Johanna Lier «Wie die Milch aus dem Schaf kommt», die brotsuppe

Selmas Grossmutter, bei der sie aufwuchs, eine starke Frau mit einer Geschichte, über sie sie nie sprach, stirbt. Selmas Sohn verabschiedet sich zu seinem Vater, von dem Selma schon lange getrennt lebt und Selmas Liebe droht endgültig an die Seite einer anderen Frau abzudriften. Ein Leben gerät aus den Fugen und Selma will Antworten auf bohrende Fragen. Eine Reise beginnt.

Johanna las zum ersten Mal in jenem Kanton am Bodensee, in dem ein Teil ihres gross angelegten Romans spielt. Ein Epos über Generationen, ein gewichtiger Roman über das, was den Menschen ruhig werden lässt; über Liebe, Freundschaft, Familie und die Sehnsucht angekommen zu sein. Ein sprachgewaltiges Panorama von der Ukraine, von Israel, von Chile bis nach Donzhausen, einem kleinen Ort unweit des Bodensees.

Aber «Wie die Milch aus dem Schaf kommt» ist auch die Geschichte von Flucht und der Suche nach Herkunft und eigener Geschichte. Selma, der Dreh- und Angelpunkt des Romans macht sich auf die Suche ihrer Herkunft, ihren jüdischen Wurzeln, die sich bis zum Tod ihrer Grossmutter Pauline versteckten und hinter einer Mauer des Schweigens verbargen. «Wie die Milch aus dem Schaf kommt» ist ein Roman über den Versuch einer Assimilation, die nicht einmal mit dem Wechsel eines Namens, nicht einmal mit der Taufe gelingen kann, erst recht dann nicht, wenn sie von einer Obrigkeit oder der feindseeligen Umgebung eingefordert wird. Ein Roman über Hunger und Not in der Ukraine im beginnenden 19. Jahrhundert, über den Kanton Thurgau, der sich aus seinem eidgenössischen Untertanenstatus nach der napoleonischen Neuordnung wiederfinden musste und zwischen Fremdenfeindlichkeit, dem verzweifelten Machthunger einer Kirche und wellenartiger Hungers- und Wirtschaftsnöte zu behaupten hatte. Und es ist der Roman einer zwischen Kartoffelbauern entstehenden Teigwarendynastie, einer Lebensart, die sich nicht mehr so sehr abhängig machen will von der oft entfesselten Natur, von Überschwemmungen, Missernten und anderer Gewalten.

Johanna Lier taucht mit Selma tief in das Gewirr einer feindseligen Vergangenheit. Selma findet nach dem Tod ihrer Grossmutter eine ganze Kiste voller Dokumente, die ihr offenbart, wer ihre Grossmutter wirklich war, woher sie kam und was sie zu der werden liess, die sie bis zu ihrem Tod war; eine unbeugsame, selbstbestimmte, eigenwillige und energische Frau, deren Lebensplan sich wohl nicht so entwickelte, wie sie sich es einmal gewünscht hatte, die aber immer eine Kämpferin blieb. Auch wenn ihre absoluten Äusserungen Selmas Mutter gegenüber, ihrer Tochter, die sich wenige Jahre nach Selmas Geburt absetzte und die Erziehung ihrer Tochter der Grossmutter überliess, vernichtend und endgültig waren. Pauline, früh Witwe geworden, kämpfte, so wie ihre Vorfahrinnen vor ihrer Zeit. Selma erfährt, dass Pauline für  die Rechte von Arbeiterinnen kämpfte, eine Sozialversicherung schuf und als erste in der Schweiz eine Pensionskasse.

Selma begleitet ihre aus der Schweiz ausgewiesene Freundin nach Israel und forscht auch dort nach ihren Wurzeln, interviewt Juden aller Couleur, will wissen, welches Blut in ihren Adern fliesst. Sie fährt mit dem Zug in die Ukraine, besucht jene Orte, die damals der Anfang einer langen Flucht waren, einer Reise voller Strapazen und Anfeindungen, in die sich ein satter Mitteleuropäer kaum mehr hineinversetzen kann.
Aber der Roman ist auch das Protokoll eines verzweifelten Versuchs, Ordnung in ein Leben voller ungestillter Sehnsüchte zu bringen, als Tochter, Mutter, Liebende nicht zu scheitern.

Mit ihrem 500 Seiten Epos hat sich Johanna Lier viel vorgenommen und verlangt von mir als Leser auch einiges ab. Erst am Schluss des Buches heisst es mehrfach «Mehr will sie nicht». Solange Selma sucht, ist sie wie ein Schwamm für alles gewesene und werdende Unglück. Sie versucht Ordnung in ihre Sicht der Welt zu bekommen. Eine Hoffnung, die sich immer wieder in Ängsten und Zweifeln Selmas zerstäubt.

Dass der Verlag die Schriftstellerin als Dichterin bezeichnet, dass «Wie die Milch aus dem Schaf kommt» bei weitem nicht die erste Veröffentlichung Johanna Liers ist, spürt man dem Text an. Johanna Lier lotet den Klang von Wörtern und Sätzen aus. Sie schreibt sich nicht nur in Szenen und Geschichten hinein, sondern tief in die Emotions- und Gefühlswelten der Protagonistin. «Wie die Milch aus dem Schaf kommt» ist ein Tauchgang in die tiefsten Schichten des Lebens.

© Mara Truog

Johanna Lier studierte Schauspiel und absolvierte einen Master of Arts in Fine Arts. Nach jahrelanger Tätigkeit als Schauspielerin lebt sie als Dichterin und freie Journalistin in Zürich und unterrichtet kreatives Schreiben an der Kunsthochschule Luzern.

Webseite der Autorin

Beitragsbild © Bettina Schnerr (Lesung im Eisenwerk Frauenfeld)

Ivna Žic «Die Nachkommende», Shortlist #SchweizerBuchpreis19/10

Die junge, 1986 in Zagreb geborene und in Zürich aufgewachsene Ivna Žic schrieb mit „Die Nachkommende“ einen Roman, der nicht in erster Linie eine Geschichte erzählen will. Ivna Žic erzählt Bilder, die sie aus Vergangenheit und Gegenwart mit sich trägt, Bilder, die mit dem Lesen zu Geschichten werden. So wie ein Grossvater mit einem Mal zu malen aufhört und nie eine Antwort dafür gibt, warum er den Pinsel weglegte, so taucht Ivna Žic als Prosamalerin auf und malt beeindruckend.

© Lea Frei

Eine junge Frau bewegt sich hin und her, von Zürich nach Zagreb, von Zagreb zurück, nach Paris. Aber nicht nur örtlich, sondern auch zeitlich. Zurück in Bildern aus ihrer Kindheit, noch weiter in das familiäre Bewusstsein einer ganzen Sippe. An die Seite eines Mannes, den sie liebte, der sie liebt, aber eine Liebe, die von beiden Seiten nicht hielt, was sie versprach. An die Seite ihrer Grossmutter, der sie als Kind das Wasser in Kübeln vom Meer auf die Veranda brachte und die ihre Füsse darin badete, ohne je einmal wieder mit ans Meer zu kommen. An die Seite des Grossvaters, des rauchenden Deda, der einmal malte, sich in die Erinnerung der Erzählten malte, tief ins Bewusstsein und nie enträtselte, warum er zu malen aufhörte.

„Warum hast du aufgehört zu malen? Es gibt anderes, sagte er dann, irgendwann, immer wieder…“

Ivna Žic erzählt vom Unterwegssein, der Unmöglichkeit, wahrhaftig an einem Ort zu sein oder an der sicheren Seite eines Menschen. Alles wandelt sich, nichts bleibt, wie es ist. Wer dort ist, soll da sein. Sie erzählt vom Verlust von Heimat, der Suche nach ihr, den Verpflichtungen und Rufen einer Sippe, dem Wunsch, ein eigenständiges Leben zu führen, ungebunden und doch irgendwo zuhause zu sein, der Sehnsucht all jener, die sich nach inneren Bildern sehnen, die von der Gegenwart vergessen sind. Die Sehnsucht, sich nahe zu kommen und die Ernüchterung darüber, dass zum andern und gar zu sich selbst unüberwindbare Distanz bleibt.

„… Geschichten der letzten Generationen, die an meinem Körper kleben, dranhängen, als wären sie vergessen, und doch pochen sie jeden Tag, wandern sie jeden Tag mit…“

Die Erzählerin sitzt und liegt nachts im Zug und die ganze Sippe setzt sich im Dunkel des ratternden Gefährts an die Seite der jungen Frau, flüstert, ruft und erzählt. Die Erzählerin sitzt im Bus, 12 Stunden zurück in die Schweiz nach Zürich, ganz nah all den andern, die Geschichten und Bilder mit sich herumschleppen. Von einem Ort zum andern, wie Generationen zuvor, als Kriege und Grenzen Reisen von Süden nach Norden zu Fluchten machten. Von einem Land, das in diesem Jahrhundert mehrfach von Kriegen, verschiedensten Regimen gebeutelt wurde, in ein Land der „eingeschlafenen Körper“.

Die Protagonistin reist hin und her, getrieben von ihr selbst, von unbeantworteten Fragen, verschwiegener Geschichte, dem Gefühl nirgendwo zuhause zu sein. Unvereinbare Welten, die sie auseinanderzureissen drohen. Auf der Grossmutterinsel die stete Frage, wann sie wiederkomme und in der Stadt, in der sie wohnt, die dauernde Frage, ob sie von hier sei.

Ivna Žic erzählt und webt ein Netz in die Landschaft, dessen Bänder sich mit jedem Erzählstrang mehr und mehr zu einem grossen, ganzen Bild zusammenfügen. Sie erzählt wie ein Maler malt, nicht von links oben nach rechts unten, sondern Pinselstrich für Pinselstrich auf der Leinwand der Zeit. Zugegeben, Ivna Žics Prosa entschlüsselt sich nicht von selbst. Sie verlangt von Lesenden einiges ab. Aber wer sich auf die Musik in der Sprache der jungen Schriftstellerin einlässt, die Intensität ihrer Sprache, der wird reichlich belohnt.

«Ein Interview»:

In Ivna Žics Roman „Die Nachkommende“ stellt die namenlose Protagonistin ein paar Fragen an den Schalterbeamten Herr Zlatko.
Fragen, die ich der Autorin stellte:

Warum sind Sie gerade hier und nicht anderswo?
Jetzt gerade bin ich hier, in Zürich, und nicht anderswo, weil ich das Stück GEBROCHENES LICHT am Theater probe. Das schöne am Medium Theater ist: Man muss da sein, hier sein und kann nicht anderswo, es geht nicht digital oder per Mail, es geht nur hier und jetzt.

Warten Sie auf etwas?
Momentan nicht wirklich, die Tage sind voll, wir sind mitten in Endproben und die Première rückt von Stunde zu Stunde näher.

Was oder wer fehlt Ihnen?
Etwas Ruhe zum  Schreiben.

Haben Sie Zeit?
Ich nehme sie mir, jeden Tag aufs Neue.

Hassen Sie?
Nein.

© Lea Frei

Ivna Žic, 1986 in Zagreb geboren, aufgewachsen in Zürich, studierte Angewandte Theaterwissenschaft, Schauspielregie und Szenisches Schreiben in Gießen, Hamburg und Graz. Seit 2011 arbeitet sie als freie Autorin, Dozentin und Regisseurin u. a. am Berliner Maxim Gorki Theater, Schauspielhaus Wien, Luzerner Theater, Theater Neumarkt, Schauspiel Essen, Theater St. Gallen und bei uniT. Žic erhielt für ihre Texte eine Vielzahl von Stipendien und Preisen. Für ihren Debütroman »Die Nachkommende«  wurde sie 2019 sowohl für den Österreichischen Buchpreis als auch für den Schweizer Buchpreis nominiert. Sie lebt in Zürich und Wien.

Illustrationen © Lea Frei

Tim Krohn «Der See der Seelen», Kampa

Vielleicht ist es die Sehnsucht nach dem Unerklärbaren, dem Mythischen, jenen Kräften in der Natur, die einem verblüffen. Vielleicht ist es die Faszination des Sagenhaften, des nur schwer Erklärbaren. Aber vielleicht die Art des Erzählens, dass da einer mit geschmeidiger Sprache und Stimme ganz nah an die Urthemen allen Denkens und Handelns kommt. «Der See der Seelen» ist ein Geschenk!

Schon in seinen früheren Büchern, allen voran «Quatemberkinder» oder «Vrenelis Gärtli», zeigte der umtriebige Schriftsteller Tim Krohn seine Nähe zur Sagenwelt. Und genauso sind in seiner neuen «Alpensaga» Geschichte, Landschaft und Figuren nicht bloss Kulisse und Personal, denn «Der See der Seelen» spielt mit der Klangfarbe jener Geschichten, die das Unerklärliche erklären wollen, dem Ton, ohne in einen antiquierten Singsang zu verfallen. «Der See der Seelen» beschäftigt sich auf 80 Seiten mit den grossen Themen des Lebens; Familie, Liebe, Freundschaft, Tod, zeitlos, in ein Szenario eingebettet, das aus der Zeit gefallen scheint, nicht abgehoben, aber entrückt, nicht weltfremd, aber vielleicht zivilisationsfremd. Vielleicht steckt hier eine der vielen Gründe meiner Faszination; die Sehnsucht nach dem Urtümlichen, dem Nicht-Technisierten, dem einzig von den Naturgewalten Abhängigen.

Niculina lebt mit ihren Eltern auf einem kleinen Hof in den Bergen. Das Leben im Dorf ist hart, die Existenz der Familie von vielem bedroht. Nicht zuletzt von der Krankheit der Nona, Niculinas Grossmutter, die im gleichen Dorf lebt und sich die Medizin, die sie bräuchte, nicht mehr kaufen will und kann. Niculina treibt jeden Morgen die Ziegen hinauf auf die Weiden über dem Dorf. Dort trifft sie Ladina, ihre Freundin, und seit diesem Sommer Peider, den Sohn des einzigen Kaufmanns im Dorf. Peider muss keine Ziegen hüten. Er hütet sein Giki Gäki in seinem sagenhaften Buch, dessen Erklärungen er den Mädchen wie die Wahrheit verkauft. Für Niculina, die durch die Krankheit der Grossmutter, durch den drohenden Tod und die Geheimnisse, die in der Natur verborgen sind nach Antworten sucht, macht sich auf, um im See der Seelen das Lebenswasser zu finden, jenes Wasser, das die Grossmutter unsterblich machen soll. Von geheimnisvollen Doppelwesen geführt bis ins Wolfstal in eine geheimnisvolle Höhle unter dem Piz Spiert.

«Der See der Seelen» ist das Schwesterbuch seiner 2010 bei Galiani erschienen Bergnovelle «Der Geist am Berg». Schon damals spielte die Geschichte an den Flanken der selben Berge. «Der See der Seelen» bezaubert in vielerlei Hinsicht. Geschichte und Sprache vereinen sich zu einem Kunstwerk. Und dass dem Kampa Verlag so viel daran lag, aus diesem Büchlein ein wahres Kleinod zu gestalten, freut den Büchernarren ganz besonders. «Der See der Seelen» erwärmt die Seele!

© Susanne Schleyer

Tim Krohn, 1965 in Nordrhein-Westfalen geboren, wuchs ab seinem zweiten Lebensjahr in der Schweiz im Glarnerland auf und wohnte danach gut zwanzig Jahre lang in Zürich. Inzwischen lebt er mit Frau und Kindern in Santa Maria Val Müstair. Er ist freier Schriftsteller. Er schrieb unter anderem die Romane, z. B. «Quatemberkinder» (1998) oder «Vrenelis Gärtli» (2007), Erzählbände, Theaterstücke und zuletzt die Romane „Herr Brechbühl sucht eine Katze“, „Erich Wyss übt den freien Fall“ (beide 2017), «Julia Sommer sät aus» (2018) und neu bei Kampa die Krimis «Engadin Abgründe» (2018) und «Endstation Engadin» (2019) unter dem Pseudonym Gian Maria Calonder.

Webseite des Autors

Zudem betreibt der Autor zusammen mit seiner Frau und Schriftstellerin Micha Friemel das Haus Parli, ein Schreibort, ein Ort für den kreativen Rückzug, eine Oase der Stille, für (fast) alle offen.

«Bäcker am Ofenpass» eine Geschichte auf gegenzauber.literaturblatt.ch von Tim Krohn

Rezension von «Herr Brechbühl übt den freien Fall» auf literaturblatt.ch

Beitragsbild © Sandra Kottonau

Kirstin Höller «Schöner als überall», Suhrkamp

Im Suff bricht Noah den bronzenen Speer aus der Hand der Athene auf dem Münchner Königsplatz. Und weil Martin dabei ist, immer dabei ist, wenn Noah das Denken einstellt, sitzen die beiden in einem gemieteten Transporter, mit nichts als dem Speer auf der Ladefläche und fahren an den Ort ihrer Kindheit. Kristin Höller schrieb einen Roman voller Dramatik über die Einsicht, dass sich mit dem Erwachsenwerden gar nichts klärt.

Noah hatte Glück. Noah hat immer Glück. Durch Beziehungen kam er in ein Casting zu einem Kinostreifen, ergatterte eine der Hauptrollen, machte Kasse, prangte auf Plakaten, war Liebling auf Partys in der grossen Stadt, bis die Zeit begann, den Ruhm zu fressen und er sich die Leere danach mit einer „Auszeit“ schönredete. Martin ist mitgegangen, weg vom Dorf, weg vom Mief, weil er glaubte, sein Freund wäre das Tor zur Welt, der Schlüssel zu dem, was im Dorf ihrer Eltern verschlossen bleibt.
Und als der Alkohol sie raus aus der Party trieb, wieder eine auf Fischgrätparkett und mit Leuten, die Martin nicht kennt, ein ganzer Pulk durch München schwankt bis auf den Königsplatz, wo Noah ausgerechnet der Göttin der Weisheit, der Strategie und des Kampfes den Speer aus der Hand reisst. Nichts von Weisheit, Strategie und Kampf. Noah mietet einen Transporter, Martin muss mit, der Speer muss weg. „Ich brauch dich“, sagt Noah. Es ist mehr Befehl als Bitte.

Sie fahren in den Ort, den sie vor zwei Jahren verlassen hatten. Den Ort mit dem kleinen Bahnhof, den Reiheneinfamilienhäusern, den Carports, dem Glashaus von Noahs Eltern und dem Wohnsilo, wo Mugo wohnte. Dahin, wo sie ohne Speer nichts hingezogen hätte, das mit Speer aber die einzige Option für Noah schien. Sie versenken das bronzene Ding im Baggersee, unweit vom Ort und rufen nach scheinbar erfolgreicher Beseitigung jene zusammen, die im Dorf geblieben sind. Martin erfährt dabei, dass auch Mugo wieder hier ist, die eigentlich Maria heisst, aber ihren Namen nicht mag, dann viel lieber Mu(tter)go(ttes). So wird aus dem glamourösen Absetzen aus dem Mief der Enge und Biederkeit eine verzweifelte Bruchlandung zwischen Fassungslosigkeit und Ernüchterung.

Martin trifft Mugo im Tankstellenshop mit Käppi und passendem T-Shirt. Sie, die immer Wütende, die Kluge, die Schöne, die wie er wegwollte, von der er wegging, er nach München, sie nach Wien. Mugo, die einzige Frau, deren Küsse nach wirklichen Küssen schmeckten, die ihm die Welt erklärte, die ihm damals schon klarzumachen versuchte, dass er bloss Noahs Anhängsel war. Martin trifft seine Eltern, bei denen die Zeit stehen geblieben ist, wird eingeladen zu einer Party bei Noahs Eltern, bei der der Riss in den Kontinentalplatten aufbricht, aber nur er die Lava darunter sieht, den glutheissen Mief, der nicht nur ihm den Atem nimmt.

Kristin Höller giesst mit Vergnügen Öl ins Feuer, brennt mit sprachlichem Okular, bis es raucht. Ein Roman mit dem Esprit von Wolfgang Herrnsdorfs „Tschick“, wie ein Low-Budget-Film, der dafür umso mehr durch seine Art des Erzählers und die Schauspieler überzeugt. „Schöner als überall“, die Umkehrung von ‚Überall ist es schöner‘ erzählt von der ersten grossen Ernüchterung, den ersten wirklichen Niederlagen, dem Aufwachen, dem Erwachsenwerden. Auch Martins und Noahs Eltern sind Erwachsene, aber umgeben von Fassaden, die das Überleben in all den Kompromissen ermöglichen. „Schöner als überall“ ist das Ende einer Illusion, das Ende einer Freundschaft und der Beginn von tatsächlicher Abnabelung und dem Erkennen, dass man letztlich alleine bleibt.

Ein Buch, das durch einem hindurchzieht wie ein Sturm, maximal unterhaltsam, witzig und mit dem berauschenden Groove einer literarischen Unverbrauchtheit!

Ein kurzes Interview mit Kristin Höller:

Von München weg geht die Fahrt von Martin und Noah vorbei an Fenchelfeldern, von denen der Duft bis weit in die Landschaft hinein wirkt. Fenchel muss eine entkrampfende Wirkung haben, sonst hätte die Intuition Noah nicht automatisch zurück an den Ort seiner Kindheit gebracht. Wer versteckt schon eine „Leiche“ dort, wo man ihn kennt. Martin heilt aber nicht der Fenchel, sondern letztlich die Liebe, auch wenn sie bricht? Steckt da ein Funke Romantik?
Als Romantik würde ich das gar nicht bezeichnen – vielmehr ist es der Glaube daran, dass immer etwas Neues entsteht, wenn Dinge kaputtgehen. Ob es dadurch leichter wird, lässt sich vorher natürlich nicht sagen, aber schon die Veränderung an sich kann sehr befreiend sein. 

Ich staune über den Sog, den ihr Roman während des Lesens entwickelte, obwohl er in seiner Erzählstruktur ganz „einfach“ chronologisch aufgebaut ist. Meist sind Rückblenden in Dialoge eingebaut. Der Roman erscheint, wie in einem Guss geschrieben – war das so?
Es freut mich natürlich, dass sich diese Wirkung einstellt, tatsächlich jedoch ist das Schreiben für mich eine Arbeit wie jede andere auch – es hat sehr viel mit Regelmässigkeit zu tun und damit, es morgens vor neun aus dem Bett zu schaffen. Es gab also keinen Sturm und Drang-artigen Wahn, sondern ganz unspektakulär sehr viele Tage, an deren Ende ich jeweils zwei oder drei gute Seiten hatte.

Eine Schlüsselszene in Ihrem Roman ist die Grillparty in Noahs Elternhaus, einem grossen Glashaus zweier Architekten. Während der Hausherr vor versammelten Gästen den Toast an seine Gemahlin richtet, er durch Berührung den Kontakt zu seiner Frau sucht, bricht diese zusammen und ein Riss öffnet sich, vor dem sich die Partygesellschaft erfolgreich verschliesst. Genau das, was in der grossen Party auf unserem Planeten auch passiert. Ist Ignoranz das Übel?
Ich lasse mich ungern zu einfachen Erklärungen hinreissen. Aber ich denke schon, dass es Martins sehr genaue Beobachtungen waren, die ihn von den anderen Figuren unterscheiden und ihn daher als Erzähler überhaupt für mich interessant gemacht haben. 

Wo lag die Uridee des Romans? War es die Meldung in den Medien 2014 als man Teile des Speers und eine Bronzeschale aus den Händen der Statue am Münchner Königsplatz brach?
Vor Jahren habe ich über Freunde von den Vorkommnissen auf dem Königsplatz erfahren und einen Artikel dazu gefunden. In den Monaten darauf habe ich gemerkt: Das ist eine von diesen Meldungen, die so kurios ist, dass im Kopf direkt eine Geschichte dazu entsteht. Die Ideen haben mich einige Zeit begleitet, bis immer mehr dazu kamen und es irgendwann für einen Roman gereicht hat. 

Kirstin Höller ist Gast an der BuchBasel 2019!

© Heike Steinweg

Kristin Höller, geboren 1996, aufgewachsen in Bonn, studiert seit 2015 Sprach-, Literatur-und Kulturwissenschaften in Dresden. Freie Mitarbeit bei mehreren Zeitungen und Zeitschriften, Artist in Residence beim Prosanova-Festival 2017, Gewinnerin des Publikumspreises und des Preises des Buchhandels beim 10. Poet|bewegt sowie des Preises des Schweizer Literaturfestivals Literaare 2018. Seit Oktober 2017 ist sie Mitveranstalterin von OstKap, der Dresdner Lesereihe für junge Literatur. «Schöner als überall» ist ihr erster Roman.

Beitragsbild © Heike Steinweg/Suhrkamp Verlag

Ocean Vuong «Auf Erden sind wir kurz grandios» Hanser, Gastbeitrag von Karsten Redmann

Eine grössere Vision aus kleinen Dingen

Dieses Buch ist ein sprachliches Kunstwerk. In einer unverbrauchten, genauen Sprache arbeitet sich hier ein Autor an den Gewalten und Zumutungen der Welt ab. Als Briefroman konzipiert, richtet sich der Text an eine Mutter die Analphabetin ist und den langen Brief des Sohnes wohl nie lesen wird. Bereits im zweiten Satz des Romans heisst es: «Ma, ich schreibe, um dich zu erreichen – auch wenn jedes Wort auf dem Papier ein Wort weiter weg ist von dort, wo du bist.»
Der angeschlagene Tonfall ist direkt und trifft den Leser/die Leserin ungeschützt. Emotional aufgeladene Szenen voller Rauheit und Brutalität lösen Szenen voller Schönheit und Zartheit ab. Eine Dringlichkeit, ja Notwendigkeit, ist diesem Buch eigen – sie verstört und reisst mit. Erzählt wird sequentiell, bruchstückhaft – ganz im Sinne des Autors: «Ich erzähle dir weniger eine Geschichte als ein Schiffswrack – die Teile dahintreibend, endlich lesbar.»

Nach der Lektüre von Roland Barthes› «Tagebuch der Trauer» und dem darin stehenden Satz «Ich habe den Körper meiner kranken, dann sterbenden Mutter gekannt», beschliesst der Autor den Brief an die Mutter zu schreiben.
1988 in Saigon geboren, zog Ocean Vuong, vor seinem Romandebüt eher bekannt für seine lyrischen Arbeiten, mit zwei Jahren in die Vereinigten Staaten, in ein Land, das ihn, neben den heiklen Familienverhältnissen in denen er aufwuchs, in vielerlei Hinsicht prägte. Stoff genug für einen gesellschaftskritischen, die Verhältnisse anprangernden Roman mit einer unglaublichen Sogwirkung.
Warum nun aber dieser Text? Diese spezifische Form? Was treibt den Autor an? Ist es Selbstbehauptung? Selbstermächtigung?

Bei der Lektüre spürt man die immense Kraft die von Vuongs Worten ausgeht. Da ist eine Präzision und Tiefe, die beeindruckt. Hier legt einer Schichten frei, Schichten von Gewalt und Krieg und Zurichtung, aber auch von Freiheit und Sehnsucht und Liebe. Insofern ist es wohl eher einen Art Selbsterkundung: Ein Bohren in den Schichten aus denen Welt besteht, Welten bestehen. Es gilt hier vieles freizulegen, Ocean Vuong ist ein wahrer Meister darin. Dabei geht er ganz nah ran, man ist mittendrin, als wäre man Zeuge. In einer beeindruckenden Szene beschreibt er, bzw. sein Alter Ego Little Dog, eine erste Erinnerung an seine Eltern und dass er, Little Dog, erst dachte, dass Mutter und Vater in der Küche nur tanzen würden, sich aber bald herausstellte, dass der Vater die Mutter halb tot prügelte. Man liest Vuongs konzentrierte Prosaszenen mit hoher Anteilnahme, betrachtet die Welt mit den Augen des Kindes, sieht den handgreiflichen Vater direkt vor sich, die Wut in diesem Männerkörper eingeschrieben, verfolgt genau, Schritt für Schritt, wie er von der Polizei abgeführt wird, weil sie seinen blutverschmierten zwanzig Dollarschein nicht annehmen wollen. Diese Polizisten sind zumindest unbestechlich. Immerhin. Auf Abstand kann man hier kaum gehen. Dafür ist zu wenig Raum. Es trifft einen, direkt und hart.

Neben der Gewalt die von Männern ausgeht, sei es im Krieg oder als überforderte Väter, die trunksüchtig und ohne Arbeit ihr Leben im amerikanischen Nirgendwo fristen, spielt die Gewaltbereitschaft und Unzulänglichkeit der eigenen Mutter eine zentrale Rolle im Roman. Nach schmerzlichen Szenen häuslicher Gewaltausbrüche – die Mutter prügelt immer wieder auf den Jungen ein, in der Wohnung, auf der Strasse, die Angst des Jungen übergross, der nicht mehr weiter weiss, und irgendwann auch wegrennt – endet die Gewalt mit seinem Aufbegehren gegen die Mutter und einem Ende der Schläge nach dreizehn langen Jahren. Was bleibt ist eine Mutter, die nicht mehr schlägt, aber Geschlagene bleibt. Als Zugewanderte und Analphabetin steht sie am Rande der Gesellschaft, arbeitet weiterhin bis zur Erschöpfung in Fabriken und Nagelstudios, und kennt nur dieses eine Leben – ein Leben bestehend aus Arbeit und Schlaf. Diese (zugerichtete) Mutter, so schreibt der Autor, ist damit «Zuflucht und Warnung» zugleich. Wie liebevoll, aber auch hilflos diese Mutter sein kann, zeigt Vuong in einer längeren Sequenz; hierbei schildert er den Unfalltod eines geliebten Cousins und das vermeintliche Wiedererkennen dieses Cousins in der New Yorker Subway. Eine Panikattacke befällt Little Dog und er beschliesst umgehend seine Mutter anzurufen. Zuerst sagt sie kein Wort, dann beginnt sie die Melodie von «Happy Birthday» zu summen, des einzigen englischen Liedes, das sie kennt. «Und ich lauschte, das Telefon so fest an mein Ohr gepresst, dass noch Stunden später ein rosa Rechteck in meine Wange geprägt war.»

Neben dem ambivalenten Verhältnis zu seiner Mutter, schildert Vuong, ausführlich und mit grosser Empathie, die Beziehung zu drei weiteren, ihm wichtigen Menschen: Zum einen ist da die Grossmutter Lan, die mit ihm und seiner Mutter in einer viel zu kleinen Wohnung in einem ärmeren Viertel der Stadt (Hartford) wohnt und deren Tod er ebenfalls schreibend im letzten Drittel des Buches zu bewältigen versucht. Sie war es, die ihm Geschichten erzählte. Er war es, der ihr die grauen Haare mit einer Pinzette auszupfte. «Der Schnee in meinem Haar (…) mein Kopf juckt davon. Bist du so gut und zupfst mir die juckenden Haare aus, Little Dog? Der Schnee schlägt Wurzeln in mir.» Die zweite Bezugsperson: Paul, sein Grossvater, ein amerikanischer Soldat, der in Vietnam im Einsatz war, bei dem sich letztlich herausstellt, dass er nicht der leibliche Vater seiner Mutter Rose ist. Dennoch bleibt er für Little Dog der Grossvater, schliesslich hat er nur den einen. Dritte wichtige Person ist Trevor, ein Durchschnittsamerikaner, Sohn eines abgehalfterten Trinkers, zwei Jahre älter als Little Dog und bald nicht nur wichtigster Freund und Begleiter sondern auch über alle Massen Geliebter. Als Vierzehnjähriger lernt Little Dog ihn bei der Arbeit auf einer Tabakplantage kennen. Als Trevor, nach jahrelangem Drogenkonsum, mit zweiundzwanzig Jahren einsam und verlassen in seinem Zimmer stirbt, fühlt sich Little Dog schuldig, hat er ihn doch allein gelassen in all seiner Kaputtheit, Versehrtheit, Verzweiflung. Trevor, unschuldig süchtig geworden – als Jugendlicher verschrieb man ihm wegen eines Knochenbruchs Schmerzmittel (Oxycontin) mit hohem Suchtpotenzial – hat es, wie viele Andere in den USA (Vuong: «Die Wahrheit ist eine Nation unter Drogen…») nicht geschafft zu überleben, und ist damit ein weiteres Opfer der Verhältnisse in einem Land, wo die Chancen auf Glück so ungleich verteilt sind und die Armut so gross.

Ocean Vuong übt harsche Kritik an den sozialen Verhältnissen in den USA. In seinem Roman leuchtet diese Kritik immer wieder hell auf. Er weiss, aus nächster Nähe, wovon er spricht. Viele seiner Freunde sind jung gestorben. Vier an einer Überdosis. Trevor war also keine Ausnahme. Nicht zuletzt geht es Vuong in seinem brillanten Text um den Krieg und das was der Krieg mit Menschen anstellt, welche Traumata zurückbleiben und Menschenleben prägen. Gewalt gebiert Gewalt. Vuong blickt zurück, zurück in eine weit entfernte Vergangenheit, seine eigene Familiengeschichte, den Krieg in Vietnam.

Was die Besonderheit der Sprache angeht: Auf nahezu jeder Buchseite finden sich Formulierungen, die einem deutlich machen, wie beweglich die Sprache Vuongs sein kann, wie nah er den Dingen kommt durch seine gedrechselten Sätze. An dieser Stelle zwei Beispiele für die Kunstfertigkeit dieser Prosa. Bei der Tabakernte heisst es da: «…das Geräusch ihrer Klingen wurde lauter und lauter, bis man sie beim Schneiden keuchen hörte, während die Stiele hellgrün um ihre gebeugten Rücken herabspritzten. Man meinte das Wasser im Innern der Stängel zu hören, wenn der Stahl die Membranen aufbrach, und die Erde färbte sich dunkel, wo die Pflanzen ausbluteten.» Oder wie hier, auf einem Feld, nachdem der Protagonist ein Geräusch (wahrscheinlich ein Tier) gehört hat und diesem nachgeht: «Das Heulen kommt wieder, der Klang tief und hohl, als hätte er Wände, etwas, in dem man sich verstecken kann. Es muss verwundet sein. Nur etwas, das Schmerzen leidet, kann einen Ton hervorbringen, in den man eintreten kann.»

So sehr diese Sprache trägt und so überzeugend die Figurenführung, eine kleine Kritik an diesem Roman soll nicht unerwähnt bleiben. So ist es aus ästhetischen Gründen durchaus nachvollziehbar, dass der Autor seiner Mutter seine elegante Sprache angedeihen lässt, glaubwürdig ist die Figur dadurch bei weitem nicht: «Das Vietnamesisch, das ich spreche, habe ich von dir, eines, dessen Diktion und Syntax nur das Niveau der zweiten Klasse erreichen.» Es ist ein wenig ärgerlich, dass sich hier ein Widerspruch offen zeigt. Doch es bleibt dem Leser/der Leserin überlassen, das zu bewerten.

Alles in allem sticht das Buch aufgrund seiner Klasse und Eigenständigkeit aus der Vielzahl von Neuerscheinungen heraus. Da ist jemand ein Wagnis eingegangen. Für die Kunst. So viel steht fest. Und dafür gebührt Ocean Vuong mehr als Respekt. Dass hier ein Debüt vorliegt, würde man nicht meinen. Ein feines, ein kluges Buch.

Text: Karsten Redmann

Ocean Vuong wurde 1988 in Saigon, Vietnam, geboren und zog im Alter von zwei Jahren nach Amerika, wo er heute lebt. Für seine Lyrik wurde er mehrfach ausgezeichnet, zuletzt u.a. mit dem Whiting Award for Poetry (2016) und dem T.S. Eliot Prize (2017). «Auf Erden sind wir kurz grandios» (Hanser 2019) ist sein erster Roman.

Übersetzt von Anne-Kristin Mittag

Ian McEwan «Maschinen wie ich», Diogenes

Die Sehnsucht des Menschen nach der perfekten Maschine ist gross, nach einem idealen Gefährten, der das Leben leicht macht, von der Erfindung des Rades bis hin zum Computer. Ian McEwan spinnt den Faden noch viel weiter, gibt dem Menschen eine Eva und einen Adam in die Hände, die wie Menschen sein sollen, aber als humanoide Roboter Maschine bleiben. Ian McEwan tut das mit derart bestechender Meisterschaft und stringenter Konstruktion, dass einem bei der Lektüre durchaus schwindlig werden kann.

Als Mary Shelley Anfang des 19. Jahrhunderts Viktor Frankenstein sein Monster erschaffen liess, war dieses über zwei Meter gross und eine wenig liebliche Erscheinung. Adam, einer von 12 männlichen und 13 weiblichen (Evas) Robotern, ist das genaue Gegenteil, wohl im Labor erschaffen, aber von perfekter Gestalt, käuflich zu erwerben, doch nach den Bedürfnissen der jeweiligen KäuferInnen formbar und alles andere als ein Monster. Adam ist äusserlich kaum von einem Menschen unterscheidbar, es schlägt gar ein Puls in ihm, wenn auch nur nachempfunden. Adam lernt, lernt ungeheuer schnell, vernetzt sich mit allem anderen, was elektronisch passiert und soll der Käuferin und dem Käufer als Android nicht bloss Helfer und Begleiter sein, sondern Gesprächspartner und Freund.

Cover der Originalausgabe bei Jonathan Cape

Charlie, schon seit seiner Kindheit fasziniert von künstlicher Intelligenz, den Möglichkeiten von Computern und Algorithmen und leidlich erfolgreich mit Finanzgeschäften über seinen Computer erfüllt sich seinen Traum und ist einer der exklusiven Käufer dieser neuen Errungenschaft, von der sich der Hersteller und deren Entwickler viel erhoffen. Er lässt sich seinen Adam nach Hause liefern, hievt ihn auf einen Stuhl und lässt ihn aufladen. Und weil sich zwischen ihm und seiner jungen, hübschen Nachbarin Miranda schon länger ein mehr als freundschaftliches Verhältnis anbahnt, entschliesst sich Charlie, die «charakterliche Feinjustierung» zusammen mit ihr vorzunehmen. Adam erwacht und wird zu Charlie und Mirandas gemeinsamen Projekt. Ein Wesen, das sich anfangs nur ganz vorsichtig in Charlies vier Wänden physisch und intellektuell bewegt, das sich aber immer mehr in das Leben der beiden Nachbarn einmischt. Adam macht nicht nur die Küche und faltet Wäsche. Adam kommuniziert, interagiert, stellt Fragen, stellt in Frage, so sehr, dass sich Charlie gezwungen fühlt, einmal den Notfallknopf am Hinterkopf zu drücken und ihn abzuschalten. Eine Aktion, die ihm kein zweites Mal gelingt, denn Adam lernt schnell und zu seinem Lernen gehört schmerzhafte Autonomie.

Ian McEwan genügte es aber nicht, ein Kammerspiel zwischen drei AkteurInnen zu schaffen. «Maschinen wie ich» ist eingebettet in ein Grossbritanien von 1982, von Margrit Thatcher regiert, einem Land, das eben den Falkland-Krieg verloren hatte, eine Welt, die dank der genialen Forschung von Wissenschaftlern wie Alain Turning (den es wirklich gab, den Ian McEwan aber 1954 nicht sterben lassen wollte, den er bis in seine Gegenwart weiterhin an seinen Forschungen arbeiten lässt) Internet, Mobilphones und selbstfahrende Autos längst zur Selbstverständlichkeit machte. McEwan verbindet Fiktion mit Realität so absolut überzeugend, dass spürbar wird, mit welcher Lust der Autor sich wohl immer wieder die Frage stellte, wie es hätte sein können, wenn…

«Die Gegenwart ist ein unwahrscheinliches, unendlich fragiles Konstrukt. Es hätte anders kommen können.»

Aber selbst das Drama von Personen und erfundener Gegenwart, wachsender Verflechtung der drei Protagonisten, Charlie kommt durch Adams Geschick zu Geld, Adam verliebt sich in Miranda, Miranda schliesst einen Jungen in ihr Herz und britischer Schockstarre nach einem verlorenen Krieg und dessen Auswirkungen auf Politik, Gesellschaft und Wirtschaft genügen dem Autor nicht. Ian McEwan stellt Fragen, Fragen durch das Tun seiner Figuren, denn obwohl die Roboter perfekt zu sein scheinen, gar menschliche Gefühle entwickeln können und ihr Tun im Vergleich zum Menschen mit absoluter Konsequenz verfolgen, begehen die ersten Evas und Adams schon nach kurzer Zeit digitalen Suizid. Was macht Menschlichkeit aus? Sind es die Gefühle oder viel mehr die Fähigkeit Unübersehbares auszublenden? Wo liegt die menschliche Überlegenheit der perfekten Maschine gegenüber wirklich? Beseitigen solche Maschinen die von Menschen angerichteten Probleme wirklich?

Ian McEwan Meisterwerk ist facettenreich, durchsetzt von derart viel Liebe zum Detail, von Fachkenntnis, überraschender Wendungen und kluger Erzählweise, dass die Lektüre trunken macht. Und wenn man die Kadenz seiner Veröffentlichungen, den Tiefgang, mit der der Autor in seine Themen eintaucht und die Leichtigkeit seiner Erzählweise betrachtet, katapultiert das die Bewunderung für diese Buch und das Werk dieses Schriftstellers in schwindelnde Höhen.

«Menschen wie ich» ist viel mehr als ein Roman, der perfekt unterhält!

© Annalena McAfee

Ian McEwan, geboren 1948 in Aldershot (Hampshire), lebt bei London. 1998 erhielt er den Booker-Preis und 1999 den Shakespeare-Preis der Alfred-Toepfer-Stiftung. Seit seinem Welterfolg «Abbitte» ist jeder seiner Romane ein Bestseller. Zuletzt kamen Verfilmungen von «Am Strand» (mit Saoirse Ronan) und «Kindeswohl» (mit Emma Thompson) in die Kinos. Ian McEwan ist Mitglied der Royal Society of Literature, der Royal Society of Arts und der American Academy of Arts and Sciences.

Webseite des Autors

Der Übersetzer Bernhard Robben, geb. 1955, lebt in Brunne/Brandenburg und übersetzt aus dem Englischen, u. a. Salman Rushdie, Peter Carey, Ian McEwan, Patricia Highsmith und Philip Roth. 2003 wurde er mit dem Übersetzerpreis der Stiftung Kunst und Kultur des Landes NRW ausgezeichnet, 2013 mit dem Ledig-Rowohlt-Preis für sein Lebenswerk geehrt.

Simone Lappert «Der Sprung», Shortlist #SchweizerBuchpreis 19/7

In Simone Lapperts Roman „Der Sprung“ geht es vordergründig um eine Frau auf einem Dach. Hinausgedrängt aus ihrem Leben droht sie zu springen und alle um sie herum sehen die Frau, die sich das Leben nehmen will. Aber „Der Sprung“ meint wohl viel mehr jenen Sprung, den ein Leben macht, wenn verschiedene Leben ineinander verwoben mit einem mal einen Kulminationspunkt erreichen. Wenn die Zeit springt. Wenn man sich vom Trauten ins Unbekannte wirft, wenn einem die „Umstände“ aus der Schiene springen lassen.

© Lea Frei

Es ist Sommer und die Stadt kocht. Menschen überall. Und wenn sich irgendwo eine Sensation anbahnt, man die Handys zückt, stehen bleibt und glotzt, wenn Sirenen die heisse Luft und sich Gaffer den Mund zerreissen, wenn eine hoch oben auf dem Dachfirst steht und mit Ziegeln schmeisst, nicht einmal Polizei, Absperrgitter und Krankenwagen den Mob verdrängen können, dann verweben, verstricken, verknoten sich Schicksale, klaffen Leben auseinander, bohrt sich der Moment tief in den Nerv.

Simone Lappert, die schon mit ihrem Erstling „Wurfschatten“ (Literaturblatt 21) überraschte und überzeugte, legt mit ihrem zweiten Roman ein Buch vor, das in seiner Erzählweise wie ein Episodenfilm funktioniert. Voneinander unabhängige oder bloss durch Zufall mehr oder weniger verknüpfte Geschichten verweben sich zu einem Ganzen. Ein Konstrukt, das Simone Lappert mit viel Feingefühl und Empathie zu komponieren wusste, das überzeugt und in seiner Leichtigkeit und Feinmaschigkeit den Eindruck erweckt, als wären der Autorin die Ideen zugeflogen. Was passiert, wenn mit einem Mal, wenn von einem Augenblick auf den nächsten nichts mehr so ist, wie es einmal war? Wenn ein altes Leben nicht einfach wieder aufgenommen werden kann, wenn Konsequenzen unvermeidbar sind, wenn aus dem Schreck ein Erwachen wird?

Eine junge Frau in Gärtnerkleidung hält einen Tag und eine Nacht eine ganze Stadt in Atem. Springt sie oder springt sie nicht? Wer ist die Frau, die tobt und schreit, die  Dachziegel schmeisst und auf keine Beschwichtigungsversuche reagiert?
Ein ganzer Reigen von Figuren reagiert: Felix, ein junger Polizist, psychologisch geschult, wird an den Ort gerufen, weg von seiner schwangeren Frau und dem

© Lea Frei

wachsenden Riss, der ihn von seiner werdenden Familie entfernt. Finn, den ein Auftrag als Fahrradkurier durch Zufall auf den menschenverstellten Platz führt, der erst seit kurzem Manu kennt und geblendet von seiner jungen Liebe nicht verstehen kann, warum die junge Frau auf dem Dach dieselbe ist. Egon, den das Leben abdrängte, der im kleinen Lokal an der Ecke mit seinem Fernglas das Geschehen bloss noch aus der Ferne betrachtet und fast vergessen hat, wie nah er dem Geschehen ist. Theres, die alt geworden zusammen mit ihrem abgedrängten Mann den Laden um die Ecke am Laufen zu halten versucht und sich für einen Tag kaum mehr retten kann vor dem Ansturm der Gaffer auf ihr kleines Lebensmittelgeschäft. Oder Maren, die ihren Mann, der in seinem Fitness-, Ernährung- und Reinlichkeitswahn seit seinem 40. Geburtstag in vielerlei Hinsicht nicht mehr erkennen kann und durch den Trubel und die Polizei von ihrer Wohnung ausgeschlossen ist.

Alle sind sie auf dem Sprung, genötigt durch die Frau auf dem Dach. Sie alle werden durch den Zwang des Geschehens aus der Bahn katapultiert, in einen neuen Zusammenhang gezwängt. Es gibt kein Zück mehr. Nicht für Felix, den Polizisten, der sich seinem Alp stellen muss. Nicht für Finn, den Freund der jungen Frau auf dem Dach, dem klar wird, dass Fassaden die Wirklichkeit verstellen. Nicht für Egon, der glaubte, das Leben sei gelaufen. Nicht für Theres, die sich fürchtet vor dem Ende mit Schrecken. Und all die andern.

Schon verblüffend, mit welcher Routine und Tiefe Simone Lappert erzählt! Eine Autorin, die den Moment derart detailreich auffächern kann, die keine Nabelschau zelebriert, mich als Leser in ihrem Detailreichtum überzeugt und mich bis zum Schluss atemlos lesen lässt. Wie sie einen feinen Erzählteppich vor mir auslegt! Wie sie mit Ideen verblüfft, mit Vielfalt und Empathie!
Was für ein Vergnügen!

© Lea Frei

En Interview mit Simone Lappert:

Schon dein erster Roman hat mich überzeugt, dein neuer noch mehr. Ich staune über die Gewandtheit, die Sicherheit, mit der du erzählst, wie feinmaschig das Gewebe deines Romans ist. Was reizte dich an dieser Art des Erzählens?

Der Roman greift fiktionalisierend ein Ereignis auf, welches ich vor ein paar Jahren mitbekommen habe, das mich sehr erschüttert und nachhaltig beschäftigt hat. Um die betroffenen Personen zu schützen und den erfundenen Figuren Freiraum für ein Eigenleben zu ermöglichen, habe ich jedoch nur die Grundkonstellation der Situation beibehalten: auf der einen Seite eine exponierte Person, die mehrere Stunden auf einem Dach zubringt, auf der anderen Seite Schaulustige und Einsatzkräfte, die zu einer Überforderungsdynamik beitragen und sich auf je eigene Weise mitschuldig oder eben auch mit-unschuldig an den Ereignissen machen.

Ich konnte damals mit einer Angehörigen sprechen und fand die Brutalität der Situation einschneidend: Angehörige, die ungefiltert mitbekommen, was über eine geliebte Person gesagt wird, von „spring doch“, bis „so jemanden sollte man erschiessen“. Es hat mich interessiert, mit den Mitteln der Fiktion zu fragen, wer diese Menschen sein könnten, die da unten stehen, was in ihnen vorgeht. Es war vor allem die Frage danach, wie es als Gesellschaft um unsere Empathie bestellt ist, wie wir mit Menschen umgehen, die aus der Reihe tanzen, sich ausserhalb einer gefühlten Norm verhalten, die mich dabei umgetrieben und den Schreibprozess am Roman begleitet hat, die Frage schwingt für mich unter dem Text mit.

Jede deiner Figuren mit der jeweiligen Geschichte, wäre Stoff genug gewesen für einen Roman. Sei es Felix der Polizist, den ein Trauma aus seiner Kindheit blockiert. Sei es Finn, der durch die Liebe zu einer ganz und gar kompromisslosen Kämpferin den Tritt verliert. Sei es Theres, die Frau von Werner, die kinderlos den kleinen Laden um die Ecke führen wie ein leckgeschlagenes Schiff, den Untergang gewiss. Wuchs der Roman und dehnte sich aus oder hast du an der Peripherie zu erzählen begonnen, an den Rändern der Geschichte?

Die Idee einer quasi stummen Protagonistin entstanden, die auf dem Dach Dreh- und Angelpunkt der Geschichte ist, entstand nach und nach, die Figuren, die unten stehen, haben sich aus der Grundkonstellation des realen Ereignisses ergeben, sie sind aber alle fiktiv. Einige waren von Anfang an da, etwa Finn, Manus Freund oder Felix, der Polizist, andere sind erst später hinzugekommen oder haben sich gar in den Text eingeschlichen, zum Beispiel Egon, der Hutmacher, der war eigentlich gar nicht geplant. Manche Geschichten habe ich am Stück geschrieben, um zu sehen, wohin die Figuren mich mitnehmen, andere sind darum herum gewachsen. Das ist das Schönste beim Schreiben: wenn die Figuren ein Eigenleben entwickeln, mich überraschen und meine Pläne durchkreuzen. Wichtig war mir aber von Anfang an, nicht vollkommen aufzulösen, was Manu aufs Dach getrieben hat, damit man sich als LeserIn nicht in die Beruhigung einer Erklärung zurückziehen kann. 

Eine der Figuren in deinem Roman ist Henry, ein in die Jahre gekommener Obdachloser, der den Leuten für ein paar Münzen Fragen verkauft. Du stellst mit deinem Roman ganz viele Fragen. Fragen wie: Was braucht es, dass man Konsequenzen zieht? Henry verkauft Zettelchen mit Fragen wie: Wann und warum hast du zum letzten Mal geweint? Was tröstet dich? Müssen Geschichten, Romane Fragen beantworten?

Ich glaube, sie sollten viel eher Fragen stellen, Fragen, die hängen bleiben, zum Denken und Überdenken anregen. Jedenfalls habe ich beim Schreiben immer viel eher das Gefühl, eine Fragenauslegeordnung zu machen, mich präziser und tiefer in die Fragen hineinzuschreiben, die Schreibanlass waren, sie im besten Fall greifbarer zu machen.

Du bist Lyrikerin und stehst, soweit ich weiss, kurz vor deiner Erstveröffentlichung in dieser Sparte. Wie weit hilft dir als Romanautorin das Talent der Lyrikerin?

Letztendlich sucht sich der Text seine Form, aber ob ich nun Prosa oder Lyrik schreibe, ich schreibe immer auch mit den Ohren. Der Klang eines Wortes, der Rhythmus eines Satzes, das sind wichtige Inhaltsträger. Ein Text ist für mich immer auch ein Klangkörper. 

Du schilderst viele Gegensätze; die Arbeit eines Polizisten und jene seiner Frau, die schwanger ist, ein Spagat zwischen der Brutalität der Gesellschaft und eine „Parallelwelt zischen Lavendel und Hirsekissen“, der schreiende und gaffende Mob und die zerbrechliche Welt deiner ProtagonistInnen, die wütende, junge Frau auf dem Dach und die Verzweiflung in einer Existenz. Wie sehr reizen dich Gegensätze? Und wie sehr muss man als Autorin aufpassen, ihnen nicht allzu platt aufzusitzen?

Ich schreibe meistens ohne vorgefertigtes Konzepte. Mich interessieren Menschen, Risse, Kippmomente, warum jemand tut, was er oder sie tut. Die Gegensätze, die du ansprichst, sind aus der realen Grundkonstellation und aus den Figuren heraus entstanden. Sich in eine Figur hineinzufragen, hineinzuschreiben, ist manchmal ein bisschen, wie im echten Leben jemanden kennenzulernen. Man hat ein Bild, eine Vorstellung, vielleicht auch Vorurteile. Und je näher man jemandem kommt, desto komplexer wird das Bild der Person, mit all ihren Abgründen und Feinheiten. Mir ist es wichtig, meine Figuren nicht zu verspotten oder als Schablonen für vorgefertigte Meinungen zu benutzen, ich versuche, ihnen mit Respekt zu begegnen, gerade auch, um Plattitüden zu vermeiden.

Meine Henryfrage: Was macht dich wirklich glücklich?

Wach und im Moment zu sein. Und zur Zeit die Begegnungen mit den LeserInnen auf der Lesereise.

© Lea Frei

Simone Lappert (1985) studierte Literarisches Schreiben am Schweizerischen Literaturinstitut in Biel, sie lebt und arbeitet als freie Autorin in Zürich und Basel. 2014 erschien ihr Romandebüt Wurfschatten (Metrolit, Berlin, 2014). Simone Lappert ist literarisch und performativ an diversen Kunstprojekten beteiligt, führt literarisch durch Ausstellungen, zuletzt in der Fondation Beyeler (Alexander Calder und Fischli/Weiss) und in der Kunsthalle Basel (Lynette Yadom-Boakye). Sie ist Präsidentin des Internationalen Lyrikfestivals Basel, Jurymitglied des Basler Lyrikpreises, Mitbegründerin der transdisziplinären Gesprächsreihe Raum für Unsicherheit, war Schweizer Kuratorin für das Lyrikprojekt Babelsprech.International.

Webseite der Autorin

Videointerview

Beitragsbild © Tina Berning (Ausschnitt)

Webseite der Illustratorin Tina Berning

Sonja M. Schultz «Hundesohn», Kampa

Während sich heute Helikoptereltern um die verkannte Hochbegabung ihrer Kinder sorgen und sich Erwachsene unter fachkundiger Leitung gegen teures Kursgeld auf dicken Matten balgen, war und ist das Leben an anderen Orten, die sich nicht einmal einen Steinwurf davon befinden, ein Kampf ums nackte Überleben. „Hundesohn“ ist die Geschichte eines solchen, träf und mit mitreissendem Sound geschrieben, leidenschaftlich und wuchtig!

Sonja M. Schultz macht Musik. Nicht nur wenn sie singt (davon kann man sich unter ihrer Website überzeugen), auch wenn sie schreibt. Und dabei hat ihr erster Roman derart viel Zug, Witz und Gespür, dass „Hundesohn“ vieles vereint: Er ist voller geladener Action, in denen sich die Dinge in Zeitlupe überstürzen und ineinander verhaken, holzschnittartig gezeichnet, wenn die Protagonisten wie Archetypen aus der Geschichte in den Vordergrund treten, eine Achterbahnfahrt, wenn ich als Leser erneut in einen Abgrund gestossen werde, von dem ich nicht weiss, ob es ein Auftauchen gibt.

Herbert nennt sich Hawk, hat den Namen seines Vaters abgelegt, verscharrt und begraben, als er mit fünfzehn von zuhause ausriss, weg von einem Vater, der seine Deutschen Schäfer in den Zwingern besser behandelte wie seinen für ihn missratenen Sohn – einen Hundesohn. Hawk wie seine Mutter, die mit den amerikanischen Besatzern als Schreibkraft hängenblieb und froh war, nicht wieder in die Einöde von Kansas zurückkehren zu müssen.

Hawk kommt nach drei Jahren Gefängnis frei, entschlossen, seinem Leben endlich eine Richtung zu geben, aufzuräumen, Oberwasser zu gewinnen. Aber kaum in der Spur zündet man Miss Stetson an, die Verkörperung dessen, was ein Anfang hätte sein können, mit allem drin, ausser der letzten Versicherung, die im Schliessfach einer Bank lagert. Miss Stetson, wohl in die Jahr gekommen, aber ein echter Alfasund Sprint. Die Polizei behandelt Hawk wie Dreck, ebenso Lu, die in ihrer Bar Les fleurs du mal hinter den Tresen steht und doch einmal seine Braut war, die ganze Welt, denn als er ins Treppenhaus zu seiner Wohnung ganz oben steigt, verrät der Dunst von Benzin und weisse Federn im Treppenhaus, dass oben nichts ist, wie es sein sollte. Seine Wohnung verwüstet, im Sofa steckt ein Messer, mit dem man ‚Bastard‘ in die Polster schnitt.

Die Rache aus der Hamburger Unterwelt? Der lange Arm derer, für die er jahrelang gedient hatte, die Hoffnung auf ihn gesetzt hatten, für die er im ganzen Land herumgekarrt war, den Stoff fliessen liess? Hawk tappt im Dunkeln, weiss nicht, wie ihm geschieht, wie ihm geschah, als Lu ihm den Laufpass gab, wie ihm geschah, als das Leben an der kurzen Leine seines Vaters unerträglich wurde, wie ihm geschah, als man ihn einbuchtete, zuerst im Heim und dann im Knast, wie ihm geschieht, als man ihn krankenhausreif schlägt und er sich bloss mit einem Leintuch bedeckt vor dem Schläger mit Helm und schwarzer Ledermontur retten kann.

„Hundesohn“ ist eine Irrfahrt durch ein verkorkstes Leben, die Geschichte eines Mannes, der nie Schlechtes, nie Böses will, dem es aber nie gelingt, aus einer Spirale von Gewalt, Unglück, Naivität und grossen Träumen herauszuspringen. Das Pech klebt am Leben, nicht nur an seinem, auch an den Leben jener, die untrennbar mit ihm verbunden sind. „Hundesohn“ erzählt von den Nachkriegsjahren in der Abgeschiedenheit eines stämmigen Kriegers aus dem versunkenen Traum eines Tausendjährigen Reiches, der in der verwundeten Pampas weit weg von allem das versucht, was Familie sein soll, bis in den Kietz im Sommer 1989, kurz vor der Wende, von Aufbruch zu Aufbruch.

Sonja M. Schultz erzählt ihren Roman, als würde sie durch den Sucher einer Superacht-Kamera sehen. Ihre Schreibe ist fast dokumentarisch, tief eingetaucht in die Gerüche, den Mief jener Zeit. Grossartig erzählt, von umwerfender Wahrhaftigkeit!

© Sonja M. Schultz

Ein Interview mit Sonja M. Schultz:

Hawk ist ein Looser, und doch nicht nur in seinem Kern „ein guter Mensch“. Beschreiben sie in ihrem Roman eine Welt, die den Schwächeren frisst? Trotz ungebrochenem Lebenswillen, Muskelpaketen und Schlauheit reicht es ihm doch nicht, sein Leben in den Griff zu bekommen. Sehnen wir uns nicht nach Siegern?

Siegende Helden sind langweilig. Dennoch ist die Sehnsucht nach Siegern und starken Helden das Fatale, die grosse Versuchung für uns widersprüchliche, verletzliche, ins Leben geworfene Wesen mit wackeligen Selbstbildern. Hawk hat mit den in ihn eingepflanzten Ideologien von „Härte“ und „Männlichkeit“ zu kämpfen, die ihm den Horizont und das Gefühl vernebeln. Ich hoffe und glaube, er bleibt sympathisch, weil seine Gedankenwelt so durchsichtig, sein Wunsch, Stärke zu zeigen, zum Scheitern verurteilt und auch berührend ist. Weil sein kindliches Selbst immer durchscheint. Weil er nichts schnallt, aber untergründig so viel Potential hätte, empathisch und emotional intelligent zu sein. Hätte Hawk Fussnoten, würden da die Theweleit’schen „Männerphantasien“ auftauchen. Die sind historisch, beschreiben aber nach wie vor auch Teile unserer gegenwärtigen Welt.

Sie sind 1975 geboren. Ihr Roman spielt nach dem Krieg bis 1989, kurz vor der „Wende“. „Damals“, in der ersten Erzählebene des Romans, waren sie 13, haben Telefone mit gekringeltem Kabel, Kassettenrekorder und den Alfasund noch erlebt. Und doch ist jene Zeit im Vergleich zu heute in vielem fast „prähistorisch“, nur schon angesichts der globalen Probleme, die sich uns stellen. Wie tief mussten sie recherchieren? Wie weit vertrauten sie den Bildern in ihrem Innern?

Ich fand es befreiend, von einer Zeit ohne Mobiltelefon, Internet und Datenüberforderung zu erzählen, und es hat Spass gemacht, eigene Erinnerungsbilder und Stimmungen unterzubringen – aber auch biografische Schnipsel anderer Leute. Bilder unserer Vergangenheit sind ja in irgendwelchen Schichten des Hirns sehr präsent und erzeugen beim Hervorholen einen merkwürdigen nostalgischen oder gruseligen Kitzel. Ich habe aber auch jedem Bild hinterherrecherchiert: Wie war das mit den Sirenentests am Wochenende? Wie sahen diese Oldschool-Telefone aus? Was genau war im Care-Paket meiner Mutter? Ich weiss noch: Trabis auf der Reeperbahn. 

„Hundesohn“ bezieht sich auch auf den Vater des Protagonisten Hawk, einen Veteranen aus dem Grossen Krieg, einem, dem Härte und eiserne Konsequenz in Fleisch und Blut übergegangen ist. Ein Prinzip, das im Umgang mit Hunden klappt, aber nicht in einer Ehe und schon gar nicht in der Erziehung. Hawks Kindheit steht im krassen Gegensatz zu vielen heutigen Erziehungsprinzipien, Stichwort Helikoptereltern. Ihr Roman besticht ebenfalls durch „letzte Konsequenz“ – bis zum Schluss. Drängte sich das auf?

Ich weiss nicht, ob ich die Frage verstehe – was ist die „letzte Konsequenz“? Aber interessiert hat mich die intergenerationell weitergegebene Unfähigkeit zu kommunizieren, und mit den eigenen Emotionen umzugehen. Diese verknöcherte, immer weiter fortgepflanzte (oft männliche) Wut. Der diffuse Frust. Die blockierten Körper. Die Helikoptereltern – sind die nicht möglicherweise auf eine kleine, sehr schichtabhängige Blase beschränkt? Und die emotionale Verpanzerung und Unsicherheit ist immer noch am prägendsten für die meisten Menschen? 

Es spielen die wilden 60er und 70er mit, der Kietz, die Unterwelt, das Drogenmilieu. Sie verstehen die Sprache, haben den Sound in sich, den Ton. Ich rieche den Siff, wenn ich lese. Alles wirkt erstaunlich authentisch, auch ihre Schilderungen einer männlichen Innenwelt. Da reicht Recherche nicht. Haben sie in Lokalen in St. Pauli geschrieben? Sich mit dem Sound der Zeit berieselt? Filme aus der Zeit geschaut? Séancen mit Rainer Werner Fassbinder abgehalten?

© Sonja M. Schultz

All das habe ich getan. Wobei das Gespräch mit Fassbinder nicht so ergiebig war, da war, glaube ich, Kokain im Spiel. Aber die Recherchen haben mir unglaubliche Freude bereitet, besonders das Eintauchen ins historische St. Pauli über Fotobände (Anders Petersen), Interviewsammlungen (Hubert Fichte), Filme (Klaus Lemke), linguistische Untersuchungen (Klaus Siewert), um nur einige zu nennen. Auf dem Papier habe ich ein Faible für Siff. Die Reeperbahn ist mir einigermaßen vertraut, weil ich in der Nähe aufgewachsen bin (Schleswig-Holstein), und sie für mich schon, als ich noch Kind war, eine grosse Selbstverständlichkeit hatte. Männliche Innenwelten, behaupte ich, sind mir auch vertraut. Und ich habe Boxunterricht genommen.

Hawk ist einer, der mit sich und seiner nächsten Umgebung zu kämpfen hat. Was in der Welt geschieht, in Zeitungen steht oder auf der Mattscheibe vorgehalten wird, berührt ihn nur am Rande. Das spiegelt sich auch in der Gegenwart, einer Zeit, in der sich viele kaum mehr für tiefere Zusammenhänge interessieren, weil sie zu sehr mit sich und ihrem ganz eigenen Kampf beschäftigt sind. Da sind doch Parteien, die schimpfen und pöbeln, die verurteilen und kategorisieren genau das Richtige? Schreiben sie in zwanzig Jahren einen Roman über einen kahlrasierten, tätowierten Aufrechten aus dem Jahr 2019, der seinen Sohn Adolf tauft? Die Literatur scheint sich bisher nicht in dieses Minenfeld zu trauen.

Aber war es nicht immer so? Gut, die Welt ist vernetzter, dadurch komplexer geworden und global in ihren Grundfesten bedroht, was aber mental – ausser bei den jüngsten Generationen – noch nicht angekommen zu sein scheint. Ich habe mich in meinem Leben so lange mit Holocaust und Nationalsozialismus beschäftigt, dass ich das eigentlich nie mehr tun wollte. Aber natürlich geht das Thema nicht weg, in mir auch nicht. Vorsatz: In zwanzig Jahren möchte ich bitte ein hundertseitiges Poem verfassen, das alle in Lust, Ekstase und weltumspannende Harmonie versetzt. Oder nicht?

© Maurus Knowles

Sonja M. Schultz, geboren 1975, wuchs im Hamburger Umland auf und studierte Theaterwissenschaften und Kulturelle Kommunikation in ihrer Wahlheimat Berlin. Sie schreibt über Film und Geschichte («Der Nationalsozialismus im Film. Von Triumph des Willens bis Inglourious Basterds«) und tritt mit Spoken Word auf alternativen Bühnen auf. Mit ihrem Debütroman «Hundesohn» war sie 2017 Stipendiatin der Autorenwerkstatt des Literarischen Colloquiums Berlin.

Buchtrailer

Am 7. November liest Sonja M. Schultz aus «Hundesohn» im Bodmanhaus Gottlieben.

Webseite der Autorin

Beitragsbild © Sonja M. Schultz

Helga Bürster «Luzies Erbe», Insel

Johanne ist bei Luzie, als diese stirbt. Luzie, Johannes Grossmutter, fast hundert, war zeitlebens eine, die nicht viel sprach, das «Masur’sche Schweigen» wie eine schallschluckende Glocke über die Familie hängte. Und nun ist sie tot, nimmt alle Geheimnisse mit hinein in dieses grosse letzte Schweigen. Aber Johanne lässt das, was seit Generationen über der Familie Liebe schluckte, nicht los.

Vier Generationen versammeln sich im Haus von Luzie, als diese aufgebahrt in ihrem Zimmer liegt. Ihre beiden Töchter Helene und Thea, beide selbst in die Jahre gekommen, Helenes Tochter Johanne und später auch deren Tochter Silje, die noch studiert. Erdbestattung oder Urne? Thea und ihr Mann unter dem gleichen Dach schlafen, während Luzie tot daliegt? Während sich unter Luzies Töchter wie so oft der Streit entfacht, flieht Johanne in den Keller, bügelt lieber, als sich den Streitereien der beiden auszusetzen. Johannes Schmerz und Trauer mischt sich mit der Verzweiflung darüber, allein gelassen zu sein, allein mit dem, was nie zur Sprache kam, dem Geheimnis um einen Makel in der Familie, der wie ein eitrig gewordener Splitter aus der Vergangenheit ausstrahlt.

Helene und Thea hätten einen Vater. Aber man sprach von ihm höchstens als Pronomen. Er war ein Geist. Genauso wie Luzies Bruder, der nie aus dem Grossen Krieg zurückkehrte, wie Luzies einstmals Verlobter, der von der Bildfläche verschwand. Luzies Töchter nahmen das Schweigen ihrer Mutter hin, akzeptierten, dass das, was während des Krieges geschah unter dem Deckel des Mazur’schen Schweigens ruhen sollte. Und nun, nach dem Tod ihrer Grossmutter, soll Johanne akzeptieren, was jahrzehntelang sein Gift aussandte?

Auf einem der vielen Schränke in Luzies Haus liegt ein alter metallener Koffer, seit Jahrzehnten, stets bereit, mitgenommen zu werden, aus der Angst, man würde dereinst wieder fliehen müssen. Johanne nimmt den Koffer mit nach unten in den Keller, findet Fotos, Dokumente, Briefe von Luzies Bruder von der Front – und ganz unten in einer Blechdose etwas von dem, was den Deckel lüftet.

Helga Bürster verwebt die Geschichte von Luzies Familie, Luzies Leben während und kurz nach dem Grossen Krieg und jenes des totgeschwiegenen Grossvaters Jurek, jenes polnischen Zwangsarbeiters, in den sich Luzie in den Wirren des Krieges verliebte und aus Rassenschande zwei Kinder wurden. Helga Bürster erzählt, dass der Krieg mit einer Kapitulation nicht vorbei und schon gar nicht ausgestanden ist, wie sehr sich die Verletzungen in jene einfrassen, die nach Mai 1945 das Leben wiederaufnehmen sollten. Johanne nimmt die Spur auf zu jenem Mann, den der Krieg wie einen Kiesel in deutsche Gefangenschaft spülte, an den Hof von Luzies Familie, der die Liebe genauso wie unsäglichen Kummer mitbrachte. «Luzies Erbe» ist, wie Helga Bürster in einem Nachwort schreibt, die Geschichte ihrer eigenen Grossmutter. «Wenn man mit einem solchen Schweigen aufwächst, lernt man zu lauschen», schreibt Helga Bürster. «Luzies Erbe» ist das Erbe von Generationen. Deshalb so wichtig, dass davon erzählt wird. Und Helga Bürster tut dies hervorragend!

© Uwe Stalf

Helga Bürster, geboren 1961, ist in einem Dorf bei Bremen aufgewachsen, wo sie auch heute wieder lebt. Sie studierte Theaterwissenschaften, Literaturgeschichte und Geschichte in Erlangen, war als Rundfunk- und Fernsehredakteurin tätig, seit 1996 ist sie freiberufliche Autorin. Zu ihren Veröffentlichungen zählen Sachbücher und Regionalkrimis, zudem wurden von Radio Bremen/NDR sowie vom SWR einige Hörspiele von ihr ausgestrahlt.

Webseite der Autorin

Beitragsbild © Sandra Kottonau

Tabea Steiner «Balg», Shortlist #SchweizerBuchpreis 19/4

Es wäre alles da für ein perfektes Familienidyll; Chris arbeitet zuhause, Antonia bald schwanger, Timon ein hübsches, gesundes Kind. Aber Idyllen existieren nicht. Chris setzt sich ab, zuerst phasenweise, dann endgültig. Antonia fühlt sich allein gelassen, einsam, überfordert. Timon und Antonia, ein Doppelgestirn, ein Doppelplanet, durch Familienbande aneinander gekoppelt, durch wachsende Zentrifugalkraft auf Konfrontation mit all jenen Gestirnen, die sich auf ewig gleichen Bahnen befinden.

© Lea Frei

„Balg“ ist ein Schimpfwort. Abgezogenes Fell, ein freches Kind. Aber wer ist schon der, der er sein könnte. Timon ist genauso das Resultat von vielem, wie seine Mutter Antonia, wie seine Grossmutter Lydia. Da war ein kleines Kind, das durch Mark und Bein schrie. Ein kleiner Junge, der biss und schlug. Ein Schuljunge, mit dem keine Lehrkraft klarkommen wollte oder konnte. Timon, zuerst von seiner Mutter eingesperrt, damit diese Luft bekommt, dann ausgesperrt, weil die Mutter keine Luft mehr bekommt, wird zum Kometen, der sich auf unberechenbarer Bahn mit langem Schweif durch ein verkorkstes Leben bahnt.

Irgendwann lernt Antonia einen neuen Mann kennen, einen, der mit ihr zusammenleben will, aber nicht mit dem unberechenbaren Balg, mit Timon, der sich allen und allem entzieht. Aber statt ihren Sohn mitzunehmen, botet Antonio, der neue Mann, ihn aus, nimmt ihm das Wenige, das Timon von seinem Vater, den er manchmal am Wochenende sieht und auch längst in einer neuen Familie lebt, geschenkt bekommt. Antonia weiss oft nicht, wie ihr geschieht, ist genauso Opfer ihrer Reflexe und Reaktionen wie ihr ausser Rand und Band geratener Sohn.

Im gleichen Dorf lebt Valentin der Postbote. Vor Jahren war er der Dorflehrer, irgendwann suspendiert und im Dorf hängen geblieben, mit einem Makel. Antonia war als Schülerin die Freundin seiner einzigen Tochter, jener Tochter, die er nie mehr sah, von der er nichts weiss, seit sie ihn zusammen mit seiner Frau verliess. Antonia macht Valentin für eine Katastrophe in der Vergangenheit verantwortlich, die nicht nur ihn selbst, sondern auch sie aus der Bahn geworfen hatte, aus der Kindheit rausgerissen, entwurzelt. Und ausgerechnet mit ihm, mit Valentin, dem alt gewordenen Sonderling, den man im Dorf wie etwas Übriggebliebenes behandelt, freundet sich Timon an. Gegen den Willen seiner Mutter.

Timon entgleitet. Allen. Selbst Valentin, der ihn im Garten, bei seinen Tieren oder auch an seinem Tisch gewähren lässt, der ihm den einzigen Ort gibt, an dem er sich nicht in die Enge getrieben fühlt, ist von den verqueren Wahrnehmungen einer Dorfgemeinschaft nicht gefeit. Einmal ins schlechte Licht getaucht – immer empfänglich wie elektromagnetisch aufgeladenes Textil.
Alle sind sie einsam. Alle irgendwie verloren, eingeschlossen, ausgeschlossen.

© Lea Frei

Eine der vielen Qualitäten des Romans ist Tabea Steiners Zurückhaltung, bei aller Katastrophe das Maximum nicht ausgeschöpft zu haben. Es geht der Autorin weder um die Katastrophe, noch um ein Soziogramm eines vermeintlichen Dorfidylls. Tabea Steiner begleitet mit überzeugendem Feingefühl, erzählt die Geschichte aus mehrfacher Perspektive, stülpt das Innere ihrer Protagonisten nicht gegen Aussen. Sie alle sind Opfer ihrer Geschichte. Eine andere Qualität dieses Romans sind all die Halbschatten, die nicht ausgeleuchtet sind, das bloss Angedeutete, das dem Leser überlassen ist, das aber gleichsam mitschwingt und dem Buch, dem Erzählten Raum gibt. Und nicht zuletzt ist es die unaufgeregte, sorgfältige Art des Erzählens, einer Sprache, die sich nicht nur inhaltlich behutsam nähert, sondern in ihrem Ausdruck.

Ein Interview mit Tabea Steiner:

Du engagierst dich seit Jahren für die Literatur, sei es als Leiterin des Literaturfestivals in Thun, als Moderatorin in Bern, Thun und St. Gallen, als Literaturvermittlerin im wahrsten Sinne des Wortes. Und nun dein erster Roman, dein Debüt bei einem Verlag, der es in den letzten Jahren formidabel schaffte, sich mit CH-Spitzentiteln zu empfehlen. Ist es ein Ankommen, ein Beweis oder Resultat übermässiger Anstrengung?
Es fühlt sich für mich am ehesten nach Ankommen an. Auf jeden Fall ist es ja so, dass ich mich schon immer nicht „nur“ mit Texten anderer befasst habe, sondern auch selber geschrieben habe. Damit jetzt rauszugehen und der Öffentlichkeit diese andere Rolle gewissermassen zu präsentieren, heisst natürlich auch, dass ich mich nicht mehr hinter den Büchern anderer „verstecken“ kann, von denen ich weiss, dass sie gut sind. 

„Balg“ ist ein sehr intimer Roman, dessen Konstruktion sich scheinbar weit weg von deiner eigenen Biographie ansiedelt, ausser vielleicht, dass sich die Geschichte irgendwo in der Ostschweiz, in einem Dorf unweit des Bodensees verorten lässt. Was dir ausgezeichnet gelang, ist aber genau jene unmittelbare Intimität, die das Buch, dein Roman, dein Debüt so sehr überzeugen lässt. Eine Nähe, die nie entblössend wirkt. Wie sehr musstest du dich darum bemühen?
Ich habe eine lange Zeit mit diesen Figuren verbracht, sie, als sie da waren, genau studiert, nachgedacht, wie sie sind, was sie denken, sagen und wie sie handeln und warum. Sie sind mir auch sehr nahe gegangen, und es war mir gleichzeitig wichtig, selber auch immer ein wenig Verständnis für sie aufzubringen. Und das war zuweilen durchaus sehr anstrengend. 

Alle Protagonisten in deinem Roman sind Verlorene? Wie sehr liegt in einer Zeit der totalen Vernetzung genau in diesem Gefühl eine der Untiefen unserer Gesellschaft?
Sind sie Verlorene? Ich denke eher, dass sie aus unterschiedlichsten Gründen keinen oder nur einen unzulänglichen Zugang zu ihrer Sprache haben, und deswegen auch nicht imstand sind, die anderen zu verstehen.
Auf jeden Fall schaffen sie es nicht, eine gemeinsame Sprache für ein Problem zu finden, das sie alle betrifft. Sie sehen es zwar alle, wenn auch auf unterschiedliche Weise, sind aber nicht imstande, darüber auch nur einen sprachlichen Konsens zu finden. Und hier setzt etwas für mich sehr Wichtiges ein: dass nämlich die Sprache politisch ist, weil wir uns darüber einigen müssen, was sie bedeutet. Es ist schwierig, sich zu unterhalten, wenn man keine gemeinsame Sprache hat – und ich glaube, dass man die Folgen davon auf Social Media, aber mehr und mehr auch im Alltag, beobachten kann, wenn Sprache in einer zunehmend verletzenden Art und Weise verwendet wird, ohne sich darum zu kümmern, dass die Sprache eben allen gehört. Niemand hat sie für sich allein, und das wäre gut so, wenn.

Gegen Schluss deines Romans lässt du Lydia, die Mutter Antonias sagen, die vieles spürt, was sie sich nicht zu sagen traut: „Man muss eben mit den Leuten reden, nicht immer nur über sie.“ Dieser Satz ist eines der Themen, die sich durch dein Buch ziehen. Und trotzdem bleibt die Einsicht, dass nicht über alles geredet werden kann. Wo liegt die Grenze zwischen befreiendem Reden und zerfleischendem Zerreden?
Das ist eine sehr schwierige Frage, aber nicht nur literarisch. Jeder Mensch geht wieder ganz anders um mit Dingen, manche wollen darüber reden, andere wieder können nicht. Ich glaube nicht, dass ich diese Frage je wirklich werde beantworten können, wünsche mir aber, dass mehr darüber nachgedacht und gesprochen und geschrieben wird. 

In deinem Roman steckt ein ungeheures Potenzial an Katastrophen. Einige hast du geschehen lassen, vielem bist du mit Absicht ausgewichen, hast der Versuchung von allzu beabsichtigter Plottverdichtung widerstanden. So wie das Leben nur in Ausnahmefällen das Maximum an Katastrophe zulässt. Zum Glück. Wie sehr musstet du gegen Versuchung ankämpfen?
Ich musste, wie oben angedeutet, eher gegen die Versuchung kämpfen, den Figuren doch das eine und andere zu ersparen, sie freundlicher erscheinen zu lassen, sympathischer. Aber dann wäre es eine andere Geschichte geworden, und so bin ich streng mit mir und manchmal ein bisschen hart zu den Figuren gewesen. 

Ein beeindruckendes Debüt von einer Autorin, von der ich nichts anderes erwartet hätte!

© Lea Frei

Tabea Steiner, Jahrgang 1981, ist auf einem Bauernhof in der Nähe des Bodensees aufgewachsen und hat Germanistik und Geschichte studiert. Sie hat das Thuner Literaturfestival initiiert, ist Mitorganisatorin des Berner Lesefestes Aprillen und Mitglied der Jury der Schweizer Literaturpreise. 2011 hat sie an der Autorenwerkstatt des Literarischen Colloquiums Berlin teilgenommen. Tabea Steiner lebt in Zürich.

Webseite der Autorin

Am 24. Oktober moderiere ich im Bodman-Literaturhaus in Gottlieben TG ein Lesung zusammen mit Tabea Steiner.