Rheinland, studierte in Aachen und Wien Germanistik, Philosophie und Geschichte. Er promovierte 1996 über Thomas Mann. Seit 1988 lebt Krug in Wien, war dort zunächst freier Verlagslektor, bevor er 2004 in den Journalismus wechselte. Als Autor, Kolumnist und Redakteur hat er für diverse Medien gearbeitet, u. a. «Die Zeit», «Die Presse», «Der Standard». Zuletzt erschienen bei Otto Müller die Romane «Rissspuren» (2015) und «Die Verwechslung» (2018).

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Beitragsbild (Ausschnitt) © Sandra Kottonau

Kurt Oesterle «Die Stunde, in der Europa erwachte», klöpfer narr

Es ist ein Jahrhundert her, dass das lange Töten und Morden endete. In einem Krieg, der auf allen Kontinenten wütete und 17 Millionen Menschen ihr Leben verloren. Ein Krieg, der tiefe Gräben und Krater in die Landschaft schoss, Wunden, die im Weltkrieg darauf wieder aufrissen und an denen die Welt bis heute leidet. Gräben und Krater, die zugeschüttet sind, Gräben und Krater, die einst den Sieg versprachen, die zu Massengräbern wurden.

In den Kinos lief 1917, ein Kriegsfilm von Sam Mendes, der in 110 Minuten Echtzeit die Mission zweier Soldaten zeigt, zweier Helden, die verhindern sollen, dass eine andere Einheit in den Hinterhalt des Feindes gerät. Das übliche Muster; Helden kämpfen für das Gute. Das Gute hier, das Böse dort und alles „zum Gedenken an die Opfer einer verlorenen Generation“. Der Mensch denkt in Kategorien.

Kurt Oesterle tut das nicht. In einem apokalyptischen Szenario finden sich in einem vom Krieg verwüsteten Landstrich in Frankreich, wo kein Stein mehr auf dem andern steht, das Land von Bomben umgepflügt ist und unter jedem Stein eine Mine droht, in der der Geruch des Todes über die offenen Wunden wabert und es eine Unendlichkeit dauern muss, bis die Gegend an das erinnert, was sie einmal war. Menschen, einst Feinde, auf der Suche nach einer Zukunft. Nur eine Hütte steht noch, ein kleines Haus, dahinter ein mobiler Backofen, ein „Gasthaus“ mit Namen À l’héroine des ruins – Zur Heldin der Ruinen.

Geführt wird es vom 16jährigen Minot, der eigentlich von seiner vom Krieg geflüchteten Familie geschickt wurde, um nachzusehen, was vom Hof geblieben ist, auf dem die Familie einst lebte. Minot bleibt am Haus hängen, weil die einstige Wirtin verschwand und irgendjemand den streunenden Seelen an diesem Ort die Oase sein muss.

Der erste Teil des Romans gibt sich wie ein Erzählband mit Kapiteln, die nichts miteinander zu tut zu haben scheinen. Kurt Oesterle erzählt vom jungen Minot, der einst in dieser Gegend auf einem Einödhof geboren wurde. Vom Ehepaar Max und Magda Krüger, deren Sohn Felix kein Feigling sein sollte, der sich dann mehr oder weniger freiwillig in Kriegsdienst gemeldet hatte, wie alle um ihn, die an einen schnellen und glorreichen Sieg glaubten. Von der Engländerin Elsie Norton, die einen traumatisierten Mann aus dem Krieg zurückbekommt, sich selbst und den Mann zu hassen beginnt, weil sie nicht verstehen kann, was geschah und geschieht. Von Franz, dem Kriegsgefangenen Nummer 2341, der den Krieg als Freiwilliger einst als Labor für den Fortschritt sah, denn was zerstört wird, kann „über kurz oder lang nachwachsen wie Haare und Fingernägel“. Und von Gorm, dem Hund, der von seinen kinderlosen Besitzern als ihr Beitrag im Dienste des Vaterlands als Sanität- und Meldehund in einer Kaserne abgeliefert wird.

Im zweiten Teil des Romans treffen sich all diese Gestalten, nachdem ihr Weg bis zur Heldin der Ruinen erzählt wurde. Minot wird zu einem Helden der Herzlichkeit, Max und Magda Krüger wollen die sterblichen Überreste ihres Sohnes zurück nach Hause holen, Elsie sucht das verlorene Leben ihres stumm gewordenen Ehemannes, Franz fristet das Dasein eines Kriegsgefangenen im nahen Lager und der Hund Gorm stomert einsam, vergessen und verwahrlost in der schrundigen Endzeitlandschaft herum.

Sie suchen alle, ernüchtert, desillusioniert. Genauso die Männer, die in der Heldin vom Metall ernten in den Schlachtfeldern ausruhen, die Meter für Meter absuchen, nach dem, was der Krieg liegen lässt, denen der Geruch frischgebackenen Brotes etwas von dem zurückgibt, was ihnen die vier Jahre Krieg genommen hat.
Der Krieg ist nicht vorbei, wie kein Krieg je vorbei ist mit dem Schweigen der Waffen. Der Ursprung allen Schmerzes ist aber nicht der ehemalige Feind, sondern der Verlust, der Verlust von Leben, Liebe und Vertrauen.

Die Idee Europa entspringt der Angst. Und der November 1918, das Ende des Krieges und die darauffolgenden Jahre der Ernüchterung, das kollektive Trauma, das auch einen weiteren weltweiten Krieg nicht verhindern konnte und die Angst von Generation zu Generation weiterfüttert, weckte Europa kurz, um gleich danach in den Versailler Verträgen den Grundstein zum nächsten grossen Schlachten zu legen.

Kurt Oesterle schrieb ein gewichtiges Buch, das sich ins Bewusstsein einfrisst. Keine actiongeladene Herogeschichte, sondern einen Roman mit epischer Tiefe über das, was übrig bleibt, wenn die Waffen schweigen. Grossartig geschrieben und inszeniert, Papier gewordenes Welttheater!

Ein Interview mit Kurt Oesterle:

Sie geben ihrem Roman einen durchaus positiven Titel. Erwacht Europa 1919 wirklich? Oder ist das, was sich heute Europäische Union nennt (Ich weiss, das ist nicht Europa!), nicht einfach das Konglomerat von Wirtschaftsinteressen, Angst und Verzweiflung darüber, das Nationalismus und Eigenbrötelei den Anfang eines weiteren Endes bescheren?

Ja, Europa ist nach dem Ersten Weltkrieg erwacht … durchaus! Aber es hat sich nur kurz die Augen gerieben, um gleich wieder einzuschlafen – so tief, als wäre es tot. Niemand ahnte damals, dass die nicht genutzte Chance sich zu einer Katastrophe übelster Art auswachsen würde. Doch wichtiger scheint mir: Der Augenblick des Erwachens steht uns immer noch und immer wieder bevor – darum ist mein Roman auch kein historischer Roman, sondern ein ganz und gar gegenwärtiger. Auch und gerade heute sucht er eine Antwort auf die Frage, wie wir, die Europäer, WIR sagen könnten, oder anders: was uns eigentlich verbindet. Bisher ist es doch überwiegend der Wohlstand, der den Kontinent zusammenhält, doch wehe, dieser Wohlstand schwindet …

Herr und Frau Krüger wollen ihren toten Sohn in die Heimat zurückführen, weg von dem Ort, an dem die „Demokratenart“ keine Unterschiede macht, an dem „alle rücksichtslos miteinander gekreuzt, vermischt oder zusammengeworfen“ werden. Hundert Jahre später ist die Argumentation längst nicht gestorben auch wenn es meiner Meinung die einzige Art ist, dem Menschen das Überleben auf diesem Planeten zu sichern. Wie soll es der Mensch schaffen, Grenzen niederzureissen? Erst in Zeiten apokalyptischer Not?

Die Grenzen in Europa sind inzwischen zum Glück nahezu bedeutungslos geworden – dass ich ohne Passkontrolle nach Frankreich fahren, ja, mich dort sogar wie ein Inländer niederlassen kann, ist ein unerhörter Fortschritt, der noch in meiner Jugend undenkbar war. Ich vergesse nie, dass sowohl mein Vater als auch mein Grossvater gegen Frankreich Krieg geführt haben! Was jedoch auch ohne Grenzziehung weiterlebt, das ist der Egoismus der einzelnen Nationen und Personen. Darum erprobe ich in meinem Roman ja in zarten Ansätzen so etwas wie eine Wir-Erzählung, die es in Europa nach wie vor nicht gibt. Sie sollte basieren auf dem gefühlsgesättigten Wissen, dass wir als Menschen in grösseren Einheiten existieren als bloss in Familie, engerer Heimat oder Nation. Dafür habe ich mit meinem Buch einen ersten Entwurf geliefert – andere müssen fortfahren mit dieser Wir-Erzählung, solange bis man ihre Stimme hört.

Einer der Gäste in der Heldin nennt den Nationalstaat die Ursache allen Kriegs. Wo liegen die Ursachen für den ungebrochenen Glauben vieler Menschen, dass eine Gesellschaft in Frieden, ohne Krieg möglich wäre. Solange wir meterhohe Thujen um unsere Grundstücke ziehen, solange Reichtum geizig macht, die Angst vor dem Fremden um sich greift und man sich mit Vorliebe nicht für die eigenen Probleme interessiert, bleibt Krieg doch ideale Ersatzhandlung. Oder nicht?

Die „apokalyptische Not“, von der Sie sprechen, war der Krieg, der 1918 endete. Dringlicher als je zuvor konnte man damals sehen, dass eine europäische Lebensform nötig ist, wenn der Kontinent überleben will. Ich möchte ja gerade zeigen, dass das heutige Europa, die EU, eine Kriegs- und Notgeburt ist. Was selbst in Deutschland inzwischen wieder in Vergessenheit gerät, mitsamt der Rolle, die mein Land in beiden Weltkriegen gespielt hat. Ich halte es mit Paul Valéry, der schon nach dem Ersten, nicht erst nach dem Zweiten Weltkrieg die Einsicht besass: „Wir Kulturvölker wissen jetzt, dass wir sterblich sind. Wir fühlen, dass eine Kultur genau so hinfällig ist wie ein einzelnes Leben.“ Als Symbol steht dafür in meinem Buch insbesondere die geschändete und verstümmelte Natur, die Valéry zu seiner Zeit noch nicht auf der Rechnung hatte …

Wo lag der Ursprung ihres Romans?

Der Ursprung meines Romans lag in mir, in meiner Seele, wie ich gern sage. Und wie in einer europäischen Familienaufstellung hat sich die Konstellation ergeben, die ich dann in diesem verwüsteten französischen Landstrich zwischen Reims und Laon angesiedelt habe. Mein Roman ist keine Gedankenkonstruktion, sondern eine Schau, ein Traum, ein Film im Kopf, der unaufhaltsam ablief (und sich hoffentlich in Leserin und Leser wiederholt). Ich habe mich beim Schreiben oft gewundert, dass zuvor noch kein Autor auf die Idee gekommen ist, einen Nachkriegsroman mit gesamteuropäischem Personal zu verfassen – fast alle Bücher, die ich dazu gelesen habe, handeln nur aus der nationalen Innenperspektive, die anderen bleiben eher Schatten.

Sie nennen den 16jährigen Minot ein aus der Zeit gefallener Philantrop, der sich vorgenommen hatte, in diesen Zeiten um jeden Preis gut zu sein und die Welt mit seiner Güte anzustecken. Meist versteht man Philantropie aber in Verbindung mit unermesslichem Reichtum. Aber Minot zeigt das Gegenteil. Ein Jugendlicher an der Schwelle zwischen Kindheit und Erwachsensein. Ist ihr Roman „Die Stunde, in der Europa erwachte“ nicht auch eine Aufforderung, die Jugend ernst zu nehmen? Heute erst recht?

Philantropie bedeutet schlicht: Menschenliebe, sie ist keine Sache des Geldes! In meiner Stadt Tübingen wird der „philantropische Verein“ von griechischen Gastarbeitern getragen! Die Figur des Minot in meinem Roman wäre sozusagen mein Alter ego, auch ich konnte mit 16 oder 17 Jahren nach zwei Weltkriegen als nachgeborener Deutscher keine andere Rolle für mich entdecken, als die, gut zu sein und den Neubeginn in der eigenen Güte, in Bescheidenheit und Weltoffenheit zu suchen. Dabei war es mir nicht wichtig, ernst genommen zu werden, sondern mein Leben aus innerer Überzeugung zu führen. In der Hoffnung, dass diese Überzeugung wirkt, dass sie auf andere ausstrahlt … Und genau so ist es doch auch mit der Literatur: Sie folgt nicht einem politischen Programm, sondern generiert Energien, die in anderen weiterwirken … das ist die Eigenart des Ästhetischen. Übrigens, bei Lesungen muss ich meinen Minot stets verteidigen, eben weil er versucht, gut zu sein. Im Literaturbetrieb ist es offenkundig nach wie vor so, dass man fünf Schurken weitaus weniger verteidigen muss als einen einzigen Guten. Woher mag diese Vorliebe für die Bösen wohl kommen? Das Gute beunruhigt uns anscheinend viel mehr als das Böse …

© De Maddalena

Kurt Oesterle, 1955 in Oberrot/Nordwürttemberg geboren, studierte Literatur, Geschichte und Philosophie, Dr. phil., freier Autor und Journalist, insbesondere für die Süddeutsche Zeitung und das Schwäbische Tagblatt; auch für die »Frankfurter Anthologie« der FAZ. Monographien über Wolfgang Koeppen und Peter Weiss. Essays u. a. zu Schiller, Heine, Hebel, Hauff und Uhland («Ich hatt’ einen Kameraden»), wofür er 1997 den Theodor-Wolff-Preis erhielt. 2002 erschien bei Klöpfer & Meyer sein hoch gelobtes Romandebüt «Der Fernsehgast oder Wie ich lernte die Welt zu sehen». Ausgezeichnet mit dem Berthold-Auerbach-Preis und von der Darmstädter Jury zum Buch des Monats gewählt.

Webseite des Autors

Evelina Jecker Lambreva «Entscheidung», Braumüller

Bulgarien fehlt im Fokus Europas. Selbst drei Jahrzehnte nach der Wende, nach Glasnost und Perestroika zählt Bulgarien zu den „fehlerhaftesten“ Demokratien, obwohl das Land seit 2007 Mitglied der EU ist. Evelina Jecker Lambrevas neuer Roman „Entscheidung“ erzählt von den Jahren des Umbruchs in diesem Land, dem letzten unter kommunistischer Führung, den leisen Hoffnungen einer Öffnung und dem bösen Erwachen im Kampf machtgieriger und verzweifelter Parteieliten.

Anja ist eine junge Ärztin, die direkt nach dem Studium in einen kleinen Ort in der bulgarischen Provinz geschickt wird. Mit Bestnoten aus ihrem Studium und voller Pläne reist sie an und taucht in eine Welt, die in maximaler Entfernung dessen vor sich hinvegetiert, was in den Plänen ihrer Zukunft Gestalt annehmen möchte; ein Häuschen, durch das der Wind pfeift, eine Medizinische Dienststelle, in der das Notwendigste fehlt, ein schäbiger Notfallkoffer, abgelaufene Medikamente und ein Krankenwagen, der allerhöchstens transportiert.
Neben ihren Aufgaben als Landärztin ist sie auch für das örtliche Heim mit Dorfschule zuständig, einen schlimmen Ort, wo Erziehung allein durch Strafen vollzogen wird und wo aus Kindern ohne Vergangenheit Menschen ohne Zukunft geprügelt werden.
Auch die Honoratoren des Dorfes, Genosse Nakov, Mitglied der Staatssicherheit oder der Bürgermeister begegnen der jungen Ärztin mit einer Mischung aus Misstrauen, politischem Kalkül und der Selbstverständlichkeit alteingesessener Machtstrukturen. In einem Land, in dem Korruption, Denunziation und kollektive Angst zum Instrumentarium eines Systems gehören, spürt auch die junge Ärztin Anja, dass ihr Tun und Lassen unweigerlich zu der einen, drohenden Entscheidung führen wird.

Einzige Lichtblicke im Leben der jungen Frau ist die Freundschaft zu Dora, einer jungen, mutigen Lehrerin aus dem Dorf, zu Maria, einem verstörten Mädchen aus dem Heim, das jeden Tag auf ihre Mutter wartet, eine junge Katze, die Maria mit ins Haus der Ärztin bringt und ihre Liebe zu Michail, den sie während des Studiums kennen und lieben lernte. Sie schreibt Michail Briefe, weil ihre Arbeit sie beide fest im Griff hat, weil sie Trost und Rat braucht bei einer Arbeit, die ihr wohl gefällt, in der sie Erfüllung erfährt, die sie aber oft an die Grenzen ihrer Belastbarkeit führt. Sei es, dass sie medizinische Entscheidungen trifft, die sie mit niemandem besprechen kann, sei es weil sie immer wieder mit ganz intimen Katastrophen konfrontiert wird, sei es weil sie Genosse Nakov mit Versprechungen in den Dienst der Staatssicherheit locken will.

Eines Tages sitzen sich Nakov und Anja in seinem Haus gegenüber. Nakov verspricht ihr eine glanzvolle Zukunft mit den Privilegien der Elite, wenn Anja sich zur aktiven Spionage im In- und Ausland verpflichten lässt. Und weil Anja spürt, dass sie mit einem solchen Deal mehr als nur die Selbstachtung verliert, entscheidet sich die junge Frau gegen das Angebot, gegen den Staat, gegen die Obrigkeit, gegen eine Zukunft als Frauenärztin in der Stadt, gegen die Aussicht, sich dereinst im Ausland weiterbilden zu können. Statt dessen wird sie zur potenziellen Verräterin. Und als Dora ihre Freundin sich ins Ausland absetzt und man ihr Mithilfe zu ihrer Flucht unterstellt, als die Liebe zu Michail in die Brüche geht und man die Katze erschiesst, scheint sich die Dunkelheit in Anjas jungem Leben endgültig wie in einem Sack eingeschlossen einzunisten. Wäre da nicht der Welten Lauf, jener politische Virus, der sich aus dem maroden Sowjetsystem über den ganzen Ostblock ausbreitet.

«Anjas Haus in meiner Phantasie», © Evelina Jecker Lambreva

„Entscheidung“ ist ein geradlinig erzählter Roman von einer Schriftstellerin, die am eigenen Leib erfuhr, was in Bulgarien in den späten Neunzigern passierte. „Entscheidung“ gibt Einblick in einen Staat, in ein System, ein Dorf, das aus der Entfernung von drei Jahrzehnten unsäglich weit erscheint, zumindest aus mitteleuropäischer Sicht. Eine spannend und mit viel Empathie geschriebene Geschichte über den Kampf einer jungen Frau in den Wirren der Geschichte. Ein Roman, der mir bewusst macht, wie gross das Geschenk ist, in einem demokratischen Land geboren worden zu sein. Ein Plädoyer dafür, dass es nicht sein kann, dass man sich jenen Menschen verschliesst, die vor Verfolgung, politischer Willkür und Hoffnungslosigkeit ins vermeintliche Paradies fliehen wollen.

Ein Interview mit Evelina Jecker Lambreva:

Sie selbst sind 1963 in Bulgarien geboren und 1996 in die Schweiz gekommen. Dora, die Freundin Anjas, setzt sich ins Ausland ab und droht mit ihrer Flucht, andere mit sich in den Generalverdacht des Verrats hineinzuziehen. Ein Umstand, der vielen Flüchtenden das Gewissen plagt, sei es damals aus dem Ostblock oder Flüchtenden heute, die Familien und Freundschaften zurücklassen. Warum blieb und bleibt Bulgarien nie im Bewusstsein Mitteleuropas, weder politisch, noch kulturell, heute nicht einmal als Feriendestination?

Bulgarien war politisch schon immer für Mittel- und Westeuropa völlig uninteressant, da es nicht als Instrument zur Erreichung von diversen politischen Zwecken und Interessen eingesetzt werden konnte und kann. Es passiert und bewegt sich zu wenig in diesem Land, da die Bulgaren ein äusserst duldsames, gehorsames und überangepasstes Volk sind. Dies liegt in der Geschichte des Landes verwurzelt: Die 500 Jahre osmanische Herrschaft haben tiefe Spuren in der Mentalität und im kollektiven Verhalten der Bevölkerung hinterlassen. Kaum war Bulgarien 1878 durch Russland von der türkischen Herrschaft befreit worden und begann seinen Platz in Europa mit einem deutschen König zu suchen, kam nach nur 66 Jahren europäischer Orientierung die Sowjetische Herrschaft des Kremls für weitere 45 Jahre. Überhaupt begab sich das Land – seit dem Fall unter den Osmanen 1396 – immer wieder in Abhängigkeit von irgendeinem mächtigen Staat, verhielt sich passiv und passte sich den Umständen an, so wie es übrigens auch in einem bulgarischen Sprichwort heisst «Ein gebeugtes Köpfchen wird von keinem Schwert geköpft». Bulgarien verhielt sich über Jahrhunderte – so würde ich es aus meiner Sicht als Psychiaterin sagen – wie ein vergewaltigter Mensch: gefügig, still, eingeschüchtert, voller Scham-, Schuldgefühlen und Angst. Die Jahrhunderte andauernder Unterdrückung kultivierte brave, folgsame Individuen, die sich die Überangepasstheit als Überlebensstrategie aneigneten. Und von solchen Ländern schaut man im Mittel- und Westeuropa einfach weg.

Evelina Lambreva als Landärztin, © Evelina Jecker Lambreva

Kulturell hat Bulgarien einiges zu bieten, jedoch interessieren sich westeuropäische Medien kaum dafür. Dies ist meines Erachtens so, weil das Land einerseits politisch uninteressant ist und andererseits, da die Sehenswürdigkeiten in Bulgarien sehr schlecht vermarktet sind. Auch in der Schweiz hört man selten etwas über das Land. Nach wie vor wird Bulgarien mit Rumänien, und die Hauptstadt Sofia mit Rumäniens Hauptstadt Bukarest verwechselt. Sogar darüber, dass die Stadt Plovdiv für das Jahr 2019 immerhin zur Kulturhauptstadt Europas gewählt worden war, hat man hierzulande wenig gehört.

Als Feriendestination würde sich Bulgarien sehr gut eignen, wäre da im Tourismus an der Schwarzmeerküste und in den Bergen nicht die alte Einstellung aus kommunistischen Zeiten geblieben: «Wenn du einen Touristen siehst, schinde ihm die Haut! Ob er morgen wiederkommt, ist egal, Hauptsache, du kannst bei ihm heute abkassieren.» Obwohl die jetzige Regierung sehr viel für die Verbesserung der Infrastruktur im Lande tut, ist das noch immer nicht ausreichend, um aus Bulgarien eine beliebte Feriendestination zu machen. Aber es ist grosses Potential vorhanden, das in den nächsten Jahrzehnten sicher genützt wird. Zumindest ist das meine Hoffnung.

In den Jahren, in denen die Geschichte um Anja spielt, waren sie selbst ziemlich genau so alt wie die Protagonistin. Trotz aller Härte jener Zeit, der Armut und den archaisch anmutenden Verhältnissen schienen sich die Menschen, wenn die Angst vor dem Staat aussen vor blieb, nur zaghaft nahe zu kommen. Die Macht des Staates mischte bis in Liebesbeziehungen, Freundschaften und Familien. Heute ergeben wir uns freiwillig der Macht der Grossen, sei es Google oder Amazon, sei es Facebook oder sonst ein Globalplayer. Schöne heile Welt?

Heil war die Welt noch nie, und sie kann es auch nicht sein. Aber schön ist sie, die neue Zeit. Weil wir die Wahl haben, ob wir uns dafür entscheiden und wenn ja, welcher Macht wir uns ergeben wollen. Wir dürfen jetzt selbst darüber bestimmen und werden zu nichts gezwungen. Die individuelle Freiheit gibt uns jede Menge Möglichkeiten, ob und in welchem Ausmass wir uns freiwillig in welche Abhängigkeit begeben wollen.

Jeweils am 24. Mai feierte man im Dorf Kyrill und Method, die Begründer der kyrillischen Schrift. Ein Fest mit Reden, Tanz und einem Meer aus Blumen. Kyrill und Method waren aber zwei christliche Missionare aus dem 9. Jahrhundert. Typisch für die Manipulation von Geschichte, wenn es um politische Zwecke geht. Damals nicht anders wie heute. Wie weit ist Anjas Geschichte eine Geschichte um den Kampf gegen Manipulation?

Der Krankenwagen, © Evelina Jecker Lambreva

Dass Kyrill und Method zwei christliche Missionare aus dem 9. Jahrhundert waren, wurde im Kommunismus ganz bewusst verschwiegen. Diesem Aspekt wurde nie Aufmerksamkeit geschenkt. Denn Glaube und Religion waren verboten. Anders als in anderen osteuropäischen sozialistischen Ländern, führten Kirchenbesuche in Bulgarien zum Verlust der Arbeitsstelle oder des Studienplatzes und zu erheblichen politischen Schwierigkeiten. Einzig die Besichtigung von Klöstern war erlaubt, da diese als kulturelles Gut betrachtet wurden. Aber schon das Anzünden einer Kerze in der Klosterkirche galt als politisches Verbrechen, auf welches die Staatssicherheit stets ein waches Auge hielt, um dann das Vergehen sofort im Dossier des Betroffenen schriftlich festzuhalten. Diesem Aspekt habe ich in meinem Romandebüt «Vaters Land», (Braumüller Verlag, 2014) einen besonderen Platz eingeräumt.

Kyrill und Method wurden einzig als Erfinder der Kyrillischen Schrift sowohl vom Staat als auch von der Bevölkerung geliebt, gefeiert und verehrt. Der 24. Mai, der Tag der Kyrillischen Schrift, war und ist ein Fest der Buchstaben, der Bücher, der Literatur, der Kultur, Bildung und des Wissens geblieben. Bis heute ist und bleibt der Tag von Kyrill und Method mein Lieblingsfest in Bulgarien mit seiner Pracht aus Buchstaben, geschriebenem Wort und Frühlingsblüten. Deshalb kann ich den 24. Mai in keinster Weise in Verbindung mit Manipulation bringen.

Kaum zeichneten sich in Bulgarien durch Perestroika und Glasnost umfassende Veränderungen ab, begann ein „Krieg“ auf der Strasse. Bandenkriege und die Verzweiflung eines sterbenden Dinosauriers drohten das Land ins Chaos zu stürzen. Perestroika und Glasnost waren alles andere als eine sanfte Revolution. Hat sich ihr Blick auf diese Zeit in den Jahrzehnten danach verändert?

Das Kinderheim

Der sterbende Dinosaurier, wie Sie ihn nennen, hat nicht nur das Land durch die Bandenkriege und die schreckliche Angst vor deren Anführern, den sogenannten «Fratzen» (ehemaligen Geheimdienstlern, entlassenen Angestellten aus der Volkspolizei Milicija, Sportlern aus dem Ring- und Kampfsportbereich), ins Chaos gestürzt, sondern er hat dank diesem Chaos sogar bis heute überlebt. Heute sind diese Leute Oligarchen und regieren das Land durch die Macht ihres Geldes. Durch Bulgariens Pallastrevolution vom 10. November 1989 konnten sie ihre ideologisch-politische Macht ungestört in Wirtschaftsmacht umwandeln, und dies unter dem nachsichtigen Blick des Westens. Es gibt keine erfolgreichen sanften Revolutionen. Sanfte Revolutionen führen nur zu kosmetischen, nicht aber zu fundamentalen Veränderungen. Deshalb hat in Bulgarien keine echte Wende stattgefunden, sondern nur ein Prozess, der als «Alter Wein in neuen Schläuchen» bezeichnet werden muss. Noch immer sind 10’500 ehemalige Angehörige der bulgarischen Staatssicherheit (und das macht ca. 10% aus) in führenden staatlichen Positionen angestellt und besetzen öffentliche Ämter. Eine Durchleuchtung, die Lustration, die sich viele von uns erhofften, hat nie stattgefunden, die Vergangenheit wurde nicht aufgearbeitet und bleibt somit bis heute unverarbeitet. Zum Glück wurde Bulgarien im Jahr 2007 in die EU aufgenommen. Es hat diese einmalige Chance gepackt und kann nun zuversichtlich vorwärtsblicken, auch wenn die unverarbeitete Vergangenheit das Land in seiner Weiterentwicklung stark bremst. Für die kommenden Generationen wird aber Bulgarien dennoch zu einem Land, in dem man gerne leben wird. Vorausgesetzt, es gibt keinen neuen Krieg in Europa und insbesondere auf der Balkanischen Halbinsel.

Anja wird in die Isolation gezwungen. Ihre Freundin flieht, ihre Liebe scheitert, ihre Aufgabe droht ihr zu entgleiten. Selbst Maria, das Mädchen aus dem Heim ist nicht zu retten. Sie sind Psychotherapeutin. Isolation ist ein Phänomen, damals wie heute. Anja ist stark. Aber nicht alle Menschen finden die Kraft. Was kann die Literatur?

Ich denke, Literatur kann viel bewirken. Sie kann aufklären, zum Nachdenken anregen, sie kann helfen, das Leben und den Menschen in ihren Widersprüchlichkeiten besser zu verstehen, sie kann die Introspektionsfähigkeit des Einzelnen fördern. Literatur kann seelische Kräfte und Ressourcen mobilisieren, selbst grausamen Diktatoren wie Stalin war das bekannt. Vergessen wir nicht, dass Stalin während der Blockade von Leningrad der aushungernden Bevölkerung den Roman „Krieg und Frieden“ von Lew Tolstoi verteilen liess und sie aufforderte, den Roman zu lesen, um ihren Selbsterhaltungstrieb anzuregen, um die Widerstandskraft und die Moral der Bevölkerung zu stärken. Literatur kann ohne Zweifel in schwierigen Zeiten Kraft und Trost spenden. Durch Austausch von Gedanken und Meinungen über Bücher kann sie Freundschaften schaffen und somit helfen, Isolation und Einsamkeit zu überwinden. In der Welt der Bücher kann man sich kaum einsam fühlen. Denn durch die Flucht in diese Welt und ins Lesen kann man unerträgliche Realitäten erträglicher machen. Literatur verbindet, sie schafft Brücken zum uns Fremden und Unbegreiflichen. Sie besitzt sogar eine Art heilende Kraft, was sich aus der Arbeit mit Bibliotherapie deutlich zeigt.

© Evelina Jecker Lambreva

Evelina Jecker Lambreva, 1963 in Stara Zagora, Bulgarien, geboren, lebt seit 1996 in der Schweiz. Sie arbeitet als niedergelassene Psychiaterin und Psychotherapeutin in Luzern und als Klinische Dozentin an der Universität Zürich. In deutscher Sprache liegen der Gedichtband «Niemandes Spiegel» sowie der Erzählband «Unerwartet» vor. Zuletzt bei Braumüller erschienen: «Vaters Land» (2014) und «Nicht mehr» (2016).

Rezension von «Nicht mehr» auf literaturblatt.ch

Beitragsbild © Sandra Kottonau

Rolf Hermann «Eine Kuh namens Manhattan», Der gesunde Menschenversand

Rolf Hermann hat den anderen Blick. In seinen Geschichten spiegelt sich eine Welt, deren Perspektiven sich den gewohnten Sichtweisen entziehen. Vielleicht ist Rolf Hermanns neue Text- und Geschichtensammlung deshalb eine Anleitung, die Welt nicht gar so tierisch ernst zu nehmen, meinen Blick zu öffnen, eine Anleitung zum Sehen, ein anderes Ordnungssystem.

Rolf Hermann macht Ordnung. Ob er das nun mit alphabetisch geordneten Aufzählungen macht, die einem an ein Walliser Urmantra erinnern, ob er Laute, Buchstaben, Silben neu ordnet, ob er die Kuh Manhattan aus ihrer festen Ordnung ausbrechen lässt, eine Kuh, die nach einer ganzen Reihe gewonnener Kuhkämpfe im Kanton eine neue Herausforderung sucht und an der Universität Miséricorde in Fribourg immatrikuliert, um an ihrer Bachelorthese «Das Rind als Stallmeister seiner selbst» zu schreiben.

In den vergangenen Jahren ist Rolf Hermann so etwas wie die literarische Stimme des Rhonetals geworden, zumindest des deutsch sprechenden Teils.
GF: Merkst du das, wenn du dich im Wallis bewegst? Ein literarisches Gegengewicht zur historischen Übermacht der Giganten des letzten Jahrhunderts; Charles Ferdinand Ramuz, Stéphanie Corinna Bille und Maurice Chappaz?
RH: Seit einer Weile habe ich das Gefühl, mit meinem Schriftstellerdasein geht es sehr gemächlich – ein kleines Bitzeli – bergauf. Zurzeit ist es ungefähr auf der Höhe von Goppenstein angelangt. Das liegt auf 1’200 Metern über Meer, also knapp 500 Meter höher als dort, wo ich aufgewachsen bin. Das macht in meinem Alter einen Höhenunterschied von knapp 11 Metern pro Jahr aus. Eigentlich nicht wirklich der Rede wert.

Rolf Hermann feiert in einer Welt, die immer mehr in der Absurdität abrutscht, das Absurde selbst. Er potenziert das Komische bis ins Verwegene, das eine Mal mit Geschichten, ein ander Mal mit Lautgedichten und sprachlichen Absurditäten. Dabei empfinde ich seine «Absurditäten» alles andere als absurd. Rolf Hermanns Schaumschlägereien sind Sprachkunst, surreal in ihrer Inszenierung, witzig und urkomisch in ihrer Direktheit, Originale eines Originals.

GF: Du pflegst das Bild des einstigen Schafhirten, der sich damit in ferner Vergangenheit sein Studium der Anglistik und Germanistik in Fribourg und Iowa USA verdiente. Was ist vom einstigen Schafhirten übrig geblieben? Vom Anglistiker?
RH: Tatsächlich habe ich sieben Sommer lang im Wallis Schafe gehütet. Von 1993 bis 2000. Zum ersten Mal kurz nach der Matura. Das war eine prägende Zeit für mich. Weit oberhalb der Waldgrenze. Inmitten von Felsen und Geröll. Ohne fliessendes Wasser. Ohne Strom. Oft allein. Aber mit vielen Büchern und Notizheften. Ich habe mich damals extrem verbunden gefühlt mit dieser atemberaubenden Landschaft. In Gedanken bin ich auch jetzt noch hin und wieder da oben. Es ist gut möglich, dass ich eines Tages diese Sommererfahrungen in einen längeren Text einfliessen lasse. Und die Anglistik? Die ist mir immer noch sehr nahe. Ich rede mit meiner Frau, einer US-Amerikanerin, und unseren zwei Kindern meistens Englisch. Und sehr gerne lese ich immer wieder Bücher auf Englisch, z. B. die wunderbaren Gedichte von Emily Dickinson, die mich schon seit über zwanzig Jahren begleiten.

Schoutaim
Am lätschtu Wuchunänd bin i mit miinum viärjeerigu Meitji gaa schpaziäru. Wiär sii va Sänggärma uff Raro gluffu, an Räbä und Mattä värbii, bis wär, schoo fascht am Ändi va ischum Üssflug, vor där Burgchilchu z Raro gschtannu sii. Ds Meitji, waa bis jäzz no niä inära Chilchu isch gsi, isch im Schpurt uff du grooss Büx züe, hätt mit allär Chraft ds Portaal üffgita, isch där Mittilgang därdur und schich vollär Ärwaartig mitsch in d eerscht Reiu gaa säzzu. Küm bin i näbu miinum Meitji gsi, hätts wällu wissu, wä dä hiä äntli d Schou afeegä. Und ich ha mär gideicht: Bassär hätti sus niämär chännu sägu.

Showtime
Letztes Wochenende bin ich mit meiner vierjährigen Tochter spazieren gegangen. Wir sind von St. German nach Raron gelaufen, an Reben und Wiesen vorbei, bis wir, schon fast am Ende unseres Ausflugs, vor der Burgkirche in Raron standen. Meine Tochter, die davor noch nie in einer Kirche war, ist auf das grosse Gebäude zugespurtet, hat mit aller Kraft das Portal aufgerissen, ist durch den Mittelgang nach vorne gerannt und hat sich erwartungsvoll in die erste Reihe gesetzt. Kaum war ich bei ihr, wollte sie wissen, wann denn hier endlich die Show anfange. Und ich hab mir gedacht: Besser hätte es niemand sagen können.

Aber immer bleibt hinter den Texten der ganz besondere Sound des Autors selbst. Wer irgendwann einmal das Vergnügen hatte, dem Autor bei einer seiner performativen Auftritte dabeizusein, dem bleibt etwas vom Klang dieser Texte auf ewig im Kopf zurück. Rolf Hermann spielt dabei mit Klang, Rhythmus und Laut so sehr, dass er wie bei der Konkreten Poesie auf die  Bedeutung von Wort und Text ganz verzichtet. Dann wird ein Text zur Partitur, das Gesprochene, der Laut, der Text zur Musik. Und das Sprechen, selbst für mich als Ostschweizer mit maximaler Distanz zum Walliser Dialekt zum Eintauchen in eine andere, neue Welt. Dann trifft mich der Spass an der Übersetzung, das Suchen nach Bekanntem, das Erkennen von Resonanz.

GF: So wie du mit Sprache, Wort und Text umgehst, scheint es dir beim Schreiben um weit mehr als den Transport von Information zu gehen. Du spielst mit dem Sound, dem Klang, dem Witz in der Sprache selbst, dem Grotesken, das daraus entstehen kann, dem Hinterhältigen. Was reizt dich daran? In welchen Texten liegt mehr Rolf Hermann?
RH: Wenn es mir in meinem Schreiben lediglich um den Transport von Informationen gehen würde, dann wäre ich kein Schriftsteller. Es geht mir vor allem auch darum, die Sprache zu belauschen und mit ihren Mitteln etwas heraufzubeschwören, das möglichst einzigartig ist, sei das nun eine Erzählung, ein Spoken-Word-Text, ein Gedicht oder sonst etwas. Immer wenn ich schreibe, habe ich das Gefühl, ich sitze wieder am Küchentisch meiner Grossmutter. Die Eltern sind da, meine Brüder, die Tanten, die Onkel, viele Cousinen und Cousins und auch ein paar Dorfbewohner haben sich unter die Gäste gemischt. Es wird über ein Haus gesprochen, das verkauft wird. Jemand erzählt einen sehr zotigen Witz. Dann wiederum sorgt man sich über eine Nachbarin, die ernsthaft erkrankt ist. Und dann meldet sich plötzlich Grossmutter zu Wort und gebietet allen, still zu sein, weil sie ein Gedicht vortragen will, das sie gerade in der letzten Nacht geschrieben hat. Und dann spricht sie und augenblicklich ist da eine Stimme, die sich selber – und auch mir – sehr nah ist. Vielleicht versuche ich ja genau das mit meinem Schreiben: Jene Küchenszene wieder auferstehen zu lassen – und die besteht halt aus vielen Stimmen.

sinklau nov red lüefs tegeb
äs Gibätji

neim rehr dun neim togt
mmin salle nov rim
saw chim tihrend uz rid

neim rehr dun neim togt
big salle rim
saw chim tehrüf uz rid

neim rehr dun neim togt
mmin chim rim
dun big chim zang uz neige rid

Zugegeben, es braucht etwas Mut, sich in das Geniessen dieser Texte hineinzugeben, nicht einfach in den von Ursina Greuel ins Hochdeutsche übertragenen Text zu flüchten, bloss um das Buch mit Tempo durchzulesen. Ernst gemeinte Lektüre braucht Langsamkeit, Geduld und den Willen, das Menü in kleinen Happen zu geniessen, die Schlucke klein über den Klanggaumen rutschen zu lassen.

GF: Ein nicht unwesentlicher Teil der Texte in deinem Buch lässt sich beim besten Willen nicht übersetzen. Lautmalereien, die an Konkrete Poesie erinnern. Wie entsteht ein solcher Text? Versteckt sich der Lautmaler Rolf Hermann erst einmal in den Hängen oberhalb Leuk, zwischen den Parabolantennen des Satellitenabhörsystems und gibt Signale in den Äther?
RH: Ich wünschte es wäre so einfach. Sobald ich in der Nähe der Satellitenschüsseln oberhalb Leuk bin, bricht in mir der dadaistische Sturm los. Nein, im Ernst, nachdem eine Textidee in mir gereift ist, gehe ich eigentlich oft recht konzeptuell, teils mathematisch vor. Vokale werden permutiert, Wiederholungen und Variationen eingebaut, Ellipsen in den Text geschlagen. Und das mache ich, solange bis mich der Sound des Textes, der ja in dem Fall über das Inhaltliche hinausgeht, überzeugt. Zu den vielen Stimmen kommt so eine neue hinzu.

GF: Du liebst Aufzählungen, Reihen, das Alphabet. Schreiben ist „Ordnung machen“. Ordnung in Buchstaben, Zeichen, Silben und Worte. In Gedanken und Ideen, Konstrukte und innere Landschaften. Bist du ordnungsliebend?
RH: Schreiben ist für mich auf jeden Fall eine Art von „Ordnung machen“. Eine Stimmung, ein Erlebnis, ein Witz, ein Monolog so aufs Blatt zu bringen, dass der Text im Idealfall in einem Gegenüber das erzeugt, was man sich erhofft hat – und das hat viel mit auswählen, gruppieren, umstellen, ja, mit neuordnen zu tun. Da kann ich sehr bedächtig an die Worte und Sätze treten und sie immer wieder abklopfen. Im Alltag hingegen bin ich eher chaotisch. Meine Schreibklause ist ein ziemliches Labyrinth mit recht zufällig entstandenen und entstehenden Staubhügelchen.

©Valérie Giger

Rolf Hermann, geboren 1973 in Leuk, lebt heute als freier Schriftsteller in Biel/Bienne. Sein Studium verdiente er sich als Schafhirt im Simplongebiet. Er ist Mitglied der Mundart-Combo Die Gebirgspoeten und der Spoken-Rock-Formation Trio Chäslädeli. Sein Schaffen wurde verschiedentlich ausgezeichnet, zuletzt mit dem Kulturpreis der Stadt Biel (2017) und einem Literaturpreis des Kantons Bern (2019).

Webseite des Autors

Rolf Hermann liest am 15. Mai im KultBau St. Gallen, an der Konkordiastrasse 27 um 20 Uhr aus seinem Buch «Ein Kuh namens Manhattan». Moderation: Gallus Frei-Tomic. Infos unter kultbau.org

Die Texte aus «Eine Kuh namens Manhattan» sind mit ausdrücklicher Erlaubnis des Autors eingefügt. Alle Rechte sind beim Autor.

Christoph Schwyzer «Der Staubwedel muss mit», Limmat

Altersheime sind Biotope, unsichtbar eingezäunte Lebensräume, denen man wohl Besuche abstattet, aber in steter Erleichterung darüber, nicht Teil dessen sein zu müssen. Christoph Schwyzer arbeitete lange in einem solchen. Seine Geschichten aus diesem Biotop sind keine Schreckgeschichten, keine Enthüllungen. Nachdem er schon 2009 mit seinen Geschichten «und heim» seine erzählerische Präzision, seinen Witz und sein Gespür für Geschichten mit überraschenden Spiegelungen bewies, sind seine neuen Geschichten eine lange Kette literarischer Perlen.

Es breitet sich bei der Lektüre warme Melancholie aus, weil es Christoph Schwyzer versteht, jene Fein- und Eigenheiten in den Vordergrund zu stellen, die jene des Alters ausmachen, ohne sie mit dem Skalpell zu sezieren. Die Geschichten sind durch Begegnungen gewachsen, durch die Nähe zu den Menschen. Eine Melancholie, weil man unweigerlich weiss, dass man dereinst eine der Beschriebenen sein könnte, weil es fast nichts gibt, dass einem vor dem Zimmer im zweiten Stock „zu retten“ vermag.

Frau Christen
Verzweifelt suchte Frau Christen nach dem Sinn des Lebens. Die Tiere, dachte sie eines Tages, die haben es gut: Der Ameisenbär sucht Ameisen, findet sie, frisst sie und ist zufrieden. Die Eierschlange sucht Eier, findet sie, frisst sie und ist zufrieden. Der Mäusebussard sucht Mäuse, findet sie, frisst sie und ist zufrieden. Und ich? Ich bin doch angeblich ein Homo sapiens, ein weiser Mensch. Mehr Weisheit essen, hat der Arzt einmal gesagt. Oder hab ich ihn falsch verstanden: mehr Eiweiss essen?

Zarte Miniaturen vom Leben an der Endstation, von den Menschen, denen sich das Leben nicht unmerklich zu verschliessen beginnt, denen man sich immer weniger zuwendet, wenn nicht gar abwendet, die keine „Funktion“ mehr mit sich tragen, die man vergisst, ein- und abgestellt hat. Von Menschen, die den kleinen, letzten Rest Leben mit sich tragen, jenen Rest Stolz, auch wenn es nur eine Schublade voller bestickter Stofftaschentücher ist. Sie breiten wie Frau Judith ihre Fotos vor sich aus, „wie Inseln aus dem Meer des Vergessens“. Christoph Schwyzer breitet all die klein gewordenen Leben vor mir aus. Sie mahnen mich, dass die Wahrscheinlichkeit einer solchen Wendung in meinem Leben nicht auszuschliessen ist und es nur schwer vorhersehbar ist, was dereinst meine Welt bestimmt.

Herr Hartmann
Ins Gedächtnistraining geht er nicht. Er sagt: Ich bin so nachtragend. Besser wäre eine Methode, die gezieltes Vergessen möglich macht.

Frau Jud, Herr Hauser, Herr Bumbacher, Frau Schwarz: Ihre Welt ist geschrumpft, geschwunden auf die blosse Hoffnung, auf ein unendlich scheinendes Warten, das letzte bisschen Sehnsucht. Christoph Schwyzer will kein System kritisieren, auch nicht den routinierten Umgang mit alten Menschen, weder die Ghettoisierung noch die Sorge um die demagogische Entwicklung der Gesellschaft. Christoph Schwyzers Blick auf die Menschen ist keiner auf sie herab, sondern getränkt von Liebe und Respekt, voller Witz und Schalk. Die längeren und manchmal nur ganz kurzen Porträts kreisen immer nur um das Eine: Was bleibt?

Frau Schneebeli
Zu wenig Schlaf lässt die Haut schneller altern. Diesen Satz hat Frau Schneebeli in der „Gesundheit Sprechstunde“, im Magazin von Dr. Stutz, gelesen und mit orangem Leuchtstift markiert. Während der darauffolgenden Nacht ist sie ungewöhnlich oft aufgewacht. Und jetzt will sie sich vom Arzt die Schlaftablettendosis erhöhen lassen.

Es ist als wären die Geschichten eine lange Reihe von Besuchen, ich an der Seite des Autors. Ich lausche einer Szene, einem Gespräch, einer Geschichte aus der Vergangenheit, einem Einblick, der nur möglich ist, weil ich mich an der Seite des Autors ruhig und unauffällig verhalte. Christoph Schwyzer bedankt sich mit der Verschriftlichung der Geschichten für die vielen Geschenke, die sich nur dann einstellen, wenn den Alten jener Respekt entgegengebracht wird, den das System verweigert.

Geschichten aus einem anderen Jahrhundert, einem anderen Jahrtausend, aus den Tiefen der Vergangenheit, aus einer anderen Welt. Einer Welt, die sich dem Produktiven, Eifrigen, Fleissigen, Zielgerichteten, Gemanagten entzieht. Vom Ende der Zeit, wo Zeit keine Rolle mehr spielt, ausgerechnet dort, an ihren Rändern.

Interview mit Christoph Schwyzer:

Dein Buch ist wie eine Fotoausstellung in einer grossen Galerie. Du gingst mit dem Objektiv ganz nah an die Person, ohne ihr zu nahe zu treten. Die Gesichter erzählten dir Geschichten. Du rahmst sie mit Sprache ein, bannst sie. Ich bleibe als Betrachter stehen, einmal länger, einmal kürzer und staune, wie sehr mich der Blick aus dem Bild berührt. Bist du mehr als Träger dieser Geschichten? 

Jede Figur, die in meinem Buch auftritt, lebt auch ein Stück weit in mir selbst: Der Nörgler, die Schwermütige, die Selbstverliebte, der Büchernarr, der Aufbrausende, die Mitfühlende. Insofern gibt es zu jeder Figur eine Verbindung. Und eigentlich geht es mir als Stadtmensch, als Stadtspaziergänger jeden Tag so: Ich sehe zahllose Menschen, werde von einem Gesicht, einem Blick, einer Stimme, einer Gangart in Bann gezogen; und selbst dann, wenn eine solch zufällige, flüchtige Begegnung eher abstossend auf mich wirkt, ahne ich mehr Verbindendes als Trennendes. „Was du anschaust, schaut zurück. Du wirst ihm wieder begegnen“, lautet eine Gedichtzeile von Max Bolliger.

Sie mahnen nicht direkt. Sie erschrecken nicht. Die suhlen sich nicht. Sie reissen nicht nieder. Sie, die du porträtierst, beschenken dich und du gibst dieses Geschenk weiter. Wie reifen diese Geschichten von der Idee bis um Entschluss, sie in die Sammlung aufzunehmen?

Mein Rohstofflieferant ist mein Tagebuch. Ich halte – regelmässig zwar, aber doch eher anfallsweise – meine Eindrücke fest. Nie aber gehe ich mit der Absicht irgendwohin, auch damals als Altersheimseelsorger nicht, Menschen zu beobachten, Material zu sammeln. Ich bin ja kein Detektiv, der, mit Fotoapparat und Notizblock bewaffnet, den Menschen auflauert. Wegweisend ist für mich die Frage: Welche Bilder und Situationen, welche Erinnerungen tauchen spontan aus dem Meer des Erlebten wieder auf; suchen mich heim, ohne dass ich mich dafür heftig anstrengen müsste? Damit aus einem Eindruck ein Ausdruck auf Papier werden kann, muss dieser noch warm, in Bewegung, formbar sein.

Die Anstrengung beziehungsweise die eigentliche Arbeit beginnt dann, wenn es darum geht, meinen Tagebucheinträgen eine gültige Gestalt zu geben, sie weiterzuspinnen, in eine Geschichte zu verwandeln. Ein Beispiel: Eine Hand, die im übervollen Bus einen Haltegriff umklammert, lässt mich nicht mehr los. Die Finger sind aufgedunsen, goldene und silberne Ringe schneiden sich ins Fleisch ein, der rote Lack der Nägel blättert an den Rändern ab. Tage oder Wochen später sehe ich wieder diese Hand vor mir, nur diese Hand; denn der Körper, das Gesicht zur Hand waren im übervollen Bus nicht zu sehen. Was erzählt mir diese Hand? Wie könnte sie den dazugehörigen Menschen indirekt charakterisieren? Ich versuche eine kleine Geschichte, eine Minibiografie zu entwerfen, schreibe meistens mehrere Versionen, kürzere und längere.

Dein Buch ist nicht das Resultat einer Recherche, sondern Manifestation von Liebe, Respekt und Hochachtung. Angesichts der demagogischen Entwicklung unserer Gesellschaft drängen sich aber durchaus Fragen auf, wie wir in Zukunft mit dem letzten Abschnitt des Lebens umgehen wollen, ob es reicht, chipgesteuerte Kuscheltiere oder sprechende Roboter einzusetzen. Wohin muss es gehen? 

Wir alle, ausnahmslos, sind Sehnsuchtsreisende auf der Suche nach Heimat. Wir kommen auf dieser Welt nie ganz an; immer fehlt etwas zum vollkommenen Glück, zur störungsfreien Zufriedenheit. Aber eines ist offensichtlich: Freundschaften können retten. Wer sich in einer Gemeinschaft von Menschen aufgehoben fühlt, fällt weniger schnell ins Bodenlose. – Weder im Altersheim noch sonst irgendwo bin ich jemals einem Menschen begegnet, der nicht beachtet, geachtet, wahrgenommen werden wollte. Und oft stellt sich heraus, dass diejenigen Menschen, die einem die kalte Schulter zeigen und von sich behaupten: Ich will keinen Besuch, ich brauche keinen Besuch, unglaublich aufblühen, wenn sie dann trotz allem sich öffnen und ins Erzählen kommen. Kein auch noch so ausgeklügelter Roboter kann einem Menschen sein Ohr, sein Herz schenken, ist in der Lage, bloss mithilfe seiner Aufmerksamkeit, eines gütig geduldigen Blicks oder einer Berührung, wortlos zu sagen: Ich bin für dich da. Ich mag dich.

Du gibst jeder Geschichte einen Namen. Manchmal einen Vornamen, manchmal einen Familiennamen. Du änderst auch die erzählende Perspektive. Was entscheidet? 

Jeder Name, ob Vor- oder Nachname, birgt ja schon eine Geschichte in sich, hat seinen eigenen, eigenartigen Klang. Wenn ich „Meier“ durch „Mendes“ ersetze oder „Sepp“ durch „Siegfried“, ändert sich der gesamte Charakter der Geschichte. Dasselbe ist der Fall, wenn ich Requisiten austausche, Möbel. Das Gleichbleibende, die Konstante ist die Einzelzimmersituation.

Ich spiele gerne mit meinen Figuren. Eigentlich ist für mich eine Geschichte nie fertig. Ich habe eine unglaubliche Freude daran zu kneten, zu modellieren, alles zusammenzudrücken und wieder von vorne anzufangen – wie damals als Kind mit meinen Plastilinfiguren. Was passiert, wenn aus einer Frau ein Mann wird? Wie tönt die Geschichte, wenn sie aus dem Mund der betroffenen Person selbst kommt? Wie aus dem Mund einer Tochter, eines Sohnes? Und was ist, wenn die Figur unablässig schweigt, stattdessen aber ein Gegenstand, eine Handbewegung, ein Kleidungsstück vielsagend wird, laut zu sprechen beginnt? – Allerdings ist das übermässige Abändern mit der Gefahr verbunden, nie eine endgültige Form zu finden, gar eine bereits prägnante Geschichte wieder zu verflachen.

Ist da nie die Lust, eines dieser Porträts aus der Ausstellung mit nach Hause zu nehmen, auf den Schreibtisch zu stellen, auf den Tisch vor dem Fenster, um noch viel mehr, viel tiefer zu schauen? 

Meine Landschaften, in denen ich am liebsten spazieren gehe, sind die Menschen, soll ein Grossstädter einmal gesagt haben. Mit mir verhält es sich ähnlich. Insofern taucht in der Tat ab und zu die Idee auf, einer einzelnen Figur mehr Raum zu geben, mich von ihr an der Hand nehmen und über all die noch unentdeckten Lebenswege führen zu lassen, Lebensschicht für Lebensschicht zu erkunden – und vielleicht eine Erzählung zu schreiben.

© Paul Joos

Christoph Schwyzer (1974) lebt mit seiner Familie in Luzern. Er arbeitete an der Volksschule, im Altersheim und bei verschiedenen Zeitungen und Zeitschriften. Studienaufenthalt in Hildesheim «Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus», Umzug nach Berlin, danach Fußwanderung von Hamburg nach Basel. Neben seiner schriftstellerischen Tätigkeit tritt Christoph Schwyzer als Rezitator auf. Für seinen ersten Roman «Wenzel» war er für den Rauriser Literaturpreis 2012 nominiert.

Beitragsbild © Sandra Kottonau

Ruth Loosli «Hungrige Tastatur», Waldgut

Ruth Loosli ist eine Streiterin für das Wort, oft unterwegs, viel im Gespräch, immer mit spitzem Stift und kleinem Büchlein. Vor ein paar Jahren lud ich sie einmal ganz spontan zu einer Krimilesung in einer Buchhandlung in Winterthur ein. Ich sah sie am Schaufenster vorbeigehen, kurz stehen bleiben. Aber weil das Buch sie dann doch nicht zu fesseln vermochte, sass sie vor mir mit Stift und Büchlein und begann zu schreiben. Als wäre es hilfreich im Kampf gegen etwas, was ihr nicht gefällt. Als wäre Sprache, Schrift und Schreiben Schild und Speer, mit denen sie sich gegen das zur Wehr setzt, womit die Welt sie attackiert.

Gespräch mit Dichtung:

In einem ihrer Gedichte steht am Anfang:
Die Gedichte ruhen.
Sie sind Handläufe
die unserer Melancholie
schmeicheln und sie
hinunter auf die Strasse
begleiten.

Gibt dir das Schreiben Halt, eine Richtung? Braucht es das Schreiben und ganz besonders Gedichte, um eine immer schwerer zu lesende Gegenwart verständlicher zu machen? Gedichte als Kontrapunkt zu Fakten, denen man dann doch nicht trauen kann?

Das Dichten an sich, dem oft eine innere Aufmerksamkeit vorangeht, ein absolut konzentrierter Moment (wie der Moment, wenn ein Bogen gespannt wird) gibt mir Halt. Es ist meine Art, der Welt zu begegnen. Und auch meiner eigenen Alchemie, die immer wieder für Überraschungen sorgt, für Unsicherheit, für ein Ausbrechen ausgetretener Denkpfade. Überhaupt scheint der Verstand der heutigen Menschen ein Verzerrer zu sein und jeder will für sich in Anspruch nehmen, die Art, wie er die Welt sieht, sei die richtige. 

Das erscheint mir lächerlich. Wir sehen täglich, in welche Sackgassen uns dieses Denken führt. Natürlich muss man die Dinge ordnen können, aber sie auf schwarz-weiss hinunter brechen zerstört uns als Menschengemeinschaft und unsere Umwelt. 

Wenn dann noch ein Gedicht entsteht in meinem Alltag, ist das Glück. Das Glück, einer Wahrnehmung, einem Moment Gestalt zu geben. In Form von Worten. Andere machen es mit einem Bild, einer Melodie. Und ich habe mich dem Dichten anvertraut als Handlauf meiner Gegenwart. 

Gerne weniger

an Gier
an Verlust an
Land an
Hunger an
Ohnmacht an
Rattengift an
Rampenlicht an
enger Sicht an
Hass an
Blindheit und
geschundener
Kindheit
(denn dort werden
die Weichen gestellt)

Man spürt die Leidenschaft, als nähmst du ein Messer in die Hand. Wenn dein Schreiben filetiert, aufschneidet, zusticht. Und doch ist da auch der grosse Hang zur Versöhnung, Umarmung, der Wunsch, den unlauteren Leidenschaften die Macht zu nehmen. Manchmal drückt Wut und Verzweiflung, manchmal das Wissen, dass nur das Kleine, Feine in eignen Händen liegt. Und wenn ich in meiner Lesart der Flüchtigkeit von Momenten bewusst werde, dann in Sätzen wie: «Sag es, ich halt dagegen an: die Luft!» Hat das Schreiben von Gedichten dein Sehen verändert?

Es war und ist ein Prozess und läuft immer auch parallel: ich schaue genau, weil ich Gedichte schreibe. Weil ich verstehen will. Weil ich mein Sehen und genaues Erfassen erweitern will. Das Gedicht ist dann eine logische Folge davon. Funktioniert aber auch umgekehrt, es beeinflusst und bedingt sich wechselseitig. 

Zweifel

Die mongolische Hochzeit
findet in der Bretagne statt

das Brautpaar wechselt dreimal
die Kleidung von weiss zu blau zu rot.

Der Abend schreitet fort
und mit ihm das Paar.

Sie trauen der Zeit nicht
obwohl sie einander einen Ring

an den Finger gesteckt haben.

Es liegt ein grosses Staunen in den Gedichten, gepaart mit der Bescheidenheit, die mit dem Mut kämpft, mit der Bescheidenheit, die sich im Hintergrund lässt. Die weiss, dass nur zu gewinnen ist, was man sich mit Sprache verinnerlicht.
Du bist viel unterwegs, im Zug, zu Fuss, mit den Augen, mit deinem Herz – aber auch in den sozialen Medien. Wo stolpert Ruth Loosli?

Welche Frage! Ruth Loosli stolpert immer wieder. Unbedarft. Ungeschützt und manchmal über sich selber. Über minimale Erhebungen, die ich zu spät erkannte, weil zu schnell unterwegs. Ja, manchmal will ich zu schnell an einem anderen Ort sein. Weil genau dort ein Gedicht auf mich warten könnte. Ein Gespräch, eine Idee, ein offener Himmel. Die Bewegung ist zentral für mich. Durch Bewegung und Unterwegs-Sein fühle ich mich lebendig. Und manchmal stolpere ich in ein Fettnäpfchen, weil es mir schwer fällt, Konventionen einzuhalten. Öfter noch stolpere ich in mein Schweigen, das sich als Fallgrube erweisen kann. Da hilft dann nur noch ein Gedicht. Fremd oder eigen unwichtig. 

Ertrinken

Ich könnte ertrinken
in meiner Zeit
sie schwappt über wie kochende
Milch über den Pfannenrand
beginnt zu zischen und
gleich danach zu stinken wie es
übergekochter Mich eigen ist
wenn sie die heiße Fläche berührt.

Auch ein bisschen die Angst darüber, was man mit dem «Sehen durch Schreiben» bei sich selber anrichten könnte? Schreiben ist ja nicht nur ein selig machender Prozess, ein nur glückliches Tun. Manchmal droht die Büchse der Pandora.

Ja, die Büchse der Pandora. Das Stinken von übergekochter Milch, wenn sie eine heisse Fläche berührt. Sie hat mit dem Schreiben selbst wenig zu tun (aber auch und gerade das kann man wiederum ganz anders sehen und begründen). Das Schreiben scheint mir eine der wenigen Möglichkeiten, das Stinken zu beschreiben, damit wir es wenigstens als Solches erkennen. Den schlechten Träumen die Stirn zu bieten. Die luftigen, leichten willkommen zu heissen. Die Träume sind mir wichtige Hinweise. Und manchmal scheint mir das ganze Leben mit Wort und Zahl ein einzig listiger Traum. 

© Anne Bürgisser

Ruth Loosli, geboren 1959 in Aarberg (Seeland), wo sie aufgewachsen ist. Sie hat drei erwachsene Kinder und ist ausgebildete Primarlehrerin. Seit einigen Jahren lebt und arbeitet sie in Winterthur. Sie veröffentlicht in Anthologien und Literaturzeitschriften. Ein erster Gedichtband «Aber die Häuser stehen noch» erschien 2009. Es folgte im Wolfbach Verlag (DIE REIHE, Band 5) 2011 «Wila, Geschichten»; dieser Band wurde mittlerweile auf Französisch übersetzt. In derselben Reihe erschien 2016 der Lyrikband «Berge falten». «Hungrige Tastatur» ist ihre erste Publikation im Waldgut Verlag.

Webseite der Autorin

Beitragsbild © Ruth Loosli (Schreibbilder)

Artur Dziuk «Das Ting», dtv

Im Berlin der Gegenwart treffen sich Linus, Adam, Kaspar und Niu und gründen in einer versifften Wohnung ein Start-up-Unternehmen, ein Tool, das körperbezogene Daten seiner Nutzer sammelt, um ihnen Entscheidungen zu erleichtern oder gar abzunehmen. Ein besserer, glücklicherer, erfolgreicherer Mensch soll man werden. Das «Ting» ein permanenter Begleiter zur Selbstoptimierung.

Wir bewegen uns im Netz, sorglos darüber, was mit unseren Daten und Spuren passiert. Wir sind durch unsere Mobilphones jederzeit zu orten. Wir geben Daten preis, die ein cleveres Ührchen am Handgelenk als modisches Accessoire getarnt, der Cloud in den Rachen wirft. Unsere Küche ist vernetzt, unser Arbeitsplatz überwacht, fast alle Daten für den einigermassen gewieften Hacker unschwer einsehbar.
Und doch glauben wir noch immer daran, dass die Maschine unser Leben erleichtert. Noch immer glauben wir, dass mit zunehmender Begleitung von Technik und künstlicher Intelligenz das eigentliche Leben nur leichter und angenehmer wird. Und wir lächeln gequält, wenn man im Netz von den Verrückten liest, die im Wald nach dem urspünglichen Leben suchen, die sich dem Konsum verweigern oder in irgend einer abgelegenen Gegend der Welt die Langeweile kultivieren.

Noch immer verspricht die Wirtschaft Hand in Hand mit der Wissenschaft den Traum der unbegrenzten Möglichkeiten. Es braucht nur Talent, Entschlossenheit und Disziplin. Genau das vereint das Geviert, das sich daran macht, einen digitalen Glücksbringer markttauglich zu machen. Linus als Entwickler, Niu als Programmiererin, Adam als Geschäftsmann und Kaspar als Investor der ersten Stunde. Eine Idee schweisst die vier zusammen, lässt vergessen, was im Leben zuvor getrennt hätte. Ein Verrat zwischen Linus und Adam, eiserne Familientraditionen bei Kaspar und tiefe Einsamkeit bei Niu. So ist der aus vier Perspektiven erzählte Roman gar nicht so sehr die Geschichte einer Geschäftsidee, auf die die Welt nur zu warten scheint, sondern ein Roman darüber, was die Mechanismen einer Zweckgemeinschaft anrichten können, erst recht dann, wenn man sich freiwillig seiner Entscheidungsfreiheit berauben lässt und alles dem einen untergeordnet werden muss, wenn Erfolg bedingungslos wird, wenn sich alles einer Idee, einer Ideologie unterwirft.

Wenn man dem Internet zu glauben wagt, soll Steve Job, Mitbegründer von Apple und einer der erfolgreichsten Start-up-Unternehmen der Gegenwart kurz vor seinem Tod gesagt haben: «… In den Augen der Menschen gilt mein gesamtes Leben als eine Verkörperung des Erfolgs. Jedoch abgesehen von meiner Arbeit, habe ich wenig Freude in meinem Leben. Letztendlich gilt mein Reichtum nur als Fakt des Lebens, an den ich gewohnt bin. In diesem Augenblick, wo ich in einem Krankenbett liege und auf mein ganzes Leben zurückblicke, verstehe ich, dass all die Anerkennung und all der Reichtum, worauf ich so stolz war, an Wert verloren haben vor dem Gesicht des kommenden Todes…»

Alle vier Hauptpersonen starten als Gezeichnete in ihr abenteuerliches Unternehmen, mieten sich ein in einer ehemaligen Kirche, werden zu ihren eigenen ersten Testpersonen mit der Abmachung, dass dem der Firmenanteil verloren geht, der sich nicht an die Ratschläge des Tings hält. Das Unternehmen wächst, die Einsamkeit in der undurchschaubaren Verwicklung digitaler Zusammenhänge auch. Und als Google ein gigantisches Übernahmeangebot macht, zerbröselt das, was zuvor wie Freundschaft aussah.

Artur Dziuk Blick auf die Welt ist ein optimistischer. Vielleicht eine Spur zu optimistisch, angesichts dessen, mit welcher Begeisterung man sich in sämtlichen Lebenslagen auf Technik verlässt. Die Stärke des Romans liegt in den Figuren und den Geschichten um diese herum, ihre Herkunft, ihre Sehnsüchte, ihr Schicksal und die Blendungen. Artur Dziuk scheint sich viel mehr um die Beziehungen des Gevierts zu interessieren, als um die nachvollziehbare Erfolgsstory eines Start-ups. Ich hätte dem Buch eine ordentliche Prise mehr Pfeffer gegönnt. Das Buch ist spannend und lesenswert und für einen Debütroman mehr als beachtlich.

Ein Interview mit Artur Dziuk:

Durch den Roman schimmert die These, dass ein Team nur solange funktioniert, wie Ziele genau definiert und der Weg dorthin reglementiert ist. Glaubt man moderner Betriebsphilosophie, dann braucht es aber mehr als das. Und wenn man einigen wenigen glaubt, dann ist „Team“ glorifizierter Irrglauben. Selbst die Schriftstellerei ist weit weg von Teamarbeit. Ist Team nicht einfach der Traum eines nicht zu erreichenden Idealzustands?
Was mich als Schriftsteller interessiert, sind der Druck und die Spannungen, die auf ArbeitnehmerInnen im modernen Arbeitskontexten wirken. Ein Team ist meist nur nach aussen hin eine Gemeinschaft mit gleichem Ziel und definierten Prozessen. Zwischen KollegInnen herrschen oftmals Konkurrenz, Missgunst und Taktierereien, was in einer Gesellschaft, die den kapitalistischen Wettbewerb schon in der Grundschule startet, auch nicht verwunderlich ist. Der Ellbogenkampf um die nächste Sprosse auf der Karriereleiter, die existentielle Angst vor dem Arbeitsplatzverlust und die Umerziehung von abgesicherten ArbeitnehmerInnen zu unabhängigen Entrepreneuren verändern und formen das Innenleben, die Gedanken- und Gefühlswelt der Menschen. Genau dort möchte ich ansetzen.

Es siegt in ihren Roman nicht die Liebe, auch nicht die Freundschaft, sondern Geld, Macht und Intrige. Alle vier ProtagonistInnen verlieren durch das Ting den letzten Rest ihrer Fähigkeit zu Empathie. Ist das eine der Einsichten des Schriftstellers Artur Dziuk, dass sich Selbstoptimierung und echte Gemeinschaft niemals vereinen?
Ich würde nicht zustimmen, dass die vier Figuren die Fähigkeit zur Empathie verlieren, vielmehr machen sie von jener seltener Gebrauch. Und das würde ich Personen tatsächlich attestieren, bei denen der Wille zu Selbstoptimierung und Effizienz fest im Mindset verankert sind: Der stete Blick nach innen führt zu weniger Empathie und politischem Bewusstsein. Wer meint, jeder sei seines eigenen Glückes Schmied, der schiebt auch jedes Problem, jedes Scheitern dem Individuum allein in die Schuhe. Auf den Gedanken, dass an negativen Erfahrungen nicht die/der Einzelne, sondern unsere gesellschaftlichen Strukturen schuld sein könnten, kommen viele gar nicht mehr.

Alle vier sind Losgelassene, Verlassene, Vergessene. Selbst die Familie mag nicht mehr zu kompensieren, was durch den Druck der gesellschaftlichen Normen zu bröckeln beginnt. Schon gar nicht die Religion, ausser sie wird zu Selbstzweck und damit der dem Glauben an den uneingeschränkten Fortschritt gar nicht so fremd. Wo sehen sie das Glück in 50 Jahren?
Glück wird es immer geben, auch wenn unsere Welt in 50 Jahren womöglich eine sehr viel unbequemere und sehr viel trostlosere sein wird. Vielleicht liegt ein Problem aber auch in solchen Aussagen. Wenn man sich anhört, wie über gesellschaftliche Veränderungen und Zukunftsperspektiven gesprochen wird, fällt auf, dass wir gänzlich verlernt haben, positive Visionen zu entwickeln, für die es sich zu kämpfen lohnt. Veränderungen werden nur noch angemahnt, um die nächste Krise oder den Totalzusammenbruch abzuwenden. Krisenfetisch schürt zwar Ängste und gewinnt so Wahlen, aber führt aus lösungsorientierter Sicht nur zu Stillstand.

Ihre Gesellschaftskritik blitzt manchmal durch. Lohnt es sich als Schriftsteller, Zurückhaltung zu üben, nett zu sein? In den Lucky Luck Comics reitet der brave Cowboy gegen den Horizont. Aber wenn der Horizont immer mehr wegbricht und es keine Perspektiven gibt, in irgend einer Ferne das Glück zu finden. Ist das Glück nicht unmittelbar da?
Beim Schreiben spielen Aspekte wie «Zurückhaltung» oder «Nettigkeit» keine Rolle. Und schon gar nicht geht es jemandem, die/der ihre/seine Zeit mit dem Schreiben von Literatur verbringt, um «Entlohnung». Vielmehr treibt mich beim Schreiben um, welcher Blick auf die Welt und welche Sprache am besten zwischen Form und Inhalt vermitteln. Darüber hinaus möchte ich in meinen Texten keine pauschalen Aussagen treffen und einseitig verteufeln. Reflektion von Gegenwart ist ein wichtiger Aspekt für mich beim Schreiben, aber Kritik sollte auch positive Facetten zulassen. «Das Ting» ist natürlich alles andere als ein positiver Roman. Aber manchmal denke ich, dass er vielleicht genau das hätte werden sollen. Womit ich wieder auf die positiven Visionen anspiele.

An einer Stelle begegnet Adam jemandem, der ihn als einen der jungen Gründer von Ting erkennt. Er schiesst von sich und Adam ein Selfie und fragt ihn, ob er für einen Studenten wie ihn einen Tipp hätte. „Du musst 70 Stunden in der Woche arbeiten, alle zwischenmenschlichen Beziehungen ignorieren, die dir nicht nützen und Erfolg zum einzigen Massstab deines Lebens machen.“ Eine Antwort, die von vielen mit Zeigefingern unterstrichen wird. Und Ihr Tipp?
Ich würde es vorziehen, mich mit direkten Ratschlägen zurückzuhalten. Aber ich freue mich natürlich über LeserInnen, die bei der Lektüre von «Das Ting» etwas für sich mitnehmen können. Und sei es bloss eine gute Zeit.

© Gunter Glücklich

Artur Dziuk wurde 1983 in Polen geboren. Er studierte in Berlin und machte den Master of Arts im Literarischen Schreiben an der Universität Hildesheim. Er gilt als eines der neuen jungen literarischen Talente: 2013 war er Finalist beim 21. open mike. Er erhielt verschiedenste Stipendien und nahm an der Schreibwerkstatt der Jürgen Ponto-Stiftung teil. «Das Ting» ist sein Romandebüt. Heute lebt er in Hamburg.

Beitragsbild © Sandra Kottonau

Kai Weyand «Die Entdeckung der Fliehkraft», Wallstein

Karl unterrichtet Sträflinge im Gefängnis. Obwohl er der ist, der nach ein paar Stunden das Gefängnis verlassen kann, fühlt er sich in seinem Leben gefangen. Eines Nachts bricht er aus seinem Gefängnis aus und schneidet in seinem Zorn gegen alles Unnötige eben den Stoff durch, der einen anderen vor dem Fallen schützen soll und ist mit einem Mal nicht nur gefangen, sondern verloren.

Karl ist verheiratet und Vater eines kleinen Jungen. Karl ist sich nicht mehr sicher, ob er seine Frau Lydia noch liebt. So sicher ist sich auch Lydia nicht, denn Karl wird seltsam, sein Leben immer mehr eine Anhäufung von unerklärbaren Andeutungen, ihre Ehe ein Grabenkampf im Dauerbeschuss von Missverständnissen und Fehlinterpretationen. Karl liegt nachts wach neben seiner Frau, sieht den Rücken, der einst Zentrum aller Sehnsucht war und jetzt nur noch die abgewandte Seite seiner Frau. Er fährt zur Arbeit in die Strafanstalt zu all den schweren Jungs, liest Gedichte von Rilke und stellt Fragen, die die tätowierten Männer mit Armen so dick wie Autoreifen aus der Reserve locken. Bis ihm einer der Häftlinge ein Bündel Papier in die Hand drückt, einen langen Brief, in dem er erzählt, wie er im Krieg mit einem Orden für sein Töten belohnt wurde und in Deutschland mit 15 Jahren Zuchthaus, weil er seine Schwester vor den Misshandlungen ihres Ehemannes bewahren wollte.

Karl ist gefangen. Er bringt einen Strauss weisse Tulpen mit nach Hause, schenkt unterwegs der Mutter aus der Nachbarschaft, die wie immer mit dem kleinen Homer an ihm vorbeigeht, eine Tulpe, weil der kleine Junge es will, streckt die sechs verbliebenen seiner Frau hin, die interpretiert, dass man etwas sagen will, wenn man sechs statt sieben weisse Tulpen schenkt. Und weil er diese Nachbarin dann auch noch mitten auf der Strasse umarmt und diese weint, versteht Lydia gar nichts mehr, schon gar nicht, weil Karl ihr zu verstehen gibt, es zu erklären sei zu kompliziert. Aber zu dem Zeitpunkt ist Karl nicht mehr bloss gefangen, sondern verloren. Verloren in den Konsequenzen seines Tuns, verloren in einem immer intensiver werdenden Austausch übers Smartphone mit einer Frau, die er gar nicht kennt. Einer Frau, der er all jene Fragen zu stellen traut, in denen er sonst eingeschlossen bliebe. Einer Frau, die in so sehr in Bann zieht, dass sich das, was zwischen ihm und seiner Frau geblieben ist, immer mehr relativiert. Verloren, weil Karl es versäumt, es nicht bloss geschehen zu lassen.

Kai Weyand schreibt von der Liebe, jenem zarten Fluidum, dass sich allzu leicht verflüchtigt, selbst dann, wenn man es institutionell festzuhalten versucht. Wie einem die Liebe den Kopf verdrehen kann, wie der Ausbruch aus einem Gefängnis zu unsäglichem Verlorensein führen kann. «Die Entdeckung der Fliehkraft» ist geschrieben mit der Erkenntnis, dass es Halt braucht, dass man sich so sehr in den Strudel unkontrollierbarer Ereignisse hineinmanövrieren kann, dass die Folgen katastrophal sein können.

Kai Weylands Roman ist wie ein Zug, dessen Lokführer abgesprungen ist. Allein schon durch die Wucht der Geschehnisse erhöht sich das Tempo immer mehr und ein Ende ohne Schrecken ist unabwendbar. Die Lunte brennt. Und nicht einmal der, der sie entfacht, ist in der Lage, sie zu löschen.

© Dorothee Wetzel

Ein Interview:

Auf der einen Seite eine Ehe, die in Gewohnheit, Alltag, Routine und sich türmenden Missverständnissen erstickt, auf der andern Seite eine Frau, die er nicht kennt, der er schreibt, Fragen stellt, auf die er sonst nicht einmal käme, der er Dinge erzählt, von denen er erst beim Schreiben merkt, wie wichtig sie werden. Ist nicht einfach die Langzeitbeziehung ein Ding aus der Vergangenheit? Nicht einmal das gemeinsame Kind zuhause rüttelt Karl zurück. 

Ich denke nicht. Wenn wir uns verlieben, fangen wir an zu träumen und der Traum ist ja, dass das, was man erlebt, möglichst lange halten möge. Eine Langzeitbeziehung ist also das, was wir uns wünschen. 

Aber Karl und Lydia passiert, was in vielen langjährigen Beziehungen passiert: sie vergessen, was einmal gewesen war, dass die Gegenwart mal Zukunft gewesen war, also etwas, was sie sich mal in leuchtenden Farben ausgemalt hatten. Im Strudel der Alltagsbewältigung haben sie aufgehört, die guten Zeiten der Vergangenheit lebendig zu halten. Sie haben aufgehört, sich gemeinsam zu erinnern und damit dem langsamen Zerfall des Beziehungsfundaments Vorschub geleistet. Statt gemeinsam haben sie angefangen, sich allein, jeder für sich zu erinnern. Aber wenn man sich alleine für sich erinnert, besteht die Gefahr, dass das blasse Licht der Gegenwart auch die Vergangenheit blass färbt, und auf einmal denkt man, ach, vielleicht war die Beziehung ja noch nie so richtig toll. Dann verliert die Erinnerung den Kern von Wahrheit und wird zur Bestätigung des eigenen Gefühls. Damit das nicht passiert, braucht es das gemeinsame Erinnern. Das gemeinsame Erinnern ist das Gespräch für die Zukunft.

Sie filetieren die Beziehung zwischen den Eheleuten Karl und Lydia mit messerscharfem Blick. Aber auch jene zwischen Karl und seinem stumm gewordenen Vater im Altersheim. Je näher die Menschen, desto länger der Weg?

Ich glaube, da ist etwas Wahres dran. Vielleicht liegt es an Folgendem: Der Mensch, der weiter weg ist, kann erobert werden, der, der uns nah ist, muss gehalten werden. Das sind zwei verschiedene Bewegungen.

Der Schwung, nach dem wir Menschen uns sehnen, erfahren wir in der Eroberung. Da ist Tempo, wir fliegen mit wehenden Fahnen voran, spüren uns in der Bewegung, das ist etwas Wunderbares. In der Eroberung liegt ein Versprechen. Möglicherweise ist man einem Schatz auf der Spur. Das Nahe kennen wir bereits, haben wahrscheinlich schon entdeckt, dass nicht alles Gold ist, was einst verlockend geglänzt hat. Ob wir jetzt noch etwas Neues entdecken, ist ein großes Fragezeichen, und die Erkundung ist mühsam, weil man erstmal seine bereits gesammelten Urteile beiseite schieben muss. 

Das Halten erfordert Kraft und Ausdauer. Und wenn das, was man hält oder zu halten versucht, nicht mit den besten Erinnerungen versehen ist, muss man sich währenddessen noch mit der Frage auseinandersetzen, warum man das eigentlich macht. So geht es Karl mit seinem Vater. Er besucht seinen Vater im Altersheim, aber warum eigentlich, weiß er nicht. Ob es sich lohnt, etwas zu halten, was schwer ist, kann einem ja keiner sagen.

Homer dagegen, der kleine Junge aus der Nachbarschaft, dem Karl immer wieder einmal begegnet und der ihn in Rätsel und seine ungefilterte Ehrlichkeit verstrickt und Karoline, die Frau, der Karl schreibt – beide sind weit weg, scheinen Karl aber viel mehr in seinem Herzen zu berühren. Aber ob weit entfernt oder eigentlich doch so nah – Karl scheitert an Beziehungen. Nicht so bei seiner Arbeit im Gefängnis, beim Unterrichten der Gefangenen, einer Klientel, die nicht weglaufen kann, bei der er es meisterhaft versteht, Nähe und Distanz zu dosieren. Warum scheint im Beruf so einfach, was bei den Nächsten so schwer fällt?

Die Rolle im Beruf ist klarer definiert, in der Regel haben wir ein Aufgabenspektrum, das wir zu bearbeiten haben und für das wir Qualifikationen erworben haben. 

Welche Qualifikationen in einer Beziehung von Nöten sind, muss ja immer neu verhandelt und erspürt werden. Manchmal redet man, obwohl man zuhören sollte, und dann redet man noch das Falsche. Schwupps sind schon zwei Minuspunkte auf dem Konto, und die Nähe, die man herstellen wollte, hat auf einmal zu einer großen Distanz geführt. Arbeitskollegen können uns nerven, aber Partner können uns in den Wahnsinn treiben, positiv und negativ: Himmel und Hölle. Unsere Sehnsucht nach Nähe oder Distanz ist abhängig von so vielen. Morgens wünschen wir uns Nähe am Abend und dann läuft der Tag so verquer, dass wir abends nur noch unsere Ruhe haben wollen. Beim Partner ist es möglicherweise andersherum. Das richtige Distanz-Nähe-Verhältnis ist so selten, wie Tage mit der richtigen Wohlfühltemperatur, meistens ist es zu warm oder zu kalt, gerade noch war der Wind erfrischend und auf einmal ist es zu kühl.

Sie arbeiteten selbst als Lehrer im Strafvollzug. Als Lehrer baut man sich eine Aura, ein Image. Sei es im Umgang mit Kindern oder Erwachsenen. Einer dieser Sträflinge im Roman schreibt auf eine Frage, die im Unterricht gestellt wurde, ob man das Gefühl habe, zurecht im Gefängnis zu sein, Karl einen Brief. Ihre Rolle als Lehrer im Strafvollzug muss eine ganz spezielle gewesen sein. Sie waren nicht Angehöriger, nicht Bewacher. Wird man Vertrauter?

Vertrauter war ich nie, wollte ich auch nie sein, das wäre mir zu intim gewesen. Ich wollte nicht über meine Rolle als Lehrer hinaus und möglicherweise falsche Erwartungen wecken. Aber ich wollte zeigen, dass ich vertrauenswürdig bin, dass meine Worte und mein Handeln keinen doppelten Boden haben. Lernen funktioniert meines Erachtens über Beziehung. Das ist in einem Gefängnis nicht anders, als in einer normalen Schule. Der Respekt, den ich den Menschen entgegengebracht habe, das Interesse an ihnen und die Leidenschaft im Unterricht waren ehrlich und nicht gespielt. Dennoch ist man als Lehrer ein Stück weit auch Schauspieler. Das Lernen braucht auch Unterhaltung, aber die Wahrheit hinter dem Spiel muss immer ersichtlich und glaubhaft sein.  

Karl macht sich schuldig. Im Roman in mehrfacher Hinsicht. „Er entfernt Gitterstäbe“. Eine Schuld, die wahrscheinlich ungesühnt bleibt, die Karl mittragen wird. All die schweren Jungs im Knast sitzen Jahre ab für eine ihnen zugeschriebene Schuld. Auf welcher Seite der Gitterstäbe liegt die Freiheit?

Die Schuld ist natürlich ein Gefängnis, auch wenn man nicht im Gefängnis sitzt, und umgekehrt gilt es auch; man kann sich frei fühlen hinter Mauern. Die sehr schöne 4. Strophe des Liedes „Die Gedanken sind frei“ drückt das sehr gut aus. 

Und sperrt man mich ein
im finsteren Kerker,
das alles sind rein
vergebliche Werke;
denn meine Gedanken
zerreißen die Schranken
und Mauern entzwei:
die Gedanken sind frei.

Sophie Scholl hat die Meldodie dieses Liedes ihrem Vater, der wegen hitlerkritischer Äußerungen im Gefängnis saß, auf der Blockflöte vorgespielt. Das ist ein in meinen Augen sehr schönes Bild für das Gefühl von Freiheit diesseits und jenseits der Gitterstäbe. Freiheit ist da, wo man sie fühlt. 

Kai Weyand, geb. 1968, absolvierte ein Studium an der Pädagogischen Hochschule Freiburg. Er arbeitete als Lehrer im Strafvollzug, ist Mitarbeiter einer Sozietät und lebt bei Freiburg. Sein 2015 erschienener Roman «Applaus für Bronikowski» wurde in die Longlist für den Deutschen Buchpreis 2015 aufgenommen.

Beitragsbild © Sandra Kottonau

Peter Weibel «Schneewand», edition bücherlese

Warum setzen sich Menschen Gefahren aus? Warum begeben sich Menschen an jene Grenzen, die über Leben und Tod entscheiden können? Was passiert in solchen Grenzsituationen? Ist es die Sehnsucht nach der ultimativen Nähe? Peter Weibel nimmt mich in der Erzählung «Schneewand» hinauf auf einen Berg, mitten in einen Sturm, ins unsägliche Weiss tagelangen Schneetreibens. Warm anziehen!

Myriam ist hoffnungsvolle Cellistin mit politischem Bewusstsein, Kathrin Ärztin und Mutter zweier Kinder, Leon Lehrer, immer wieder an der Grenze, an seiner Aufgabe zu zerbrechen. Sie sind alle nah dran, jeder auf seine Art.

«Der Schnee war nie so gewesen. Nie wie der Schnee an diesem Morgen: Bestürzend, feindselig, fremd.»

Leon kennt die Berge, man vertraut seinem Berggängerurteil. Und als sich seine Wetterbedenken verflüchtigen, machen sich die drei auf den Weg hinauf auf den Berg, in eine Hütte weit oben, in der sie euphorisiert übernachten, um am nächsten Morgen festzustellen, dass sich das Wetter doch nicht so entwickelte, wie vorausgesagt wurde. Es schneit. Und weil es am frühen Morgen nur die Optionen gibt, schnell den Abstieg zu wagen oder in der Hütte abzuwarten, wagen es die drei. Sie trauen sich ins Weisse, stapfen durch den Schnee hinab, um irgendwann festzustellen, dass es ein Fehler war, dass man durch Lawinen, Erfrieren oder einen Absturz das Leben riskiert. Sie kämpfen sich zurück und finden zu ihrem Glück einen Rettungscontainer, der ihnen für einige Tage das Überleben sichert.

«Die Verzweiflung spaltet, weil der Widerstand nicht eindeutig ist, weil es keine klare Antwort darauf gibt.»

Menschen sitzen fest. Ausgerechnet in der Weite der Natur wird einem die eigene Endlichkeit unmittelbar vor Augen geführt. Menschen sitzen fest. Es gibt kein Vor und kein Zurück, keine Entscheidung, nur das Warten und die Hoffnung. Was es zum Überleben braucht, reicht für vier, fünf Tage. Man teilt auf, nicht nur das, was zum Essen bleibt, sondern auch den Schlaf. Um nicht einfach hinüber- und abzugleiten. Man stapft durch den Schnee vor dem Container, jene wenigen Meter hin und her, die einem für eine gewisse Zeit die Wärme in die Glieder zurückgeben.
Aber vor allem stellt man sich Fragen. Die drei im Container in der sich immer weiter ausdehnenden Zeit und ich als Leser, der mir während der Lektüre die Wolldecke bis unters Kinn ziehe. Was bleibt vom Leben?

«… aber es gab keinen Lehrgang für die Ohnmacht auf der Rückseite des Wissens.»

Ganz oben auf dem Berg, ganz weit weg von allem, eingeschlossen in den Schnee sind Myriam, Kathrin und Leon Gefangene. Alle Euphorie ist weg, dafür unter jedem Gedanken nackte Angst. Im Alltag weiss man vielleicht, dass das Leben endlich ist. Aber in Situationen, in denen man unmittelbar mit dem möglichen Ende konfrontiert wird, in denen der Alltag zu einer Erinnerung, einem Traum, zu Sehnsucht werden kann, stülpt sich Innerstes nach aussen. Man beginnt zu fragen, Bilder steigen auf. Myriam beginnt von Siniša Glavašević zu erzählen, jenem jungen Mann, der in Vucovar fürs Radio Geschichten für das Leben schrieb, während draussen Bomben fielen und Häuser explodierten. Leon erzählt von seinem schwindenden Glauben an die Zukunft, dem tiefen Schmerz einer Trennung und Kathrin als Ärztin von einer sterbenden Patientin, gleich alt wie sie, deren Kinder verständnislos am Bett standen.

«Die Worte blieben lange im Raum hängen, wie Eiskristalle … an der offenen Tür, an den Wänden, auf den Kleidern.»

Peter Weibel erzählt knapp und dicht. Mag sein, dass die Erzählung durch seine Gestrafftheit manchmal etwas überladen wirkt. Als ob das Konzentrat von allem im Gegensatz zu dem unendlichen Weiss des fallenden Schnees, dem Heulen und Pfeifen des Sturmes den Lesegenuss überreizen würde. Nichts desto trotz ist Peter Weibel eine mehr als beeindruckende Schilderung einer Extremsituation gelungen, die mich mitzieht bis an die Grenzen der Existenz. Dorthin, wo die wirklich wichtigen Fragen gestellt werden.

Ein kleines Interview mit Peter Weibel:

Eine Erzählung über eine Grenzerfahrung. Drei BergängerInnen eingeschlossen in Sturm und Schnee und die Angst, nie mehr zurück in den Alltag zu gelangen. Je mehr wir von den Gefahren wissen, desto mehr lockt sie. Man springt von Klippen, stürzt sich von Brücken, hangelt sich ungesichert durch den Fels. Warum braucht das der Mensch?
Die Grenzerfahrung. Ihre literarische Gestaltung ist die zentrale Linie des Textes; es gibt dazu einen bedeutenden Satz von Karl Jaspers; Wir werden wir selbst, wenn wir auf Grenzsituationen offenen Auges zugehen. Wir erfahren uns selbst an den Rändern, nicht in der Mitte des Lebens – dabei sind die Grenzsituationen, die uns zu Menschen machen, nicht die gesuchten Grenzsituationen beim Sprung von Klippen oder Brücken – es sind diejenigen, in die wir hineingeworfen werden, ohne sie gesucht zu haben: eine hereinstürzende Katastrophe, eine Epidemie (Camus’ Pest) – oder eben: ein unvorhersehbares Eingeschlossensein in Nebel und Schnee.

Je weiter man sich vom Alltag entfernt, je stärker wird die Sehnsucht nach ihm. Noch ein Paradox?
Die Entfernung vom Alltag und die Sehnsucht nach Alltag in der zu weiten Entfernung von ihm ist ein Paradox – und in dieser Dualität liegt wohl ein Dilemma unserer Existenz: Wir müssen uns von Alltag entfernen können, um ihn zu erkennen – aber wenn wir uns zu weit entfernen (oder entfernen müssen, zum Beispiel durch eine Krankheit), wird das Erkennen zum Schmerz über etwas Verlorenes.

Sie flechten in ihre Erzählung das Schicksal von Siniša Glavašević ein, der während der Schlacht um Vukovar während des Kroatienkriegs von serbischen Freischärlern umgebracht und verscharrt wurde. Oder jenes von Vedran Smailović, der als Cellist von Sarajevo in die Geschichte einging. Hinter diesen beiden, die sich in Grenzsituationen begaben, steht ihr Kampf für die Menschlichkeit. Entsteht der Drang, sich in Gefahr zu begeben durch die Sehnsucht nach Bedeutsamkeit?
Menschen wie Siniša Glavašević und Vedran Smailović (oder Izet Sarajlić, der in den Kriegsbunkern in Sarajevo Gedichte gegen den Krieg auf Papierservietten geschrieben hat) sind die einzigen Helden, die ein Krieg hervorzubringen hat. Sie sind es nicht aus Hunger nach Bedeutsamkeit, sondern weil sie in ihrer Menschlichkeit keine andere Wahl haben (Sisyphos!). Myriam spricht es in der Erzählung einmal aus: Klänge (oder Worte) können die Welt nicht verändern, sie können das Verderben nicht aufhalten – aber sie können die Welt wärmen.

Wir entfernen uns immer mehr von dem, was Leben ausmacht. Ist ihre Erzählung der Versuch, mich als Leser aus meiner latenten Betäubung zu wecken?
Es wäre vermessen, jemanden durch Literatur wecken  zu wollen. Literatur, Sprache ist nicht dazu da, belehren zu wollen – sie ist dazu da, Fragen zu stellen.

Jedem Kapitel ihrer Erzählung sind Zitate vorangestellt. Solche von grossen Schriftstellern, aber auch von solchen, denen das Vergessen droht. Zum Beispiel Walter Matthias Diggelmann oder Ludwig Hohl. Wie fanden sie den Weg in ihre Erzählung?
Die Zitate. Sie sind mir wichtig, weil sie zum Nach-Denken auffordern (im Lektorat haben wir beschlossen, jedem Kapitel ein Zitat voranzustellen). Jedes Zitat soll einen inhaltlichen Kern eines Kapitels vorauswerfen, der im Text zwischen den Zeilen steht. Und natürlich ist es auch eine Hommage an die AutorInnen, die mir alle viel bedeuten. Die meisten verwendeten Texte sind in meinem Kopf gespeichert, einzelne habe ich bewusst auf ihre inhaltliche Botschaft hin gesucht.

Foto © Ayse Yavas

Peter Weibel, geboren 1947, hat Medizin studiert und arbeitet seit vielen Jahren als Allgemeinpraktiker und in der Geriatrie. 1982 erschien ein erster Prosaband «Schmerzlose Sprache», seither veröffentlicht er regelmässig Prosa und Lyrik. Für seine Werke wurde er verschiedentlich ausgezeichnet, etwa mit einem Buchpreis des Kantons Bern für den Erzählband «Die blauen Flügel» (2013), dem ersten Kurt Marti Literaturpreis für «Mensch Keun» (edition bücherlese, 2017) und verschiedenen Essaypreisen. Peter Weibel lebt in Bern.

Rezension von «Der Schmetterling schläft» (Waldgut Verlag) auf literaturblatt.ch

Rezension von «Mensch Keun» auf literaturblatt.ch

Beitragsbild © Sandra Kottonau