Felicitas Korn «Drei Leben lang», Kampa

Ein einziger Augenblick kann eine Katastrophe provozieren. Und dieser eine kurze Augenblick kann sich zu einem nie endenden Sturm auswachsen, aus dem es keinen Ausstieg gibt. Felicitas Korn, die sich bisher als Drehbuchautorin und Filmregisseurin einen Namen machte, weiss ganz genau, wie sie mich mit ihrem feinen Geflecht einspinnen kann!

Felicitas Korn liest am 16. Thuner Literaturfestival «literaare» vom 28. – 30 Mai 2021. 

Wenn es der Virus zulässt, wird Felicitas Korn an den 16. Literaturtagen „literaare“ in Thun Ende Mai lesen. Dieses Buch allein ist den Weg nach Thun wert! Ihr Roman „Drei Leben lang“ ist raffiniert erzählt, mit einem erstaunlichen Gefühl für Nähe und Distanz, Bildern, die viel mehr erzeugen, als das, was sie zeigen.

Eine Familie fährt mit dem Auto nach Spanien in die Ferien. Vater am Steuer, Mutter daneben, Sohn und Tochter auf der Rückbank. Aber in einem Tunnel wird aus der Abenteuerfahrt in den Süden ein nie enden wollender Alptraum. Es kracht. Die Eltern verbluten zwischen Metall und Beton. Die Kinder rettet man. Michi und Xandra landen in einem Übergangsheim. Und weil sich Michi für seine jüngere Schwester verantwortlich fühlt, büxt er mehr als einmal aus. Zuerst weil er Poppy für seine Schwester holen soll und später, weil er weiss, dass man sie vielleicht nicht an den selben Ort, ins selbe Heim, in die gleiche Familie schicken will. Michi will den kleinen Rest, der geblieben ist, zusammenhalten. Und er glaubt nicht an die vielfach ausgesprochenen Beteuerungen, man wolle nur das beste für sie beide. Und weil Michi immer mal wieder an der Seite seines Vaters an Autos herumschraubte, hofft Michi auf Aziz, den Mann in der Werkstatt, mit dem sich sein Vater so gut verstand. Vielleicht ist Aziz seine Hilfe.

Felicitas Korn «Drei Leben lang», Kampa, 2020, 304 Seiten, CHF 30.00, ISBN 978 3 311 10025 6

King hat sein Kingdom, endlich. Er glaubt, sich lange genug den Arsch aufgerissen zu haben für den Schuppen in Frankfurts Innenstadt, dort wo das Leben brodelt. Wenn er in seiner protzigen Loft über den Dächern der Stadt aufwacht und sich die erste oder auch noch eine zweite Linie durch die Nase hineinzieht, ist jeder Tag wie ein neuer Feldzug im Kampf auf dem Weg ganz nach oben. Auch ein Kampf um Jana, die Unberührbare, seine Schneekönigin, die er von der Seite seines mächtigen Partners und Ziehvaters Mekki abwerben will, die so etwas wie das Tor zu seiner Glückseligkeit werden soll. King glaubt, vor dem ganz grossen Durchbruch zu stehen, das Geschäft mit dem weissen Pulver ganz neu aufmischen zu können. Mit seinen Verbündeten bis nach Südamerika, seinem Leinenhund bei der Polizei und Jana, seiner Göttin des Mondes, glaubt er, unaufhaltsam und unwiderstehlich zu sein.

Und Loosi, einer, den ein erneuter Absturz, ein neuer grosser Suff wohl endgültig unter den Boden bringen wird, dem der Arzt beim letzten Mal Magenauspumpen erklärt, es werde nicht noch einmal ein nächstes Mal geben. Loosi ist ein Loser. Und ausgerechnet er hat sich bei einer der angeordneten Gruppentherapien der minderjährigen, tablettensüchtigen Sanni angenommen. Sie hausen draussen, an den fransenden Rändern der Stadt. Und weil das Leben Geld kostet, weiss Loosi, dass ihm irgendjemand aus der Patsche helfen muss, denn er weiss doch, wie man die Karre zum Laufen bringt.

Drei Leben, drei Existenzen. Drei Leben, die genausogut hätten anders werden können. Drei Leben, bei denen es irgendwann begann, „schief“ zu laufen. Ganz langsam oder urplötzlich wie beim 14jährigen Michi, der eigentlich nur eines will, sich selbst und seine Schwester Xandra retten. So wie King sich selbst und Jana retten will und Loosi Sanni.

Felicitas Korn erzählt aber nicht einfach vier mehr oder weniger aus dem Ruder laufende Existenzen. Die Schriftstellerin und Filmemacherin erzählt mit dem Blick einer Cineastin, mit dem perfekten Gefühl für den Schnitt und dem Verweben von mehreren Erzähl- und Zeitebenen. „Drei Leben lang“ erklärt nicht. Vieles bleibt in der Schwebe, lässt mich nach dem Ende einer gebannten Lektüre nicht los. Felicitas Korn fesselt mich mit meinen eigenen Bildern!

Interview

Die drei Leben kippen zwischen der Sehnsucht, nicht alleingelassen zu werden, irgendwo zuhause zu sein, Geborgenheit zu fühlen und der Verzweiflung, alles immer wegbrechen zu sehen. Das ist Angst. Was kann Sicherheit geben?

Zunächst muss eine bestimmte materielle Grundsicherung gegeben sein, um sich sicher zu fühlen. Das ist z.B. bei Loosi nicht mehr der Fall. Gesund zu sein, ist auch sehr beruhigend. Ausserdem und v.a. denke ich, dass das Gefühl, geliebt zu werden und jemanden zu lieben, Sicherheit gibt. Geborgenheit, Verbundensein, Aufgehobensein. Michi, King, Loosi verlieren dies viel zu früh, finden es nicht mehr und/oder geben die Hoffnung schliesslich auf, dass sie es nochmals finden könnten. Das ist das Kernthema von „Drei Leben lang“.

„Jeder stirbt an dem beschissensten Gefühl, das es gibt. Der Einsamkeit“, sagt Loosi. Mit dieser Erkenntnis ist Loosi nicht allein. Er teilt die milliardenfach. Dieses beschissene Gefühl grassiert. Ausgerechnet in einer Welt, die sich so vernetzt wie nie zeigen will. Ist Liebe, Familie, Freundschaft nur eine vorübergehende Betäubung? Schlussendlich stirbt doch jeder allein.

Ich denke, dass Liebe, Familie und Freundschaft (a.o.) eine der absolut wichtigsten Dinge im Leben sind, und auch den Sinn des Lebens speisen. Der Sinn ist meines Erachtens, seinen Platz im Leben zu finden, und seine Talente, sein Können, seine Individualität einbringen zu können in die Gemeinschaft. Wenn es aber keine Gemeinschaft gibt, leben wir nur im luftleeren Raum, und dann sterben wir an dem „beschissensten“ Gefühl der Einsamkeit. Dass wir letztlich alle allein sterben, ist natürlich ein Fakt und traurig. Aber ich denke, dass es möglich sein kann, trauernd, oder auch glücklich zu sterben, wenn wir auf ein erfülltes Leben zurückblicken können.

King sieht von seiner Loft hinunter auf die Strassen der Stadt. Auf die Ameisenmenschen, die Tag für Tag zur Arbeit gehen, morgens im Dunkeln aufstehen und abends erschöpft vor der Glotze einschlafen. Die Welt der Kinohelden, Sportidole und Glamoursternchen suggeriert schon den Kindern, dass das Ameisenleben nur etwas für Verlierer und Gescheiterte ist. Man lese in den Freundschaftsbüchern der Kinder, was sie einmal werden wollen! Vor allem Jungs! Auf der einen Seite die heftig geführte Genderdiskussion, auf der andern die kleinen Macker auf Pausenhöfen. Diskutieren wir nicht zu oft über das Falsche?

Ja, wir, die Medien, die Meinungsmacher, die Politiker diskutieren meines Erachtens zu oft über das Falsche. Selten geht es um wahre Werte und die Ursache der Probleme. Meist geht es um Geld, Macht, Ego, Selbstdarstellung. Dass so die narzisstische Prägung der Gesellschaft immer mehr Futter bekommt, ist offensichtlich ein grosses Problem unserer Zeit. Man bedenke zB. Fake News und Komplettverweigerer von belegten Tatsachen. Dass es zB. immer noch Menschen gibt, die die Klimakatastrophe für eine Lüge halten oder die Notwendigkeit der AHA-Regeln für unnötig, ist ein Irrsinn, der einfach nur noch absurd ist, aber leider Realität.

Das sich die Leben von King und den beiden Kindern Michi und Xandra verhängnisvoll kreuzen, blitzt nur in einem einzigen Satz durch. Ein Satz, der durchaus das Kapital für ein ganzes Kapitel gehabt hätte. Aber damit splittern sie die Geschichte geschickt, erzählen, wie man es im Film wahrscheinlich so nicht kann. Wo liegen die grössten Unterschiede zwischen filmischem und literarischem Erzählen?

Beim Drehbuchschreiben geht es vor allem um Handlung, um den Kern-Plot, und als Drehbuchautorin arbeitet man immer als erste Kreative eines langen Prozesses. Sukzessive kommen während der Arbeit immer mehr Menschen dazu, die ihren Teil beitragen. Ausserdem müssen die DrehbuchautorInnen aus Kostengründen dann auch immer mehr ändern, kürzen. Film ist zunehmend eine kreative Dienstleistung für einen harten Markt, die in einem grossen Team erfolgt und einem meist stark begrenzten Budgetrahmen unterliegt. Oft müssen DrehbuchautorInnen im Prozess viel Frustration ertragen, zumindest sehr offen sein, bis ihre Geschichte nicht selten grundlegend verändert und zusammengestaucht, mit dem fertigen Film das Licht der Welt erblickt. Und die Regie ist im Grunde v.a. kreative Projektleitung. Regie hat viel mit Organisation zu tun, man muss parallel denken und planen können, alle Departments im Blick behalten, für wen wann was wichtig ist und wie du in einem bestimmten Zeitrahmen alles sicher nach Hause bringst. 

Der Roman bietet dem gegenüber eine grosse Freiheit. Hier spricht erstmal niemand mit, hier gibt es keine finanziellen Beschränkungen, ausser der, dass der Lebensunterhalt verdient werden muss, und zu einem späteren Zeitpunkt arbeiten Schreibende meist mit nur ein oder zwei Leuten weiter; dem Lektor und dem Verleger. Das ist eine überschaubare Runde, und auf eine gewisse Weise ist in meinem Empfinden die Arbeit an einem Roman wie Drehbuchschreiben und Regieführen in Einem. Die Welt, die man im Film mit der Regie kreiert (die Feinheiten der Figuren, das Innenleben, die Inszenierung, die Bilder, die Farben, die auditive Ebene, der Rhythmus) – das alles macht man im Roman mit Worten.

Auch die Geschichte, die Herkunft von Jana bleibt nur angedeutet. Genauso die Geschichte um den Vater von Michi. Im realen Leben bleibt vieles angedeutet, das meiste. Ausgerechnet in der erzählenden Literatur wird in der Regel hell ausgeleuchtet. Seit die Nabelschau zur einer eigentlichen Gattung geworden ist, erst recht. Verwechseln wir Tiefgang mit  der Helligkeit des Ausleuchtens? 

Das finde ich eine sehr treffende Bezeichnung. Mehr Tiefgang statt Ausleuchten und Nabelschau würde sicher helfen, dass Bildung weiter fortschreitet, die Menschen glücklicher werden und unser Planet vielleicht noch gerettet werden kann.

Meistens lese ich nach der Lektüre noch einmal das Zitat, das die meisten Schreibenden an den Anfang eines Buches setzen. Das ihrige von Marc Aurel ist wie ein Thema; „Nicht den Tod sollte man fürchten, sondern dass man nie beginnen wird zu leben.“ Wann beginnt man zu leben?

Ich denke, man beginnt zu leben, wenn man nicht mehr mit dem Überleben beschäftigt ist, sondern das Leben als solches erfährt. Materiell, emotional und geistig. 

Felicitas Korn, geboren 1974 in Offenbach am Main, ist Drehbuchautorin und Filmregisseurin. Werke sind u.a. der Musikclip zum gleichnamigen Hit Supergirl der Band Reamonn, der Kurzfilm nass mit Bela B. von der Band Die Ärzte und der Spielfilm Auftauchen, der nicht zuletzt aufgrund seiner «Radikalität und Konsequenz» (FBW) internationales Aufsehen erregte.
In den letzten Jahren schrieb sie auch immer wieder für verschiedene Fernsehformate. «Drei Leben lang» ist Felicitas Korns erster Roman, dessen Verfilmung sie gerade vorbereitet. Sie lebt und arbeitet in Berlin.

Webseite der Autorin

«literaare» Literaturfestival Thun vom 28. – 30. Mai 2021

Beitragsbild © Barbara Rohm

Eva Roth «Lila Perk», Jungbrunnen, Kinderroman

Eva Roths erster Kinderroman „Lila Perk“ ist pures Abenteuer. Keine Fantasiegeschichte, aber fantastisch erzählt: „Nach allem, was in den letzten Stunden passiert war, glaubte ich nicht mehr, dass der Bär die grösste Gefahr für uns darstellte. Es gab noch viel Gefährlicheres!“

Nominiert für den Schweizer Kinder-und Jungendbuchpreis 2021!

Lila hats nicht leicht. Ihre Mutter ist vor einem Jahr gestorben und ihr Vater ist seither in einer Zwischenwelt abgetaucht. Nicht da und nicht dort. Auch in der Schule ist es nicht leicht; ein Wechsel in eine höhere Schule, unsichere Sommerferien und Freundinnen, die sich für alles andere interessieren als das, was sie mit sich herumschleppen muss. Und dann sind da auch noch Aurel und die Walze. Aurel ist ein bisschen älter als sie, einer von den Schwierigen, einer, der sogar in den Sommerferien bei der Walze antreten muss. Die Walze ist Frau Stieger, bis zu den Sommerferien Lilas Lehrerin, vor ein paar Jahren auch Aurels Lehrerin.

Aber noch in den Tagen vor den Ferien bricht mit einem Mal der Trott zwischen Grau und Trauer. Lilas Vater hat sich ein Auto gekauft, einen Geländewagen, ein Survivalbuch, allerlei Zeug, um in der Wildnis zu kampieren und gesagt, sie solle sich ans Steuer setzen: „Wenn mir irgendwo im Nirgendwo etwas passiert, musst du mit dem Auto Hilfe holen.“ Mit einem Mal spricht ihr Vater wieder, nachdem er Monate lang schweigend am Tisch neben ihr gesessen hatte. Mit einem Mal ist etwas von dem zurück, von dem Lila glaubte, sie hätte es verloren. Mit einem Mal scheint sich sogar Aurel für sie zu interessieren, nachdem er sie hinter dem Steuer neben ihrem Vater gesehen hatte. „Einen coolen Vater“, nennt Aurel Lilas Papa. Auch wenn Lila viel lieber mit einer ihrer Freundinnen in den Urlaub gefahren wäre oder zu Oma und Opa Per ans Meer, als mit Papa ins Ungewisse, lässt sie auf Papas Geheiss alles Unnötige zuhause zurück und steigt ins Auto, ab ins Ziellose.

Eva Roth «Lila Perk», empfohlen ab 10 Jahren
Verlag Jungbrunnen, 160 Seiten, CHF 23.90, ISBN 978-3-7026-5948-6

Nachdem ihnen im Westen, in Frankreich ziemlich schnell klar wird, dass wildes Kampieren schwierig werden kann, fahren sie nach Osten, durch Österreich und die Slowakei hindurch, bis die Autobahnen aufhören, die Strassen immer schmaler werden und sogar der Zug endet, bis zu einem kleinen Nest namens Miesto Sliviek und noch weiter. Bis die Strasse aufhört und nur noch der Fluss und die Vögel zu hören sind. Dort bauen sie ihr Zelt am Ufer des Wasser auf und erleben eine Nacht, die ihnen beinahe das Leben kostet.

Lilas Reise mit ihrem Vater wird eine Reise an die Grenzen. Und wenn der Akku vom Mobiltelefon seinen Geist aufgibt und der Tank leer ist, wenn die Walze sich bis in den letzten, hintersten Winkel ihres Lebens einmischt, wenn sich Lila eines Nachts ganz alleine ins Auto setzt und es stehen lassen muss und wenn sie in Miesto Sliviek strandet, im letzten Dorf am Ende der Welt, dann wird der Urlaub in der Wildnis zum wirklichen Überlebenstripp. Das bisschen Normalität, das ihr geblieben ist, droht im Chaos zu ertrinken. Der Fluss der Ereignisse droht alles wegzureissen.

Eva Roth schildert die Unberechenbarkeit des Lebens, wie sehr sich Lila der scheinbaren Willkür der Erwachsenenwelt ausgeliefert fühlt, wie sich in unverdautem Schmerz der Zorn einnisten kann. „Lila Perk“ ist die Geschichte von einem Mädchen und ihrem Vater, die sich in ihrem Schmerz beinahe verloren haben, die sich an einem ganz anderen Ort wiederfinden, denen Menschen zur Seite stehen, von denen Hilfe nicht zu erwarten ist.

„Lila Perk“ ist fein erzählt, nicht unnötig aufgeblasen, ganz nah an der Seite eines mutigen Mädchens. Wer das Buch liest, hört den Fluss, riecht den Wald und das Feuer und spürt von der verzweifelten Liebe eines verunsicherten Mädchens!

Eva Roth, geboren 1974, ist in Schwellbrunn AR aufgewachsen. Sie schreibt Prosa und Theaterstücke für Kinder und Erwachsene. Von 1997 bis 2014 arbeitete sie als Primarlehrerin im Kanton Thurgau und in Zürich. Heute ist sie Lektorin in einem Kinderbuchverlag. Neben ihrem ersten Kinderroman „Lila Perk“ sind 2021 zwei Stücke für die Uraufführung geplant: „Streuner“ am Theater Winkelwiese (Regie: Mélanie Huber) und „Falls China kommt“ am Sogar Theater (Regie: Jonas Darvas).
Eva Roth ist auch für den Retzhofer Dramapreis 2021 in der Sparte Kindertheater nominiert.

Eva Roth «Zur Unzeit» auf literaturblatt.ch

Webseite der Autorin

Beitragsbild © Jürg Obrist

Colum McCann «Apeirogon», Rowohlt

Colum McCann ist in Dublin aufgewachsen, nicht weit von Nordirland, wo sich „Katholiken“ und „Protestanten“ Jahrzehnte und über Generationen bekämpften, bis auf die Zähne bewaffnet, zu jeder Schandtat entschlossen. Colum McCann wählte für seinen Roman „Apeirogon“ einen Schauplatz, der sich in vielem mit seiner Heimat vergleichen lässt; Palästina und den unversöhnlichen Konflikt zwischen Palästinensern und dem hochgerüsteten Israel.

Colum McCanns Roman ist ein Monument, ein Berg! 500 aufwärts nummerierte Texte bis in die Mitte des Buches, zwei kurze Kapitel über die beiden Protagonisten, einen palästinensischen und einen israelischen Vater, die beide um ihre im Konflikt getöteten Töchter trauern, 500 abwärts nummerierte Texte und ganz in der Mitte der eine 1001., ein einziger Satz, der offenbart, was passiert, wenn Unvereinbares zusammenkommt. Zwei Seiten eines Berges, eines Trümmerberges genauso wie dem einzigen Berg, der aus dem Schlamassel herausragt. Jenen Berg, den es zu erklimmen heisst, wenn man über all den Sumpf, all die Trümmer, als das Leid, den vielfachen Tod hinwegschauen will, um Worte zu finden. Denn es sind Worte, mit denen man Konflikte löst, nicht Waffen. Mit jedem Schuss aus einer Waffe werden neue Wunden aufgerissen.

Rami Elhanan war Soldat in der israelischen Armee. Aus dem Krieg zurück begann er ein Studium an einer Kunstakademie, heiratete Nurit und wurde Vater von vier Töchtern. Eine davon war Smadar, geboren 1983, am Tag vor dem Jom Kippur, dem „Versöhnungstag“. 14 Jahre später, wieder kurz vor Jom Kippur, wird Smadar Opfer eines Selbstmordattentäters, sie zusammen mit zwei Freundinnen unterwegs in der Stadt, sie zusammen mit sieben andern, die von drei als Frauen verkleideten Selbstmordattentätern in die Luft gesprengt wurden, sie zusammen mit ihrem Vater und seiner Familie, der dem Schmerz danach nie mehr entfliehen konnte.

Colum McCann «Apeirogon», Rowohlt, 2020, 608 Seiten, CHF 35.00, ISBN 978-3-498-04533-3

Bassam Aramin ist Palästinenser, Vater von Abir, die mit zehn Jahren mit einer eben erst gekauften Zuckerkette nicht weit von ihrer Schule aus einem fahrenden Jeep amerikanischer Bauart, von einem Gummigeschoss amerikanischer Bauart, abgefeuert von einem Gewehr amerikanischer Bauart am Hinterkopf getroffen wird und nach einer ewig dauernden Fahrt mit dem Krankenwagen, vorbei an Checkpoints, aufgehalten von der Polizei an den Folgen dieser Schädelverletzung stirbt. Bassam Aramin war selbst siebzehn Jahre im Gefängnis, weil der Hass auf die Besatzer ihn dazu trieb, Handgranaten zu werfen.

Zwei Mädchen sterben, das eine zehn Jahre später als das andere. Aber beide in einem Land, dass gespaltener nicht sein kann. In einem Land, in dem Völker viel mehr als nur durch Mauern voneinander getrennt sind, unvereinbar, unendlich weit voneinander weg. Beide Väter tragen einen Schmerz mit sich, der sich leicht in Rache entladen könnte. Aber sie tun es nicht. Ganz im Gegenteil. Irgendwann stehen sie sich gegenüber in einem Jerusalemer Vorort, in einem Backsteinkloster, einer Veranstaltung einer Organisation, die die Väter von Opfern gegründet haben, die „Combatants for Peace“ und der „Parents Circle“. Was eine zaghafte Annäherung war, wird zu einer Freundschaft, was Selbsthilfe war, wird zu einer Mission. In den folgenden Jahren fahren Rami und Bassam von Stadt zu Stadt, von Land zu Land, von Kontinent zu Kontinent, in der Überzeugung, dass nur das Wort, das Verstehen, die Verständigung Brücken über die feindlichen Linien hinaus bauen kann.

„Apeirogon“ ist ein vielseitiges Panoptikum, 1001 Geschichten um die Tragik eines Landstrichs, der schon über Jahrhunderte im Brennpunkt der Geschichte liegt. Aber auch ein Ort über den abertausende von Vögeln ihren Weg finden, über ein Land, das wie ein Flickenteppich aus lauter Unvereinbarkeiten zusammengefügt ist, verklebt durch Hass, Unverständnis und himmelschreiender Ungerechtigkeit, voller Grenzen für Menschen, grenzenlos für die Vögel. Eine Begrenztheit, aus der es keinen Ausweg zu geben scheint, die eingeschweisst und eingeritzt ist in das Bewusstsein der Menschen, Menschen, die oft nur einen Steinwurf voneinander leben.

Colum McCann ist ein ganz besonderer Roman gelungen. Ein Buch, das sich einbrennt!

Colum McCann wurde 1965 in Dublin geboren. Er arbeitete als Journalist, Farmarbeiter und Lehrer und unternahm lange Reisen durch Asien, Europa und Amerika. Für seine Romane und Erzählungen erhielt McCann zahlreiche Literaturpreise, unter anderem den Hennessy Award und den Rooney Prize for Irish Literature. Zum internationalen Bestsellerautor wurde er mit den Romanen «Der Tänzer» und «Zoli». Für den Roman «Die große Welt» erhielt er 2009 den National Book Award. Er ist verheiratet, hat drei Kinder und lebt in New York.

Volker Oldenburg lebt in Hamburg. Er übersetzte unter anderem David Mitchell, Oscar Wilde, T Cooper und Dinaw Mengestu. Für seine Arbeiten wurde er mehrfach ausgezeichnet, zuletzt mit dem Heinrich Maria Ledig-Rowohlt-Übersetzerpreis.

Webseite des Autors

Beitragsbild © P. Matsas/Opale/Leemage/laif 

Christoph Ransmayr «Der Fallmeister», S. Fischer

Wenn Christoph Ransmayr einen neuen Roman veröffentlicht, dann ist es zumindest für mich ein Ereignis grösster Wichtigkeit. Wenn mich dann der Roman wie sein neuster auch noch in die Verzückung hievt, die „Der Fallmeister“ auslöst, dann will man überall Fahnen hissen und Fanfaren blasen.

Ich liebe Christoph Ransmayrs Bücher nur schon wegen ihrer überragenden Sprache. Ich kann sie unabhängig, völlig losgelöst von Inhalt und Geschichte lesen, einzelne Sätze und Abschnitte, die in ihrer sprachlichen Vollendung derart glitzern und glänzen, dass mir schwindelt. Ich muss Ransmayr lesen und dann stellt sich sprachliche Ergriffenheit gepaart mit eigener Bescheidenheit ein. Wenn es Momente während des Lesens von Büchern gibt, bei denen ich mir einrede, es so durchaus auch zu können, dann reisst mich Christoph Ransmayr von diesem schmalen Podest herunter und lehrt mich meine Begrenztheit. In Ransmayrs Sprache unterliegt nichts der Bescheidenheit, nichts der Begrenztheit. Er erzählt, formuliert und baut mit einer derart verblüffenden Selbstverständlichkeit und scheinbaren Leichtigkeit, dass ich während der Lektüre Atem schöpfen muss. Wer Christoph Ransmayrs Bücher liest, tut gut daran, es mit Langsamkeit und in kleinen Häppchen zu tun, damit sich entfalten kann, was der Autor in mir als Resonanzkörper erreichen kann. „Der Fallmeister“ ist ein Leuchtturm im Meer der Neuerscheinungen!

Christoph Ransmayr «Der Fallmeister», S. Fischer, 2021, 224 Seiten, CHF 32.90, ISBN 978-3-10-002288-2

Aber es ist nicht nur die Sprache allein. Weil Christoph Ransmayr Kosmopolit und stetig Reisender ist, fliesst sein ganzes Erleben, die Fülle seiner Eindrücke mit in sein Schreiben. Was Christoph Ransmayr beschreibt ist durchlebt; jedes Leuchten am Himmel, jeder Schweisstropfen in glühender Hitze, jedes Tosen und Branden. In seinem neuen Roman „Der Fallmeister“ arbeitet der Protagonist in einer Zukunft, in der kaum ein Stein auf dem andern geblieben ist, als Hydrotechniker. In einer auseinandergebrochenen Welt, in der Kleinstaaten, Stadtstaaten, Clans und Grafschaften erbitterte Kriege um Wasser führen, nichts von der Idee Europa geblieben ist und die Küstengebiete unter den Meeresspiegel sanken, sucht ein Mann nach Antworten. Er sucht seinen Vater, seine Schwester, seine Mutter. Christoph Ransmayr schildert diese dystopische Welt in derart verblüffender Leichtigkeit, dass man glauben könnte, er hätte nie in einer anderen Welt, nie anders als aus der Sicht eines Hydrologen die Welt gesehen und erfahren. Es gibt Autorinnen und Autoren, die mit jedem Satz, mit jedem Fakt mir als Leser beweisen müssen, wie sehr sie sich in ein Thema, in eine Welt hineinrecherchiert haben. Christoph Ransmayr scheint das nicht nötig zu haben. Er weiss und schreibt. Und er schreibt wie ein Maler, der mit seinem Pinsel in der Hand in einer Mischung aus Selbstvergessenheit und grenzenloser Selbstverständlichkeit ein Panorama auf eine riesige Leinwand ausbreitet. Jeder Pinselstrich im Wissen gesetzt, wie dereinst das Ganze erstrahlen muss.

Christoph Ransmayrs neuster Roman „Der Fallmeister“ erzählt die Geschichte von Schuld und erhoffter Vergebung. Die Geschichte eines Sohnes, der überzeugt ist, dass sein Vater nicht der stille Held eines tödlichen Dramas war, sondern Verursacher und Mörder an einem Unglück, bei dem fünf Menschen den Tod in den Fluten reissenden Wassers fanden. Nachdem die Mutter als Ausländerin zurück in ihre Heimat in den glutheissen Süden deportiert wurde und sich der jähzornige Vater durch einen scheinbar perfekt inszenierten Selbstmord aus der Gegenwart verflüchtigte, macht sich der von düsteren Ahnungen Getriebene zuerst auf die Suche nach seiner Schwester. Mira, seine Schwester, die an Osteogenesis imperfecta, der Glasknochenkrankheit leidet, lebt verheiratet abgeschieden weit im Norden, in einem Turm, vom Meer umgeben. Sie, die „Imperfekte“ ist für ihn das Sinnbild der Vollendung, sein Leuchtturm seiner Leidenschaft, die Einzige, mit der er sich untrennbar verbunden fühlt. Die Einzige, die ihm helfen kann, bei all den Fragen, die ihn um- und vor sich hertreiben. Er findet sie nach einer langen Odyssee. Aber was er findet, treibt ihn nur noch weiter. Weil sich die Bestie Vater immer deutlicher in ihm zu spiegeln beginnt, weil er erfahren muss, wie zerstörerisch seine Leidenschaft durchbrechen kann. Er durchquert auf der Fahrt zu seiner Mutter mit den Papieren eines Hydrotechnikers erneut den ganzen Kontinent, von Grenze zu Grenze, Hymne zu Hymne, Währung zu Währung, den Scherbenteppich eines zerstörten Kontinents. Bis er in einem steinernen Dorf hoch über der Küste seine Mutter wiederfindet und erfahren muss, dass nichts so ist, wie er es sich ein halbes Leben lang in Geist und Seele ausmalte.

Ein Fallmeister ist ein Schleusenwärter. Als Fallmeister, als Herr über Leben und Tod, sass sein Vater einst am Weissen Fluss, dort wo sich die Wassermassen durch eine Enge in die Tiefe stürzen und man den Fluss durch ein ausgeklügeltes System von Schleusen bezwingen kann. Sein Sohn, vom Verbrechen seines Vaters überzeugt, macht sich auf eine Reise, die ihn genau dorthin zurückführt, wo er sie einst begonnen hatte, nicht nur geografisch.

„Der Fallmeister“ ist gleichermassen klar wie rätselhaft. Etwas mehr als 200 gewichtige Seiten, die sich lesen, wie Filme, die man sich immer und immer wieder ansehen kann, ohne dass sie jemals ihren Zauber verlieren.

Christoph Ransmayr liest

Christoph Ransmayr wurde 1954 in Wels/Oberösterreich geboren und lebt nach Jahren in Irland und auf Reisen wieder in Wien. Für seine Bücher, die in mehr als dreissig Sprachen übersetzt wurden, erhielt er zahlreiche literarische Auszeichnungen.

Rezension von «Cox oder Der Lauf der Zeit» auf literaturblatt.ch

Rezension von «Arznei gegen die Sterblichkeit» auf literaturblatt.ch

Webseite über den Autor

Beitragsbild © Magdalena Weyrer

Michèle Minelli «Chaos im Kopf», Jungbrunnen

Michèle Minelli hat schon mit ihrem ersten Jugendroman „Passiert es heute? Passiert es jetzt“ keinen Wohlfühlroman, kein Geschichtchen geschrieben. Als Roman mitten aus dem Kampfgebiet Familie zeichnete die Deutsche Akademie für Kinder- und Jugendliteratur „Passiert es heute? Passiert es jetzt“ als „Buch des Monats Oktober 2018“ aus. Ihr neuer Roman „Chaos im Kopf“ steht dem Vorgänger in nichts nach!

Das Fenster meines Arbeitsplatzes öffnet sich direkt zum Eingang meines Schulhauses. Und selbst wenn das Fenster geschlossen ist, kann ich den Gesprächen der Jugendlichen unter meinem Fenster zuhören. Die Nische unter diesem Fenster ist abends und an Wochenenden zu einem regelrechten Treffpunkt geworden. Manchmal sind die Gespräche und Brunftlaute derart deutlich und penetrant, dass das Zuhören unvermeidlich wird und mich von meiner Arbeit wegreisst. Dann sitze ich da und höre nur mehr zu, staune darüber, wie weit ich mich von der Welt der Jugendlichen entfernt habe, obwohl ich mit Kindern arbeite, kippe weg in Erinnerungsfetzen meiner eigenen Jugend, um unsicher darüber zu werden, ob damals wirklich alles so ganz anders war.

Zu glauben, dass die Welt von Jugendlichen noch weit weg vom Ernst des Lebens sei, ist fatal. In so unsicheren Zeiten wie diesen noch viel mehr, wo Jugendliche schlicht nicht mehr wissen, wie und wo sie sich austesten sollen. Wie sehr das Leben einer Jugendlichen bedrohlich werden kann, beschreibt Michèle Minelli in ihrem neuen Jugendroman „Chaos im Kopf“. Doch „Jugendroman“ ist ein Etikett. „Chaos im Kopf“ ist ein Fenster in eine Welt, die allzu leicht und allzu schnell unterschätzt und mit Vorurteilen verzerrt wird. Umso wichtiger und hilfreicher, dass es Autorinnen wie Michèle Minelli gibt, die mit derart viel Empathie und Unmittelbarkeit eine Welt eröffnen können, die sich in der eigenen Erinnerung verklärt. 

Michèle Minelli «Chaos im Kopf, Antonia – vierzehn-dreiviertel», Jungbrunnen, 2021, 220 Seiten, CHF 26.90, ISBN 978-3-7026-5954-7

Antonia ist vierzehn-dreiviertel, noch eintausendeinhundertsiebzig Tage, bis sie sich volljährig aus den Fesseln ihrer Mutter, ihrer Familie, ihrer Rolle losreissen kann. Angi, ihre Mutter, demonstriert ein ganz eigenes Verständnis von Fürsorge, Mutterpflichten und Nestwärme. Ihre Mutter versetzt Antonias Reitstiefel zu Geld und öffnet einem neuen Lover die Wohnung. Man macht ihr die Schule zum Spiessrutenlauf mit der wiederholten Aufforderung endlich ernst mit der Suche nach Schnupperstellen. Charlie, der Neue ihrer Mutter, rückt ihr mit unmissverständlichen Unzweideutigkeiten auf die Pelle und ihre Freundin Emmi wendet sich als mutierte Streberin mit einem Mal von ihr ab. Alles wankt. Alles droht in einem endlos scheinenden Chaos zu versinken. Dabei will sie nur das eine; ihren Platz in einer Familie, die sie trägt und eine Perspektive für ihren grossen Traum. Antonia möchte Filmregisseurin werden. 

Aber wer Filmregisseurin werden will, braucht das Gymnasium, gute Noten, Lehrpersonen, die daran glauben und, wenn es den Papa nur als Erinnerung gibt, wenigstens eine Mutter, die mitträgt. Aber Angi hat ganz anderes im Kopf, als die fürsorgliche Mutter zu spielen, weder für Antonia noch für ihre beiden Schwestern, schon gar nicht für ihre kleine Schwester Pippa. Antonias Mutter ist eine notorische Leugnerin und Lügnerin, die alles nach ihrer Fasson drückt, die Vergangenheit und wenn nötig auch die Zukunft. Sie ist von sich als Künstlerin überzeugt, wenn nicht an Resultaten gemessen, dann ganz sicher als Lebenskünstlerin. Dass sich ihre Kinder nach der Pflichtschulzeit aus den Fängen des Staates lösen sollen, ist Maxime. Und seit Charlie, der Neue, in der Familie mitmischt, ist der Gang durch die Zeit erst recht hochexplosiv.

Irgendwann sitzt Antonia auf dem Dach einer alten Ziegelei, restlos verzweifelt, von ihren Ängsten umzingelt. Mit fast fünfzehn erwartet die Welt einen Plan. Aber selbst wenn man einen solchen hat und man noch eine Ewigkeit von der Volljährigkeit entfernt den Kampf ganz alleine ausfechten soll, braucht man Beistand, Zuneigung, ganz wörtlich verstanden. Michèle Minelli beschreibt einen Kampf, den Kampf mit jenen Ängsten, die einem zu lähmen drohen, die einem in Situationen zu treiben vermögen, die keinen gangbaren Ausweg mehr andeuten. Antonia merkt, dass sie ausbrechen muss. Dass dieser Ausbruch nicht ohne Konsequenzen bleiben kann. Dass es ein Kampf um viel mehr ist, als eine geregelte Ausbildung und einen festen Platz in der Welt.

Interview

Erwachsene bilden sich sehr oft ein, dass ihre Probleme viel die schwergewichtigeren seien als die von Kindern und Jugendlichen. Nicht zuletzt darum, weil viele vergessen und verdrängen, was sie einst so sehr beschäftigte, weil sich der Mantel der Verklärung über die Kindheit legt, je älter man wird. Probleme, die die Existenz bedrohen, können nie miteinander verglichen werden. Warum tun wir es doch?

Das aktuellste Problem ist immer das schwerste. Das gilt bei Erwachsenen wie bei Kindern oder Jugendlichen gleich. Aber nicht nur neue Probleme stellen uns vor Rätsel, auch Probleme, die andauern. Und so geht es Antonia in dieser Geschichte: Zu ihrem andauernden Problem – der Lernfeindlichkeit in ihrem Elternhaus – gesellen sich neue Probleme dazu. Bis es ihr zu viel wird. Weshalb wir Probleme miteinander vergleichen, weiss ich nicht sicher. Meine Vermutung ist, dass in einem ernsthaften Vergleich der Versuch liegen könnte, eine Art Ordnung zu schaffen. Und was in einer irgendwie gearteten Ordnung seinen Platz findet, lässt sich bestimmt auch lösen; Ordnung ist der erste verheissungsvolle Schritt zur Lösung hin. Wenn da aber nur Chaos ist, wie bei Antonia, schwindet der Glaube an Lösung.

Was muss man sich als Schriftstellerin oder Schriftsteller bewahren, um mit Büchern wie dem deinigen so punktgenau den Nerv der Zeit zu treffen, zumal dein Blick aus deinem Arbeitszimmer alles bietet, was es zur Idealisierung braucht?

Um Antonias Geschichte schreiben zu können, musste ich mir die Erlaubnis geben, den Kontakt zu meinem eigenen Lebensgefühl als Jugendliche wieder aufzunehmen. Es war gewissermassen eine Tür, die ich aufgestossen habe, zurück zu einer jugendlichen Intensität des Fühlens. Dieses jugendliche Fühlen war bei mir geprägt von Impulsivität und einem unbedingten Drang, mein Leben zu gestalten. Wenn ich heute in einem von mir gestalteten Leben angekommen bin, birgt das auch die Gefahr der Verklärung – und die führt immer in Kraftlosigkeit. Insofern muss ich mir als Schriftstellerin meine Ambiguitätstoleranz bewahren, auch mir selber gegenüber – und diese ständig weiterentwickeln.

Warum hat es Kinder- und Jugendliteratur so schwer, sich neben der Erwachsenenliteratur zu etablieren, zu emanzipieren? Müssten wir nicht aufhören, in Kategorien zu denken, weil gute Literatur sich nicht vom Adressaten unterscheidet?

Frauenfelder Woche März 2021

Die Ansprüche, die von aussen an Kinder- und Jugendliteratur gestellt werden, sind immens. Es scheint, als haben viele scheinbar gescheite Erwachsene einst ein Korsett geschnürt, in das die Literatur für junge Menschen unbedingt zu passen habe. Sie muss pädagogisch wertvoll sein, eine Lehre oder Moral vermitteln, politisch korrekt sein, sprachlich gut aber nicht zu schwierig sein … – alles antiquierte Vorstellungen, denen ich mich in ihrem totalitären Anspruch nicht unterwerfen mag. Die Frage könnte man also auch so stellen: Warum haben es Kinder und Jugendliche so schwer, sich neben Erwachsenen zu etablieren und zu emanzipieren? 

Dein Roman ist eine latente Familientragödie; drei Töchter, eine alleinerziehende Mutter, ein mehr oder weniger übergriffiger Liebhaber der Mutter, Schule, die mehr fordert als fördert – und alles gekoppelt mit viel Angst. Eine Kindheit lang versucht man die Kinder vor aller Angst zu bewahren, um sie dann als Jugendliche mit ihren Ängsten vielfach alleine zu lassen. Wäre Angst an sich nicht ein guter Schutzmechanismus?

Angst ist eine überlebenswichtige Gefährtin. Aber sie darf nicht zur Anführerin werden und ausschliesslich allein entscheiden. Gegen sie zu kämpfen wäre falsch. Sie als Teil eines inneren Teams wahrzunehmen, ihr ein Mitspracherecht und eine Zuhörfähigkeit zu geben, würde schon viel helfen. Die Angst der Eltern, von den Problemen der Kinder überwältigt zu werden, braucht ebenso ihren Platz wie das Zutrauen, es gemeinsam zu schaffen und das Vertrauen, dass die Kinder ihre Schritte, wenn selbstgewählt, auch verkraften.

Antonia kann sich in keinem Moment auf ihre Mutter verlassen. Antonia sagt über ihre Mutter: „Sie lügt, sie betrügt, und sie verschluckt die Wahrheit wie ein schwarzes Loch die Sterne.“ Sie hasst ihre Mutter. Ist dann der Kampf nicht aussichtslos? Wenn man immer wieder beschwört, wie wichtig die Familie sei – gibt es einen Weg zurück? 

Ich glaube nicht, dass Antonia ihre Mutter hasst, aber sie hasst das, was die Mutter tut: Lügen. In den wenigen Momenten, in denen sich Antonias Mutter selbst schutzlos zeigt, finden die beiden zu einer unmittelbaren Nähe zu einander. Diese Nähe und das Verständnis füreinander ist wie ein Raum, der immer da ist, der aber leer bleibt, wenn sich die beiden nicht trauen, sich gewissermassen nackt zu zeigen, eben so, wie sie sind: unvollkommen, ängstlich, suchend – und dem Anderen im Innersten eben doch das Beste wünschend.

Gab es in unmittelbarer Vergangenheit ein Buch, das dich nicht losgelassen hat? Und warum?

Ich lese sehr viel und meist zwei Bücher parallel. Ein fast physisches Erlebnis boten mir die Geschichten von Clarice Lispectors Erzählband «Aber es wird regnen» (Penguin), und in seiner erzählerischer Konsequenz gefangen nahm mich «Die Parade» von Dave Eggers (Kiwi). Und ein freies, umwerfendes und psychologisch ehrliches Kinderbuch ist für mich «Betti Kettenhemd»,  von Albert Wendt (Jungbrunnen) – ein Buch, das ich am liebsten immer bei mir tragen wollte.

Michèle Minelli wurde 1968 in Zürich geboren und arbeitete zuerst als Filmschaffende, später als freie Schriftstellerin. Sie schreibt Romane, Sachbücher und probiert gerne verschiedene Textformen aus. Mit vierzig absolvierte sie das Eidgenössische Diplom als Ausbildungsleiterin und unterrichtet seither regelmäßig „Kreatives Schreiben“ und andere Themen in literarischen Lehrgängen.

Bei lector books erscheint fast zeitgleich Michèle Minelli Roman «Kapitulation»: Fünf kunstschaffende Frauen, die einst überzeugt waren, dass sie alles erreichen können, wenn sie nur wollen. Heute sind sie auf dem Boden der Realität angekommen: Sie können, sie wollen, sie werden übersehen und gehen vergessen. Bei einem Wiedersehen nach 18 Jahren loten die fünf ihre Möglichkeiten aus, reden über verpasste Chancen, lachen und trinken. Bis in dieser entspannten Runde die Idee aufkommt, einen Flashmob zu veranstalten, bei dem sich alle Frauen in Luft auflösen. Was vier der Frauen wieder vergessen, nimmt eine von ihnen todernst.
Buchtaufe mit «Kapitulation» (und einem Seitenblick auf «Chaos im Kopf») im Literaturhaus Thurgau am 29. April 2021! Moderation: Gallus Frei

Rezension zu «Passiert es heute? Passiert es jetzt?» auf literaturblatt.ch

Webseite der Autorin

Beitragsbilder © Anne Bürgisser

Arno Camenisch «Der Schatten über dem Dorf», Engeler

Tavanasa bleibt im Winter drei Monate lang im Schatten. Doch über das Dorf legte sich vor bald einem halben Jahrhundert ein Schatten, der auch drei Monate später nicht verschwand. Ein Schatten, der ein langsames Sterben begleitete, das Sterben eines Dorfes. Arno Camenisch nimmt mich in „Der Schatten über dem Dorf“ mit auf einen Spaziergang durch sein Dorf – ganz nah!

Arno Camenisch streift durch sein Tavanasa, den Ort seiner Kindheit und Jugend, das Dorf am Vorderrhein, wo man am Bahnhof vom Zug in den Bus nach Brigels, den Wintersportort, umsteigt, den Flecken unter den bewaldeten Hängen hinunter zum schäumenden Wasser, die zwanzig Häuser an der Strasse von Ilanz nach Disentis mitten in seiner Surselva. Es ist viel mehr als der Ort mit dem Haus, in dem er aufwuchs, viel mehr als ein Haus, eine Wohnung, ein Haufen Familien, die sein Zuhause waren, sondern all die offenen Türen des kleinen Ortes, die er Richtung Chur, Richtung Welt verliess, um als Erwachsener, als Vater und Sohn immer hier zurückzukehren.

Als er noch dort lebte, zur Schule ging, half die Mutter aus im kleinen Laden im Ort. Es gab einen Kiosk, in dem er eines der beiden Bravo-Exemplare mit seinem Taschengeld zu ergattern versuchte, das Gasthaus, das die Tante führte, das auch zum Zuhause gehörte, manchmal Zufluchtsort war, manchmal einfach ein Raum im Zuhause. Es gab die Werkstatt seines Grossvaters, die Rechenmacherei, in der der Grossvater auch nach sein Pensionierung mit seiner Post-Jacke weiterarbeitete, nachdem er über Jahrzehnte sonntags das Postauto chauffiert hatte. Am Sonntag ging man zur Kirche ins Nachbardorf, die einen zu Fuss, die andern mit dem Auto, um nach der Messe zusammenzustehen oder nachmittags zum Fussballplatz zu wechseln.

Arno Camenisch «Der Schatten über dem Dorf», Engeler, 2021, 104 Seiten, CHF 25.00, ISBN 978-3-906050-80-5

Das Dorf als kleiner Kosmos und grosse Familie, in der jeder alles über jeden zu wissen schien. Ein Dorf im Wechsel der Jahreszeiten, dass sich aber in die Gegenwart nur mehr als Hülle zu retten wusste. Weil der Zug am Bahnhof wohl noch hält, aber vieles andere zu leben aufgehört hat. Ein Dorf im Schatten einer Tragödie, die sich eineinhalb Jahre vor seiner Geburt über dem Dorf ereignete, lange wie ein Alp über den Menschen schwebte, kaum in Worte gefasst zum Trauma der Dorfgemeinschaft wurde.

Arno Camenisch schält bis in die Katastrophe, Schicht um Schicht, bis zu jenem Tag, als drei Kinder irgendwo im Dorf einen Benzinkanister mitnahmen, weil es in einem solchen Ort den einen oder anderen Reservekanister hatte, wenn man die Arbeit nicht unterbrechen wollte. Zu jenem Tag, als die drei Kinder zur Wiese über dem Dorf aufmachten, zur Plaun Vitg, wo am Rand zum Wald in den Bäumen die letzte Baumhütte ums Dorf stehen geblieben war, obwohl man sich behördlich entschlossen hatte, alle aus Sicherheitsgründen abzubrechen. Zur Hütte, wo sich die Jugendlichen trafen, die mit allem Möglichen ausgerüstet war, die man abschliessen konnte, die eine ganz eigene Welt im kleinen Dorf ausmachte.
Dorf passierte die Katastrophe, die das ganze Dorf über Jahre in Schockstarre versetzte, die so ganz anders war wie ein Steinschlag, den die Natur allein inszenierte, selbst wenn ihr dabei Menschen und Häuser zum Opfer fielen.

Arno Camenisch fügt mosaikartig zusammen, spürt nach. Ihn leiten die Liebe zu den Menschen dort, zum Ort selbst, zur Surselva, die Liebe zu seiner kleinen und seiner grossen Familie, zu seiner Tochter, die ihn begleitet, zu den Menschen, denen ein Leben nicht ausreichte, um den Schmerz nach dieser einen Tragödie auszutragen. Mit Sicherheit ist das das persönlichste Buch des eigenwilligen Schriftstellers. Vielleicht kein Zufall, dass das Cover in Grau gehalten ist, weil das, was damals geschah, wie ein Klotz auf die Geschichte seiner „grossen“ Familie drückt, über einen Klotz, der nie eine Sprache fand.

Arno Camenisch, 1978 in Tavanasa im Kanton Graubünden geboren und aufgewachsen, studierte am Schweizerischen Literaturinstitut in Biel, wo er heute auch lebt. 2009 erschien im Engeler-Verlag der Roman «Sez Ner», 2010 «Hinter dem Bahnhof», 2012 «Ustrinkata», 2013 «Fred und Franz», 2013 «Las flurs dil di», 2014 «Nächster Halt Verlangen», 2015 «Die Kur», 2016 «Die Launen des Tages», 2018 «Der letzte Schnee», 2019 «Herr Anselm», 2020 «Goldene Jahre», 2021 «Der Schatten über dem Dorf». Publikationen im «Harper’s Magazine» (New York) und in «Best European Fiction» (USA). Seine Texte wurden in über 20 Sprachen übersetzt und seine Lesungen führten ihn quer durch die Welt, von Hongkong über Moskau und Buenos Aires bis nach New York. Im März 2015 strahlte das Schweizer Fernsehen und 3sat den Dokumentarfilm «Arno Camenisch – Schreiben auf der Kante» aus.

Webseite des Autors

Beitragsbild © Janosch Abel

Werner Rohner «Was möglich ist», Lenos

Mag sein, dass Reisen abenteuerlich werden können. Dann, wenn man bekanntes Terrain verlässt, wenn man diesen einen Schritt über den Rand hinaus wagt. Wenn man nicht mit Sicherheit weiss, was sich jenseits des Bekannten befindet. Was für Reisen gilt, gilt noch viel mehr für Beziehungen. Werner Rohner schreibt in seinem neuen Roman „Was möglich ist“ über Menschen, die den Schritt über solche Grenzen wagen, meist in mehrfacher Hinsicht.

Werner Rohner hätte am Wortlaut St. Gallen vor Publikum gelesen, wenn es geklappt hätte. Wenn Sie trotzdem online verfolgen wollen, was Wortlaut digital anzubieten hat, dann besuchen Sie die Webseite hier.

„Was möglich ist“ lotet aus. Werner Rohner beweist sich als Seismograph. In seinem Roman erzählt er drei Geschichten von Frauen und Männern, die in ihren Beziehungen diesen einen Schritt wagen. Den Schritt über die Grenze, über die Konvention, über die Vernunft hinaus, in unbekanntes Terrain. Dabei geht es Werner Rohner nicht um die Frage, ob der Schritt glückt, nicht einmal darum, ob er nachvollziehbar ist. Werner Rohner begibt sich ganz nah an sein Personal, spürt ihnen nach, dem Mut, der Hoffnung, der Verzweiflung, dem Zweifel. „Was möglich ist“ zeigt, was möglich ist, dass in Beziehungen Abenteuer stecken, reisen in unbekanntes Terrain, weit über Grenzen hinaus.

Edith ist über sechzig und arbeitet eine Ewigkeit im selben Café. Dort sitzen Menschen und erzählen ihre Geschichten. Einer davon ist Christoph, jünger als sie, Bademeister. Christoph versuchte einer leblos im Wasser treibenden Frau das Leben in den Brustkorb zurückzupumpen. Es sollte nicht sein. Die Frau blieb liegen. Aber nicht nur auf dem Betonboden der Badeanstalt, sondern auch in den Bildern in Christophs Kopf. Edith, eine Frau mit feinem Gespür, kommt Christoph näher. So nah, dass das Zusammensein mit dem Mann Türen wieder aufreisst, von denen Edith glaubte, sie hätten sich für den Rest ihres Lebens geschlossen. Christoph gibt ihr zurück, was sie aufgeben hatte, obwohl da vor Jahrzehnten einmal eine Familie war. Chris und Edith fahren weg, in ihrem alten Saab über Spanien bis nach Marokko, wo Chris mit Ediths Erspartem ein Haus in einem kleinen Dorf gekauft hat. Eine neue Existenz, ein neues Leben. Was sich für beide paradiesisch anfühlt, entpuppt sich aber doch als Fata Morgana, zumindest für Edith, die das neue Leben zwar geniesst, ihre Rolle als Geliebte, als Hausbesitzerin und Gastgeberin. Aber Edith fährt zurück, zurück in ihr altes Leben.

Werner Rohner «Was möglich ist», Lenos, 2020, 379 Seiten, CHF 32.00, ISBN 978-3-03925-007-3

Vera ist schwanger. Eingeladen an eine Kongress in New York nimmt sie ihre Freundin Nathalie mit. Nathalie hat zwei Kinder, die sie für die paar Tage bei ihrem Mann zurücklässt und Vera ebenfalls einen Ehemann, der nicht verstehen kann, dass sich Vera schwanger in ein Flugzeug setzt. Was aus der Ferne wie eine Geschäftsreise aussehen soll, ist aber schon bei den Vorbereitungen zur Reise und im Flugzeug erst recht ein Versprechen für viel mehr. Vera und Nathalies Freundschaft ist mehr. Vera fühlt, dass zusammen mit ihrer Freundin etwas aufbricht, das bisher nur schlummerte. In der monumentalen Stadt auf der anderen Seite des Ozeans beginnt eine leidenschaftliche Affäre, die im Rausch alles auszublenden vermag, lässt ein Leben aufkeimen, das sich aber mit dem Flugzeug zurück nicht ins alte Leben zurücktransportierten lässt. Die Versprechen bröckeln.

Michael ist Schriftsteller. Sein Freund Lorenz bittet ihn, seine Frau Lena, die ohne ihre Kinder mit einem Mal, wie aus dem Nichts, nach Neapel abgehauen ist, zur Rückkehr zu bewegen. Mit einem Typen. Lena und Michael kennen sich schon lange. Und weil Michaels Schreibe ins Stocken geraten ist, fährt er in die Stadt am Vulkan. Lena zu finden ist nicht schwierig. Sie versteckt sich nicht, auch nicht den Mann mit Bauch an ihrer Seite. Auch der eine alte Geschichte. Michael wird zu einem Verbindungsmann. Lena ist ausgebrochen, in der Schwebe. Sie weiss genau, dass das Angefangene in Neapel keine Dauer hat und das Alte zuhause so keine Zukunft. Michael bietet ihr und ihren beiden Kindern eine vorübergehende Bliebe in seiner Wohnung an. Bloss ein Zimmer, aber immerhin. Und mit einem Mal steht Michael mitten drin.

Drei Frauen, die es wagen, alles aufzugeben, allen Sicherheiten zu entsagen, die einen Neuanfang provozieren, ausreissen und abreissen lassen. Die Geschichten sind nicht nur thematisch miteinander verbunden. Sie spiegeln sich ineinander. Und sie treffen sich sogar ganz kurz im Café, in dem Edith während Jahrzehnten servierte. Aber die Geschichten spiegeln sich auch in mir, mit Sicherheit in allen, die sich auf diesen äusserst gelungenen Roman einlassen. Denn diesen einen Schritt, zumindest die Möglichkeit, den Gedanken darum, den Traum, die Idee tragen die meisten mit sich herum. Dass Werner Rohner daraus kein abgehobenes Abenteuer macht, ist die grosse Qualität dieses Romans.

Interview:

War da von Anfang an ein Plan? Ein Buch mit drei Geschichten, die sich auf verschiedene Arten berühren und spiegeln? 

Da war kein Plan zu Beginn, da war Edith, die zu erzählen begonnen hat. Dabei hat sie im Café Uetli gesessen. Um sie herum andere Menschen, denen sie ab und zu einen Café brachte. Und auch die hatten ihre Geschichten. Und manche davon haben sie mir dann auch noch erzählt.

Edith, Vera und Lena brechen aus. Sie tun das, was viele als Plan, Absicht, Vorsatz, Wunsch und Traum ein Leben lang unerfüllt mit sich herumtragen. Als ich einmal während einiger Monate im Spital arbeitete und eine Frau fragte, warum sie das Foto ihres eingesargten Mannes auf dem Nachttischen stehen habe, sagte sie: „Heiraten sie spät oder nie. Tun sie erst alles andere!“ Warum tun wir uns so schwer auszubrechen und nehmen lieber Magengeschwüre und Burnouts in Kauf?

Es fehlt an Vorbildern (im Gegensatz zu Magengeschwüren und Burnouts), an Geschichten, die anders erzählt, anders gewertet und verstanden werden.

Außerdem brauchen Ausbrüche Anlauf – das dauert –, Gelegenheit und Mut. Glück halt. Und nicht zuletzt ein Umfeld, welche die Ausbrüche mitträgt, oder zumindest nicht dagegen angeht.

Und dann ist ein Ausbruch ja je nachdem auch nicht eine einmalige Sache. Muss man wieder und wieder tun, durchhalten, aushalten, Unsicherheit zu- und den Ausgang offenlassen können.

Alle deine Protagonistinnen leben in der Angst, dass sie für ihr Glück büssen müssen. So sehr, dass sie den Ausbruch auf die eine oder andere Weise „ausklingen» lassen. Muss man sich mit dem Konfuziuszitat „Der Weg ist das Ziel“ trösten?

Also nach Konfuzius versteh ich das das ja nicht als Trost, sondern als Glück. Und ich glaub, das haben auch Edith und Vera und Lena unterwegs gefunden. Sind dann aber oft wo gelandet, wo sie nicht damit umgehen konnten.

Aber ihre Geschichten sind ja nicht zu Ende. Ich hab nur aufgehört, sie weiter zu erzählen.

Es sind Ausbrüche und es sind Varianten eines Kontrollverlusts, die du beschreibst. Dabei lernen wir schon kleinen Kindern im Kindergarten, Ausbrüche und Kontrollverlust zu vermeiden. Büssen wir damit auch einen Teil unserer Kreativität ein, weil Kreativität immer Ausbruch und Kontrollverlust ist?

Fällt mir Patrick Findeis ein, der gesagt hat, Schreiben sei eine Mischung zwischen totalem Kontrollverlust und alle Fäden in den Händen halten. Kreativität trägt immer beides mit, sonst ist es Chaos.

Ist „Schreiben“ ein kontrollierter Ausbruch?

Ich glaub, es ist eher eine Möglichkeit mehr. Es ersetzt ja nichts, aber es fügt was hinzu. Sowohl für mich als Schreibenden, als auch für die Lesenden. Und hat eine Wechselwirkung mit dem anderen Leben – und diese Wirkung ist, glaub ich, kaum voraus- oder abzusehen, und damit auch kaum kontrollierbar.

Welches Buch hat sich in jüngster Vergangenheit tief in dein Herz eingebrannt und warum?

„Ich hab› gelebt Mylord“ von Simone Berteaut. Es ist eine Art Biografie von Edith Piaf, geschrieben von ihrer Halbschwester, die vielleicht auch einfach eine Bekannte war. Das aber ist egal; das Buch hat so einen tollen Sound, und im Hintergrund Edith Piafs Musik, dass man das Leben so stark spürt, dass ich oft weinen musst. Manchmal so sehr, dass ich die Buchstaben nicht mehr sehen konnte.

© Christoph Oeschger

Werner Rohner, geboren 1975, lebt als freier Schriftsteller in Zürich. Studium am Schweizerischen Literaturinstitut in Biel. Längere Schreibaufenthalte in Rom, Langenthal und Los Angeles. Er veröffentlichte Texte in Zeitungen, Zeitschriften und Anthologien, für die er mehrfach mit Preisen und Stipendien ausgezeichnet wurde, und schrieb drei Theaterstücke. Sein erster Roman «Das Ende der Schonzeit» erschien 2014 und war für den Rauriser Literaturpreis nominiert. Zusammen mit Katja Brunner veröffentlichte er 2018 das Buch «Wie weit du genetisch vom Raubtier entfernt bist». «Was möglich» ist ist sein zweiter Roman.

Werner Rohner mit «Was bleibt» auf der «Plattform Gegenzauber»

Beitragsbilder © Werner Rohner

Fabian Neidhardt «Immer noch wach», Haymon

Alex ist dreissig. Nach immer grösser werdenden gesundheitlichen Problemen erhält er von einem Arzt die Diagnose Krebs; ein Tumor im Bauch mit Metastasen. Alex ist am Ende. Und weil er nicht seine ganze Umgebung mit an ein Ende mit Schrecken führen will, zieht er sich in ein Sterbehospiz zurück, ohne irgend jemandem zu sagen, wo sich dieses befindet.

Aber bei folgenden Untersuchungen, die erst gemacht werden, nachdem Alex schon ein paar Wochen im Hospiz ist und von Attacken gebeutelt auf sein Ende wartet, stellt man fest, dass die Diagnose damals ungenau war, der Tumor wohl da, aber die Auswirkungen nicht zwingend und direkt zum Tod führen müssen. Alex wird wieder auf dem Hospiz entlassen. Etwas, was sonst nie vorkommt, auf jeden Fall nicht aufrecht.

Was tut man mit einem Leben, das einem wieder zurückgeben wird, dass nun doch nicht kurz vor seinem Ende steht? Wohin mit sich, wenn man seine Freunde, seinen Platz, seine Liebe verlassen hat, um nie mehr zurückzukehren? Im „Abspann“ seines Romans schreibt Fabian Neidhardt, er habe durch Zufall in einem aufgeschlagenen Spiegel (36/2014) die Überschrift „Abschied ohne Ende“ gelesen und dann die Geschichte eines Mannes, der sich mit Krebs im Endstadium in ein Sterbehospiz begab, dieses aber nach ein paar Wochen wieder verlassen musste, nachdem deutlich wurde, dass er „Opfer“ von Fehldiagnose und Verwechslung war. Eine wilde Geschichte. Hätte es die Notiz am Ende des Buches nicht gegeben, die ich beim Blättern im Roman schon nach den ersten Seiten der Lektüre entdeckte, hätte ich den Roman wahrscheinlich gar nicht zu Ende gelesen. Zu trivial wäre mir die Geschichte gewesen, beinahe wie ein Groschenroman. Ich las Fabian Neidhardts Roman weiter, weil ich wissen wollte, wie der Autor mit dem Plott umgehen, wie glaubhaft er die Geschichte schildern würde. Und auch darum, weil Fabian Neidhardt seine Geschichte von Beginn weg nicht allzu sehr aufbläst und mit Neben- und Zusatzschauplätzen versieht, die vieles an der Geschichte glaubhaft machen und mich durch das Buch ziehen.

Fabian Neidhardt «Immer noch wach», Haymon, 2021, 268 Seiten, CHF 34.90, ISBN 978-3-7099-8118-4

Alex verlor als Kind seinen Vater durch Krebs. Und weil er damals zuschauen musste, wie dieser „verendete“, war ihm mit einer fast identischen Diagnose klar, dass er sein Sterben seiner Umgebung nicht zumuten will. Seine Mutter verstummte nach dem langen und qualvollen Sterben seines Vaters, reagierte auch Jahre später nicht auf Alex Fragen, auch dann nicht, als ein neuer Mann ins Leben seiner Mutter trat und dieses auch nachhaltig beschädigte, als sich herausstellte, dass Alex Mutter nur Affäre war. Alex Mutter stirbt, Alex verliert seine Familie. Alles, was ihn hält, ist Bene, sein Freund, den er seit seiner Sandkastenzeit mit sich weiss und Lisa, die er bei einem Festival kennenlernt und die Monate später vor seiner Wohnung steht und um Asyl bittet. Alex, Lisa und Bene werden Freunde, gar mehr, denn was zwischen den dreien passiert, lässt sich nicht so leicht in Freundschaft oder Liebe einordnen. Und als die drei zusammen einen Traum verwirklichen und an einer Kreuzung in der Stadt in den Räumen einer ehemaligen Metzgerei das Café „Türrahmen“ eröffnen. Alles entwickelt sich prächtig, bis Alex hinter der Theke zusammenbricht und seine Freunde ihn ins Spital bringen.

Der Roman lässt sich in drei Teile gliedern. Im ersten Teil muss sich Alex mit der Diagnose und seinen Konsequenzen auseinandersetzen, mit den Fragen seines Sterbens. Im zweiten Teil ist Alex ein „Gast“ im Sterbehospiz, einer der Erwartenden und begegnet den Kerzen, die vor den Zimmern der Verstorbenen brennen. Und im letzten Teil des Romans ist Alex auf Reisen, nicht mit der Liste der Dinge, die er noch tun will, sondern mit der Liste der Dinge, die all jene nicht mehr tun konnten, die Alex im Hospiz sterben sah. Alle drei Teile sind durchsetzt von Erinnerungen an seine Vergangenheit und Gegenwart, an die Begegnungen mit den Menschen, die sein Leben ausmachen.

Zugegeben, das Urteil über die Lektüre drohte immer wieder ins Negative zu kippen. Vielleicht wäre ein Lektorat gut bedient gewesen, wenn man die Handlung abgespeckt hätte. Die Fehldiagnose allein, die Rückkehr in ein verlassenes Leben, das Wiederauftauchen dort hätte für Fragen und Dramatik gereicht. Trotzdem ist Fabian Neidhardt Roman gute Unterhaltung und des Autors Schreibe ein Versprechen!

Interview

Du bist in etwa so alt wie dein Protagonist, der nach Untersuchungen erfahren muss, dass er wohl nicht mehr lange leben wird, dass sein Tumor im Bauch ein tödlicher ist. Meist sind Sterben und Tod in deinem Alter weit weg. Ich erinnere mich zumindest an meine Zeit zwischen 30 und 40. Ist dein Denken und Handeln dem Sterben und Tod gegenüber ein anderes geworden?
Ich habe meine halbe Jugend auf einem Friedhof verbracht, weil das Haus meiner Eltern dort steht. Und schon relativ früh war ich auf Beerdigungen meiner erweiterten Familie. Ich glaube, dass sich mein Handeln und Denken durch die Arbeit an dem Roman vertieft haben. Aber wäre nicht schon vorher ein Interesse und Auseinandersetzen da gewesen, hätte ich diese Geschichte so nicht verfolgt und ausgearbeitet.

Du warst für deinen Roman eine Woche lang in einem Sterbehospiz. Erstaunlich genug, dass man dich an einen solchen Ort lässt, da die Menschen dort ja wohl nur ungern zu Recherchezwecken „verwendet“ werden. Aber du schaffst es, das letzte Sein dort mit grossem Respekt zu schildern. Kein Mensch bezweifelt die Notwenigkeit solcher Institutionen. Aber sind sie nicht auch die Zeichen einer Zeit, in der man sich mit dem Sterben und dem Tod nicht auseinandersetzen will?
Total. Und Zeichen eines Systems, in dem für Effektivität auf Menschlichkeit verzichtet wird.

Mit einem Mal steht Alex sein ganzes Leben noch einmal offen. Das alte hat er zurückgelassen. Ein neues steht mit fast allen Optionen offen. Und doch kehrt er zurück, obwohl von seiner eigentlichen Familie ausser Erinnerungen nichts mehr geblieben ist. Warum ist es unrealistisch zu glauben, man würde dann einen absoluten Neustart beginnen?
Einerseits finde ich, dass in dem alten Leben eben doch viel geblieben ist: Seine selbstgewählte Familie, sein Lebenstraum und Menschen, denen er wichtig ist. Andererseits finde ich es überhaupt nicht unrealistisch, dass Menschen genau diesen Neustart beginnen. Im Gegenteil: Wie viele Menschen haben beispielsweise Kriegswirren genau dafür verwendet? Allein in der Geschichte meiner Familie ist das mehrfach passiert. Aber für Alex ist es nicht der Weg.

Während den Tagen, in denen du selbst das „Leben“ in einem Sterbehospiz begleitet hast, ist dir eine Person ganz offensichtlich speziell ans Herz gewachsen. Jemand, der als Imago auch in deinem Roman vorkommt. Wie war die Annäherung nicht als „Sterbender“, sondern als Schreibender?
Emotional aufwühlend und nachhaltig beeindruckend. Eine Woche lang bin ich Abends nach Hause gekommen, habe meiner Freundin erzählt, was ich erlebt habe, habe mich in den Schlaf geweint und bin am nächsten Morgen wieder hingegangen. Mehrmals befand ich mich in Situationen, in denen ich meine persönliche Grenze überschritten und das in den Momenten auf eine journalistisch distanzierte Art realisiert habe. Wie du ja selbst anmerkst, hatte ich nicht nur dieses erstaunliche Glück, dass die Hospizleitung mich hat eine Woche lang mitarbeiten lassen, sondern dass auch fast alle GästInnen und alle Menschen, die dort arbeiten, sehr offen mit mir umgegangen sind. Im Gegenzug habe ich aber auch alle Fragen, die mir gestellt worden sind, sehr offen beantwortet. Vielleicht ist das die kurze Antwort auf deine Frage: Indem ich diesem Vertrauensvorschuss mit sehr viel Vertrauen entgegengetreten bin, oft schmerzhaft offen. 

Bist du wie dein Protagonist ein Mensch der Listen?
Nein. Doch, klar, manchmal schon. In einigen Momenten helfen mir Listen, das Chaos in meinem Kopf in eine Struktur zu bringen und Dinge zeitweise auszulagern. Aber haben nicht alle Menschen ein Fable für Listen? Wenn man sich all die Top-Listen im Internet ansieht, könnte ich das meinen.

Gibt es ein Buch, das dich in den letzten Wochen und Monaten nicht in Ruhe gelassen hat? Und warum?
Irgendwo auf jeden Fall das nächste, das ich schreiben möchte. Und dann, weil mich die Geschichten nachhaltig beeindrucken, die Kurzgeschichten von Ted Chiang, dessen Gesamtwerk Ende 2020 erstmals komplett auf Deutsch im Golkonda Verlag erschienen ist. Ich habe einige von ihnen schon auf englisch gelesen und freue mich nun auf die deutsche Version. Weil Chiang in kurzen Texten unglaublich krasse Gedanken und Ideen verarbeitet und die, die ich gelesen habe, mein Denken verändert haben.

© Daniel Gebhardt

Fabian Neidhardt schreibt mit links, seit er einen Stift halten kann, und erzählt Geschichten, seit er 12 ist. 1986 als erster von vieren in eine polnisch-italienische Familie geboren, lebt in Stuttgart. Nach dem Volontariat beim Radio studierte er Sprechkunst und Kommunikationspädagogik an der staatlichen Hochschule für Musik und darstellende Kunst in Stuttgart und Literarisches Schreiben am Literaturinstitut Hildesheim. Bis Mai 2019 absolvierte er die Ausbildung zum Storyliner bei der UFA Serienschule in Potsdam. Seit 2010 sitzt er als Strassenpoet mit seiner Schreibmaschine in Fussgängerzonen und schreibt Texte auf Zuruf. 2019 entwickelte er den Prosaroboter, der auf Knopfdruck Geschichten ausdruckt. 2020 ist er Stipendiat des Förderkreises deutscher Schriftsteller in Baden-Württemberg.

«Die Vielleicht-Ära», ein TEDx-Beitrag

Fabian Neidhardts Blog

Beitragsbild © Sara Dahme

Annina Haab «Bei den großen Vögeln», Berlin

Ali ist ihre Grossmutter. Und weil Ali nach einem Krankenhausaufenthalt nicht mehr zurück in ihr Zuhause kann und man sie in einem Altersheim platziert, beginnt ihre Enkelin zu schreiben. Sie will festhalten, was noch lebt, was noch da ist. All die Geschichten aufschreiben, die Ali ausmachen, die Ali mit sich herumträgt, die Ali zu der gemacht haben, die sie ist, auf die sie nicht verzichten kann, die ihr das Sterben und der drohende Tod wegnehmen will.

„Ali ist ein Code, drei Buchstaben, damit ich nicht Oma sagen muss oder Grossmutter.“

Wenn Menschen sterben, schliessen sich Türen endgültig. Was an Abdankungen in ein paar Minuten das Leben eines Menschen umreissen soll, ist nie und nimmer das, was der Tod hat abreissen lassen, was jenes Leben ausmachte. Dann sitzen wir Angehörige in den Bänken, lauschen und wissen, dass vieles unwiederbringlich mit in der Grube zugeschüttet ist. Die Schriftstellerin Annina Haab gibt einer Erzählerin eine Stimme, die sich mit allen Mitteln dem Vergessen und Verschwinden entgegenstellt. Die Enkelin besucht ihre Grossmutter immer wieder, will möglichst viel von dem bewahren, was die innige Beziehung zu ihrer Grossmutter ausmachte, diese beinah kumpelhafte Zweisamkeit, die etwas Verschwörerischen an sich hatte. Aber die Grossmutter verstummt immer mehr. Zum einen schwindet die Kraft, zum andern schliesst sich die Tür zu den Geschichten schon deshalb, weil sich die Grossmutter weigert, ihre eigene Geschichte so ernst und wichtig wie ihre Enkelin zu nehmen.

Annina Haab hat ein ungeheuer zartes und anrührendes Buch geschrieben. Ein Buch, das ganz leicht ins Sentimentale hätte abdriften können. Aber Annina Haab schaffte es mit erstaunlicher Sicherheit, nicht in erster Linie ein Buch über ihre Grossmutter zu schreiben, ein Leben aus der Vergangenheit dem Vergessen zu entreissen, sondern ein Buch über einen Abschied. Über die immer grösser werdende Distanz, die lange vor dem Sterben beginnt. Über Nähe, die ganz langsam verloren geht und darüber, dass das Schreiben vielleicht eine der wenigen Möglichkeiten ist, einem Menschen über seinen Tod hinweg nahe zu bleiben, ihn nicht loslassen zu müssen.

Annina Haab «Bei den grossen Vögeln», Berlin, 2021, 288 Seiten, CHF 32.90, ISBN 978-3-8270-1427-6

Sie weiss einiges über Ali. Von einer Kindheit auf dem Bauernhof, von der Reise als Jugendliche nach England, nach London in die Dienste von Familien. Ali erzählt von ihrem Leben in der Enge, einem Leben, das fast nur aus Arbeit bestand, ihrem Pelzmantel, den sie monatelang abstotterte, der ihr den Zugang in die „Gesellschaft“, in das Leben dort erleichtern und nicht sofort als Haushalthilfe erkennbar machen sollte, von ihren Ersparnissen, die sie sich von einem Fremden abknöpfen liess und Jahre später wie aus dem Nichts wieder an sie zurück gelangten. Es sind Bruchstücke, das was man erzählt, wenn man sich nahe ist, Zeitinseln aus einem Meer, das unendlich scheint. Die Enkelin will festhalten, weil ihr mit dem Sterben ihrer Grossmutter ein Leben zu entgleiten beginnt, das ihr näher als alle anderen ist.

Sie geht durch die verlassene Wohnung ihrer Grossmutter, als wäre es ein verlassenes, nur vorübergehend verlassenes Leben einer Frau, die nur eben mal schnell weg ist. Sie besucht Ali im kleinen Altersheim, im Zimmer, das sie mit einer anderen Frau teilt, die fast immer unter einem Berg von Decken im Bett am Fenster liegt. Sie lebt mit dem Riss in sich selbst, weil sie ihre Grossmutter am liebsten zu sich nehmen würde, aber an den Realitäten scheitert und in der Zeit zögert, in der es noch möglich gewesen wäre, es Ali aber gar nicht gewollt hätte. Sie hadert mit dem Bewusstsein, dass ihr vieles, alles aus den Händen genommen wird, dass sie zur Zurückbleibenden verurteilt ist.

„Bei den grossen Vögeln“ ist viel mehr als ein Erinnerungsbuch einer jungen Frau über ihre Grossmutter, auch wenn es das auch ist. Der Roman spiegelt, was in der Erzählerin passiert, das Pendeln zwischen Schmerz, Trauer, Ergebenheit und zärtlicher Liebe. Und nicht zuletzt zwingt der Roman mich als Leser zu Fragen an mich selbst: Was will ich in meiner letzten Zeit in meinen Händen behalten? Was soll von mir zurückbleiben? Ist das erzählt, was mich ausmacht oder lasse ich so hilflos zurück, wie es meistens ist? Lebe ich mit dem Bewusstsein, das mein Leben endlich ist?

“Bei den grossen Vögeln“ ist kein grosser, schwarzer Vogel, aber ein Buch, das sich über viele andere zu diesem Thema hinausgehoben hat.

Interview

Der grosse Wiener Liedermacher Ludwig Hirsch schrieb und sang ein Lied mit dem Titel „Komm, grosser schwarzer Vogel“, ein düsteres Lied über Todessehnsucht. Ihr Debüt „Bei den grossen Vögeln“ ist ein Nachgesang über eine grosse Liebe; die Liebe zwischen Enkelin und Grossmutter. So gar kein Buch über den Tod. Auch kein Erinnerungsbuch. War das Buch eine Notwendigkeit? 

Das Lied kenne ich nicht, die Vögel sind für mich auch gar nicht so sehr mit dem Tod assoziiert. Ich denke, dass das Schreiben als Prozess für mich eine Notwendigkeit war. Dass daraus jetzt ein Buch wird, ist für mich eher eine erfreuliche Zugabe. Ich finde es aber durchaus nötig, dass über Menschen, wie die Ali im Text, mehr geschrieben wird, dass also nicht nur Heldengeschichten erzählt werden, sondern auch von jenen geschrieben wird, die sozusagen kleine Geschichten leben. 

Sie sind noch jung. Ich bin bald 60. Sie haben sich beim Schreiben dieses Buches ganz intensiv mit dem letzten Lebensabschnitt auseinandergesetzt, wenn man so will, exemplarisch an Ali der Grossmutter. Hat sich Ihre Sicht auf Ihr eigenes Leben, auch auf Ihr eigenes Sterben verändert? 

Mit meinem eigenen Sterben habe ich mich nicht besonders auseinandergesetzt, für mich war und ist die Auseinandersetzung mit dem Sterben der anderen wichtig, mit der Position derjenigen, die weiterlebt. Es ging mir also eher um den Abschied und den Verlust, aber auch um eine Reflexion verbreiteter Erzählweisen und Darstellungen des Todes.
Die Sicht auf das eigene Leben verändert sich wahrscheinlich zwangsläufig, wenn man sich mit hochbetagten Frauen beschäftigt. Ich bin sehr glücklich, durfte ich so manches von ihnen lernen. 

Ist Ihr Buch auch eine Aufforderung, sich mit dem letzten Schritt eines jeden Lebens mehr auseinanderzusetzen?

Ich denke nicht, dass ich je den Wunsch verspürt habe, mit dem Text irgendwen zu etwas aufzufordern. Ich glaube aber, dass es durchaus sinnvoll wäre, sich mit dem Sterben und dem Tod auseinanderzusetzen. Oft, so scheint mir, wird ein wenig daran vorbeigeschielt oder verhüllend darüber gesprochen. Gerade bei den Darstellungen und metaphorischen Ausdrücken müssen wir sehr genau hinschauen und prüfen, ob sie zutreffend sind oder doch eher Ausflüchte, um in einer gefahrenfreien Zone bleiben zu können. 
Allgemein fände ich es gut, den Tod und die Krankheit, die Gebrechen, die Abweichung von der (ideellen) Norm junger gesunder Körper nicht an den Rand der Gesellschaft oder des Blickfeldes zu schieben, sondern sie sichtbar zu machen und die Diversität der existierenden Körper und Zustände anzunehmen und auch zu verteidigen.

Weil Ihr Buch keine Anekdotensammlung ist, kein Erinnerungsbuch, sondern eine Liebeserklärung, eine Verneigung, eine sprachliche Zärtlichkeit, liest es sich anders; Sie schaffen es, die Spur vorbei an Sentimentalitäten zu halten. War das schwierig?

Danke, das freut mich zu hören. Ja, das fand ich sogar sehr schwierig und in vielen Momenten zweifelte ich auch, ob es denn geglückt sei. Es ist ja ein schmaler Grat, auf dem ich wandeln wollte. Ich bin eine Befürworterin von Pathos und auch hier finde ich es vor allem wichtig, auf der Hut zu sein, um keine Vorurteile weiter festzutreten. Das gilt aber für den Zynismus genauso, eine Haltung, die zwar oft souveräner scheint, es aber nicht unbedingt ist.

Obwohl das Altersheim, in dem Ali die letzte Zeit ihres Lebens verbringt, ein ganz kleines ist, wird sie von „Einsamkeit zerfressen“, etwas, das auch mit vielen Besuchen nicht verhindert werden kann. Das Abgeschnittensein vom alten Leben, vom Leben draussen (etwas, was in Coronazeiten dramatische Züge bekommen hat!), von einem wirklichen Zuhause. Wie wollen Sie alt werden?

Nun ja, am liebsten schon eingebettet in eine soziale Struktur, die mir dieses Zuhause ist, aber wer auf intensive Pflege angewiesen ist, hat oft keine Wahl mehr. Dass noch im familiärsten Heim die Einsamkeit grassiert, verweist auf ein strukturelles Problem; dass von den Pflegenden zu viel verlangt wird, dass kaum Zeit für zwischenmenschlichen Kontakt bleibt, dass sie chronisch überarbeitet aber unterbezahlt sind. Wie müssen unbedingt über die Bedingungen und den Stellenwert von Care-Arbeit reden, und über patriarchale Geschlechterverhältnisse. In erster Linie möchte ich also erleben, dass da ein Umdenken stattfindet, und zwar sofort, bevor ich alt werde. Ansonsten kann ich mir nur wünschen, so humorvoll, offen und unkompliziert wie beispielsweise die Ali zu werden, ich glaube, dann wär ich ganz schön stolz auf mich.

Ganz am Schluss des Buches danken Sie. Da erscheinen gewichtige Namen: Ruth Schweikert, Friederike Kretzen, Zsuzsanna Gahse oder Antje Rávik Strubel. Ein Indiz dafür, dass Schreiben nicht einfach „das stille Brüten im Kämmerchen» ist. Und doch erstaunt die Dichte an grossen Namen. Wie verändert die Auseinandersetzung den Text?

Ich denke, das Bild von der Literatur als einsames Geschäft wird oft und gerne bemüht, weil es vielen Leuten gefällt, sich so darzustellen, und ja, während ich schreibe, bin ich selber auch allein, aber während ich über Texte nachdenke zum Glück nicht. Die „Dichte an grossen Namen“ hat etwas damit zu tun, dass ich in verschiedenen (institutionellen) Kontexten meinen Text besprechen durfte. Mir hat vor allem die konstante Begleitung von Friederike Kretzen geholfen, die sich mit grosser Ernsthaftigkeit auf meinen Text eingelassen hat und auch bereit war, über noch so kleine Details mit mir nachzudenken. Aber auch viele andere haben meinen Prozess beeinflusst. Ich finde es eine grosse Chance und Bereicherung, mit anderen über Texte zu sprechen, die am Entstehen sind, auch einige Freundinnen und Geschwister von mir haben den Text in einer ersten Fassung gelesen und wichtige Anstösse gegeben. Das Einbeziehen anderer Meinungen lehrte mich, dass nichts festgeschrieben ist, dass es sich lohnt, alles noch einmal zu hinterfragen und nur stehen zu lassen, was man begründen kann. Es zeigte aber auch, dass zu jeder Szene zehn verschiedene Meinungen möglich sind. 

Ein Buch, das Sie in den vergangenen Monaten gepackt hat?

«Kassandra» und viel weiteres von Christa Wolf. Und einmal mehr die Reden von Audre Lorde.

Annina Haab wurde 1991 geboren und wuchs in Wädenswil im Kanton Zürich auf. Sie studierte Literarisches Schreiben in Biel, Bern und Leipzig und war Artist in Residence am Zentrum für nonkonformistische Kunst St. Petersburg sowie Stipendiatin der Autorenwerkstatt Prosa des Literarischen Colloquiums Berlin. Heute lebt Annina Haab in Basel. «Bei den großen Vögeln» ist ihr erster Roman.

Beitragsbild © Privat / Piper Verlag

Andreas Schäfer «Das Gartenzimmer», DuMont

Häuser bergen Geschichte und Geschichten. Andreas Schäfer lässt in seinem neuen Roman „Das Gartenzimmer“ zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein Haus bauen, das erste Haus eines jungen, aufstrebenden Architekten. Fast hundert Jahre später wird es von einer Maklerin zum Verkauf angeboten. Andreas Schäfer breitet aber nicht einfach die Geschichte eines Hauses aus, sondern das, was Mauern Geschichte und Geschichte schlucken und was von all dem auf Bewohnerinnen und Bewohner einwirken kann.

Der junge, später Weltruhm erlangende Architekt Max Taubert baut 1909 am Rande Berlins ein neoklassizistisches Landhaus für einen Professor und seine Ehefrau. Ein Haus, das ganz anders wirkt als alle anderen Häuser, die in dieser Zeit gebaut werden, nichts vom verspielten Jugendstil. Der Lichteinfall in den Zimmern, die Harmonie in der Halle, dem Mittelpunkt des Hauses, der Eindruck von Aussen, das Haus würde über dem Boden schweben. Max Taubert ist damals noch Angestellter in einem Architektenbüro und dieses Gefühl „Ich baue ein Haus“ wird für den jungen Idealisten ein Rausch. Auch für den Bauherrn, Professor Adam Rosen und seine Ehefrau Elsa ist das Haus mehr als die Hülle eines neuen Kapitels in ihrem Leben. Das Ehepaar leidet unter dem Verlust ihres Sohnes. Max Taubert soll mit seinem jugendlichen Elan etwas von dem zurückgeben, was sie durch den Tod ihres Sohnes verlieren mussten.

In den Neuzigerjahren entdeckt Frieder Lekebusch das schon lange leer stehende Haus, kauft es zusammen mit seiner Frau Hannah und renoviert es aufwändig zurück in den Zustand, als es Jahrzehnte zuvor unter Rosen zu einem Angelpunkt von Kultur und Gesellschaft wurde. Vor allem seine Frau steigert sich regelrecht in das „Kleinod der Vormoderne“, kauft Möbel, die genau passen und macht die Villa zu einem Mekka für Architekturfreaks und Max-Taubert-Fans, dem Architekten, der später in der ganzen Welt eine neue Ära mitgestalten sollte. Das Kommen und Gehen in diesem Haus und ein Brief, den ein Journalist dem Sohn des Hauses übergibt, ein Brief der damaligen Besitzerin Elsa Rosen, vergiften das Leben im Haus aber so sehr, dass auseinanderbricht, was in der perfekten Hülle hätte gedeihen sollen.

Andreas Schäfer «Das Gartenzimmer», DuMont, 2020, 352 Seiten, CHF 29.90, ISBN 978-3-8321-8390-5

Schon vor Beginn des grossen Krieges bekam die Witwe Rosen Besuch von Alfred Rosenberg, einer treibenden Kraft im Naziregime zur Germanisierung besetzter Ostgebiete und der systematischen Vernichtung der jüdischen Bevölkerung. Das Haus am Rande Berlins sollte eine ganz spezielle Rolle erlangen, sollte Hülle werden für einen der Orte, an denen der Beweis geliefert werden soll, dass die arische Rasse allen anderen überlegen ist und die Rechtfertigung liefert, alles unwerte, minderwertige Leben auszulöschen. Und als gegen Ende des Krieges Bomben auch Berlin trafen, richtete Rosenberg im Gartenzimmer der Villa einen ganz speziellen Ort der grausigen Maschinerie des Nationalsozialismus ein.

Romane, die Geschichten von Häusern erzählen, die Häuser zu eigentlichen Protagonisten machten, gibt es einige, denke ich nur schon an „Die Villa“ von Hans Joachim Schädlich. Andreas Schäfer erzählt aber weit mehr als die Geschichte eines Hauses. Was macht die Hülle eines Hauses mit seinen BewohnerInnen? Wirken Geschichten aus der Vergangenheit bis in die Gegenwart? Wieviel Kulisse ist das, was man in Dutzenden von „Schöner-Wohnen-Heftchen“ als Idylle, Ideal und Selbstverwirklichung in Hochglanz präsentiert bekommt? Kann man am Erbe eines Hauses zerbrechen? Kann man ausblenden, was an einem Ort, in einem Zimmer geschah?

„Das Gartenzimmer“ ist raffiniert erzählt, überrascht und zieht mich als Leser in einen unwiderstehlichen Sog. Nicht einfach weil die Geschichte dramaturgisch gekonnt konstruiert ist, sondern weil Andreas Schäfer mich mit seiner Sprachkunst zu bezaubern weiss, weil er mich mit der Lektüre in eigene Reflexionen zwingt, weil sich durch ein perfektes Mass an Abstand und Nähe sein Personal nie entblösst, weil er keine Übermenschen, keine Helden, keine Verlierer, nicht einmal Bösewichte schafft. Das Böse schleicht sich versteckt ein. Wie in all den Grimmmärchen, in denen vom einen Zimmer gewarnt wird, vor dem man sich hüten soll, es je zu öffnen. „Das Gartenhaus“ belehrt nicht, deckt mich nicht zu mit Rechercheverarbeitung. Dieser Roman ist wahrhaft Kunst und alles andere als künstlich!

Hervorragend!

Ein Interview

Als Mieter lebte ich mit meiner Familie immer wieder in Mauern, die Geschichte und Geschichten erzählten. Einmal besichtigten wir gar ein Jugendstilhaus, in dem es nicht einmal möglich gewesen wäre, an den bemalten Wänden Bilder aufzuhängen. Heute leben wir, ins Alter gekommen, in einer Neubauwohnung. In einer Wohnung, die nach nichts ruft, die keine Verantwortung generiert, die uns lässt, die nichts mit uns macht. Beides ist gut. Kann „Schöner wohnen“ zur Manie werden?

Natürlich kann eine übertriebene Gestaltung der eigenen Lebensräume zur Manie werden und – wenn man sein Herz zu stark an die Dinge hängt – schädlich sein oder sogar, wie im Fall des „Gartenzimmers“, auch unheimliche Dimensionen annehmen. Die eigene Wohnung, das eigene Haus ist vielerlei: Erst einmal ein Ort des Schutzes und – Sie sprachen davon – ein Ort der Familie oder einer wie auch immer gearteten Gemeinschaft. Daneben sind Häuser auch Projektionen und Traumorte und Spiegel des realen und eines gewünschten Selbst. Man kann Räume auf eine gute Art einrichten und beleben, genauso aber auf ungute, wenn es vor allem darum geht, dass Gäste die Herkunft (also auch den Preis) bestimmter Möbel erkennen. Dann wird der eigene Lebensraum zur Luft abschnürenden Statusbühne. Hannah, die neue Bewohnerin der Villa Rosen, hat eigentlich Angst vor dem Haus, weil sie keinerlei künstlerisches Gespür hat. Deshalb stürzt sie sich auf die äusseren Aspekte, auf Tauberts Ruhm und den Stolz, in einem bedeutsamen Baudenkmal zu leben. Sie richtet das Haus ein, um es zu zeigen, darüber verliert sie einen lebendigen, unmittelbaren und auch handfest pragmatischen Umgang mit den Räumen, in denen die Familie lebt. 

Im Gartenzimmer passiert Unvorstellbares. Laden wir Mauern nicht auf, weil wir mit der Sehnsucht nach Bedeutung leben? Warum wird das Geburtshaus Adolf Hitlers zur Belastung, die Statue eines Südstaatengenerals zu Provokation? Warum sind sie nicht einfach Relikte aus der Vergangenheit, Überbleibsel?

Natürlich leben wir mit der Sehnsucht nach Bedeutung, ich würde sogar sagen, mit der Notwendigkeit nach Zusammenhängen. Dinge sind erst einmal nur Dinge, aber sie können in unterschiedlichen Kontexten auch etwas Magisches oder Dämonisches erhalten; das hängt (unter anderem) von ihrem Symbolcharakter ab. Die Statue eines Südstaatengenerals ist deshalb noch immer von heikler Bedeutung, weil der Rassismus in der U.S-amerikanischen Gesellschaft nicht überwunden ist, sondern – wir sahen vor ein paar Wochen die schrecklichen Bilder von der Stürmung des Kapitols – noch immer wirkt, im Verborgenen und in immer hemmungsloser präsentierter Sichtbarkeit. Wäre der Rassismus überwunden, wäre die amerikanische Gesellschaft innerlich befriedet und vereint, würde die Statue tatsächlich zu einem Relikt aus der Vergangenheit werden, ihre Bedeutung würde zurücksinken in den Bereich des nur noch historisch Relevanten, nach dem Motto: Seht, was für Probleme wir früher hatten. Vom Kampfding würde es zur Mahnung werden und dann vielleicht irgendwann nahezu völlig bedeutungslos. Auch die Zeit spielt dabei eine Rolle. Dennoch glaube ich, dass es kontaminierte Orte oder auch Gebäude gibt. Man kann die Villa am Wannsee, in dem die Vernichtung der Juden beschlossen wurde, nicht als gewöhnliches Wohnhaus benutzen. Das Unvorstellbare, das an diesem Ort beschlossen wurde, bestimmt zu Recht noch immer unser kollektives Gedächtnis. So etwas verbietet sich einfach, im Moment und sicher noch für sehr viele Generationen. 

Der Architekt Max Taubert hat eine Mission, das Ehepaar Rosen, das die Villa baut, das Ehepaar Lekebusch, dass die Villa in der Gegenwart zu einem Mekka der Architektur macht. Ich habe eine Mission als Literaturvermittler, Sie mit Sicherheit die Ihrige auch. Gieren wir alle nach Bedeutung?

Gier, das klingt mir etwas zu negativ und nach Verurteilung eigener, im Prinzip guter Impulse. Ich denke, jeder kann und (sollte vielleicht sogar) seine Aufgabe finden, etwas, das ihn erfüllt und glücklich macht und das im besten Fall auch andere erfreut oder hilft und dabei – wenn es um Kunst geht – einen Lichtstrahl ins Dunkle lenkt, etwas sichtbar macht, was sonst vielleicht im Verborgenen bleibt (obwohl es da ist). Etwas schöpfen, Erkenntnis und Freude weitergeben – das sind die natürlichsten Vorgänge überhaupt. Selbstverständlich spielen dabei auch nicht ganz so hehre Motive eine Rolle: Ruhm, Erfolg, Reichtum, Eitelkeit, Geltungssucht. Aber zugleich sind die Ströme, in die wir uns begeben, grösser als wir selbst, zumindest grösser als ein persönliches Ego, zumindest ist das meine Erfahrung. Als Beispiel: Vielleicht sagt jemand als junger Mensch: Ich möchte ein berühmter Künstler, Wissenschaftler, Forscher oder ähnliches werden. Möglicherweise wird er angetrieben von Ruhmsucht, von der Idee eines grandiosen Selbst. Vorher muss er aber von etwas berührt worden sein, von der Schönheit und der Tiefe eines Kunstwerks oder der Genialität einer Erfindung. Diese Berührung hat etwas Ursprüngliches. Und wenn unser junger Mensch es ernst meint und sich auf die Spur dieses Ursprünglichen begibt, wird ihn der mühsame Prozess und die Notwendigkeit dabei offen zu bleiben, schon auch Demut lehren. Um beim Roman zu bleiben: Hannah Lekebusch schafft es nicht, den Zugang zu diesem Ursprünglichen zu finden, deshalb führt ihre Mission bald zu etwas Schalem, pathologisch Besessenem. 

Wo lag der Ursprung Ihres Romans, die erste Idee?

Als wir als Familie vom Zentrum Berlins in einen Aussenbezirk zogen und ich unsere Tochter täglich zur Schule in das vornehme Dahlem fuhr, war ich verzaubert von der Atmosphäre – beeindruckende Häuser in parkähnlichen Grundstücken, daneben die vielen Forschungszentren und die Freie Universität, an der ich vor Jahrzehnten studiert hatte. Eine Atmosphäre von Reichtum, Ruhe, aber auch Geist, verbunden mit einer starken Geschichtspräsenz (vielleicht wegen der Ruhe auf den Strassen?). Dahlem wurde noch in der Kaiserzeit als Villenkolonie und Wissenschaftsstandort mit vielen Kaiser-Wilhelm-Instituten gegründet, dort forschte zum Beispiel Albert Einstein bis zu seiner Emigration. Aber Dahlem war eben auch der Lieblingsbezirk von Nazigrössen. Ich wollte ein Buch schreiben, das in Dahlem spielt. Erst als zweites kam die Idee, von dieser reichen Atmosphäre, von dem Schönen und dem Schrecklichen anhand eines Hauses zu erzählen.  

Der Roman erzählt fast hundert Jahre Geschichte. Sie verlieren sich nicht in Details, bleiben stets auf der Spur. Die Fülle an Personen und Geschichten hätte genug Potenzial, um auszuschweifen. Nur schon die Geschichte eines Architekten, der nach seiner Formensprache sucht. Die Geschichte eines Fabrikanten von Generika, der sich mit einem Haus mit Bedeutung ein Original schenken will. Gab es einen Plan ins Schreiben oder sind Sie so sehr diszipliniert, dass der Roman wie ein perfekt gebautes Haus erscheint?

Das Buch und seine Struktur waren nicht sofort da, sondern entstanden in langwierigen Prozessen. Sehr früh war zum Beispiel klar, dass ich auf drei Ebenen erzählen würde, aber wie genau die Ebenen ineinander greifen würden – das stellte sich erst während des Schreibens heraus. Ich mache mir Pläne, habe einzelne Szenen und Handlungsabläufe im Kopf, aber vieles konkretisiert sich erst im Akt des Schreibens (ah, so handelt Figur x oder y also!), was dann wieder Überarbeitungen des Vorherigen zur Folge hat. Auch das Haus habe ich so beim Schreiben immer wieder aus den unterschiedlichen Perspektiven entstehen lassen. Natürlich hatte ich früh einen Grundriss, doch zum Beispiel die Einrichtung der einzelnen Räume zeigte sich erst, als diese oder jene Figur sich länger in ihnen aufhielt – also aus der Notwendigkeit, in einer ganz konkreten Erzählsituation sehr konkret zu werden. 

Welches Buch ist Ihnen in letzter Zeit hängengeblieben? Und warum?

Gerald Murnane «Die Ebenen», Bibliothek Suhrkamp, 2017, 152 Seiten, CHF 27.90, ISBN 978-3-518-22499-1

Ich lese schon seit einigen Monaten Prousts „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“. Ich hatte es als Student gelesen und mache jetzt ganz neue, mich unendlich begeisternde Erfahrungen. Wie langsam Proust unvergessliche Figuren entstehen lässt, im Wechselspiel aus Idealisierung und hochstehender Erwartung (Apropos Bedeutungssucht!) und schmerzhafter Enttäuschung; wie genau er Emotionen nachlauscht und ihnen dabei immer wieder neue Facetten abgewinnt. Proust macht glücklich, weil seine Sätze einen immer wieder daran erinnern, was Literatur zu leisten vermag. Gerade lese ich auch „Die Ebenen“ des australischen Autors Gerald Murnane. Es handelt im wahrsten Sinn von so gut wie nichts. Ein junger Filmemacher kommt ins Outback und versucht die Feinheiten eines kargen Graslandes festzuhalten und zu dokumentieren (zum Beispiel den blaugrünen Dunst über der Ebene) und gerät dabei in eine geradezu kafkaeske Anderswelt. Grossartig.  

Andreas Schäfer, 1969 in Hamburg geboren, wuchs in Frankfurt/Main auf und lebt heute als Schriftsteller und Journalist mit seiner Familie in Berlin. Bisher veröffentlichte er die Romane «Auf dem Weg nach Messara», wofür er u. a. den Bremer Literaturförderpreis erhielt, «Wir vier» (2010), der für den Deutschen Buchpreis nominiert war und mit dem Anna-Seghers-Preis ausgezeichnet wurde, und zuletzt «Gesichter» (2013).

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Beitragsbild © Mirella Weingarten