Helwig Brunner «Gummibärchenkampagne», Droschl

Sie lieben die Kurzgeschichten von Franz Hohler, den skurrilen Witz von Monty Python und die sprachliche Raffinesse derer, die Dinge durch das Wort lebendig werden lassen, von denen man sonst gar nichts weiss? Was bei Droschl als schmuckes Buch von Helwig Brunner so unscheinbar daherkommt, ist grosse Kunst!

«An manchen Tagen begleitet mich die fehlende Poesie wie ein Hund, der keinen Schwanz zum Wedeln hat.»

Was unter dem Titel „Gummibärchenkampagne“ und „Minutennovellen“ fast niedlich daherkommt, hats in sich. Wer die Titel der 109 Miniaturen durchliest, weiss schnell, dass es um die wirklich wichtigen Dinge des Lebens und darüber hinaus geht: Romantik, Laufbahn, Gelassenheit, Anfang, Gerechtigkeit, Erinnerung, Gottesbeweis, Teufelskreis, Apokalypse… Aber schon die Titel der anderen Gegenseite: Socke, Vogerl, Puppengehirn, Spiel, Gewicht… zeigen, dass es dem Autor doch nicht darum geht, die Welt zu erklären. Aber vielleicht die Dinge dazwischen, darüber und darunter. Das, was sonst im Schatten verborgen bleibt, was ausgeblendet wird, was unserem sinngebenden Blick entgeht. 

Idee
Den ganzen Tag schon begleitete Helmut das Hochgefühl, über eine Idee zu verfügen, die sein weiteres Leben zum ungleich Besseren wenden würde. Yes, I can!, rief etwas in ihm in grösster Zuversicht. Zwar konnte er nicht genau sagen, worum es bei der Idee ging, denn sie lag nicht offen vor ihm, sondern noch irgendwo im Verborgenen; nur der Zipfel eines Schattens von ihr, oder war es der Schatten eines Zipfels, fiel in sein Gesichtsfeld. So viel nur meinte Helmut zu wissen, dass sie etwas mit Erfolg zu tun hatte, mit Geld und schliesslich unfehlbar mit Glück. Er würde sich ihr, wenn sie sich erst ganz zeigte, nur zuzuwenden und nach ihr zu greifen brauchen, um ihrer für immer habhaft zu werden. So sicher war er sich seiner Sache, dass er sich Zeit liess und gelassener als sonst seinem Tagesgeschäft nachging, auf das er künftig ohnedies nicht mehr angewiesen sein würde. Helmut hätte nicht sagen können, woher sein Hochgefühl gekommen war; auch wohin es gegen Abend unbemerkt verschwand, wusste er nicht. Die Gelassenheit aber blieb ihm, ganz so, als hätte die Idee ihr Werk bereits getan.
 

Helwig Brunner „Gummibärchenkampagne“, Droschl, 2020; 144 Seiten, 27.90 CHF., ISBN: 978-3-99059-049-2

Helwig Brunner interessiert sich nicht für das Glatte, Glänzende, Auffällige, für Oberflächen. Nicht einmal für das Originelle, Einmalige, sondern für das absolut Normale, das Normalbetrachtern durch die Lappen geht, das nicht auffällt und hängen bleibt, selbst wenn ich es sehe und höre. Er rahmt und grenzt mit seiner Sprache ein, manchmal ein Bild, manchmal einen Moment, manchmal ein Gefühl, einen Gedanken. Bilder, die an Quint Buchholz oder René Magritte, an das Schräge in Roman Signers bildender Kunst, das absolut Normale übersteigert. Texte, leicht verschoben, kindlich verspielt, unsäglich witzig und klug. Scharf beobachtend, als sähe Helwig Brunner das Einerlei des Lebens durch ein Okular, ein Brennglas, bis selbst das Nebensächliche zu funkeln und manchmal zu brennen beginnt.

Trotz
Die Haltbarkeitsdauer der Marillenmarmelade würde, so stand es auf dem Deckel, am zehnten September des kommenden Jahres um sechzehn Uhr zwei enden. Charlotte vermutete spontan einen Fall von Scheingenauigkeit. Bestimmt legte irgendeine von weltfremden Bürokraten ausgeheckte europäische Norm fest, dass die Angabe des Verfallsdatums auf Marmeladegläsern minutengenau zu erfolgen hatte. Was aber, wenn zum Wohle des Konsumenten umfangreiche mikrobiologische Testreihen durchgeführt worden waren, die eine derart genaue Prognose tatsächlich zuliessen? Charlotte wollte niemandem Unrecht tun, auch nicht den Institutionen der Europäischen Union. Sie beschloss, der Sache auf den Grund zu gehen und das Glas bis zum angegebenen Termin ungeöffnet aufzubewahren. Möglicherweise würde am zehnten September um sechzehn Uhr zwei ein explosionsartiges Schimmelpilzwachstum einsetzen und die Marmelade binnen Sekunden grün überziehen. Anderenfalls würde Charlotte, Europa zum Trotz, um sechzehn Uhr drei eine Biskuitroulade damit füllen.

Geschichten, die zuweilen verunsichern, weil ich als Leser glaube, die Pointe versäumt zu haben, die mich zwingen, ein zweites Mal mit Lesen anzusetzen, weil ich den Witz in der falschen Ecke vermute. Geschichten, die mich nicht aufs Glatteis führen, nicht mit mir spielen, die sich aber durchaus einen Spass mit mir erlauben. Geschichten von der menschlichen Spezies, der Krone der Schöpfung, die ihre Eigenarten allen anderen Lebewesen gegenüber in die Sonne stellt, aber offenbaren, wie linkisch, kompliziert und widersprüchlich sie ist.

Zufriedenheit
Seine Frau, so Leopold grimmig nickend, wolle sich von ihm scheiden lassen; sie begründe dies damit, dass sie unzufrieden sei mit seiner ständigen Unzufriedenheit. Er hingegen halte ihre unausrottbare Zufriedenheit, die sie immer dann an den Tag lege, wenn sie nicht gerade mit seiner Unzufriedenheit unzufrieden sei, für den einzigen in Betracht kommenden Scheidungsgrund; Zufriedenheit nämlich sei letztlich nichts anderes als die Resignation vor dem Erträglichen und als solche unverzeihlich.

Helwig Brunners Minutennovellen, angelegt an seinen Erfinder, den ungarischen Schriftsteller Istvan Örkeny, der zwischen 1944 und 1968 fast vierhundert solcher Minutentexte schrieb. Texte, die wohl schnell gelesen sind, aber zäh hängen bleiben, die man immer wieder lesen will, die einem wie ein Ohrwurm verfolgen, die man vorlesen und teilen will. Für eine Minute geschrieben, aber nie und nimmer in einer Minute geschrieben; kunstvoll komponiert, mehrschichtig, mit Fallgruben, scharfen Kanten und Spiegeln überall.

© Anett Keszthelyi Brunner

Helwig Brunner, geboren 1967 in Istanbul, lebt in Graz. Nach seinem Studium der Musik und Biologie arbeitet er in einem ökologischen Planungsbüro und ist zudem für die Literaturzeit- schrift Lichtungen sowie für eine Lyrikreihe editorisch tätig. Bisher liegen zwölf Gedichtbände sowie mehrere Prosatitel vor, ausserdem regelmäßige Beiträge in Anthologien, Zeitschriften und im Rundfunk.
Bei Droschl erschienen bisher sein mit Stefan Schmitzer geführter poetologischer Disput «gemacht | gedicht | gefunden» (2011) und das «Journal der Bilder und Einbildungen» (2017).

(literaturblatt.ch dankt Autor und Verlag für die ausdrückliche Genehmigung, die drei Texte ‹Idee›, ‹Trotz› und ‹Zufriedenheit› in den Bericht einfügen zu dürfen!)

Webseite des Autors

Beitragsbild © Anett Keszthelyi Brunner

Wolfgang Hermann «Walter oder die ganze Welt», Limbus

Was tun, wenn man mit einem Mal merkt, dass die Welt, von der man glaubte, sie sei es, man kenne sie, kenne sich in ihr aus, nicht die ist, an die man mit Standfestigkeit glaubte? Was tun, wenn sich hinter der Einsicht ein Abgrund öffnet, wenn man die Türe, die man öffnete, nicht mehr zu schliessen ist. In der schmalen Erzählung von Wolfgang Hermann spiegelt sich die geballte Wucht einer Ernüchterung.

Walter ist Polizist in einer Kleinstadt auf der österreichischen Seite des Rheintals. Wenn er nicht auf seinem Posten sitzt und den Blick über das pulsierende Leben seiner Stadt schweifen lassen kann, steht er am liebsten seinen Mann in der Trommel, auf der wichtigsten Kreuzung der Stadt auf einer rot-weiss karierten Trommel, den Verkehr weisend, regulierend, den Strom von Nord nach Süd und umgekehrt, das grosse Brausen dirigierend. Er hat es gar zu einer gewissen Berühmtheit gebracht, denn die halbe Stadt scheint ihn auf seinem Podest zu grüssen. Dort lenkt er den Fluss, gibt der Anarchie eine Richtung. Auch zuhause geht alles seine geregelten Bahnen; seine Frau erblüht an seiner Seite und weiss, wo ihr Platz ist. Die Tochter und der Sohn sind nicht infiziert von den langmähnigen, bunt gekleideten Hippies, die sich auf einer nahen Alp, der Lichtheimat, dem Geistigen und Kosmischen zuwenden, wenn auch mit allerhand Kraut.

Die Stadt ist ruhig. Und doch spürt Walter, dass der Frieden an den Rändern wegzubrechen droht. Zum einen ist es Herr Hummel, der Mann, der ihm wie die Sonne morgens und abends Sicherheit gab, dass die Normalität, das Stetige die Konstante in seinem Leben sein wird. Eines Morgens erscheint Herr Hummel nicht mehr, spaziert nicht mehr in seiner absoluten Regelmässigkeit an der Polizeiwache vorbei, bleibt nicht nur für einen oder zwei Tage aus, sondern verschwindet von der Strasse. Zum andern führt ihn Pflichtbewusstsein und die Sorge um Herrn Hummels Sohn per Dienstweg bis hinauf zum Lichtheimat. Dorthin, wo die Strassen längst aufhören, in ein Haus, dass sich mit seinen BewohnerInnen allen Regeln der Normalität zu entziehen versucht. Ausgerechnet an jenem Tag dampft und raucht das Haus aus allen Poren. Walter, der Polizist trinkt einen Tee, isst einen Keks. Und bricht weg.

Wolfgang Hermann „Walter oder die ganze Welt“, Limbus, 2020, 96 Seiten, 21.90 CHF, ISBN: 978-3-99039-167-9

«Walter oder die ganze Welt» ist die Geschichte einer Vertreibung aus dem Paradies. Auch wenn Walter keinen Apfel vom Baum der Erkenntnis isst, sondern nur einen Keks. Obwohl Walter weiss, dass sein Sündenfall wie jener der Urmutter Eva nicht vorsätzlich war, für einen Polizisten nicht unwichtig, er nie und nimmer zurück in jenen Rausch des absoluten Kontrollverlusts will, ist nichts mehr, wie es einmal war. Aber auch er selbst. Das merkt auch seine Frau, merkt seine Umgebung, sogar die Menschen in den Autos, die auf der Kreuzung an der Trommel, auf der Walter den Verkehr mit leer gewordenem Gesicht zu lenken vorgibt, die an ihm plötzlich ungegrüsst vorbeifahren. Mit einem Mal ist klar, dass die kleine Ordnung, von der Walter glaubte, er sei der Wächter, von einer grossen Unordnung bedroht wird, dass das Fundament seines Lebens, seiner Existenz bloss vor Kulissen gebaut war. Kulissen, dünnwandig, hohl, seine Illusion.

Wolfgang Hermann schreibt sich nicht in die Personen hinein, schlüpft nicht in seine Protagonisten, leuchtet nicht aus. Wolfgang Hermann schreibt aus den Protagonisten hinaus. Obwohl nicht in der Ich-Form geschrieben schafft es der Autor, mich als Leser durch die Augen am Untergang einer Welt teilzuhaben. Einer grossen Ernüchterung, der im Kleinen oder Grossen alle Erdbewohner ausgesetzt sind. Der grossen Feststellung, dass alles doch anders ist, als man es sich im Laufe eines Lebens zusammengeschustert hat. Dass die kleine Stadt im Rheintal eben doch nicht der Nabel der Welt ist, nachdem man irgendwann feststellt, das sich die Erde nicht um einen selbst dreht. Dass Ruhe und Gleichförmigkeit mehr als trügerisch sind. Dass alte Strukturen selbst nach einem Neuanfang nach dem 2. Weltkrieg nicht einfach zu wirken aufhören. Dass die eigene Wahrheit nicht allgemeingültig ist.

Wolfgang Hermanns schmales Buch ist alles andere als schmalbrüstig. Zwar leicht und witzig erzählt, aber um die grossen Themen und Fragen des Lebens kreisend. Ein literarisches Kleinod, wunderbar gestaltet und herausgegeben vom kleinen Limbus Verlag, bei dem es sich lohnt, auf der Webseite zu stöbern!

Interview mit Wolfgang Hermann

Die Selbstzweifel Ihres sympathischen Protagonisten gipfeln in der Frage, ob er den eigentlich überhaupt zum Polizisten tauge. Ganz offensichtlich werden nicht alle Menschen von Selbstzweifeln bedrängt. Ist das der Unterschied zwischen Politik und Kunst? PolitikerInnen, je mächtiger, desto freier von Selbstzweifeln? KünsterInnen, je schöpferischer desto näher am permanenten Selbstzweifel?
Zum Politiker taugt, wer keine Selbstzweifel kennt. Feinnervige, zurückhaltende Menschen haben in der Politik nichts verloren, sie werden dort aufgerieben. Man werfe einen Blick auf die neuen Bulldozer-Politiker, die unsere Zeit bestimmen: da ist keine Selbstreflexion zu erwarten. Und viel Gutes auch nicht.
Ein schöpferischer Mensch hingegen weiss, dass er mit seiner Arbeit auf einem Drahtseil tanzt. Und wenn er genau hinsieht, fehlt sogar das Seil, er arbeitet in der Luft.

Wer durch irgend eine Tür der Erkenntnis geht, weiss, dass es kein Zurück gibt. Ist das beschönigende, verklärende Erinnern die Sehnsucht nach dem Paradies?
Ich habe in meinem Buch keine Idylle geschaffen. Der harmlos zärtliche Tonfall trügt: Die jungen Menschen in der Vorarlberger Kleinstadt der Siebzigerjahre sehen sich einer kalten, abweisenden Welt gegenüber, die ihnen keine Chance lässt, als sich anzupassen. Es gibt keinen Raum für sie ausser den der Resignation. Und einige von ihnen gehen daran zugrunde.
Polizist Walter ist liebevoll tollpatschig gezeichnet, aber die Realität der Kleinstadt und des kleinen Landes ist trüb und steckt noch fest im alten überkommenen Denken aus der NS-Zeit.

Walter, der mehr als ein halbes Leben lang glaubte, er sei es, der dirigiere, mit Sicherheit auf der rot-weiss gestreiften Trommel in der Kreuzung in seiner Polizistenuniform, muss einsehen, dass er eigentlich nur reagiert. Und das nicht einmal in der Gegenwart, sondern fast nur auf die Auswirkungen der Vergangenheit, einer modrigen Vergangenheit. Die Stadt, die Sie beschreiben, ist «Ihre» Stadt. Ist Schreiben, Dichten, ein Teil Ihrer Sehnsucht, wenigstens ein ganz kleines Stück zu «dirigieren»?
Mit dieser Geschichte habe ich mich auch selbst „behandelt“, denn ich war ja einer dieser verlorenen jungen Menschen damals in der kalten Stadt. Wahrscheinlich ist Schreiben meistens Selbstbe- und -verhandlung. Es ist die Chance, die Vergangenheit neu zu gestalten, ein wenig menschlicher und weicher.

Walter wird von der Zeit, vom Leben überrollt. Hätte er auch Lehrer, Pfarrer oder Goldschmied sein können? Was reizte Sie am Polizisten, der als literarisches Personal sonst nur für den Krimi geeignet scheint.
Polizist Walter war eine Legende im Dornbirn der Siebzigerjahre. Er dirigierte das Orchester der Autofahrer auf unverwechselbare Art, redete mit jedem einzelnen Autofahrer, vor allem aber mit sich selbst. Er ist ein fester Bestandteil meiner Kindheit. Ich wollte schon lange über ihn schreiben. Natürlich ist alles erfunden, aber den Polizisten Walter gab es wirklich.

Ist das «Fremdhässig-sein», das auf der Welt wie ein Virus zu wüten scheint, in einer funktionierenden Gesellschaft unüberwindbar?
Die Zuwanderer trugen fremdes «Häss», das bedeutet im Dornbirner Dialekt Kleidung, hat also nichts mit Hass zu tun. Der steigt freilich in unserer Gegenwart in bedenklichem Masse. Ich fürchte, ich habe dagegen kein Rezept. Die Literatur führt ohnedies ein Dasein in der Nische.

Wolfgang Hermann, geboren 1961 in Bregenz, studierte Philosophie und Germanistik in Wien. Lebte längere Zeit in Berlin, Paris und in der Provence sowie von 1996 bis 1998 als Universitätslektor in Tokyo. Zahlreiche Preise, u. a. Anton-Wildgans-Preis 2006, Förderpreis zum Österreichischen Staatspreis 2007; zahlreiche Buchveröffentlichungen, unter anderem «Abschied ohne Ende» (2012), «Die Kunst des unterirdischen Fliegens» (2015) und «Herr Faustini bleibt zu Hause» (2016). Bei Limbus: «Paris Berlin New York» (Neuauflage als Limbus Preziose 2015), «Konstruktion einer Stadt» (2009), «Schatten auf dem Weg durch den Bernsteinwald» (2013), «Die letzten Gesänge» (2015) und «Das japanische Fährtenbuch» (2017).

Steffen Schroeder «Mein Sommer mit Anja», Rowohlt

Während eines Sommers kann sich alles ändern. Alles. Zumindest für einen Jungen zwischen Kindheit und Erwachsensein. Die festgelegte Ordnung, das ewige Ticken des Einerlei, die Selbstverständlichkeit, die man nie in Frage stellt, obwohl einem die Welt der Erwachsenen suspekt erscheint. Steffen Schroeder hat in seinem Roman die Hitze eines Sommers nacherzählt, die Hitze über einem kleinen Stück Glück, das verglüht.

Konrad teilt den Sommer mit Holger, einem geistig behinderten Jungen aus der Nachbarschaft, der in jenem Sommer zwar achtzehn wird, seinen um einige Jahre jüngeren Freund aber wie einen grossen Bruder sieht. Für ein paar Sommerwochen befreit von der Schule verbringen sie ihre Tage im Freibad Floriansmühle, nicht zuletzt deshalb, weil sie sich ihr karges Taschengeld durch Pfandflaschengeld aufbessern können, weil Konrad nicht viel anzufangen weiss mit dem wichtigtuerischen Gehabe seiner Klassenkameraden und weil die Mädchen in seinem Alter auf einem andern Stern leben. Weil er mit den Jungs, die Fussball spielen nicht mithalten kann und weil ihm die ewigen Streitereien seiner Eltern auf den Wecker gehen.

Erstes Zeichen dafür, dass der Sommer nicht sein wird, wie all die andern bisher, ist das Versteck, das er und Holger im Unterholz verborgen finden, der tote Specht unter ihrem Kletterbaum und die Plastiktüten in ihrem Versteck, die verraten, dass sie nicht die einzigen sind, die das Versteck nicht weit vom Bach nutzen.

Anja taucht auf. Ein Mädchen, das so ganz anders ist wie alle, die er sonst kennt. Anders als Jasmine, die Schwester seines reichen Klassenkameraden, die in ihren rosa Klamotten aussieht wie aus einer Mädchenzeitschrift entstiegen. Anja hat kurze Haare, als wären sie selbst geschnitten, trägt Kordhosen, keine Jeans wie alle andern, kennt jedes Kraut, das wächst und gibt sich selbst im Freibad, als sie sich umzieht, unbekümmert, als ginge sie die Welt rundum nicht wirklich etwas an.

Steffen Schroeder «Mein Sommer mit Anja», Rowohlt, 2020, 208 Seiten, 28.90 CHF, ISBN: 978-3-7371-0071-7

Konrad ist gleichermassen fasziniert wie Holger. Erst recht als klar wird, dass Anja vom nahen Heim ausgebrochen ist und klar macht, dass sie lieber sterben würde, als in den Bau zurückkehren zu müssen. Aus einer zaghaften Annäherung wird ein Dreigespann. Und als Anja immer mehr Nähe zulässt, Konrad bittet, ihr Geschichten zu erzählen, als sich die Tage nur noch um ihr Zusammensein zu drehen beginnen und Konrad in Kauf nimmt, von seinen Eltern Schelte zu kassieren, schleicht sich jenes Verliebtsein ein, jene zarte, erste Liebe, die alles andere zur Nebensache werden lässt. Sie sitzen am Fluss, nehmen Anja mit ins Freibad, sie hocken in ihrem Versteck oder stromern durch die Gegend.

Aber Konrad spürt, dass er durch Anja einer Welt begegnet, die mit der seinen nichts gemein hat. Was Anja erzählt, ist wenig. Der Sommer wird zu einer Blase ohne Vergangenheit, ohne Zukunft. Erst als Konrad und Anja im Wald bei wild gebauten Hütten von Stadtstreichern aufgestöbert werden, als in den Zeitungen von einem aus einem Heim ausgebüxten Mädchen geschrieben wird, als Konrad und Holger sehen, mit welcher Gier das Mädchen die von zuhause mitgebrachten Lebensmittel vertilgt, spürt Konrad, dass seine Welt mit der des Mädchens nicht viel gemein hat. Trotz all der Nähe, den zaghaften Berührungen, den flüchtigen Küssen. 

Steffen Schroeder erzählt von einem heissen Sommer, in dem Konrad seine Unschuld verliert. Von einem Sommer, der ihn aus der Kindheit katapultiert. Von einem Sommer, der ihn mit einer offenen Wunde zurücklässt, in dem der Verrat über die Liebe siegt und das eigene Tun und Lassen zu einer Katastrophe werden kann. Konrads Ahnung, dass das Leben nicht bloss aus Wassereis, den Top Ten aus dem Radio und der Sehnsucht nach Nähe besteht, dass es ein Leben ausserhalb aller Konventionen gibt, an der Grenze zwischen Kindheit und Erwachsensein, bricht über den Jungen, wie Hagel, Blitz und Donnerschlag zugleich.

„Mein Sommer mit Anja“ ist die Geschichte von der Vertreibung aus dem Paradies.

Interview mit Steffen Schroeder:

Konrad und Holger haben ein Geheimnis. Anja. Aber vielleicht macht das das Wesen von Geheimnissen aus. Der Unterschied zwischen jenen in der Kindheit und jenen als Erwachsener. Ein Geheimnis ist nicht einfach nur mehr etwas Verborgenes, sondern das, was den Träger eines Geheimnisses zum Schuldigen macht, wenn auch nur sich selbst gegenüber. Konrad erfährt existenziell, dass Geheimnisse tiefe Wunden reissen können. Ist Schreiben eine Form der Wundheilung?
Für mich auf jeden Fall. Ich habe schon als Kind Erlebtes in kleinen Geschichten verarbeitet oder in Tagebucheinträgen. Es gibt Texte, die schreibe ich nur für mich. Und andere, bei denen ich mich sehr freue, wenn ich sie mit möglichst vielen Menschen teilen darf.

In der Kindheit wächst man auf in der von den Eltern mehr oder weniger behüteten Familie. Die Pubertät ist nicht nur die Zeit der Verselbstständigung, der Loslösung, sondern auch die Zeit der Ernüchterung darüber, dass die Welt nicht den eigenen Vorstellungen entspricht. Wird die Ernüchterung nicht mit jedem Jahrzehnt schmerzhafter, so sehr, dass die Jugendlichen der Gegenwart allen Grund hätten, einer kollektiven Depression zu verfallen?
Das glaube ich nicht. Der Spruch „Früher war alles besser“ galt ja schon immer. Und ich stelle fest: So sehr mich dieser Ausspruch als Kind genervt hat – mit zunehmendem Alter muss man aufpassen, ihn nicht selbst zu verwenden. Letztens las ich einen Artikel, der mit einer Abhandlung über den kuriosen Umstand begann, dass heutzutage jeder überallhin reist. Der Witz war: Die so heutig wirkende Einleitung stammte von Theodor Fontane.
Und was die Depression angeht: Die Jugendlichen von heute haben unglaubliche Möglichkeiten und Freiheiten, wie es sie in diesem Ausmass noch nie zuvor gegeben hat: Man kann sich frei entscheiden, welchen Beruf man ausüben will, wo man leben will, ob und wen man heiraten will, welche Form der Sexualität man leben will und welches Geschlecht man gerne haben möchte. Die Kehrseite der Medaille: Wenn alles offen ist, muss man überall Entscheidungen treffen. Und das ist nicht immer einfach. Hinzu kommt die Angst: Jede Entscheidung, die ich treffe, kann die falsche sein. Und schliesst automatisch eine andere Option aus. So grossartig und verlockend diese Freiheit ist, ich stelle im Umfeld meiner grossen Söhne fest: Viele Jugendliche tun sich nach dem Abitur schwer, überhaupt irgendeine Entscheidung zu treffen, egal in welchem Bereich. Und verfallen in eine Depression. Das kann ich durchaus verstehen.
Übrigens fällt mir dazu ein: Ich habe mich ja bei meinem ersten Buch ausgiebig mit dem Gefängnis und seinen Insassen beschäftigt. Und genau dieses Verhalten kenne ich auch von Langzeithäftlingen, die nach vielen Jahren vor der Entlassung stehen. Die plötzlich in Aussicht stehende Freiheit, Freiheit auf allen Ebenen, überfordert sie. Und sie werden häufig depressiv. Ich glaube, Freiheit muss man lernen.

Holger, Konrads Freund, ist zurückgeblieben, Konrad der einzige, der ihm nicht die kalte Schulter zeigt, Holgers Mutter eine Frau mit langen schwarzen Haaren und dem Kämpferherz eines Indianers. Holger, seine Mutter, Anja – alles Figuren, die nichts mit der Biederkeit der späten Achtziger gemein haben. Kann man sich allein durch Erinnerung in jene Zeit zurückschreiben oder brauchten sie Hilfe; Bilder, Geschmäcker, Düfte, Musik, Filme?
Vielleicht kann man es, aber mir wäre es definitiv zu trocken. Und so habe ich mich all dieser Hilfsmittel bedient: Musik, Geschmackssinn und Gerüche funktionieren bei mir da besonders gut – mit diesen „Transportmitteln“ konnte ich mich schlagartig in die 80er Jahre versetzen und hatte viel Spass daran!

Sie sind Schauspieler und Schriftsteller. Geben Sie sich mit ihrem Roman die Hauptrolle in ihrem eigenen, inneren Film? Oder entspricht das Schreiben viel mehr der Sehnsucht nach einer gewissen Ordnung im Leben?
Das Schreiben ermöglicht mir Geschichten so zu erzählen, wie ich sie fühle. Das ist das Grossartige daran. Ich kann alles laufen lassen, so wie es in mir entsteht. Das ist eine grosse Freiheit, die ich gar nicht genug schätzen kann.
Als Schauspieler unterstehe ich ja immer einem Regisseur, der wiederum einem Intendanten untersteht, der wiederum auch von politischen Gegebenheiten abhängig ist. Oder ich folge den Anweisungen eines Fernsehregisseurs, der einen Produzenten zufriedenstellen muss, der es wiederum seinem Redakteur Recht machen will und dieser seinem Chefredakteur; die Quote muss am Ende stimmen und so weiter… und dann spielt das Geld natürlich noch eine Riesenrolle.
Da stellt sich oft nicht mehr die Frage, wie erzählen wir unsere Geschichte am schönsten? Sondern wie erzählen wir die effektvollste Geschichte, zum günstigsten Preis, mit breitestmöglicher Zielgruppe?
Wenn ich jedoch schreibe, kann ich alles einfach so entscheiden, wie es der Geschichte dienlich ist – und Punkt. Zumindest wenn man das Glück hat, bei so einem wunderbaren Verlag wie Rowohlt Berlin zu sein. Für mich ein riesiges Geschenk.

Das Schreiben eines Buches begleitet einem über Jahre. Es teilt Leben bis in die kleinsten, feinsten Sequenzen. Und selbst, wenn die Musik jener Zeit in ihrem Roman eine wichtige Rolle spielt, bleiben die Bilder über lange Strecken stumm. Was ist der Schriftstellerei und der Schauspielerei gemeinsam?
Letztendlich geht es doch immer ums Geschichten erzählen, ob als Schauspieler oder als Schriftsteller. Ich denke, da kommen diese beiden Berufe her. Vor langer, langer Zeit sind Minnesänger durch die Lande gereist und haben den Menschen ihre Geschichten erzählt und vorgetragen. Aus diesem Beruf sind Schriftsteller und Schauspieler hervorgegangen. Insofern liegt für mich beides ganz nah beieinander. Und auf einen Nenner gebracht: Egal ob ich spiele oder schreibe: Ich möchte gerne Menschen berühren. Darum geht es mir.

© Anne Heinlein

Steffen Schroeder wurde 1974 in München geboren. Nach seiner Schauspielausbildung war er zunächst Ensemblemitglied am Wiener Burgtheater, dann beim Berliner Ensemble. Er wirkte in Fernsehserien und Kinofilmen mit. 2017 erschien bei Rowohlt «Was alles in einem Menschen sein kann. Begegnung mit einem Mörder». Steffen Schroeder lebt mit seiner Familie in Potsdam.

Webseite des Autors und Schauspielers

Dorthe Nors «Die Sonne hat Gesellschaft», Kein & Aber

Nicht immer hat man Zeit und Lust auf einen seitenstarken Roman. Nicht immer muss es eine verschlungene, sich windende Familiensaga sein, die irgendwo kurz vor dem Ersten Weltkrieg unter sich am Himmel aufbauender Wolken beginnt und sich hochschraubt bis in unsere Gegenwart plus einen Ausblick auf die Zukunft, bevölkert von einem hundertköpfigem Helden-Ensemble, mindestens. Manchmal soll es nur eine kleine Geschichte sein.

«Geschichten wie Blitzeinschläge»
Gastbeitrag von Frank Keil

Zwei Personen treten an und auf, nicht mehr. Na gut – drei. Vielleicht noch hält sich die eine oder andere Figur im Hintergrund, die sich vage einmischt, sozusagen mit Hörensagen. Aber nicht mehr!
Hineingeworfen werden möchte man in eine Szenerie, in der es gleich im ersten Satz um aber auch alles geht. Der den Takt angibt, der erste Satz, der die Richtung zeigt, in die es nun geht, bergab, bergauf, aber meistens bergab, mit Tempo, getragen von einer gewissen Gnadenlosigkeit. Und dann ist alles schon wieder vorbei und fängt doch im eigenen Kopf erst an. Wer das mag, wer das schätzt, wer da aufschreckt im positiven Sinne auf den letzten Satz starrt, ist bei der dänischen Erzählerin Dorthe Nors genau richtig.

Dorthe Nors „Die Sonne hat Gesellschaft“, aus dem Dänischen von Frank Zuber Kein&Aber, 2020; 142 Seiten, 26 CHF, ISBN: 978-3-0369-5823-1.

Ein vor sechs Jahren erschienener Erzählband trägt den Titel „Handkantenschlag“; ein darauffolgender Roman hört auf den Titel „Rechts blinken, links abbiegen“, da weiß man gleich Bescheid. Nun ist just ein nächster Erzählband erschienen: „Die Sonne hat Gesellschaft“. Auch nicht schlecht.
Also: Ein Mann hat es satt, dass er jede, aber auch jede Auseinandersetzung mit seiner Frau verliert, und er flieht in den Wald; fürchterlich gefroren hat er in der Nacht, Tiere brachen durchs Unterholz. Zwei junge Frauen sammeln in einem heruntergekommenen Wohnviertel Spenden für die Krebshilfe, sie haben eine Büchse, mit der man gut rasseln kann, wenn ein wenig Geld sich darinnen versammelt hat, aber dann fragen sie sich plötzlich: Was machen wir hier eigentlich, in einer Gegend, in die wir nicht hineingehören, dabei läuft es nicht schlecht, also mit dem Sammeln läuft es eigentlich ganz gut, nur die Liebe – puh: die Liebe! Ein Mann besucht eine Frau, die vielleicht seine neue Freundin ist oder die es werden wird, wenn es gut wird, mal schauen, eine Nacht haben sie miteinander verbracht, und nun nimmt sie ihn mit zu einem Familienfest, in einem Gasthaus in der Nähe, ein Mittagessen, aber da duldet man ihn gerade mal so. Noch ein anderer Mann steht am Sarkophag von Lord Nelson, dem Einarmigen, der zuletzt auch einäugig war, in der Mitte der Krypta steht der Sarkophag, Erinnerungen an seine abenteuersehnsüchtige Kindheit überschwemmen unseren Mann, an Modellbauschiffe, an ruppige Eishockeyspiele denkt er, seine Frau sitzt draußen auf den Stufen, mit Sonnencreme im Gesicht und schaut gelangweilt in ihr Handy, sie spielt ein Spiel, bei dem man bunte Ballons zerplatzen lassen kann.

14 hochkonzentrierte Geschichten sind so versammelt, 14 Geschichten wie Blitzeinschläge, 14 mal Grundmomente wie Verzweiflung, Einsamkeit, aber auch des Aufbegehrens werden uns auf jeweils wenigen Seiten erzählt, das kann Literatur, das kann sie wirklich, auch das denkt man und denkt an all die Leute, die da sagen: „Bücher? Ich lese keine Bücher mehr, vielleicht mal ein Fachbuch.“. Während man durchaus angestrengt überlegt, ob man jetzt gleich die nächste Geschichte hinterherlesen will, sofort, ohne Pause, oder ob man sie sich aufsparen will, auch weil man ein wenig Angst hat, dass der Zauber und mehr noch die Macht des eben Gelesenen in die Kniee gehen könnte, wenn jetzt gleich wieder der Anfangssatz der nächsten Geschichte zündet und diese die eben Gelesene überlagert.

Dabei hat Dorthe Nors mit Romanen angefangen. Hat zugleich immer in die USA geschielt, sich ausgedacht, dass sie das nicht könne, Kurzgeschichten schreiben, aber dann setzte sie sich in eine Schulklasse von jungen Leuten, die dabei waren noch den letzten Halt zu verlieren und denen man noch eine Chance geben will, eine letzte, eine allerletzte; saß da unter ihnen, schaute hin, hörte zu, schrieb darüber einen kurzen, knappen Text, las ihn den Schülern vor und die waren begeistert, sie fühlten sich gesehen, weil sie sie gesehen hatte.
Und Dorthe Nors schrieb weiter, schrieb weitere Kurzgeschichten, eine Gattung, die es in der klassischen dänischen Literatur eher nicht gibt, sie in einem Rutsch, in einem dieser typischen Ferienhäuser an der jütländischen Westküste, das einst dem dänischen Dichter Knut Sørensen gehört und das nun für Stipendienaufenthalte zur Verfügung steht; zwei Wochen nahm sie sich Zeit, schrieb und schrieb und schrieb, was auch gut war und half: Sie war in dieser Zeit verliebt, schwer verliebt, wie man so sagt, war sich sicher, die Liebe ihres Lebens gefunden zu haben.

„Handkantenschlag“ oder übersetzt: „Karate Chop“ wurde ein Erfolg in den USA, eine Erzählung aus dieser Sammlung druckte der The New Yorker ab, so wurde sie die erste Dänin, von der ein literarischer Text im The New Yorker abgedruckt ist.
Und so ist sie – sozusagen unterbrochen von weiteren Romanen, wobei „Rechts blinken, links abbiegen“ für den Man Booker International Prize nominiert war – beim Sujet der Kurzgeschichte geblieben, was man nur begrüßen kann, und in ihrem eben neuen Erzählband gibt es neben den Geschichten über den Lord-Nelson-Fan und dem Mann im nächtlichen Wald, auch eine Geschichte über eine Schriftstellerin: Eine Schriftstellerin zieht sich zum Schreiben in das ehemalige Sommerhaus eines norwegischen Schriftstellers zurück, mitten im Wald liegt es, aber sie findet keine Ruhe zum Schreiben, eine Liebe ist zerbrochen, unweigerlich, wie soll man da schreiben, aber dann fügen sich die Dinge neu zusammen, Pferde spielen eine Rolle, das Foto von einer nackten Frau an einer Wand, eine Mutter und ihr Sohn und sie kommt ins Schreiben und der erste Satz geht so: „Es ist lange her, aber einmal wohnte ich in einem kleinen Haus in Norwegen.“

Dorthe Nors wurde 1970 in Herning, Dänemark, geboren und studierte Literaturwissenschaft und Kunstgeschichte an der Universität Åarhus. Sie ist die Autorin mehrerer Romane, Kurzgeschichten und Novellen. Bei Kein & Aber erschien 2016 ihr Roman «Rechts blinken, links abbiegen», der für den Man Booker International Prize nominiert wurde. Dorthe Nors lebt an der dänischen Westküste.

Frank Keil, Journalist, lebt und arbeitet in Hamburg und Norddeutschland. Studium der Diplom-Pädagogik. Seit 1995 unterwegs als freier Journalist, Schwerpunkte Kunst und Kultur, Geschichte sowie Bildung und Soziales. Aktuell regelmässige Beiträge für die Taz Nord, Hinz&Kunzt, Nordis, Mare, Jüdische Allgemeine, die Evangelische Wochenzeitung und andere Medien. 1990 Förderpreis für Literatur der Hansestadt Hamburg, 2009 Essaypreis der Akademie für Publizistik.

Webseite Frank Keil

Beitragsbild © Petra Kleis

Annie Ernaux «Eine Frau», Bibliothek Suhrkamp

Stirbt die Mutter oder der Vater, drängen sich Fragen der eigenen Existenz auf. Vielleicht, weil man mit dem Tod der Eltern unmittelbar auf sich selbst zurückgeworfen ist, weil einem das Gefühl des Getragenseins genommen wird, weil die Endlichkeit unweigerlich vor Augen rückt. Annie Ernaux setzt im Titel ihres Erinnerungsbuches an ihre Mutter einen unbestimmten Artikel. «Eine Frau» ist ein Buch über eine ganze Generation von Frauen.

«Ich werde ihre Stimme nie mehr hören. Sie, ihre Worte, ihre Hände, ihre Gesten, ihr Gang und ihre Art zu lachen waren es, die die Frau, die ich heute bin, mit dem Kind, das ich gewesen bin, verbunden haben. Ich habe die letzte Brücke zu der Welt, aus der ich stamme, verloren.»
Die letzten drei Sätze des nicht einmal 100seitigen Romans von Annie Ernaux, von dem sie selbst schreibt, es sei «keine Biographie und natürlich auch kein Roman, eher etwas zwischen Literatur, Soziologie und Geschichtsschreibung». Keine Biographie, weil Annie Ernaux fast ganz auf Wertungen verzichtet und ganz auf den Anspruch, ein vollständiges Bild zeichnen zu wollen, mit ihrem Schreiben ein Leben auszuleuchten. Kein Roman, weil Annie Ernaux nie in die Rolle ihrer Mutter hineinschlüpft, nie nachzuempfinden versucht, was die Mutter denkt und fühlt. Obwohl Annie Ernaux bei ihren LeserInnen viel Mitgefühl und Resonanz erzeugt, bleibt ihr Schreiben erstaunlich sachlich, ganz nah an Fakten, Fakten die den Sepiagilb behalten, nie verklären, nie beschönigen und schon gar nicht romantisieren.

Annie Ernaux: „Eine Frau», Bibliothek Suhrkamp, 2019; 88 Seiten, 27.90 CHF., ISBN: 978-3-518-22512-7.

Vielleicht liegt die Faszination ihres Schreibens in dem, was es auslöst. Wir sind alle Töchter und Söhne. Unsere Mütter und Väter sterben. Was sie hinterlassen, lässt sich in keinem Fall einfach wegwischen, begleitet uns ein ganzes Leben, bewusst oder unbewusst. All das, was einen Vater oder eine Mutter ausmachte, liess uns zu dem werden, was wir sind. Wer in einen Spiegel schaut, sieht viel mehr als nur sich selbst. Mütter sterben, verschieben eine Existenz. Mütter sind immer da, in welchem Aggregatzustand auch immer. Sie waren Jahrzehnte der Boden, auf dem es keimte, das Kissen, auf das man fiel oder sich zurücklehnen konnte, Zündstoff und Bremse, Knautsch- und Komfortzone.

Annie Ernaux› Mutter erkämpfte sich ihren Platz, jenen in ihrer Familie, an der Seite ihres Mannes, im Geschäft als Unternehmerin, in der Gesellschaft. Auf ihrer Fahne stand «Um jeden Preis die Lage verbessern», ihre eigene, die ihrer Familie, die ihrer Kinder, ihrer Tochter. Dafür arbeitete sie von früh morgens bis in die Nacht, ein ganzes Leben lang, bis ihr Krankheit und Demenz das Szepter aus der Hand nahmen. Ihr grösster Wunsch war es, der Tochter all das zu geben, was ihr verwehrt blieb, trotz ermahnenden Sätzen wie «Du hast so viel und bist trotzdem nie zufrieden». Eine Frau, die Liebe mit Strenge gleichsetzt, die an der Ladentheke mit aller Freundlichkeit die Kundschaft bediente, um Augenblicke später Ohrfeigen in der Küche zu verteilen wegen übermässigem Lärm. Und später, in den unruhigen Siebzigern, als der Vater starb, wurde aus der Tochter-Mutterbeziehung ein veritabler Klassenkampf.

«Eine Frau» berührt ungemein!

über den Vater

Annie Ernaux, geboren 1940, bezeichnet sich als »Ethnologin ihrer selbst«. Sie ist eine der bedeutendsten französischsprachigen Schriftstellerinnen unserer Zeit, ihre zwanzig Bücher sind von Kritik und Publikum gleichermassen gefeiert worden.

Sonja Finck, geboren 1978 in Moers, studierte Literaturübersetzen in Düsseldorf. Inzwischen lebt sie als literarische Übersetzerin in Berlin und Gatineau (Kanada). 2019 erhielt sie den Eugen Helmlé-Übersetzerpreis.

Annie Ernaux «Der Platz», Rezension auf literaturblatt.ch

Beitragsbild © Catherine Hélie / Editions Gallimard

Annie Ernaux «Der Platz», Bibliothek Suhrkamp

Annie Ernaux bezeichnet sich selbst als «Ethnologin ihrer selbst». Weit gefehlt, wer glaubt, die Schriftstellerin betreibe damit Nabelschau. «Der Platz» ist eine Liebeserklärung an den toten Vater, eine Liebeserklärung an die Entschlossenheit eines Lebens.

Mehr als ein Vierteljahrhundert nach seinem Erscheinen und seiner Erstübersetzung auf Deutsch unter dem Titel «Das bessere Leben» erschien «la place» in einer sorgfältig neu übersetzten Ausgabe im vergangenen Jahr in der legendären Bibliothek Suhrkamp, in der «Bibliothek der Klassiker der Moderne». Annie Ernaux’s Erzählkosmos ist sie selbst, ihre Geschichte, ihre Herkunft, ihre Familie. Und kaum einer Autorin oder einem Autor sonst gelingt diese Art der Erkundung auf eine so schlichte, bescheidene, sachliche und fast dokumentarische Art wie Annie Ernaux. Kein Wunder spaltet die Autorin. Die einen werfen ihr vor, man lese nur immer und immer wieder das gleiche, Banales. Andere bezeichnen ihr Schreiben als geniale Mischung von Autobio- und Historiographie.

Annie Ernaux nimmt den Tod ihres Vaters als Anlass über ihn und sein Leben zu erzählen, ein Leben von Beginn des 20. Jahrhunderts, an zwei Kriegen vorbei, von bitterster Armut, dem Kampf ums Überleben, der permanenten Ernüchterung und der Angst vor Verlust. Ihr Vater konnte kaum lesen, kaum schreiben. Zeitlebens waren ihm Bücher, Bildung, Intellekt suspekt. Er war Bauer, Arbeiter, schaffte es irgendwann selbst Besitzer eines kleinen Lebensmittelladens mit Ausschank zu werden, wurde aber nie der, der sich in seinem Stand sicher fühlte. Sein Leben bestand aus Arbeit, Kampf und der Einsicht, dass einem nichts geschenkt wird. Selbstverständlichkeiten aus heutiger Sicht, wie Ferien oder minimaler Luxus waren ihm fremd. Durch nimmermüden Einsatz gewonnener Überfluss verpflichtete zu Hilfe und Unterstützung jener, denen das Glück sich verweigerte. Leben bestand aus Arbeit. Man lebte, um zu arbeiten. Auch wenn sich heute solche Sätze umkehren, liest sich die Lebensgeschichte dieses Mannes als wäre sie prähistorisch. Dabei braucht man nur in den Fotoalben unserer Gross- und Urgrosseltern zu stöbern und man trifft sie wieder, die Ehepaare, die schwarz gekleidet vor einer drapierten Kulisse mit todernstem Gesicht dem Fotografen in die Linse starren.

Auch wenn sich der Text nüchtern, fast sachlich gibt, drückt der Schmerz hindurch, die Trauer darüber, nie jene Nähe zum Vater gewonnen zu haben, die das letzte Verstehen ermöglicht hätte, das beiderseitige Verstehen: «Vielleicht hätte er lieber eine andere Tochter gehabt.»

«Vielleicht sein grösster Stolz, sogar sein Lebenszweck: dass ich eines Tages der Welt angehöre, die auf ihn herabgeblickt hatte.»

Annie Ernaux will verstehen. Sie öffnet sich selbst das Fenster zur Vergangenheit und blickt auf das Leben ihres Vaters, dem sie nur schreibend nahe kommen kann. Annie Ernaux schenkt mir als Leser einen Blick mitten in dieses Leben, eine Vergangenheit, die sich leicht verklärt, sei es durch Filme oder die Literatur selbst. Annie Ernaux beschönigt nichts. Wer ihre Bücher liest, spürt dem haftenden Gerüchen von Armut und Demut nach. Ihr Erzählen ist nüchtern, ohne Metaphern, chronologisch, ohne Abschweifungen. Einzige kurze Reflexionen über das Schreiben selbst durchziehen den Text, machen klar, mit wie viel Ringen das Schreiben verbunden ist.

«Der Platz» ist eine Annäherung an den Vater. «Eine Frau» jene an ihre Mutter. Ein perfekter Einstieg in das Leseabenteuer Annie Ernaux!

© Catherine Hélie / Editions Gallimard

Annie Ernaux, geboren 1940, bezeichnet sich als »Ethnologin ihrer selbst«. Sie ist eine der bedeutendsten französischsprachigen Schriftstellerinnen unserer Zeit, ihre zwanzig Bücher sind von Kritik und Publikum gleichermassen gefeiert worden.

Sonja Finck, geboren 1978 in Moers, studierte Literaturübersetzen in Düsseldorf. Inzwischen lebt sie als literarische Übersetzerin in Berlin und Gatineau (Kanada). 2019 erhielt sie den Eugen Helmlé-Übersetzerpreis.

Annie Ernaux über ihr Schreiben und ihr Buch «Der Platz»

Beitragsbild © Sandra Kottonau

Thomas Sandoz «Ruhe sanft», die brotsuppe

In Diskussionen darüber, was Literatur darf, soll oder muss, wird schnell diametral verschieben argumentiert. Den einen soll Literatur nicht mehr als gute Unterhaltung bieten. Andere müssen Resonanz spüren, nicht nur inhaltlich und thematisch, sondern auch im Sound der Sprache. Und wieder anderen genügt eine Literatur ohne unterlegte Mission nicht.

Thomas Sandoz› schmaler Roman will mit Sicherheit mehr als blosse Unterhaltung liefern. Im Gegenteil; Leserinnen und Lesern, die Bücher nur zur Zerstreuung brauchen, würde ich diese Buch nicht empfehlen. Es wäre schlicht zu schade dafür.
Dann schon eher der Geniesserin, dem Geniesser. Jenen, die spüren wollen, wie  Sprache hinausträgt, weit mehr als Informationsträger sein kann, sondern Medium, Instrument, das Nachhall erzeugen will.
Aber noch viel deutlicher jenen, für die Literatur auch ein Kampfmittel, eine Form der Auseinandersetzung, ein Infrage-stellen ist. Thomas Sandoz nimmt sich den «kleinen Leuten» an, jenen, denen die Stimme genommen wurde oder die sie verloren. «Ruhe sanft» ist ein Mahnmal gegen eine blank polierte Welt, die sich der Funktionalität und Rentabilität verkauft hat. In der es weder für Langsamkeit noch für Innigkeit, weder für Hingabe noch für Eigenwilligkeit Platz hat. Schon gar nicht für Schrullen.

Schon lange arbeitet er als einer der Gärtner auf dem städtischen Friedhof. Wenn Pause ist, duckt er sich weg, macht sich lieber unsichtbar oder bleibt noch lieber dort, wo er hingehört; in den Teil des Friedhofs, wo die Kinder liegen, zu den Kindergräbern, seinen Kindern. Morgens ist er der erste, abends der letzte. Die kleine Wohnung nicht weit vom Friedhof ist karg eingerichtet, mehr  Höhle als Wohnung.

Für eine eigene Familie hat es nie gereicht. Vielleicht deshalb, weil er das Trauma einer schwierigen Kindheit ein Leben lang wie einen Alp mit sich herumschleppt. Weil ihn die Bilder aus jener Zeit auch im Alter nicht loslassen. Weil er nie aus seinem Schweigen herausfand. So wie ihn die Schicksale der verstorbenen Kinder nicht loslassen, die Geschichten, die er sich zusammenreimt, die den Kindern eine Vergangenheit schenken, die erklärbar machen, warum man sie auf dem Friedhof vergessen hat. Er macht seinen Kindern Geschenke, bemüht sich viel mehr als nur um die Bepflanzung, das Kreuz, den Grabstein und den Weg dorthin. Er gibt den Kindern Namen; Primel, Forsythie, Hyazinthe, Pfingstrose oder Anemone. Er redet zu ihnen, leistet ihnen Gesellschaft, ist ihnen Behüter und Vater.

Die anderen auf dem Friedhof nehmen seine Schrullen, seine Eigenarten zur Kenntnis. Er ist längst zum Inventar geworden, einem Stück des Friedhofs. Aber auch auf dieser Ruhestätte macht Modernismus, Fortschritt und Reform keine Ausnahme. Männer mit Plänen, Klemmbrettern und Messbändern machen sich zu schaffen und er macht sich Sorgen um seine Familie, all die Kinder, die nicht nur ihr Leben verloren , aber durch sein Tun etwas von dem zurückbekommen, was dem Verschwinden droht.

Er versteht die Welt nur schwer, kann sie nicht mehr lesen. Sein Blick ist düster, alles bedroht von Niedergang und Zerstörung. Er versteht weder den Einsatz von Gift gegen Unkraut, noch das geschäftig Tun der Friedhofsleitung. Die Menschen schon gar nicht, die Jungen überhaupt nicht. Dafür umso mehr die Stimmen seiner Kinder in seinem Geviert, jenen, die man seiner Obhut übergab. Aber jetzt, wo Inspekteure und Bürohengste Sanierungen, Restaurierungen und Umfunktionierungen androhen, zwingt es ihn, einen lange gehegten Plan in die Tat umzusetzen. Er kauft ein altes Haus mit Grundstück, einen Ort, an dem er seinem Kindergarten eine neue Heimat geben wird.

Thomas Sandoz erzählt die Geschichte von jemandem, den man nicht mehr braucht, den die Gegenwart und die Zukunft erst recht vergessen hat, der einen stillen, zornigen, verbissenen Kampf austrägt gegen einen Feind, der in allem zu stecken scheint. Einen Kampf, der ihn nahe an den Rand des Abgrunds führt, der es aber in seiner Selbstvergessenheit gar nicht merkt, wie sehr die Blicke um ihn herum zu Geschossen werden.

«Ruhe sanft» gilt nicht für den Protagonisten, nur für jedes einzelne der Kinder, die dort begraben liegen.

Ein zorniges Buch, eine Innenansicht eines Verschlossenen.

Thomas Sandoz lebt im Kanton Neuenburg und hat Prosa, Essays und Monographien veröffentlicht und dafür diverse Auszeichnungen erhalten. Insbesondere 2011 den Preis der Schweizerischen Schillerstiftung für «Même en terre» (Grasset). Die zuletzt erschienenen Titel sind «Les temps ébréchés» (Grasset, 2013), «Malenfance» (Grasset, 2014), «Croix de bois, croix de fer» (Grasset, 2016), «La balade des perdus» (Grasset, 2018).

Yves Raeber ist Schauspieler, Regisseur und Übersetzer von Theaterstücken und Prosa. 2017 hat ihm die Fachstelle Kultur des Kantons Zürich für seine Arbeit an «Ruhe sanft» einen Werkbeitrag für Literarisches Übersetzen zugesprochen.

Webseite des Autors

Beitragsbild © Sandra Kottonau

Laura Vogt «Was uns betrifft», Zytglogge

Laura Vogts zweiter Roman strotzt von beinah triefender Weiblichkeit. Ob Mann oder Frau; wer den Roman „Was uns betrifft“ liest, sinkt immer tiefer in ein enges Geflecht von Intimitäten, die nie entblössend, nie voyeuristisch, nie beschämend, aber unsäglich ehrlich und direkt sind. „Was uns betrifft“ betrifft uns, ob Mann oder Frau.

Fenna, Verena und Rahel. Drei Frauen. Verena die Mutter, die sich einst von Erik trennte und mit Ida ein neues Leben begann, die krank und geschwächt die Nähe zu ihren Töchtern sucht. Fenna, die jüngere der Töchter, schwanger von Luc, gleichsam verunsichert wie entschlossen. Und Rahel, die Erzählende, die von Martin schwanger sitzengelassen wurde und bei Boris in seinem grossen Haus Asyl findet, wieder schwanger wird und sich immer tiefer in den Verstrickungen von Mutterschaft, Selbstzweifeln, Enge und Verunsicherung wiederfindet.

„Rahel trommelte mit beiden Fäusten auf ihre Stirn…. Hier drin ist alles weg. Absolut leer!»

Wäre Rahels Leben nicht von den Pflichten einer Mutterschaft zugedeckt worden, wäre sie Sängerin, Texterin geblieben. Aber was in ihrem Bauch zu wachsen begann, nahm ihr die Freiheit, auch jene, jener Stimme nachzugehen, von der sie einst glaubte, es mache ein ganzes Leben aus. Und weil sich mit dem Schriftsteller Boris, seinem grossen Haus, seiner Unaufdringlichkeit und seiner Fürsorge alles wie von selbst zu fügen schien, gibt sich Rahel auch in eine zweite Schwangerschaft. Ein Kind allerdings, dass sich in eine nicht bereite Welt verirrt hat, das sich nach der Geburt fremd anfühlt. Zeichen, die Boris nicht verstehen kann, denen Boris immer hilfloser gegenübersteht.

„Sie wollte fort, weit weg.“

„Was uns betrifft“ ist keine Beziehungskiste. „Was uns betrifft“ ist eine wilde Reise durch die Weiblichkeit. Selten verunsicherte mich die Lektüre eines Buches so sehr – weil ich ein Mann bin. Nicht weil ich nicht verstehen könnte, was geschrieben steht, was erzählt und gefühlt wird. Aber ich bin ein Mann. Ich lese diesen Roman mit dem Blick eines Mannes, eines Vaters, lese ihn von der anderen Seite, von gegenüber, in einer seltsamen, bei der Lektüre eigenartigen Distanz. Noch verstärkt darin, weil der Roman aus maximaler Nähe erzählt, weil mich die Weiblichkeit wie ein Strudel mitnimmt, ohne mich zu erschlagen.

„Jede webt ihre Geschichten aus ihren Erfahrungen und trägt sie anders.“

„Was uns betrifft“ betrifft so sehr, weil Laura Vogt mich auf eine Reise mitnimmt in jenes Reich, dass sich scheinbar unendlich weit weg von Freiheit befindet, erdrückende Enge bedeutet, die alles zudeckt, alles vereinnahmt und doch durch nichts gleichzusetzen ist, dass in seiner Einmaligkeit berauscht, das von etwas kosten lässt, was sonst verborgen bliebe.
„Was uns betrifft“ ist kein Frauenbuch, aber ein Buch, das so nur von einer Frau geschrieben werden kann. Umso aufschlussreicher für den Mann. Umso kraftvoller und unmittelbarer für die Frau! Unglaublich sensible Beobachtungen und Schilderungen. Frausein wird Wahrnehmung, für mich als lesenden Mann zum Abenteuer. Dieses Frausein, das mit Zeugung, Schwangerschaft, Geburt und Mutterschaft untrennbar verbunden ist und für mich durchs Lesen zur Tiefenerfahrung wird! Laura Vogt schreibt sich durch die Haut hindurch in den Bauch der Frau. Vielleicht auch in die Erkenntnis, dass es zwischen Frau und Mann letztlich nur zum liebenden Verständnis kommen kann, ohne die Geheimnisse des jeweils anderen Geschlechts ergründen zu können. Dass ich als Mann Eindringling und Ausgeschlossner bleibe.

„Ein Haus, ein Mann, ein Sohn, eine Tochter, ein Stück Garten und dann doch auf einmal diese Leere.“

Rahel trifft sich mit ihrer Schwester und ihrer vom Krebs geschwächten Mutter. Zwei Tage allein, ohne Kinder, weil Boris mit ihnen weggefahren ist. Sie sind allein in seinem Haus, wie damals, als sie allein waren, bei ihren „Dämlichabenden“. Aus Distanz wird mit einem Mal Nähe, gewinnen sie zurück, was sie verloren glaubten. Verena ihre Familie, Fenna ihre Entschlossenheit und Ruhe und Rahel ihre Stimme, ihre Sprache, ihr Schreiben. Laura Vogts Roman ist vielschichtig, entblättert sich nur bis zu einem Kern, der verschlossen bleibt und die Fragen, was uns denn zusammenhält nicht beantworten kann und will.

„Ich habe immer gemeint, Singen und Schreiben bedeutet vor allem Loslassen und Abschied. Abstand nehmen … Aber es ist viel mehr als das. Es ist auch Neuanfang. Weitergehen.“

„Was uns betrifft“ ist eine Reise. Die Reise einer Mutter mit ihrem Kind, von der unmittelbaren Verbindung über die permanente Entfremdung und Entfernung ab Geburt bis zum Gefühl, dass damit auch Entfernung und Entfremdung mit sich selbst einhergeht. Eine Reise weg von den festgelegten Vorstellungen von Familie aus der Vergangenheit in die Weite einer Gegenwart, in der man sich zu verlieren droht. Eine Reise von aussen in die Fänge einer Familie und wieder hinaus. Eine Reise zwischen Tochter- und Muttersein.

Grossartig!

Die Buchvernissage am 26. März 2020, 19:30 Uhr, Raum für Literatur, St. Gallen ist abgesagt. Lesen Sie das Buch erst recht!!!

Laura Vogt, 1989 in Teufen (AR), studierte am Schweizerischen Literaturinstitut in Biel, davor einige Semester Kulturwissenschaften an der Uni Luzern. Sie schreibt neben Prosa auch lyrische, dramatische und journalistische Texte und ist als Schriftdolmetscherin und Mentorin tätig. 2016 erschien ihr Debütroman «So einfach war es also zu gehen». Laura Vogt lebt im Kanton St. Gallen.

Programm Wortlaut-Literaturfestival St. Gallen

Webseite der Autorin

Beitragsbild © Lea Frei

Dietmar Krug «Von der Buntheit der Krähen», Otto Müller Verlag

Vielleicht ist es eine der schwersten Aufgaben eines Lebens, sich der Wahrheit, den Wahrheiten zu stellen. Thomas und Karl, beide einst in der gleichen kleinen Schule im Dorf stellen sich ihren Wahrheiten in vollkommen gegensätzlicher Weise. Und dabei wird ein Dorf zu einem Schauplatz, der die Wahrheiten provoziert. Thomas, der fast ein ganzes Leben vor ihr floh. Karl, dessen Leben zu einem einzigen Kampf darum wird.

Thomas entfloh einst dem Dorf, hielt es nicht mehr aus, schälte sich aus dem scheinbaren Würgegriff und machte sich aus dem Staub. Weg vom Alp in seiner Familie, weg von den Ketten im Dorf, weg aus einem Geflecht von Erwartungen. Er tauchte ab in die Stadt, etablierte sich als gefragter Musikkritiker, bis ihn die alten Muster, gepaart mit Tablettensucht und Alkohol wieder von seinem Platz wegtrieben, zurück ins Dorf, das er einst hinter sich gelassen hatte. Thomas will Zeit, Klarheit und einen Weg weiter. Er weiss, dass es für ihn und seine Art des Schreibens bei den Tageszeitungen keinen Platz mehr gibt, dass er sich nicht nur beruflich neu orientieren muss, um zu überleben. Er richtet sich im Dorf, in dem er aufwuchs in einem kleinen Häuschen am Rand ein, einem Haus, das einst von Hippies bewohnt seit Jahrzehnten allein in einem wilden Garten sich selbst überlassen war.

Im gleichen Dorf lebt Karl. Scheinbar einer von der Sorte Mensch, denen der Looser in den Genen steckt. Karl wuchs beim Grossvater auf einem kleinen Hof auf, einem Hof, den er noch immer mehr schlecht als recht bewirtschaftet. Bei einem Grossvater, der ihm schon in Kindertagen die Härte des Lebens beibringen wollte. In einem Leben, in dem er höchstens von den Tieren im Stall den ungetrübten Blick, die unvoreingenommene Zuwendung geniessen konnte. In einem Dorf, das ihn gnadenlos zum Aussenseiter machte, obwohl seine Erscheinung, je älter er wurde, desto respekteinflössender war. In einem Körper gefangen, den er nie zu seinem eigenen werden lassen konnte. Provoziert von seiner Umwelt gerät er in die Mühlen der Justiz, ins Gefängnis, zurück an den mittlerweile verwaisten Hof, entschlossen in sich die Frau zu befreien, die im falschen Körper steckt. Ein Unterfangen, das in einem Dorf wie dem seinigen zum Spiessrutenlauf wird.

Dietmar Krug, selbst lange Zeit Mitarbeiter in Zeitungsredaktionen und Kolumnist, Meister der filigranen Beschreibungen, beschreibt die nach innen und aussen gerichteten Auseinandersetzungen der beiden Männer. Thomas stellt sich seinen Wahrheiten nicht, er, dem die Herzen der meisten Dorfbewohner offen stehen. Er schafft es auch nicht, das Grab seiner Mutter zu besuchen, das Haus, in dem er aufgewachsen ist. Aber er beginnt in dem kleinen Haus, im Garten, den er mit den beiden Kaninchen eines Mädchens aus der Nachbarschaft, die er in Pflege nimmt, teilt, zu schreiben, zaghaft zuerst, dann immer tiefer, weil er weiss, dass im Schreiben der einzige Weg für ihn offen steht.

Karl hingegen, vom Dorf wegen seines kriminellen Vaters und seiner unglücklichen Kindheit und Jugend stigmatisiert, nimmt den Kampf auf, stellt sich nicht nur den Geistern, sondern knackt das Gefängnis, in dem sein Körper steckt. Nach unsäglich vielen verschämten Versuchen, eingetaucht in Heimlichkeiten und den Dunst von Alkohol, zelebriert er ungeniert seine Transsexualität.

Dietmar Krug bettet die Geschichten in ein Dorf, in ein feines Geflecht, von Menschen, die sich ganz unterschiedlichen Dämonen zu stellen haben, in ein Dorf, das wie viele andere von den Verschiebungen zwischen Vergangenheit und Gegenwart zerrissen wird. Ein junges Mädchen erklärt Thomas in die „Die Buntheit der Krähen“, dass die schwarzen Vögel eigentlich zu den Singvögeln gehören und ihr Federkleid nur für den oberflächlichen Betrachter schwarz ist. Wer genau schaut, sieht, dass das Federkleid in allen Farben schimmert – und selten etwas ist, wie es scheint.

Der neue Roman Dietmar Krugs entwickelt einen ungemein leisen Sog. Eine der vielen Überraschungen des Lesens sind die Beschreibungen von Tieren und Klängen. Etwas, was ich in dieser Intensität nur ganz selten antreffe. Beschreibungen, die dem Buch das schenken, was die Qualität der Protagonisten ausmacht; eine Wahrnehmung, die der Wahrheit unweigerlich an die Oberfläche hilft. Ein ganz besonderer Lesegenuss.

© Pilo Pichler

Interview mit Dietmar Krug:

Ich kann nicht weitermachen wie bisher“, sagen beide, Thomas und Karl, jeder auf seine Weise. Warum muss ganz offensichtlich das Leiden stets existenziell werden, bis man sich an einen Richtungswechsel macht? Sowohl der ganz persönliche wie der globale! Erst wenn es offensichtlich um Kopf und Kragen geht, beginnt das Galoppieren auf den Abgrund zögerlich zu werden?
Der Klimawandel ist ein gutes globales Beispiel: Er ist jetzt plötzlich keine graue Theorie mehr, seitdem man an der eigenen Haut fühlen kann, dass es wärmer wird. Dann greifen auf einmal die eingebildeten Motive und Scheinrationalitäten nicht mehr. Der Mensch muss die Dinge offenbar regelrecht an Kopf und Kragen, das heisst körperlich, spüren, bis er sie im wörtlichen Sinn „begreifen“ kann. Dann erst geht’s ans „Eingemachte“.
Wenn es für Thomas und Karl existenziell wird, offenbart sich womöglich, worauf ihre Existenz eigentlich beruht.
Es reizt mich, Figuren in solchen Grenzsituationen zu schildern. Das bietet die Chance, sich dem anzunähern, was den Menschen im Innersten ausmacht, seinen Abgründen und Ängsten, aber auch seinen tiefsten Sehnsüchten. 

Die Borniertheit in ihren vielfältigsten Schattierungen scheint in ihrem Roman ein fast ausschliesslich männliches Problem zu sein. Es sind die Frauen, Mädchen, die aufbrechen und provozieren, selbst bei Karl, der im Laufe des Romans zu einer Frau wird, zu „Sissi“, sich einen Namen gibt, der sinnbildlich erscheint für den Ausbruch aus einem Korsett. Schält sich die Gesellschaft aus einer männlichen Umklammerung? Oder zerfällt das eine Klischee einfach zu einem neuen?
Borniertheit ist gewiss kein exklusiv männliches Phänomen. Aber wenn ein Ausnahmezustand auftritt, ein Bedrohungsszenario, gleich, ob echt oder eingebildet, dann sind stets die Männer an vorderster Front zur Stelle. Und dann liegt allzu rasch Gewalt in der Luft. Die Kasernen und Hochsicherheitstrakte der Welt sind nicht ohne Grund vor allem von Männern besetzt. In meinem Roman sind es in erster Linie die männlichen Dorfbewohner, die dem Wahn verfallen sind, ihr Dorf gegen die vermeintliche Bedrohung durch alles Fremde und Fremdländische verteidigen zu müssen. Das dafür nötige Ausblenden von sozialen und zivilisierten Regungen ist meinen weiblichen Figuren allein schon deshalb unmöglich, weil ihr mitfühlender Sinn durch ihr Lebensschicksal ungewöhnlich stark ist. Die eine (Agnes) hat ein schwer krankes Kind, die andere (Karin) ist für einen psychisch kranken Bruder verantwortlich. Aber es gibt ja auch noch Thomas› Tante Klara, die das, was sie für Mutterliebe hält, durchaus mit dem Soldatentum ihres Sohnes in Einklang bringen kann.

Geschechtsdysphorie (Geschlechtsidentitätsstörung) ist keine Krankheit, auch wenn der Begriff wie eine tönt. Karl leidet darunter, selbst als sie, als Sissi. Leidet die Gesellschaft darunter, dass sich das Menschsein nicht immer bloss einteilen lässt in das eine oder das andere; Frau oder Mann, richtig oder falsch, rechts oder links, Wahrheit oder Lüge? Wärs nicht an der Zeit, dass man schon den Kindern die Buntheit der Krähen erklärt?
Da berühren Sie einen wunden Punkt, der im Grunde die derzeitige medizinische Praxis in Erklärungsnot bringt. Denn auf der einen Seite gibt man sich dort inzwischen überaus aufgeklärt und betrachtet das Phänomen der Transsexualität nicht mehr als Krankheit, ja nicht einmal mehr als Störung. Andererseits bietet man den Betroffenen hoch wirksame Medikamente und radikale chirurgische Eingriffe an, die sonst nur bei schwer kranken Menschen zum Einsatz kommen. Und noch ein Paradox: Auf der einen Seite weist man immer öfter darauf hin, dass die Geschlechtergrenzen fliessend sind. Andererseits stellt man die Eindeutigkeit der Polaritäten am Ende ja gerade dadurch wieder her, dass man mit hormonellen und chirurgischen Mitteln aus einem Mann eine Frau macht – oder umgekehrt. Meine Utopie wäre eine Welt, in der Menschen mit fliessendem Geschlechtsempfinden sein können, was sie sind, und die Medizin gar nicht mehr nötig hätten.

Thomas Mutter war keine aus dem Dorf. Eine Fremde, eine aus dem Balkan, eine, die verstummte. Eine, die es nicht schaffte, sich von einem Alp zu befreien, die sich nie herauswinden konnte aus dem Korsett, das ihr den Atem stahl. Irgendwann kann Schweigen zu einer Mauer werden, die sich nicht mehr einreissen lässt. Fehlte ihr die Sprache?
Ja, sie hat ihre Sprache eingebüsst, ihr Sprachverlust ist im Grunde ein Vertrauensverlust. Ihr Bruder war der einzige Mensch, an den sie sich in ihrer kindlichen Not wenden konnte. Als er sich grob von ihr abwandte, gab es niemanden mehr, den ihre Worte erreicht hätten. Selbst die spätere Liebe und Fürsorge ihres Mannes hat die Mauer des Schweigens nicht mehr überwinden können. Und doch hat sie mit ihrem Sohn eine eigene, ganz und gar andere Sprache entwickelt – im Reich der Musik und in der Welt der Klänge. Hier haben die beiden eine tiefe Verbindung zueinander und können sich Dinge mitteilen, für die es sonst keine Worte gäbe. 

Thomas sitzt in dem kleinen Haus oder im Garten und schreibt. Er tippt in seinen Laptop. Und immer wieder erscheint auf dem Bildschirm «speichern, verwerfen, abbrechen». So wie beim Schreiben ist es doch wie im Leben, mit allem, jedem Bild, jedem Erlebnis. Oder bilden wir uns nur ein, wir könnten selbst entscheiden?
Als Thomas versucht, einige Erinnerungen und prägende Erlebnisse aufzuschreiben, scheitert er jedes Mal buchstäblich daran, das Notierte auf dem Computer zu speichern, dem „Dokument“ einen Namen zu geben. Diesem Zwang, sich entscheiden zu müssen, ist er nicht gewachsen. Das ist sicher symptomatisch für seine innere Flüchtigkeit und Getriebenheit. (Vielleicht hätte Thomas sich ja leichter getan, wenn er beim Speichern dem Dokument anstelle eines Namens einen Klang hätte geben können.) Andererseits: Gibt es etwas Schwierigeres, als einem eindringlichen Erlebnis einen passenden Namen zu geben, es mit einem Wort zu erfassen, das seinen wahren emotionalen Gehalt trifft? Hier hat mich nicht zuletzt das Phänomen gereizt, meinen Protagonisten seine intimsten Erinnerungen aufschreiben zu lassen, nur um sie dann wieder zu löschen. Und doch stehen sie da, zumindest in meinem Buch.

Dietmar Krug, geboren 1963 im Rheinland, studierte in Aachen und Wien Germanistik, Philosophie und Geschichte. Er promovierte 1996 über Thomas Mann. Seit 1988 lebt Krug in Wien, war dort zunächst freier Verlagslektor, bevor er 2004 in den Journalismus wechselte. Als Autor, Kolumnist und Redakteur hat er für diverse Medien gearbeitet, u. a. «Die Zeit», «Die Presse», «Der Standard». Zuletzt erschienen bei Otto Müller die Romane «Rissspuren» (2015) und «Die Verwechslung» (2018).

Webseite des Autors

Beitragsbild (Ausschnitt) © Sandra Kottonau

Delphine de Vigan «Dankbarkeiten», Dumont

Michka nimmt Wörter ernst. Dort, wo sie jetzt lebt, wohnen nicht Senioren, sondern Alte. «Man sagt ja auch «die Jungen», nicht «die Junioren.» Aber ausgerechnet ihr entfallen die Wörter. Ihr, die ein Leben lang fürs Wort lebte, Korrektorin eines grossen Magazins war. Sie sucht nach ihnen, leidet unter beginnender Aphasie.

Nach einer Lesung verriet Delphine de Vigan, dass sie die Absicht mit sich herumtrage, eine Trilogie zu schreiben. Nach «Loyalitäten» 2018 nun «Dankbarkeiten». Wie schon bei Loyalitäten kein Zufall, dass die Autorin den Begriff, den Titel im Plural verwendet. Es geht nicht um das Allgemeine, sondern um das Vielschichtige, darum, dass es bei «Dankbarkeiten» um ein Lebensgefühl geht, um das Bewusstsein, dass ein Leben immer von anderen abhängig ist und sein wird. Dass es Versäumnisse geben kann, die unkorrigierbar bleiben. Dass Dankbarkeit auch eine Sache der Lebensordnung sein kann, dass sich Situationen dorthin drehen, wo sie hingehören und nicht von einer fauligen Schicht aus Schuld und schlechtem Gewissen zugedeckt werden.

editions JC Lattès

So wie im Leben der alt gewordenen Michka, die als Kind einst von einer Familie aufgenommen wurde, die in den Wirren des tobenden Krieges von ihrer flüchtenden Mutter verlassen werden musste und als Jüdin nie mehr zurückkehrte. Michka lebte dort ein paar Jahre, wie vom Zufall dorthin gespült, bis sie von einer Schwester ihrer Mutter geholt wurde und den Kontakt zu dem Ehepaar verlor, das sie vor der Verschleppung bewahrte.

So wie im Leben der beiden BesucherInnen, die Michka geblieben sind; Marie, die schon in der Wohnung für sie sorgte und Jérôme, der Michka als Logopäde zweimal pro Woche besucht. Michka war für Marie wie eine Mutter, weil ihre eigene Mutter kaum da war, weil ihr das Nest fehlte, die Sicherheit, ein Zuhause. Und von Jérôme erfährt Michka in ihrer direkten, unverblümten Art, dass dieser seinen Kontakt zu seinem Vater längst resigniert und tief verletzt abgebrochen hat.

Die Stärken des Romans liegen in der Offenheit des Dreigespanns. Delphine de Vigan erzählt aus der Sicht der alten Frau Michka, die nicht nur vom Vergessen geplagt wird, sondern von zunehmender Angst, realer Angst, alles immer mehr im Vergessen zu verlieren und der Angst, die sich in Träumen, Alpträumen wie Gewitterstürme über ihr zusammenziehen. Und sie erzählt von den Besuchen von Marie und Jérôme, wie sehr die beiden vom langsamen Untergehen der alten Frau betroffen werden. Weil Michka nicht einfach verstummt, sondern sich bis zu ihrem letzten klaren Gedanken, auch wenn dieser immer schwerer zu formulieren ist, um das Leben anderer bemüht. Der Roman überzeugt, weil vieles nur angedeutet ist und meiner Lesart überlassen wird. Delphine de Vigan erzeugt ein Gefühl, zugegeben hart an den Grenzen zur Sentimentalität, ein Gefühl, es nicht versäumen zu wollen. Die Momente, die einem durch Krankheit, das Sterben und den Tod genommen werden können. Momente der Aus- und Versöhnung. Versäumnisse, die den inneren Frieden unmöglich machen.

Und die Kraft der Sprache. Was einem genommen wird, wenn man sie Wort für Wort verliert. Michka vergisst nicht einfach. Die Wörter verschwinden, während sich der Schmerz über dieses Verschwinden wie ein schweres, nasses Tuch über das Leben der alt gewordenen Frau gelegt hat. Auch wenn Michka Sätze spricht, die unfreiwilligen Witz entfalten, hängt über jedem dieser Sätze die Verzweiflung.

„Dankbarkeiten“ ist ein einfühlsames Buch über das Altwerden, jenen letzten Teil des Lebens, über dem sich die Endgültigkeit über alles ausbreitet. Ein Roman getragen von Empathie und dem Bewusstsein, dass es letztlich für nichts zu spät ist, schon gar nicht für die Hoffnung.

© Delphine Jouandeau

Delphine de Vigan, geboren 1966, erreichte ihren endgültigen Durchbruch als Schriftstellerin mit dem Roman «No & ich» (2007), für den sie mit dem Prix des Libraires und dem Prix Rotary International 2008 ausgezeichnet wurde. Ihr Roman «Nach einer wahren Geschichte» (2016) stand wochenlang auf der Bestsellerliste in Frankreich und erhielt 2015 den Prix Renaudot. Bei DuMont erschien ausserdem 2017 ihr Debütroman «Tage ohne Hunger» und 2018 der Roman «Loyalitäten». Die Autorin lebt mit ihren Kindern in Paris.

Rezension «Loyalitäten» auf literaturblatt.ch

Rezension «Nach einer wahren Geschichte» auf literaturblatt.ch

Beitragsbild © Sandra Kottonau