Arno Camenisch «Der Schatten über dem Dorf», Engeler

Tavanasa bleibt im Winter drei Monate lang im Schatten. Doch über das Dorf legte sich vor bald einem halben Jahrhundert ein Schatten, der auch drei Monate später nicht verschwand. Ein Schatten, der ein langsames Sterben begleitete, das Sterben eines Dorfes. Arno Camenisch nimmt mich in „Der Schatten über dem Dorf“ mit auf einen Spaziergang durch sein Dorf – ganz nah!

Arno Camenisch streift durch sein Tavanasa, den Ort seiner Kindheit und Jugend, das Dorf am Vorderrhein, wo man am Bahnhof vom Zug in den Bus nach Brigels, den Wintersportort, umsteigt, den Flecken unter den bewaldeten Hängen hinunter zum schäumenden Wasser, die zwanzig Häuser an der Strasse von Ilanz nach Disentis mitten in seiner Surselva. Es ist viel mehr als der Ort mit dem Haus, in dem er aufwuchs, viel mehr als ein Haus, eine Wohnung, ein Haufen Familien, die sein Zuhause waren, sondern all die offenen Türen des kleinen Ortes, die er Richtung Chur, Richtung Welt verliess, um als Erwachsener, als Vater und Sohn immer hier zurückzukehren.

Als er noch dort lebte, zur Schule ging, half die Mutter aus im kleinen Laden im Ort. Es gab einen Kiosk, in dem er eines der beiden Bravo-Exemplare mit seinem Taschengeld zu ergattern versuchte, das Gasthaus, das die Tante führte, das auch zum Zuhause gehörte, manchmal Zufluchtsort war, manchmal einfach ein Raum im Zuhause. Es gab die Werkstatt seines Grossvaters, die Rechenmacherei, in der der Grossvater auch nach sein Pensionierung mit seiner Post-Jacke weiterarbeitete, nachdem er über Jahrzehnte sonntags das Postauto chauffiert hatte. Am Sonntag ging man zur Kirche ins Nachbardorf, die einen zu Fuss, die andern mit dem Auto, um nach der Messe zusammenzustehen oder nachmittags zum Fussballplatz zu wechseln.

Arno Camenisch «Der Schatten über dem Dorf», Engeler, 2021, 104 Seiten, CHF 25.00, ISBN 978-3-906050-80-5

Das Dorf als kleiner Kosmos und grosse Familie, in der jeder alles über jeden zu wissen schien. Ein Dorf im Wechsel der Jahreszeiten, dass sich aber in die Gegenwart nur mehr als Hülle zu retten wusste. Weil der Zug am Bahnhof wohl noch hält, aber vieles andere zu leben aufgehört hat. Ein Dorf im Schatten einer Tragödie, die sich eineinhalb Jahre vor seiner Geburt über dem Dorf ereignete, lange wie ein Alp über den Menschen schwebte, kaum in Worte gefasst zum Trauma der Dorfgemeinschaft wurde.

Arno Camenisch schält bis in die Katastrophe, Schicht um Schicht, bis zu jenem Tag, als drei Kinder irgendwo im Dorf einen Benzinkanister mitnahmen, weil es in einem solchen Ort den einen oder anderen Reservekanister hatte, wenn man die Arbeit nicht unterbrechen wollte. Zu jenem Tag, als die drei Kinder zur Wiese über dem Dorf aufmachten, zur Plaun Vitg, wo am Rand zum Wald in den Bäumen die letzte Baumhütte ums Dorf stehen geblieben war, obwohl man sich behördlich entschlossen hatte, alle aus Sicherheitsgründen abzubrechen. Zur Hütte, wo sich die Jugendlichen trafen, die mit allem Möglichen ausgerüstet war, die man abschliessen konnte, die eine ganz eigene Welt im kleinen Dorf ausmachte.
Dorf passierte die Katastrophe, die das ganze Dorf über Jahre in Schockstarre versetzte, die so ganz anders war wie ein Steinschlag, den die Natur allein inszenierte, selbst wenn ihr dabei Menschen und Häuser zum Opfer fielen.

Arno Camenisch fügt mosaikartig zusammen, spürt nach. Ihn leiten die Liebe zu den Menschen dort, zum Ort selbst, zur Surselva, die Liebe zu seiner kleinen und seiner grossen Familie, zu seiner Tochter, die ihn begleitet, zu den Menschen, denen ein Leben nicht ausreichte, um den Schmerz nach dieser einen Tragödie auszutragen. Mit Sicherheit ist das das persönlichste Buch des eigenwilligen Schriftstellers. Vielleicht kein Zufall, dass das Cover in Grau gehalten ist, weil das, was damals geschah, wie ein Klotz auf die Geschichte seiner „grossen“ Familie drückt, über einen Klotz, der nie eine Sprache fand.

Arno Camenisch, 1978 in Tavanasa im Kanton Graubünden geboren und aufgewachsen, studierte am Schweizerischen Literaturinstitut in Biel, wo er heute auch lebt. 2009 erschien im Engeler-Verlag der Roman «Sez Ner», 2010 «Hinter dem Bahnhof», 2012 «Ustrinkata», 2013 «Fred und Franz», 2013 «Las flurs dil di», 2014 «Nächster Halt Verlangen», 2015 «Die Kur», 2016 «Die Launen des Tages», 2018 «Der letzte Schnee», 2019 «Herr Anselm», 2020 «Goldene Jahre», 2021 «Der Schatten über dem Dorf». Publikationen im «Harper’s Magazine» (New York) und in «Best European Fiction» (USA). Seine Texte wurden in über 20 Sprachen übersetzt und seine Lesungen führten ihn quer durch die Welt, von Hongkong über Moskau und Buenos Aires bis nach New York. Im März 2015 strahlte das Schweizer Fernsehen und 3sat den Dokumentarfilm «Arno Camenisch – Schreiben auf der Kante» aus.

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Beitragsbild © Janosch Abel

Arno Camenisch «Herr Anselm», Engeler

Vielleicht ist der wichtigste auf dem Schiff nicht der Kapitän, vielleicht nicht einmal der Arzt oder die Ärztin im Krankenhaus. Es gibt sie, die Menschen innerhalb eines Systems, ohne die nicht viel geht, die den Puls oder die Richtung geben. Die es mehr als nur braucht, ohne die das Schiff zu schlingern beginnt, dem grossen Haus die Seele genommen wird.

So wie mit Herrn Anselm in der Schule weit hinten in einem Tal in den Bündner Bergen. Man hat nicht ihm gekündigt, sondern der ganzen Schule. Die Oberen wollen sie nicht mehr, lösen den Schulstandort auf, aus was für Gründen auch immer. Zu kostspielig gemessen an der Anzahl Kinder, nicht wirtschaftlich angesichts der Investitionen, die getätigt werden müssten, sinkende Kinderzahlen, was auch immer.

Was Herrn Anselm wurmt, dass man ihn nicht tun lässt, was er seit Jahrzehnten zu aller Zufriedenheit macht. Wenigstens bis zu seiner Pensionierung. Vor allem jetzt, seit dem Tod seiner Frau, der all die Kraft nichts nützte und von einer Krankheit dahingerafft wurde, viel zu früh, trotz all der Gegenwehr.
Herr Anselm besucht sie nach der Arbeit auf dem Friedhof bei der Kirche im Dorf, besucht das Grab. Redet mit ihr, wie er es immer tat, tränkt die frischen Blumen vor dem Stein, bleibt stehen und lässt in seinem stillen Monolog den Blick über Dorf und Tal schweifen.

Herr Anselm ist nicht der Lehrer, sondern der Hauswart. Mehr als nur Putzdienst, denn wenn eine der Lehrpersonen krank ist und sich auf die Schnelle kein Ersatz auftreiben lässt, übernimmt Herr Anselm auch einmal im Schulzimmer das Szepter, wenn auch auf seine Art. Dann kann es sein, dass ein Penaltyschiessen darüber entscheidet, ob es Hausaufgaben gibt oder nicht. Herr Anselm kann den Kindern die Welt genauso gut erklären wie die Studierten, aber eben mit seinem Dirigentenstab, auch wenn dieser ein langer ist, sein Besen.

Er erzählt seiner Frau von den Kindern in der Schule; den Aufgeweckten, den Schlingeln, den Faulen und denen, die vor den Prüfungen Angst haben. Aber auch von den Oberen, den Politikern, den Beamten, denen er nicht viel Vertrauen schenkt, denen es ja nur durch Schläue und Ränke gelingen konnte, so weit hinauf in der Hierarchie zu klettern. Darüber, dass die Kinder in der Schule vor allem das eine lernen müssen, das Scheitern. Um nachher wieder aufstehen zu können, sich nicht durch Misserfolg entmutigen zu lassen. So wie das Lernen eine Kunst sei, sei dies auch das Scheitern. Dass der grosse Bschiss wie ein Bumerang eines Tages zurückkomme, sich Fleiss und Rechtschaffenheit lohne. Dass man sich seiner Schwächen bewusst sein müsse, um zu wissen, wo die Stärken sind.

Arno Camenisch erfindet seine Welt nicht neu. Im Gegenteil. Er fügt ihr mit jedem Buch nach seiner Kunst ein Zimmer hinzu, fing beim Bahnhof an, beim letzten Buch war es der Skilift und nun das Schulhaus und der Friedhof. Arno Camenisch hat mit seinem Erzählsound eine Nische gefunden, die ihm keine(r) streitig machen kann, kultiviert eine Art des Erzählens, die ganz allein die seine ist. Es ist wohl auch kein Zufall, dass auf dem Cover des neuen Büchleins der Begriff Erzählung oder Roman fehlt. „Herr Anselm“ ist wohl mehr so etwas wie das Textbuch seiner neuen Performance. Wer den Sound seiner Stimme kennt, dem klingt beim Lesen dies mit. Man sieht ihn auf der Bühne oder wo auch immer und weiss, dass es funktionieren wird, diese Mischung aus Schnoddrigkeit, Witz und Freude an den kleinen Menschen und Dingen. Sein Erzählen ist ein durchorchestrierter Auftritt, der in seiner Erscheinung als urchiger Bergler in den Kleidern eines Städters, bis in den atemlosen Sprechfluss seines Erzählers passt. Das gefällt oder gefällt gar nicht. Ich gönne Arno Camenisch seinen Erfolg, seine Spezialität, dass es, wo auch immer, in der Schweiz die Säle füllt. Vielleicht steckt hinter seinem Erfolg genau diese Bewunderung für die kleine Nische, die er hell zu Leuchten bringt.

Ich freue mich vor allem für den Verlag und seinen Verleger Urs Engeler, der unermüdlich fast im Alleingang Bücher macht und mit seinem Flaggschiff Arno Camenisch nicht gänzlich in den Untiefen des immer schwieriger werdenden Verlagsgeschäft untergeht.

© Janosch Abel

Arno Camenisch, 1978 in Tavanasa im Kanton Graubünden geboren und aufgewachsen, studierte am Schweizerischen Literaturinstitut in Biel, wo er heute auch lebt. 2009 erschien im Engeler-Verlag der Roman Sez Ner, 2010 Hinter dem Bahnhof, 2012 Ustrinkata, 2013 Fred und Franz, 2013 Las flurs dil di, 2014 Nächster Halt Verlangen, 2015 Die Kur, 2016 Die Launen des Tages, 2018 Der letzte Schnee, 2019 Herr Anselm. Publikationen im “Harper’s Magazine” (New York) und in “Best European Fiction” (USA). Seine Texte wurden in über 20 Sprachen übersetzt und seine Lesungen führten ihn quer durch die Welt, von Hongkong über Moskau und Buenos Aires bis nach New York.

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Beitragsbild © Sandra Kottonau

„Der letzte Schnee“ im letzten Schnee? Arno Camenisch in Amriswil

Zwei grosse Geschichtenerzähler an einem Schlepplift. Zwei Wartende, zwei Philosophen, der eine schwatzend, der andere mehrheitlich zuhörend. Plaudernd und fabulierend der eine, kommentierend der andere. Zwei, auf Schnee wartend, richtigen Schnee, so wie damals, früher. Buchhändlerin Brigitta Häderli lud den «James Dean» der CH-Literatur nach Amriswil ein. Hätte sie nicht ihren ehemaligen Laden zur Verfügung gehabt, hätte der  Ansturm auf die Matinée den neuen Laden an der Freiestrasse überrannt.

Der Schlepplift ist ein alter Freund. Das beruhigende Geratter, das immerwährende Auf und Ab. Der Allererste im Kanton, einst der Nabel der Welt, ein «Schlepper», die «ehrlichste Form, den Berg hinaufzukommen». Aber weil Petrus droht, den weissen Zucker zu entziehen, warten die beiden, Paul mit dem Feldstecher (Fernglas) in der Hand, mit Blick aufs Dorf und die Welt, aber vornehmlich rückwärts gewandt.

Die Presse lobt «Der letzte Schnee», überschüttet ihn mit Qualitäten, vergleicht ihn gar mit «Warten auf Godot» von Samuel Beckett. Verzückt vom ganz eigenen Sound, den der Surselver nicht nur ins Buch bannt, sondern wie ein Rockmusiker stehend ins Mikrophon performt, mit viel Atem, dem Slang, den der Bündner mit Leidenschaft zelebriert.

Paul und Georg schwelgen in Erinnerungen, den guten, alten Zeiten, als der Berg noch war, was er verspricht; Spektakel, Pilgerort, als noch Leben in und um den Mannen das Leben ausmachte. Aber das Leben droht mit dem Verschwinden des grossen Schnees mit Rückzug.

«Sterben will man gut», sagt Paul zu Georg. Weil der Schnee nicht mehr mitspielt und den Berg zum Sterben teibt. Weil kaum mehr jemand kommt und sich anbügeln lässt, wird gar die Unfallübung unter den beiden Übriggebliebenen ausgetragen. Paul und Georg sind die Letzten. Pflichtbewusst und umtriebig selbst ohne Gäste. selbst dann, wenn der grosse Schnee auf sich warten lässt.

Arno Camenisch ist längst zur Marke geworden. Camenisch ist Camenisch ist Camenisch. Camenisch spielt sich selbst, spielt Paul und Georg, zelebriert den Schnee von gestern, den rauen, ungeschliffenen Ton. Camenisch muss Camenisch bleiben. Das Rattern des alten Schlepplifts, Baujahr 71 ist das Rattern seiner Stimme. Auch der nächste Camenisch wird ein unverkennbarer Camenisch sein, ein erfolgreiches Nischenprodukt der Literatur, das nicht zuletzt wegen seiner Einmaligkeit glänzt. So wie seine Bücher aus dem Engeler Verlag als Einheit in Erscheinung treten, bleibt Camenisch mit jedem Buch Camenisch. Es ändert sich bloss die Färbung.

«Auf dem Sonnenschirm steht Sinalco» (ein urtypisch schweizer Süssgetränk, seit über 100 Jahren!). Eine untergehende Welt. «Draussen lernt man mehr als drin!» Heute noch? Paul und Georg sind «Urtiere» des Beamtentums, auch wenn sie sich so sicher nicht mehr sind. So wie sie den Gletschern durch das Fernglas beim Schmelzen zusehen, sehen sie die Vergangenheit, das bisher Verlässliche wegschmelzen. Sie legen «Zwei Brettli auf zwei Böckli und ein Paar Blizzard (Skis) drauf», hocken in der Sonne und sehen den Schnee tropfen. Sie erzählen Geschichten. Vom Bügellift, der einst Weltbühne war, besucht von Prinzen, denen man nach jedem Rank applaudierte, dem Amerikaner mit seinen fünf Meter langen Brettern – Hauptsache die längsten. Sie drehen am alten Radio mit der abgeknickten Antenne und hören selbst da bloss noch das Rauschen.

Arno Camenisch ist ein Ereignis.

Arno Camenisch, 1978 in Tavanasa im Kanton Graubünden geboren, schreibt auf Deutsch und Rätoromanisch. Er studierte am Schweizerischen Literaturinstitut in Biel, wo er auch lebt. 2009 erschien im Engeler-Verlag der Roman „Sez Ner“, 2010 „Hinter dem Bahnhof“, 2012 „Ustrinkata“, 2013 „Fred und Franz“, 2014 „Nächster Halt Verlangen“, 2015 „Die Kur“, 2016 „Die Launen des Tages“, 2018 „Der letzte Schnee“. Seine Texte wurden in über 20 Sprachen übersetzt und seine Lesungen führten ihn quer durch die Welt, von Hongkong über Moskau und Buenos Aires bis nach New York. Im März 2015 strahlte das Schweizer Fernsehen und 3sat den Dokumentarfilm “Arno Camenisch – Schreiben auf der Kante” aus.

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Titelfoto: Pascal Häderli