2. Weinfelder Buchpreis: Noemi Somalvico «Ist hier das Jenseits fragt das Schwein»

Katharina Alder verlieh als Initiatorin, Organisatorin und Sprecherin der Jury des 2. Weinfelder Buchpreises den mit 4000 Franken dotierten Literaturpreis an die junge Schriftstellerin Noemi Somalvico. Eine mutige Entscheidung für eine mutige Schriftstellerin mit einem mutigen Debüt.

Die fabelhafte Welt der Noemi Somalvico – Laudatio an das Gewinnerbuch «Ist hier das Jenseits, fragt Schwein» 

Schwein, Dachs und Gott begeben sich in Noemi Somalvicos charmantem Romandebüt gemeinsam auf Sinnsuche. Sie reisen ins Jenseits, wo sie in einem Hotel am Meer verweilen. Dort macht Schwein einen Tanzkurs, Dachs spielt Tennis und Gott verbringt viel Zeit im Bett.

Klingt kurios, oder? So erscheint einem Somalvicos falbelhafte Welt zunächst auch. Eine Fabel ist ihr Erstling Ist hier das Jenseits, fragt Schwein jedoch nicht. Obwohl Tierfiguren mit ziemlich menschlichen Eigenschaften die Erzählung tragen. Und obwohl der formale Aufbau des Romans sich durchaus für die Vermittlung von Moral eignen würde: Das schmale Buch ist in kurze Kapitel geteilt, die man auf den ersten Blick für Lektionen halten könnte. In ihnen spielen das Dreiergespann Schwein, Dachs und Gott die Hauptrollen – und noch viele weitere Tiere haben einen Auftritt, darunter das Reh, ein Fisch und ein zwielichtiger Hase.

Aber Somalvico verfällt nicht einem moralisierenden Ton. Die Lebensweisheiten, die hie und da dennoch vorkommen, wirken daher nie belehrend, sondern unkompliziert erfrischend. Wie wenn da steht: «Dem Himmel ist heute keine Farbe gelungen. Wenn es in schwierigen Zeiten auf etwas ankommt, dann aufs Licht». Mit dieser Beobachtung zeigt Somalvico ihr Talent, einen kindlichen Blick auf die Welt zu wahren – nicht naiv, sondern neugierig, unverfroren und ehrlich.

Auch nutzt sie ihre Tierfiguren nicht aus, um unsere menschlichen Lebens- und Verhaltensweisen satirisch vorzuführen. Nein, die junge Schweizer Autorin begegnet ihnen stets auf Augenhöhe. Und hat dabei ein Gespür fürs Zwischenmenschliche.

Als zum Beispiel das Reh verlassen wird und sagt, dass es noch nie so traurig war, legt sich Schwein zu ihm und «sorgt dafür, dass stets ein Bein oder sein ganzer Rücken gegen Rehs Körper drückt. Reh soll wissen, dass Schwein sich nicht verschieben oder gar verschwinden wird». Und auch als Schwein lieber im Jenseits bleiben würde, obwohl es Gott dort nicht gut geht, bleibt Somalvicos Sprache feinfühlig. Dem Schwein ist halt «das Herz in den Kopf gestiegen». Aber dann stürzt es doch bei «knapp 30 Grad im Schatten» an Dachs vorbei in Gottes Hotelzimmer und weint «alle Tränen, die es in der glücklichen Jenseitswoche nicht geweint hat».

Somalvicos Werk ist also keine Fabel. Was aber nicht heisst, dass ihrer wunderlichen Welt die Moral abhanden gekommen ist. Es fällt auf, dass die Autorin ihren Figuren anerkennend und wertfrei begegnet – so bleibt zum Beispiel das Gender der Charakteren bis zum Schluss offen. Auch dem Publikum wird keine Lesart aufgezwungen. Das Büchlein lässt sich einfach geniessen, kann aber auch diskutiert werden. Etwa im Hinblick die ethische Verantwortung gegenüber anderen, Gottes Existenz oder, nun ja, Tiersymbolik.

Mit Ist hier das Jenseits, fragt Schwein gelingt der Autorin also ein Balanceakt zwischen schlicht und wunderlich. Ihre literarische Welt kommt unbemüht vielschichtig, überraschend zauberhaft und doch altbekannt daher. Eine Lektüre lohnt sich für alle, die schon mal Fernweh hatten – und sich zugleich nach einem Zuhause sehnen.

Würdigung «Culturestress» von Sarah Elena Müller

Wenn man, um kurz ein Velo zu mieten, zuerst ein Abo abschliessen muss (aber zumindest noch einen Haselnussmilch-Latte dazu bekommt), wenn posttraumatische Verbitterungsstörungen in der «Post-Nüüt-Ära» überhand nehmen, wenn kleine Nager mit ihrer toxischen Mäuslichkeit hadern, oder wenn der Samichlaus vom Sonderkommando niedergerungen wird – ja spätestens dann ist man mitten im «Culturestress» angelangt. Sarah Elena Müllers Kolumnensammlung nimmt die Leser:innen mit auf eine Reise durch die durchdigitalisierte, selbstoptimierte, spätkapitalistische Horrorshow, die wir unsere Gegenwart nennen. Die siebenunddreissig Kurztexte sind sprachlich treffsicher und mitreissend, es sind Kolumnen, die auch auf einer Poetry-Slam Bühne nicht fehl am Platz wären. Müllers Ton ist manchmal hässig, manchmal staunend, manchmal beissend, manchmal resigniert – immer gefühlt am Rand der Klippe, immer so lustig wie abgründig: «Du chasch no dis PhD mache, aber d Welt gaht unter. Du chasch no öppis publiziere, bi me Verlag, vilich chasch du das, aber d Welt gaht unter.» Wir freuen uns trotzdem auf ihren ersten Roman, der nächstes Jahr erscheinen wird.

Würdigung «Die Dinge beim Namen» von Rebekka Salm

Gleich im ersten Kapitel versucht sich ‘der Vollenweider’ als Autor. Endlich will er «die Wahrheit» über den unheilvollen Unterhaltungsabend im Jahr 1984 veröffentlichen – mit dem Ziel vor Augen, «die Dinge beim Namen zu nennen». Die Leerstelle in Rebekka Salms Romantitel Die Dinge beim Namen weist aber darauf hin, dass sich ihre Erzählweise deutlich von der ihrer Figur unterscheidet. Sie will in ihrem Roman nicht einfach be-nennen, von einer einzigen Wahrheit zu sprechen liegt dem Text fern. Stattdessen kommen die Figuren selbst zu Wort: Aus der Perspektive von zwölf Bewohner:innen wird die Geschichte eines Dorfes geschildert. Zusammengehalten werden diese unterschiedlichen Erzählstränge von jenem Abend im Jahr 1984, um den der Text kreist. Man erfährt von den allgegenwärtigen Träumen, der Beengung des Dorfes zu entkommen, von falschen Entscheidungen mitsamt deren Auswirkungen auf die Bewohner:innen und das Zusammenleben und vor allem von den Geschichten und den Gerüchten, die im Dorf die Runde machen. Mit seinem polyphonen Aufbau zeigt Rebekka Salms Roman, dass es eben doch nicht nur eine Geschichte ist, die sich über dieses Dorf, über den Unterhaltungsabend und über einen vermeintlichen Zuckerrübendiebstahl erzählen lässt, ganz im Gegenteil: Die verschiedenen Perspektiven ergänzen und korrigieren sich, sie widersprechen einander und ergeben zusammen doch ein kohärentes Bild. Nicht nur ist dies geschickt erzählt, sind die einzelnen Figurenperspektiven gelungen zusammengefügt, es macht auch Spass, diesen Text zu lesen.

Würdigung «Gegen Gewicht» von Andri Bänziger

Andri Bänzigers Erstling «Gegen Gewicht» besticht durch seine Leichtigkeit, mit der er sich durch schwere Themen manövriert. Den Brocken Depression, Psychose und Behinderung nimmt sich der Roman mit einer unaufgeregten, geschmeidigen Sprache und einer genauen Schilderung der Figuren an. Die viel gelesene Erzählung von Beziehung, Familie und sich später einschleichenden Problemen stellt er dabei auf den Kopf. Hier ist zuerst alles schwer und wird später leicht. Diese Umkehrung ist erfrischend, weil neu. Die Beziehung zwischen der Ich-Erzählerin und ihrer Tochter gestaltet sich zunächst schwierig. Da ist ein Kind, das purer «Rock» ist – keine Konvention kennt und nichts und niemandem gehorcht. Und da ist eine Frau, die eine zynisch-distanzierte Haltung hat, sogar wenn sie sieht, wie ihr Kind nicht in diese Welt passt. Als Lesende muss man dem beleidigenden, zuweilen aggressiven Verhalten der Tochter zuschauen, Wut und Fremdschämen inbegriffen. Dass man diese Gefühle nicht mit der Mutter teilt, ist umso befremdender. Sie sagt von sich, dass sie eine Mauer aufgebaut hatte, um ihre jahrelang angestauten Probleme zu verdrängen. Der Tochter gelingt es schliesslich, diese Mauer niederzureissen. Dass hinter einer gefallenen Mauer nicht nur Leichtes, sondern auch noch mehr Schweres zum Vorschein kommen kann, blendet der Roman aus. Nichtsdestotrotz birgt er auf vielen Ebenen – wie der der Figuren und der Sprache – Potenzial und wirft die Lesenden auf ihr eigenes Verstehen von (Ab-)Normalität zurück.

Würdigung „Vom Onkel“ Rebecca Gisler

In Rebecca Gislers Roman „Vom Onkel“ bestimmen die Marotten eines Onkels den Alltag: Am liebsten schaut er die blutrünstigsten Horrorfilme, verschlingt Berge an Wurstbroten und Keksen und leert kanisterweise Bier und Limonade. Der Blick der Autorin auf ihren Helden aber bleibt stets von einer faszinierenden und vorallem auch schillernden Präzision: Dieser Onkel ist naiv, kindlich, kindisch, komisch, tragisch, traurig, unberechenbar, auch animalisch, bedrohlich, erhaben und noch vieles mehr. So wie die Sprache an diesem Sonderling (oder Sonderding?) immer wieder abgleiten muss, so unangepasst ist der Onkel auch sozial. Unter der mitziehenden Komik des Skurrilen also verstecken sich durchaus auch neuralgische Punkte einer latenten Gesellschaftskritik. Man könnte sogar sagen, eine gnadenlos irdisch-materialistische Ökonomie prägt den Roman. Was nämlich in den Körper des Onkels eintritt, das sammelt sich in ihm an oder es wird ihn auch wieder verlassen müssen. Rebecca Gisler gelingt eine ausdrucksstarke, aufdeckende und somit treffende und aktuelle Groteske, die unser Bedürfnis nach Konformität und klinischem Oberflächenglanz herausfordert. Zum Lesen ist das unbedingt reizend – und zwar bewusst auch im Sinne einer lästigen Hautstelle, die weiterhin juckt, egal wie oft man sie noch kratzen wird. 

Rezension Preisträgerbuch von Aline Tettamanti 

Rezension Preisträgerbuch von Caterina John

Anna Silber «Chopinhof-Blues», Picus

„Chopinhof-Blues“ erzählt seismographisch von der Empfindsamkeit des modernen Menschen, von der Suche nach Vergebung, nicht zuletzt sich selbst gegenüber, von Verletzungen, die unter vernarbtem Gewebe weitereitern.

Nicht lange her, da war ich an einer Geburtstagsfeier. Ich kannte ausser dem Gefeierten niemand. Nicht wenig hätte gefehlt und das Fest hätte kippen können. Tat es dann nicht, weil die Betroffenen nicht aussprachen, was durchaus hätte gesagt werden können. In Anna Silbers Debüt „Chopinhof-Blues“ treffen sich ein paar Leute in Wien zu einer Geburtstagsfeier. Der kleine Felix wird ein Jahr alt. Daniel, sein Vater, hat eingeladen, weil er nicht alleine mit seiner Ex feiern wollte. Im Chopinhof hat nicht nur Daniel den Blues.

An dem Geburtstag im Chopinhof sind Ádám und seine Frau Aniko eingeladen, beide seit fünf Jahren in Wien, aus Ungarn ausgewandert in der Hoffnung auf ein besseres Leben. Ádám, eigentlich studierter Philosoph, hilft Daniel, dem Vater des kleinen Felix, in seinem Malergeschäft. Und Aniko versucht mit ihrem Leben zurechtzukommen, in ihrer Liebe zu Ádám, mit der immer unausweichlicheren Frage, ob man selbst Familie werden will oder nicht. Und Ádám mit Aniko, von der er mehr als deutlich spürt, dass sie ihre Antworten nicht mehr mit ihm zusammen sucht.

Anna Silber «Chopinhof-Blues», Picus, 2022, 243 Seiten, CHF 34.90, ISBN 978-3-7117-2117-4

Eingeladen ist natürlich auch Jacinta, die Mutter des kleinen Felix, Daniels Exfrau. Sie tauschen sich die Betreuung des Jungen. Eine Woche er, eine Woche sie. Eine wirkliche Trennung kommt nicht in Frage, denn Jacinta müsste dann mit einer Abschiebung zurück nach Zentralamerika rechnen. Aber Jacinta nimmt Tilo mit. Ihren Neuen. Und Tilo seine Schwester Katja. Katja und Tilo wuchsen im Heim auf, beide auf ihre Art traumatisiert von den Geschehnissen in ihrer Kindheit, einer abwesenden und in Drogen versinkenden Mutter, dem Verlassensein. Während Tilo sich als Künstler versucht, tut es Katja als Bankfachfrau. Aber ihr Beruf, ihre Machtlosigkeit, die Verdammnis, ihre Verstrickungen, schnüren ihr ebenso die Kehle zu wie der migeschleppte Alp zwischen ihr und ihrem Bruder.

Ebenfalls eingeladen ist Esra. Esra ist Krisenjounalistin, noch nicht lange zurück aus San Pedro Sula, einer Millionenstadt in Honduras. Zurück aus einem Krieg, von dem niemand spricht, einem Krieg, bei dem Kinder auf offener Strasse erschossen werden und es für niemanden dort eine Alternative gibt, weder eine realistische Möglichkeit zur Flucht noch eine menschenwürdige Zukunft. Esra zerbricht an der Machtlosigkeit, dem Bewusstsein, dass sie nicht einmal mit ihrem Schreiben etwas ändern kann, dass es nicht um Inhalte, sondern um den Marktwert einer Geschichte geht.

Dort im Hinterhof, im Chopinhof kommen sie zusammen. Sie alle, die gefangen sind in ihrer Geschichte. Anna Silber schreibt von Kämpfen, die sich langsam in Resignation verwandeln. Sie schreibt von der Depression, die sich in all die jungen Leben schleicht, weil man sich nicht in der Lage sieht, den Kampf aufzunehmen. Anna Silber schildert haargenau, in Dialogen, die entlarvend wirken, fern jeder Idylle. Es ist nicht der grosse Abgrund, aber die vielen kleinen, verborgenen, zugedeckten.

Ich wünsche „Chopinhof-Blues“ mutige Leserinnen, die aus dem, was ihnen Anna Silber Schicht für Schicht aus den Sedimenten dieses Abgrunds offenbart, Mut schöpfen können, jene Chancen zu ergreifen, die man sich nicht entgehen lassen darf. „Chopinhof-Blues“ ist sackstark!

Interview

Ich bin beeindruckt von Ihrem Roman, nicht zuletzt von seiner Konstruktion, wie sie ihn gebaut haben. Sie haben es sich nicht leicht gemacht. Ein dichtes Netz an Biographien und Geschichten! Wie schafft man es, die Übersicht, den Durchblick nicht zu verlieren?
Ich kann nicht für andere Autorinnen oder Autoren sprechen, aber für mich war ein aufgezeichneter romaninterner Zeitplan das wichtigste Hilfsmittel. Er hat sich vielfach geändert und ist mir trotzdem (oder vielleicht gerade deswegen) ein treuer Begleiter durch das ganze Projekt hindurch gewesen. Oft genug habe ich aber natürlich aller Vorbereitung zum Trotze keine Ahnung mehr gehabt, was eigentlich wie zusammenpassen kann oder soll. Dann hilft nur lesen, umschreiben, lesen, umschreiben,…

Allein die Geschichte der Geschwister Tilo und Katja hätte Stoff genug beinhaltet, um einen eigenen Roman zu schreiben. Ich erinnere an die Romane von Angelika Klüssendorf. Auch dieses tiefe Ohnmachtsgefühl von Esra, der Krisenjournalistin, die sich einst voller Enthusiasmus und Ideologie in ihre ersten Einsätze stürzte, wäre Stoff genug für einen Roman gewesen. Ging es Ihnen gar nicht so sehr um die einzelnen Geschichten, sondern um den „Zustand“ einer Gesellschaft, die sich zu verlieren droht?
Mir ging und geht es um beides, um eine Kombination aus beiden Thematiken: auf der einen Seite das kleinteilige Einzelschicksal, auf der anderen Seite das verwobene, grössere Bild, das durch das Zusammentreffen der verschiedenen Geschichtsfäden entsteht. Das Kleine im Grossen sozusagen, um sich auch als Leserin oder Leser die Frage zu stellen, wo man sich in den Figuren erkennt, wo man vielleicht aber auch verständnislos ob ihrer Taten und Einstellungen reagiert – und warum. 

Sie waren nach Ihrem Abitur für einige Zeit in Costa Rica. Spiegeln sich in den Erfahrungen Esras in der Millionenstadt Honduras eigene Erlebnisse?
Eigene Erlebnisse spiegeln sich zwar nicht unbedingt in Esras Erfahrungen wider, aber ich müsste lügen, wenn ich überhaupt keine Parallelen ziehen würde. Mit Sicherheit hat mich im Schreiben das beeinflusst, was ich in Costa Rica gelernt habe, zum Beispiel, dass soziokulturelle Realitäten in Zentralamerika vielschichter nicht sein könnten und dass historische Ereignisse der jüngsten Vergangenheit bedeutende Auswirkungen auf das politische Heute und Morgen haben. Ganz pragmatisch betrachtet halfen mir natürlich meine in Costa Rica gefestigten Spanischkenntnisse bei der Recherche zu San Pedro Sula und Honduras. 

Alle Protagonisten befinden sich in Sackgassen. Vielleicht ist diese Verortung gar nicht so sehr das Resultat einer Resignation, sondern die Anerkennung einer Tatsache, der sich jede(r) zu stellen hat. Ihr Roman ist ehrlich, schmeichelt nicht, entzieht sich aller Verklärung. Ist das das „Programm“ Ihres Schreibens?
Ich muss zugeben, dass ich bisher keine klare Antwort darauf gefunden habe, was das «Programm» meines Schreibens, was also in diesem Sinne mein «Schreibstil» ist. Insbesondere bei diesem Projekt hat es mir aber sehr viel Freude bereitet, durch Reduktion Raum für Interpretation durch die Leserin oder den Leser zu lassen. Was passiert wohl zum Beispiel mit all diesen Menschen, nachdem sie im Chopinhof aufeinandergetroffen sind? Diese Fragezeichen, die mir selbst als Leserin sehr zusagen, habe ich auch versucht, als Autorin entstehen zu lassen. 

Obwohl ich den Titel Ihres Romans nach der Lektüre verstehe, löste er während des Lesens nichts von dem ein, was ich mir vorstellte, als ich den Roman zu lesen begann. Selbst nach der Lektüre verstört er mich, weil er eine Leichtigkeit suggeriert, die der Roman mit keinem Satz will. Wie kam es zu diesem Titel?
Ist es vielleicht das Cover, das eine gewisse Leichtigkeit vermittelt? Für mich liegt tatsächlich ein gewisser Reiz in der Kombination aus Chopin, dem tristen Gemeindebau, der seinen Namen trägt, und dem Blues.

Anna Silber, 1995 in Mödling (Österreich) geboren, wuchs in Österreich und Deutschland auf. Auf das Abitur folgte ein Kultur-Freiwilligendienst in Costa Rica, anschliessend Studium der Transkulturellen Kommunikation und Internationalen BWL an der Universität Wien. Sie erhielt zahlreiche Förder- und Nachwuchspreise. „Chopinhof-Blues“ ist ihr Debütroman.

Beitragsbild © Paul Feuersänger

Alice Grünfelder «Wolken über Taiwan. Notizen aus einem bedrohten Land», Rotpunkt

Was macht ein Land, das von einer Grossmacht bedroht wird? Was, wenn die Bedrohungen eines Landes von ganz vielen Mächten ausgehen? Alice Grünfelder schreibt mit einem Herz voller Leidenschaft.

Erstaunlich, wie wenig deutsche Buchveröffentlichungen über Taiwan in den letzten Jahren erschienen sind. Auch erstaunlich, wie wenig Literatur, sei es Lyrik oder Prosa, aus Taiwan ins Deutsche übersetzt wurde. Eine der löblichen Ausnahmen ist der bei Matthes & Seitz von Wu Ming-Yi erschienene Roman „Der Mann mit den Facettenaugen“. Ein Autor, Künstler, Umweltaktivist und Professor, der schon für den Man Booker International Prize nominiert wurde, bei uns aber weitgehend unbekannt blieb. Wesentlich bekannter im deutschen Sprachraum ist Stephan Thome, der viele Jahre und immer wieder auf der Insel Taiwan lebt und seinen Roman „Pflaumenregen“ dort spielen lässt.

Dass sich die Sinologin, Germanistin und Schriftstellerin Alice Grünfelder seit Jahrzehnten mit Taiwan beschäftigt, ist nicht weiter verwunderlich. Aber sehr wohl erstaunlich ist die Art und Weise, wie Alice Grünfelder sich mit diesem Inselstaat zwischen den Fronten der Grossmächte beschäftigt.
Sie tut das in der Tradition der klassischen Pinselnotizen, biji, essayistischer Miniaturen, die Reiseeindrücke, Gedanken, Beobachtungen, Anekdoten, Betrachtungen bis hin zu Gedichten und eigentlichen Reportagen in einem Buch versammelt, in Überschriften alphabetisch geordnet. „Wolken über Taiwan. Notizen aus einem bedrohten Land“ ist weder Reiseführer noch Sachbuch. Da ist mehr als Faszination für ein Land, das gleich auf mehreren Ebenen bedroht ist und wird. Aus Alice Grünfelders Buch ist Liebe zu spüren, die Liebe für ein Land, eine ganz besondere Insel, eine Geschichte und mit Sicherheit auch die Liebe für einen David, der angesichts eines riesigen Goliaths weder in Lethargie noch Depression verfällt.

Alice Grünfelder «Wolken über Taiwan. Notizen aus einem bedrohten Land», Rotpunkt, 2022, 260 Seiten, CHF 32.00, ISBN 978-3-85869-943-5

Taiwan, eine Insel wesentlich kleiner als die Schweiz aber mit dreimal höherer Bevölkerungszahl, ist ein hoch technisierter Staat, von den wenigsten Staaten als solcher anerkannt und ganz im Gegensatz zu seinem übermächtigen und aggressiven Grossnachbarn seit einem Vierteljahrhundert ein weitgehend demokratisch funktionierender Vielvölkerstaat. Seit dem 16. Jahrhundert immer wieder von fremden Mächten besetzt, droht die Volksrepublik China offen mit der gewaltsamen Eroberung der Insel. Dass solche Drohungen ernst zu nehmen sind, beweist uns die Geschichte nicht erst seit der Annektierung der Krim durch Russland und den Eroberungs- und Vernichtungskrieg seit dem 24. Februar auf dem gesamten Staatsgebiet der Ukraine. Aber ganz offensichtlich lässt sich die Inselbevölkerung Taiwans durch die unmissverständlichen Drohgebärden des Einparteistaats China nicht einschüchtern. Ganz im Gegenteil. Taiwan prosperiert. Nicht nur dank ihrer marktbeherrschenden Stellung in der Produktion von Computerchips.

Alice Grünfelder wollte eigentlich wegen eines Sprachaufenthalts für ein halbes Jahr, zur Auffrischung ihrer Sprachkenntnisse auf die Insel. Ich werde nichts über Taiwan schreiben. Nur Postkarten, das muss genügen, schreibt sie unter dem Titel „Schreiben“. Und nun ist doch viel mehr aus dem halben Jahr geworden; eine Annäherung an ein Land, eine Kultur, die wechselseitige Geschichte, die Landschaft und die vielfältigen Bedrohungen. Die Stürme, die Taifune, die Erdbeben, die Vulkane, die Unwetter, der steigenden Meeresspiegel, die klimatischen Veränderungen – und China.

Was sie schreibt, ist behutsam und voller Respekt, eingetaucht in Liebe für ein Land, dass sich selbstbewusst und demokratisch allen Widrigkeiten zum Trotz diesen Bedrohungen stellt. „Wolken über Taiwan“ ist eine Annäherung mit Mehrfachperspektive, eine vielfältige Einladung, sich mit einem Land zu beschäftigen, das sich all den Bedrohungen stemmt, geschrieben von einer Frau, die mit literarischen Stimmen umzugehen weiss.

Alice Grünfelder, geboren im Schwarzwald, aufgewachsen in Schwäbisch Gmünd, studierte nach einer Buchhändlerlehre Sinologie und Germanistik in Berlin und Chengdu (China), war 1997–99 Lektorin beim Unionsverlag in Zürich, für den sie 2004–2010 die Türkische Bibliothek betreute. Vermittelte und übersetzte Literaturen aus Asien. Seit 2010 unterrichtet sie Jugendliche und ist als freie Lektorin tätig. Februar bis Juli 2020 war sie für ein Sabbatical in Taipei (Taiwan). Sie ist Herausgeberin mehrerer Asien-Publikationen, zuletzt «Vietnam fürs Handgepäck» (2012) und «Flügelschlag des Schmetterlings» (2009). Sie veröffentlichte eigene Gedichte, Essays und Erzählungen. Ihr Roman «Wüstengängerin» erschien 2018, der Essay «Wird unser MUT langen» 2019. Nominiert für den Irseer-Pegasus-Literaturpreis 2019, Werkjahr der Stadt Zürich 2019.

Alice Grünfelder „Postkarten aus Taiwan“ I
Alice Grünfelder „Postkarten aus Taiwan“ II
Alice Grünfelder „Postkarten aus Taiwan“ III
Alice Grünfelder „Postkarten aus Taiwan“ IV
Alice Grünfelder „Postkarten aus Taiwan“ V
Alice Grünfelder „Postkarten aus Taiwan“ VI
Alice Grünfelder «Postkarten aus Taiwan» VII

Webseite der Autorin

Beitragsbild © Alice Grünfelder

Evelina Jecker Lambreva „Im Namen des Kindes“, Braumüller

Dass sich Kinderwunsch und Kindeswohl mehr als nur streiten können, wie zerstörerisch Kräfte freigesetzt werden und alles auf eine nicht abwendbare Katastrophe hinausläuft, davon erzählt Evelina Jecker Lambrevas aktueller Roman „Im Namen des Kindes“.

Die Welt tut, als wäre die Liebe einer Mutter zu ihrem Kind gottgegeben. Ebenso heuchlerisch ist die Selbstverständlichkeit, Kinder müssten ihre Eltern lieben. Dass das Familiengeflecht filigran ist, wie sehr Fallgruben, Untiefen und ein labyrinthischer Unterbau jene kleinste Zelle der Gesellschaft zu einem immerwährenden Mysterium werden lassen, lehrt uns nicht nur die Psychologie. Die griechische Sagenwelt ist voller innerfamiliärer Grausamkeiten. Der Begriff Familie suggeriert Geborgenheit, Liebe, Heimat. Die Liste der Begriffe, die sich mit Familie kombinieren lassen, ist ebenso lange wie die Möglichkeiten des Entgleisens, die sich hinter wohlgehüteten Fassaden ereignen können.

Evelina Jecker Lambreva erzählt in ihrem Roman „Im Namen des Kindes“ von einer solchen Katastrophe, einer sich durch ein ganzes Leben hinziehende, nicht enden wollende Katastrophe. Davon, dass Kinderwunsch und Familienträume nicht unweigerlich in jenes Idyll resultieren, dass an sonnigen Sonntagen allerorten präsentiert wird. Davon, dass aus trautem Familienideal auch ein Gefängnis werden kann, Einzelhaft ohne Fluchtmöglichkeit, ein Martyrium ohne Ende.

Evelina Jecker Lambreva „Im Namen des Kindes“, Braumüller, 2022, 280 Seiten, CHF 35.90, ISBN 978-3-99200-327-3

Eine junge Frau verschwindet. Polizei und Therapeutinnen sind sich nicht sicher, ob die Frau nur untergetaucht ist oder sich gar etwas angetan hat. Maya, ehemalige Sozialarbeiterin und Mitarbeiterin einer Opferberatungsstelle kennt die junge Frau, sass ihr mehrmals gegenüber, gewann das Vertrauen der jungen Frau, die zwar nicht von Angesicht zu Angesicht aus den Tiefen ihres Lebens berichtete, aber in langen Briefen. Von einer narzistischen Mutter, der sie schon als kleines Kind nichts recht machen konnte, von immerwährenden Streitereien zwischen Mutter und Vater, von Gewalt und schrecklichen Drohungen, von Ängsten und Verunsicherungen. Vom Tod ihres Vaters und der absoluten und absurden Konzentration einer Mutter auf ihr einziges Kind. Einer tiefen Hassliebe beider und der Unmöglichkeit, selbst mit der Volljährigkeit der Tochter durch Distanz einen Riegel vorzuschieben.

Rebecca haut ab, taucht unter, besucht die einzige Frau, von der sie als Kind jene Liebe bekam, die man hätte Mutterliebe nennen können – Herminija. Sie nimmt den Zug über Mannheim bis nach Amsterdam.
In der gleichen Zeit geistern zwei Schreckensmeldungen durch die mediale Tagesaktualität: Zwei Ärzte sterben unerklärlich, der eine unter einem Zug, der andere durch Messerstiche.

Was der Polizei erst nach und nach klar wird, wird auch mir als Leser erst langsam klar, auch wenn man sich beim erneuten Lesen des Buches die Augen reibt, weil man sich bei der Lektüre nie von der schlimmst möglichen Variante leiten lässt.

„Im Namen des Kindes“ hätte ein Krimi werden können, ist er aber nicht. Evelina Jecker Lambreva schrieb als noch immer praktizierende Psychiaterin und Psychotherapeutin auch keine literarisches Fallbeispiel einer problematischen Tochter-Mutter-Beziehung und ihrer katastrophalen Auswirkungen. „Im Namen des Kindes“ ist Auseinandersetzung! Nicht jedes Leben ist automatisch ein Geschenk. Die Medizin kümmert sich mit künstlicher Befruchtung um potenzielles Mutter- und Familienglück. Ob jenes vermeintliche Glück automatisch das Glück jenes Kindes ist – davon erzählt dieser Roman. Davon, wie chancenlos jeder Ausbruchsversuch aus einem krankhaft besitzergreifenden Muttergriff sein kann. Wie bodenlos jenes Gefängnis, aus dem es kein Entrinnen gibt.

Evelina Jecker Lambreva schildert das Leiden von der ersten Seite weg. Und von der ersten Seite weg ist klar, dass es nur die Flucht nach innen geben kann. Eine Flucht, für die Rebecca einen hohen Preis bezahlen muss, eine Flucht, bei der es keine Rettung geben kann. „Im Namen des Kindes“ ist deshalb nichts für zart Besaitete, weil man den Roman nicht als Krimi gut unterhalten weglegen kann. „Im Namen des Kindes“ ist viel mehr.

Interview

Gegenwärtig setzen wir uns in allerlei Diskursen heftig mit Rollenbildern auseinander. Auch in der Familie gibt es Rollenbilder, die sich über Jahrhunderte in unserem Bewusstsein oder auch Unterbewusstsein eingraviert haben. Die fürsorgliche, liebende Mutter, das folgsame, dankbare Kind. Wäre dieses Rollenbild nicht beinahe genetisch verankert, würden doch nicht Heerscharen von jungen Menschen noch immer ins Abenteuer Familie starten!
Inzwischen verändert sich das Rollenverständnis der Frau bei den Frauen selbst und in der Gesellschaft zunehmend. Ich beobachte diesen Prozess der Veränderung seit 15-20 Jahren. Heute gibt es immer mehr Frauen, die offen dazu stehen, dass sie keinen oder nur einen schwach ausgebildeten Kinderwunsch haben, und zwar derart, dass sie sich ein Leben auch ohne Mutter zu sein vorstellen können. Sie verbinden ihr Frau-Sein nicht mehr zwangsläufig mit einem Mutter-Sein. Es gibt auch viele junge Paare, die sich aus verschiedenen Gründen freiwillig gegen einen Kinderwunsch entscheiden. Zwar ist der gesellschaftliche Druck der Rollenerwartungen auf Frauen noch immer hoch, in entsprechend traditionellen Rollenbildern zu leben, aber immer mehr junge Frauen entziehen sich diesem Druck. Wenn sich zwei Menschen heute entscheiden, eine Familie zu gründen, machen sie es immer häufiger aus Überzeugung, und nicht um familiäre und/oder gesellschaftliche Erwartungen zu erfüllen.

Ein Dürrenmatt-Zitat im Vorsatz zu Deinem Roman heisst „Die Gerechtigkeit wohnt in einer Etage, zu der die Justiz keinen Zugang hat.“ Dürrenmatts Kriminalromane beschreiben genau dies, eben genau im Gegensatz zu all den Tatortfolgen, die einem eine stets sauber aufgeräumte Geschichte präsentieren. Rebecca, die junge Frau in deinem Roman, übt Selbstjustiz. Gerechtigkeit ist keine Norm. Ist Gerechtigkeit die Befriedigung eines Wunsches?
Gerechtigkeit ist zwar keine Norm, aber sie hat Bezug zu moralischen und ethischen Verhaltensnormen. Das Problem, das ich sehe, ist, dass in der narzisstischen Wunscherfüllungs-Gesellschaft der Postmoderne die Individualnorm, das heisst die Norm des Einzelnen (oder die Norm von kleinen Gruppen) zunehmend das Verhalten in der Gesellschaft prägt und immer mehr Platz einnimmt. Ich befürchte, dass inzwischen je länger je mehr die Vielfalt individueller Normen und individueller Wertmassstäbe, die Vielfalt der Auffassungen von Gerechtigkeit bestimmt. Somit öffnet sich natürlich auch die Tür für mehr Selbstjustiz. Ob in diesem Sinn Gerechtigkeit die Befriedigung eines Wunsches ist, bleibt für mich völlig offen.

In einer kurzen Korrespondenz hast Du verraten, dass Du Dich sechs Jahre mit diesem Buch auseinandergesetzt hast, dass es unsäglich viele Fassungen davon geben musste, bis Du die finale gefunden hast. Was hat Dich bewogen, nicht einfach den Bettel hinzuschmeissen?
Im Verlauf der jahrelangen Arbeit am Text habe ich Rebecca und Maya viel zu sehr liebgewonnen, um sie aufgeben zu wollen. Im Schreibprozess habe ich die beiden immer besser kennengelernt und immer mehr in sie hineingehorcht. Rebecca und Maya wollten unbedingt, dass ihre Geschichten vor einer Leserschaft in Erscheinung treten. So war das.

Rebecca ist in einem Gefängnis eingesperrt, aus dem kein Weg führt, schon gar nicht jener über die Justiz. Kliniken, Spitäler, Praxen sind voller Menschen, die sich nur schwer oder gar nicht befreien können. Sind PsychiaterInnen und PsychotherapeutInnen GefangenenwärterInnen?
Das ist doch das Ziel einer jeden Psychotherapie: dass es dem betroffenen Menschen mit therapeutischer Hilfe gelingt, sich innerlich und äusserlich weitgehend zu befreien – von den Dämonen der Vergangenheit, von der inneren Gefangenschaft in sich selbst, von selbstdestruktiven Gedanken und Handlungen, von verinnerlichten Elternbildern, die einem im Weg stehen, die man aber trotzdem nicht gehen lassen kann, von Ängsten, die das Individuum daran hindern, sich weiter zu entwickeln und als gleichwertiger Mensch, zusammen mit den anderen Menschen im Leben fortzuschreiten. In diesem Sinn hat die hilfeleistende Aufgabe von PsychiaterInnen und PsychotherapeutInnen nichts mit GefangenenwärterInnen zu tun. Selbst dann, wenn eine Fürsorgerische Unterbringung nötig wird, wird diese zum Schutz des Patienten vor sich selbst oder zum Schutz von Drittpersonen ausgeführt. Und diese Unterbringung dauert nur so lange, bis keine Gefahr für das eigene Leben des Betroffenen oder für das Leben anderer mehr droht. Aber auch in solchen extremen Situationen ist der leidende Mensch nicht einer psychiatrischen Institution hilflos ausgeliefert. Er kann sich auf rechtlichem Weg gegen die Fürsorgerische Unterbringung wehren.

Rebeccas Mutter ist eine Narzisstin. So wie sie die Familie terrorisiert, terrorisieren auch all die Narzissten auf der grossen Bühne der Weltpolitik das Gros all jener, die ihnen ausgeliefert sind, die sich nicht wehren können. Warum ist Rebecca ihrer Mutter gegenüber wie gelähmt? Warum schaffen es Narzissten, durch Propaganda ganze Völker stramm brav und willenlos zu schalten?
Oft kann die bewusste oder unbewusste Ambivalenz, die wir unseren Eltern gegenüber empfinden, sehr lähmend sein. Je stärker diese Ambivalenz ist, desto lähmender wirkt sie sich auf die Beziehung zu den Eltern aus, insbesondere auf die Beziehung zu diesem Elternteil, von dem man für sein unmittelbares Überleben abhängig ist. So ist es auch bei Rebecca, die ihre Mutter nicht nur hasst, sondern auch liebt. Dazu kommt, dass NarzisstInnen oft sehr charmant sind, eine starke Anziehungskraft besitzen, und ihren Charme geschickt und manipulativ zu ihren Vorteilen zu nützen wissen.

Auf der grossen Bühne der Weltpolitik schaffen es grandiose Narzissten nicht nur durch Propaganda, «ganze Völker stramm brav und willenlos zu schalten». Das Zusammenspiel zwischen einem narzisstischen Landesführer und dem Volk, das er regiert, ist viel komplexer. Landesführer mit grandiosem Narzissmus sind oft eine hervorragende Projektionsfläche für kindliche Wünsche nach Schutz, Sicherheit, Versorgung und Ordnung. Solche regressiven Wünsche flackern bei Erwachsenen wieder auf, wenn diese mit einer hochkomplexen, verwirrenden und widersprüchlichen Realität überfordert sind. Man sehnt sich dann nach strengen, konsequenten Elternfiguren, die wissen, wo es lang geht und die einen durchs Leben führen können. Natürlich ist man ihnen gegenüber auch ambivalent, vor allem, wenn sie grausam, sadistisch und erbarmungslos sind, aber man verzeiht ihnen alles, denn auch die schlimmsten Eltern sind besser als gar keine, wenn es ums Überleben geht. Gewalttätige Machthaber können genauso geliebt und gehasst sein wie gewalttätige Eltern auch. Dieses Muster ist häufig bei Völkern zu treffen, die Jahrhunderte lang in Unfreiheit, Unterdrückung, Angst und masochistischer Unterwerfung gelebt haben. In solchen meistens vom Patriarchat total vereinnahmten Gesellschaften werden unter diesen Umständen grandios narzisstische Landesführer zu einer Art projektiven elterlichen (vor allem väterlichen) Autoritätsfiguren, die sowohl protektiv als auch repressiv, gleichzeitig haltbietend und sanktionierend agieren. Denen unterwerfen sich dann gehorsam ganze Völker, indem die Menschen zu den narzisstischen Machthabern mit der gleichen lähmenden Ambivalenz aufschauen, die sie aus ihrer Kindheit kennen.

Evelina Jecker Lambreva, 1963 in Stara Zagora, Bulgarien, geboren, lebt seit 1996 in der Schweiz. Sie arbeitet als niedergelassene Psychiaterin und Psychotherapeutin in Luzern und als Klinische Dozentin an der Universität Zürich. In deutscher Sprache liegen der Gedichtband «Niemandes Spiegel» sowie der Erzählband «Unerwartet» vor. Zuletzt bei Braumüller erschienen: «Vaters Land» (2014), «Nicht mehr» (2016) und «Entscheidung» (2020).

Lyrik von Evelina Jecker Lambreva aus ihrem Band «Niemandes Spiegel, Chora Verlag 2015

Beitragsbild © privat

Noemi Somalvico «Ist hier das Jenseits, fragt Schwein», Voland & Quist, an den Weinfelder Buchtagen

Selbstfindung im Fabelkleid

Mit Gott, Schwein und Dachs durch Welten und Wüsten; Noemi Somalvicos Debutroman «Ist hier das Jenseits, fragt Schwein» begleitet eine skurrile Reisetruppe auf ihrer Suche nach dem Paradies.

Gastbeitrag von Aline Tettamanti
Aline Tettamanti studiert Deutsche und Englische Philologie in Basel. Ansonsten überarbeitet sie Texte und schreibt Kurzgeschichten, Gedichte und Lieder.


Die Geschichte beginnt, nachdem für Schwein die Welt zu Ende ging: Biber ist weg, und Schwein sitzt in einer stillen Wohnung mit einem biberförmigen Loch in der Brust.
In einer anderen Welt schleicht sich Gott von einer Party, schliesst sich auf dem stickigen Dachboden seines Hauses ein und sieht durch seine Fernbrille der Welt beim Drehen zu. Man sollte die Erde keinem Melancholiker überlassen, denkt Gott, als er Schwein am Küchentisch weinen sieht. Die Wesen, die darauf leben, werden nach seinem Ebenbild geschaffen sein.

Doch weder Schwein noch Gott haben lange Zeit, sich in ihrem Selbstmitleid zu suhlen: Dachs tüftelt an einem Apparat, mit dem er zwischen Welten reisen kann – und trifft auf der anderen Seite prompt Gott, als dieser auf dem Velo auswandern will.
Während Gott Dachs das «Du» anbietet, gewinnt Schwein im Radio eine Wüstentour und findet sich stattdessen mit Dachs auf Gotts Balkon. Aus Fremden werden Freunde, und aus Freunden wird eine Reisetruppe, die sich auf den Weg ins Jenseits begibt, um einen Fisch zu suchen.

Noemi Somalvico «Ist hier das Jenseits, fragt Schwein», Voland & Quist, 2022, 142 Seiten, CHF 26.90, ISBN 978-3-86391-321-2

Auf der Erde verbringt Reh eine Nacht mit Hirsch und lässt das Herz auf dessen Nachttisch zurück. Im Jenseits steckt Gottes Reisetruppe in der Wüste fest, und Gott schliesst sich in einer Telefonkabine ein. Reh beschliesst, unabhängig von seiner abhängigen Mutter und dem Nachbild von Hirsch für sich selbst zu leben. Gottes Reisetruppe findet im Sand versteckt das Paradies in Form von Hotel Jenseits: Gott liegt wie ein gestrandeter Wal im Sand, Schwein verführt seinen Tangolehrer und Dachs ist gänzlich unbeeindruckt von dem Kitsch, den das Paradies zu bieten hat. In allen Dingen, in jeder Lampe und jedem Stück Stoff sah er einen Versuch von Eleganz und in jedem Ding ist dieser Versuch gescheitert.

Die Geschichte springt hin und her zwischen Welten und den darin lebenden Figuren. Mit Fingerspitzengefühl und viel Liebe zum Detail verknüpft Somalvico die verschiedenen Schicksale in einem bunten Teppich. Schweins Selbstsuche, Dachs’ Erfinderneugier, Gottes Burn-Out und Rehs Liebeskummer verstricken sich immer stärker miteinander, bis sie nicht mehr voneinander zu trennen sind.
Auf ihrem Abenteuer lernen die Freunde, sich an das «Jetzt» zu wagen, ohne der Vergangenheit nachzutrauern – ob das nun die Beziehung zu Bibern und Hirschen betrifft, den sicheren Job oder den Fisch in Gottes Gang.

In der ganzen Geschichte treten ausschliesslich Tiere und Götter auf, Menschen sind in dem Buch keine zu finden. Trotzdem sind die Figuren so menschlich, dass es leicht ist zu vergessen, was Schwein und was Gott ist.
Das Ganze erinnert an eine Fabel, doch Somalvico haucht der traditionellen Gattung neues Leben ein. Ihre Kreaturen leben in einer modernen Welt und stellen sich modernen Problemen. Anstatt zu moralisieren, begleitet die Geschichte die Figuren auf ihrer Suche nach Identität.

Die wiederkehrenden Motive von zunächst belanglos wirkenden, schlichten Gegenständen und Nebengedanken verleihen der absurden Handlung ein Gefühl von Vertrautheit. Obwohl die Reise ins Jenseits führt, rückt die Geschichte nicht den Kosmos, sondern vielmehr die kleinen Dinge des Alltags ins Rampenlicht. Wer sich also vor pseudo-philosophischen Auseinandersetzungen mit Religiosität scheut, hat hier nichts zu befürchten.

In den 144 Seiten stecken so viele Motive, Themen und Parallelen, dass sich auch beim zweiten und dritten Mal Lesen immer wieder etwas Neues finden lässt. Somalvico spielt gekonnt mit Assoziationen und schafft zarte Szenen, die trotz ihrem traumhaften und sonderbaren Charakter direkt aus dem Leben gegriffen zu sein scheinen.
Dieses Buch ist ein Genuss für neugierige, experimentierfreudige Lesende, die sich einen gemütlichen Abend gönnen möchten. Ein sehr gelungener Debütroman, der gespannt auf weiteres macht.

(Dieser Text entstand im Rahmen eines Seminars zur Literaturkritik im Frühjahr 2022 an der Uni Basel, Seminarleitung: Daniel Graf, Literaturkritiker beim Republik Magazin.)

Noemi Somalvico, 1994 in Solothurn geboren, studierte Literarisches Schreiben in Biel, contemporary arts practice in Bern und ging dazwischen allerlei Beschäftigungen nach. Sie arbeitete für den Film, in Schulen, an Empfängen. Ihre Erzählungen und Lyrik wurden in Zeitschriften und Anthologien abgedruckt, im Dunkeln performt und im Radio vorgelesen. „Ist hier das Jenseits, fragt Schwein“ ist Somalvicos Debütroman.

Franziska Gänsler «Ewig Sommer», Kein & Aber, an den Weinfelder Buchtagen

„Ewig Sommer“ ist nicht einfach ein Sommerbuch. Dafür ist der Stoff zu heiss, die Geschichte zu brenzlig, die Atmosphäre zu fiebrig. Franziska Gänslers Roman in die Ecke der düsteren Dystopien zu schieben, ist ebenso falsch. Der Bandgeruch hängt schon zu lange in der Luft.

Liest man einen Romane, in dem Endzeithitze flimmert in einem Sommer wie heuer, dann kann die Lektüre eines Romans doppelt beklemmend werden. „Ewig Sommer“, das Debüt von Franziska Gänsler ist so ein Buch. Endzeithitze darum, weil ein nicht enden wollender Sommer wie eine starre Glocke über dem Land hängt, Brandgeruch von den nahen Wäldern in der Luft, Durchsagen der Polizei, die Häuser nur in Ausnahmesituationen zu verlassen. Endzeithitze darum, weil nicht nur Deutschland unter den immer heisser und trockener werdenden Sommern ächzt und unleugbar ist, dass flockig-locker-heitere Sommer endgültig Vergangenheit sind.

In einem einsam gewordenen Hotel im einstigen Kurort, in dem Messen stattfanden und eine ganze Reihe von Hotels ihre Gäste empfingen, steigt völlig unerwartet eine junge Frau mit ihrer kleinen Tochter ab. Für Iris, die Besitzerin des letzten noch offenen Hotels, eine Überraschung. Nicht nur, weil sich der Ring der grossflächigen, nicht mehr zu zähmenden Waldbränden immer enger um den Ort schnürt, Niederschläge nicht in Sicht und Evakuierungen geplant sind, sondern weil die beiden Gäste fast lautlos in ihrem Zimmer verschwinden und Iris Raum lassen für Spekulationen. Was tut eine Frau mit ihrem Kind an einem Ort, von dem andere nur noch weg wollen, von wo die letzten Kinder schon längst abgezogen wurden und es nur noch eine Frage der Zeit sein kann, bis die Glut überspringt?

Iris ist geblieben, weil das Hotel das einzige ist, was sie von ihrem Leben behalten konnte, ihrer Familie, ihrer Vergangenheit. Iris ist alleine geblieben. Und dass nun alle wegziehen, evakuiert werden, passt zu ihrem Leben, in dem Leerräume immer grösser werden. Nur Baby ist geblieben, mittlerweile alt geworden, im Haus neben dem Hotel. Manchmal sitzen sie zusammen, rauchen, trinken, erzählen gegen die Hitze, die in Schwaden durch den Ort zieht. Franziska Gänsler schreibt sich förmlich in die Hitze hinein, dieses Heisse, dem alle Zukunft genommen, aus der es keinen Ausweg zu geben scheint.

Franziska Gänsler «Ewig Sommer», Kein & Aber, 2022, 208 Seiten, CHF 29.00, ISBN 978-3-0369-5881-1

In diese Hitze taucht die junge Frau mit ihrem Kind auf, Dori und Ilya. Erst mit der Zeit offenbaren sich kleine Einsichten in das Leben der jungen Frau, lassen sich Zeichen lesen, Hinweise interpretieren. Dori ist auf der Flucht vor ihrem Mann. Dori ist auf der Flucht vor ihrem Leben. Dori versteckt sich, will um keinen Preis, dass das alte Leben sie einholt. Iris und Dori kommen sich näher, weil die Hitze sie immer näher aneinander drängt, weil Dori irgendwann mit ihrer Tochter in den Gemeinschaftraum zieht, ihr Schlaflager dort einrichtet, zwischen feuchten Laken, mit Sicht auf den Wald, der im orangen Licht flimmert.

Später stranden auch noch zwei junge Frauen im Hotel, Verirrte, die nach einem Unterschlupf suchen, Cleo und Lou. Sechs Frauen und ein Mädchen. Während draussen die Luft kaum mehr zum Atmen ist, hören sie drinnen die Musik alter Schallplatten, tanzen und trinken, während sich die Zeichen häufen, dass bei Dori mehr als nur der Rückweg verbaut ist. Iris’ Auto wird ungefragt gebraucht, Dori verschwindet zeitweise, ihr Mann ruft an, weil er erfahren hat, dass Dori im Ort sein muss, im letzten Hotel. Und als auch die kleine Ilya verschwindet, wird das heisse Inferno zur drohenden Katastrophe.

Franziska Gänslers Debüt ist atemraubend. Nicht nur, weil sie sich meisterhaft in die Szenerie dieser Sommergluthitze hineinschreibt, sondern weil sie einerseits subtil mit den verschiedenen Dramen ihrer Konstellation spielt und andererseits klug konstruiert, was sich wie ein Thriller liest. Die Temperatur steigt auch während des Lesens. Sechs Frauen und ein Kind schnappen nach Luft, ich als begeisterter Leser schnappe nach Luft. Ich verfange mich selbst in Vermutungen und Interpretationen, ganz und gar nicht die Autorin, die mit absoluter Souveränität erzählt.

Franziska Gänsler, geboren 1987 in Augsburg, hat in Berlin, Wien und Augsburg Kunst und Anglistik studiert. 2020 stand sie auf der Shortlist des Blogbuster-Preises und war Finalistin des 28. open mike. «Ewig Sommer» ist ihr Debütroman. Sie lebt in Augsburg.

Beitragsbild © Linda Rosa Saal

Marie-Alice Schultz «Der halbe Apfel», Frankfurter Verlagsanstalt

Marie-Alice ist Künstlerin. Sie schreibt, zeichnet und malt. Und mit allem macht man sich eine Vorstellung dessen, was ein inneres Auge sieht. Alles skizziert Vorstellungen. Dass Vorstellung dann doch nie dem entspricht, was das Leben zeichnet, davon erzählt „Der halbe Apfel“.

© Marie-Alice Schultz

So sehr vor Jahrzehnten in Sachen Familie und Beziehung, Geschlechter und Zugehörigkeit alles in Stein gemeisselt, eine göttliche Ordnung unumstösslich schien und unendliches Leid erzeugte, unsäglicher Zwang gefangen machte, so schwer lastet heute die allzeit wache Alternative, der Ruf danach, alles abzustossen, sich durch nichts und niemanden eingrenzen zu lassen. Nicht dass ich mich zurücksehnen würde. Aber jede Befreiung macht die Suche nach der eignen Ecke, der eigenen Identität, der eigenen Aufgabe, dem eignen Patz nicht leichter. Es wurden Fesseln gesprengt, Tür und Tor geöffnet, damit die Suche aber nur viel schwerer gemacht.

Genau davon handelt „Der halbe Apfel“ von Marie-Alice Schultz. Ein Roman, der nicht durch Action, Spannung und einen ausgesuchten Plott glänzt, aber einer, der Fragen stellt, die beissenden Fragen der Gegenwart, deren Versuche, Antworten zu finden, mitunter nicht weniger Leid hervorrufen als die Fesseln der Vergangenheit.

© Marie-Alice Schultz

Ben ist gegangen, als sich Pia nicht entscheiden konnte, sich nicht für ihn entscheiden konnte, obwohl er unzweifelhaft der Vater eines Kindes war. Ben verschwand, weil er von seinem Leben, weil er von Pia etwas anderes erwartet hatte, und weil Pia nicht geben konnte, was Ben hätte haben wollen. Denn Pia mochte Vinz ebenso. Und als die gemeinsame Wohnung von Pia, Ben und Vinz zu eng wurde und sich Ben nicht länger mit Erklärungen trösten konnte, ging er weg, um nach sieben Jahren wieder aufzutauchen. Wie aus dem Nichts. Nicht weil ihn Pia zurückgerufen hätte, nicht weil er sich neben Vinz nun bessere Chancen ausrechnete, sondern weil er glaubte, Janis würde ihn als Vater brauchen.
Aber dem instabilen Gefüge macht Bens Erscheinen nichts leichter. Ganz im Gegenteil. Das bisschen Normalität, die nur mit Mühe festgehaltene Familienkonstellation bricht gänzlich auseinander, denn jetzt geht Pia. Damals als sie Mutter wurde, war sie sich all dessen nicht bewusst, was sie verlieren würde. Nicht nur an Raum, sondern an kreativer Kraft, die nichts mehr zustande bringt. Pia bricht auf und aus. Pia mag nicht mehr halten, was über Jahre nur mit maximaler Anstrengung zurückgehalten werden konnte.

„Verziehen hat sie ihm nie ganz, aber verstehen konnte sie. Dass man sein eigenes Leben verlässt, weil es droht, einen zu überfordern. Weil man weiss, dass die kommenden Monate sich bereits jetzt dunkel andeuten, ein Scherenschnitt, der das Scheitern vorwegnimmt.“

Marie-Alice Schulz «Der halbe Apfel», Frankfurter Verlagsanstalt, 2022, 280 Seiten, CHF 32.90, ISBN 978-3-627-00294-7

Und Marie-Alice erzählt. Die Erzählerin aus dem fernen Hamburg. Die Freundin. Die Schriftstellerin, die genauso sucht und zweifelt, nicht weiss, wohin ihr all die Möglichkeiten hinzeigen, sei es in ihren Beziehungen, ihrer Arbeit am Text, ihren Bildern oder dem Schmerz um eine Mutter, die sie an den Tod verloren hatte. Eine Mutter, die der Fixstern einer ganzen Familie war und mit ihrer entschlossenen Lebensart all das zu verkörpern schien, was den Planeten um sie herum zu fehlen schien. Eine Mutter, die mit ihrem überraschenderen Tod eine Leere hinterliess, die nichts und niemand auffüllen konnte.
Marie-Alice sucht, sucht nach Spuren und Zeichen, nach Erklärungen und Antworten. Marie-Alice versucht, Ordnung zu schaffen. In den gebeutelten Hausstand ihrer Freunde in Wien und ihre aus dem Gleichgewicht geworfene Familie in Hamburg. 

© Marie-Alice Schultz

„Der halbe Apfel“ ist eine Beziehungskiste im wahrsten Sinne des Wortes. Aber für einmal ganz und gar nicht abwertend gemeint. Als Marie-Alices Mutter starb und man ihr im Krankenhaus die Hinterlassenschaft übergab, war da ein halber Apfel, verpackt in einer kleinen Plastiktüte. Die eine Hälfe hatte ihre Mutter gegessen, die andere war übrig geblieben. Ein halbes Leben war gelebt, die andere Hälfte blieb zurück. Ihr Mutter hatte von dem Apfel gegessen, in den sich Marie-Alice nicht zu beissen traut.

„Der halbe Apfel“ ist ein fein gesponnenes Psychogramm, unaufdringlich und ehrlich. Der Roman gespickt mit knappen, witzigen, würzigen Dialogen, die Geschichte der Versuch, in die verschiedensten Leben Ordnung zu bringen. 

„Der halbe Apfel“ ist ein behutsames Buch über Freundschaft und Familie. Aber auch über Mutterliebe und die schmerzhafte Gewissheit, mit dem Tod eines geliebten Menschen, einer Mutter erst recht, unsäglich viel verloren zu haben. Ein Eingeständnis. „Der halbe Apfel“ ist ein Roman wie ein langer Abend in Freundschaft!

© Marie-Alice Schultz

Marie-Alice Schultz, geboren 1980 in Hamburg, studierte Theaterwissenschaften und Germanistik in Berlin sowie Bildende Kunst in Wien. 2016 war sie Stipendiatin der Schreibwerkstatt der Jürgen-Ponto-Stiftung und Teilnehmerin des 20. Klagenfurter Literaturkurses. Für ihren Debütroman «Mikadowälder» (2019) wurde sie mit dem Hamburger Förderpreis für Literatur ausgezeichnet. Die Autorin lebt in Hamburg.

Beitragsbild © Henning Christiansen

Abbas Khider «Der Erinnerungsfälscher», Hanser

Eine Irrfahrt durch Minenfelder

Abbas Khider balanciert in seinem Roman «Der Erinnerungsfälscher» zwischen Fakt und Fiktion: Die Hauptfigur flieht aus dem Irak und weigert sich schlicht, sich zu erinnern.

Gastbeitrag von Elodie Kolb
Elodie Kolb studiert vergleichende Literaturwissenschaften im Master an der Uni Basel und arbeitet nebenbei als Redaktorin bei der «bz Basel». 

Was am Schluss des neuen Romans von Abbas Khider bleibt, ist ein grosses Misstrauen: Ein Misstrauen gegenüber allem, was die Hauptfigur in «Der Erinnerungsfälscher» erzählt. Denn der aus dem Irak geflüchtete Said Al-Wahid leidet nicht nur an einer Erinnerungsschwäche, sondern füllt die Lücken mit erfundenen Geschichten auf. 

Said sitzt an einem trüben Sommertag im ICE Richtung Berlin, als er vom nahenden Tod seiner kranken Mutter in Bagdad erfährt. Komm so schnell wie möglich her, drängt sein Bruder am Telefon. Statt also wie geplant zu Frau und Kind zurückzufahren, begibt sich Said auf eine Reise in den Osten. Auf Umwegen – direkte Flüge gibt es seit Ewigkeiten nicht mehr – landet er als einziger Economy-Passagier in Bagdad. 

Abbas Khider «Der Erinnerungsfälscher», Hanser, 2022, 128 Seiten, CHF 28.90, ISBN 978-3-446-27274-3

Eine Irrfahrt ist nicht nur die Reise in seine Heimat, sondern auch jene, die er durch sein Gedächtnis unternimmt. Es ist eine homerische Odyssee, wie mit dem Namen von Saids Sohn, Ilias, subtil angedeutet ist. Die Hinrichtung von Saids Vaters viele Jahre zuvor, die Flucht über Jordanien, Ägypten, Griechenland und schliesslich sein Alltag in Deutschland: Saids Erinnerungsfetzen an sein Leben sind wie Puzzleteile. Er weiss weder, welche wahr und welche erfunden sind, noch lassen sich die Fragmente zu einem Bild zusammensetzen.

Erst als er sich als Schriftsteller versucht und an seinem Gedächtnis scheitert, wird ihm seine Erinnerungsschwäche richtig bewusst. Der anstrengenden Arbeit sich zu erinnern, entgeht Said ganz bewusst: Es gibt Orte im Gedächtnis, die sind wie Minenfelder, sie können einen in Stücke reissen. Viel angenehmer — und besser für das Storytelling — sind erfundene Geschichten. Und doch wird die Konfrontation durch die Reise nach Bagdad und das Wiedersehen mit der Familie unumgänglich. 

Das Unvermögen sich zu erinnern, spiegelt Abbas Khider an einzelnen Stellen mit aneinandergereihten Fragen: Hat Saids Mutter nur gearbeitet und nie Zeit gehabt, mit ihren Kindern zu spielen? Oder hat er die Antwort im Labyrinth seines Gedächtnisses verloren? Was den Roman vorantreibt, ist das Misstrauen gegenüber dem unzuverlässigen Erzähler: Welche der erzählten Geschichten über Saids Flucht sind wahr? Oder hat er diese gar gänzlich erfunden?

Weil er sich nicht erinnert, fehlt Said eine Identität: In Deutschland wird er zum Inländer auf Papier, im vom Krieg versehrten Bagdad spürte er die Fremde mächtiger als in den fernen Ländern. Diese Verzweiflung treibt Abbas Khider in der verkrampften Gewohnheit Saids auf die Spitze, immer seinen Reisepass bei sich zu tragen; auch im Supermarkt um die Ecke. 

Mit «Der Erinnerungsfälscher» bleibt Abbas Khider dem Genre der Migrationsliteratur treu und zeigt auf feinfühlige Art, was Krieg und Flucht mit einem Menschen machen können. Er reflektiert Rassismuserfahrungen in Deutschland subtil, teils ironisch: etwa, wenn Said denkt, er sei die Blumenvase in der NGO, ein bisschen Farbe zwischen den weiss gestrichenen Wänden. 

Sprachlich ist der Text ein Seiltanz zwischen Plattitüden und Pathos, der Khider nur teilweise gelingt: Mitunter rutscht er ab in Floskeln, wenn Said auf der Flucht die Städte wechselt, wie andere ihre Hemden. Oder wird pathetisch, wenn sich im Irak die Minutenzeiger nicht über Ziffern, sondern über Wunden drehen. 

Zwischen Floskeln und detailreichen Beobachtungen, zwischen Vergangenheit und Gegenwart, Fakt und Fiktion: Nicht nur die Reise Said Al-Wahids ist eine Irrfahrt, sondern auch der Roman. Eine Odyssee durch ein Leben, die zum Nachdenken über das eigene Erinnerungsvermögen anregt. Und was der Roman hinterlässt, ist die Erkenntnis, dass wir früher oder später alle auf die Minen unseres Lebens treten.

(Dieser Text entstand im Rahmen eines Seminars zur Literaturkritik im Frühjahr 2022 an der Uni Basel, Seminarleitung: Daniel Graf, Literaturkritiker beim Republik Magazin.)

Abbas Khider wurde 1973 in Bagdad geboren. Mit 19 Jahren wurde er wegen seiner politischen Aktivitäten verhaftet. Nach der Entlassung floh er 1996 aus dem Irak und hielt sich in verschiedenen Ländern auf. Seit 2000 lebt er in Deutschland und studierte Literatur und Philosophie in München und Potsdam. 2008 erschien sein Debütroman «Der falsche Inder», es folgten die Romane «Die Orangen des Präsidenten» (2011) und «Brief in die Auberginenrepublik» (2013). Er erhielt verschiedene Auszeichnungen, zuletzt wurde er mit dem Nelly-Sachs-Preis, dem Hilde-Domin-Preis und dem Adelbert-von-Chamisso-Preis geehrt. Ausserdem war er im Jahre 2017 Mainzer Stadtschreiber. Abbas Khider lebt zurzeit in Berlin. Bei Hanser erschienen von ihm «Ohrfeige», «Deutsch für alle» (Das endgültige Lehrbuch), und «Palast der Miserablen».

Webseite des Autors

Beitragsbild © Peter-Andreas Hassiepen

Mischa Kopmann «Haus in Flammen», Osburg

„Haus in Flammen“ ist keine Unterhaltungsliteratur. Schon „Erbauungsliteratur“ passt nicht, „Betroffenheitsliteratur“ auch nicht. „Haus in Flammen“ von Mischa Kopmann ist in gewisser Weise eine Kampfschrift. Sie erzählt von der Verzweiflung all jener, die sich an Strassen kleben, Häfen blockieren und Brücken besetzen. Von jungen Menschen, bei denen die Verzweiflung längst in Aggression gekippt ist. Aggression als einziger Weg.

2010 veröffentlichte die UN einen Bericht, der zum Schluss kommt, dass wir kurz vor dem sechsten Massenaussterben der Erdgeschichte stehen und dass dieses Massenaussterben das erste der Erdgeschichte sein wird, das der Mensch zu verantworten hat. Seit diesem Bericht ist mehr als ein Jahrzehnt vergangen und nicht einmal die 2015 verbindlich gesprochenen Ziele des Pariser Klimagipfels scheinen in erreichbarer Nähe. Erstaunlich genug, dass sich die Literatur nur sehr zaghaft mit diesem Thema auseinandersetzt, zählt man all jene Dystopien nicht dazu, die sich mit einem möglichen Danach beschäftigen. So ratlos sich die Politik gebärdet, stets mit der Angst vor schwindender Unterstützung im Hinblick auf nächste Wahlen, so ratlos gibt sich die Kultur, die Literatur. Wer will schon jenen Moment vor dem Einschlafen, wo man den Tag mit ein paar Seiten in einem Buch versüssen will, mit einem Alp vergiften?

Mischa Kopmann «Haus in Flammen», Osburg, 2022, 160 Seiten, CHF 30.90, ISBN 978-3-95510-274-6

Der Autor Mischa Kopmann ist Familienvater. Wer in der Gegenwart Mutter oder Vater von kleinen Kindern ist, muss sich mit einer Gegenwart auseinandersetzen, die sich blauäugigem Optimismus verschliesst, vorausgesetzt man stellt sich Fragen, liest die Zeit (damit meine ich nicht zwingend die entsprechende Zeitung) und sieht sein Leben nicht als Gang durch einen Supermarkt. Was wird bleiben, wenn unsere Kinder erwachsen geworden sind? Welche Schreckensszenarien, wie jener UN-Bericht von 2010, werden das Leben in der Zukunft überhaupt noch lebenswert lassen? Man kann die Wut und Verzweiflung der radikalen KlimakämpferInnen durchaus nachvollziehen, auch wenn die Methoden, die Öffentlichkeit von der Dringlichkeit einer Kurskorrektur zu überzeugen, mehr als fraglich sind.

Lias Thaden erzählt in „Haus in Flammen“ die Geschichte von Freundschaft und Liebe, Verzweiflung und Angst. Von Minnigk, Yvette und ihm, einer Menage à trois, die kein gutes Ende finden wird. Alle drei sind jung, um die zwanzig. Lias immer wieder umgezogen, weil der Vater ein hohes Tier bei der Bundeswehr ist, Minnigk locker und eloquent, blitzgescheit, ein Überflieger und Yvette, die Schöne, Tapfere, Unnahbare, Geheimnisvolle. Schule ist längst zur Nebensache geworden, denn was die drei unablässig auf Trab hält, alles mitreisst und unausweichlich ist, ist eine Gegenwart, die keiner Zukunft mehr Platz lässt, eine Zivilisation, die blind auf einen Abgrund zusteuert. Irgendwann mischt sich in die pazifistischen Ziele derart viel Verzweiflung und Aussichtslosigkeit, dass die drei die DLB, die Dead Loss Brigade gründen, einen gut organisierten Haufen, der sich längst nicht mehr mit Nadelstichen begnügt, eine immer stärker werdende Gruppe von eigentlichen Ökoterroristen, deren einziges Argument die Gewalt ist.

So sehr sich die drei immer mehr im Strudel der Gewalt verlieren, so sehr entzieht es den dreien den Boden ihrer gegenseitigen Freundschaft. Lias liebt Yvette, die einzige. Und Yvette liebt Minnigk und Lias. Sie ziehen sogar in eine gemeinsame Wohnung, bis die Nähe für Lias unerträglich wird, genauso unerträglich wie die sich abzeichnende letzte Katastrophe in ihrem Kampf gegen die Stur- und Trägheit der Menschen.
Lias erzählt den Weg dieser Katastrophe, die ihm alles wegnehmen wird, seinen Freund Minnigk, seine Liebe Yvette und den Glauben, irgend ein Kampf wäre zu gewinnen.

Zugegeben, Mischa Kopmanns Roman streichelt auf keiner Seite. Alles läuft aus dem Ruder, alles. In vielen der sprachlich eingedickten Szenen, wird die Verzweiflung schmerzlich spürbar. Viele Szenen erinnern an Theaterszenen, an ProtagonistInnen, die sich nichts schenken, die sich förmlich aufreissen, um in einem letzten Akt der Verzweiflung Resonanz zu erreichen.
Vielleicht ist ein solches Buch der verzweifelte Versuch eines Familienvaters, seinen Kindern auch in Zukunft vor die Augen treten zu können. So wie die Kinder all jener die während der Gewaltherrschaft von Diktaturen Augen, Ohren und Münder schlossen, ihren Eltern später Fragen stellen. Unsere Kinder werden wieder fragen. Zum Beispiel warum wir nicht trotz Warnungen wie jener im UN-Bericht von 2010 umschwenkten.

„Haus in Flammen“ ist weit mehr als Ökoliteratur. Mit Sicherheit ein literarischer Höllentripp.

Interview

Unser Haus steht tatsächlich in Flammen, der ganze Planet. Besteht nicht die Gefahr, dass genau jene Leserinnen und Leser, die sich noch immer weigern, die Zeichen der Zeit lesen zu wollen, ein Buch wie das ihrige weglegen?
Ganz sicher wäre das so – sofern man sich der Illusion hingeben mag, dass eben diese Leserinnen und Leser mein Buch erst einmal in die Hand nähmen. Literatur ist in den seltensten Fällen Angelegenheit einer breiten Masse und somit fast immer elitär. Würde ich ernsthaft über mein etwaiges Lesepublikum nachdenken, könnte ich nicht die Bücher schreiben, die ich schreibe. Entscheidend, daran glaube ich fest, im Leben wie in der Literatur, ist nicht die Anzahl an Verkäufen, sondern der kulturelle Impact: Bewege ich mit meinem Buch Herzen, verändere ich etwas und etwas verändert sich.

Sie leben mit Ihrer Familie in Hamburg. Mag sein, dass man dort vom Geist der Fridays-for-Future-Bewegung etwas mitbekommt. Ich wohne in einem 14000-Seelen-Dorf, umgeben von satten Wiesen und Wäldern und spüre davon rein gar nichts. Im Gegenteil, hier fahren Baseballkapies mit ihren getunten Spielzeugen am Bahnhof vorbei und die Eingänge zu Schulhäusern sind nach einem Wochenende total vermüllt.
Ich neige zu einer pessimistischen Sicht in die Zukunft. Und Sie? Ich sehe mein Buch als ein Werk der Desillusionierung. Mitunter muss ich aufpassen, dass ich die Welt, die mich umgibt nicht als post-apokalyptisch geisterhaft erlebe. Unsere Regierung bezeichnet den aktuellen Klimabericht als «flammendes Dokument einer brennenden Welt». Da wir es seit Jahrzehnten gewöhnt sind, lediglich an den Symptomen eines Problems herumzudoktorn, weil es zu schmerzhaft, unbequem und nicht wirklich karrierefördernd ist, sich ernsthaft an den Ursachen abzuarbeiten, ist meine Sicht auf die Zukunft realistischerweise nicht sehr optimistisch.

Yvette, Minnigk und Lias sind Archetypen der Auseinandersetzung. Eine Visionärin, ein Radikaler und ein stiller Unterstützer. Ist es Zufall, dass die Visionärin weiblich ist? Oder trügt der Eindruck, dass die Rollen der Denkenden und Lenkenden mehrheitlich nicht in männlicher Hand sind?
Ich bin mir nicht sicher, ob Yvette tatsächlich visionärer denkt als Minnigk und Lias. Was sie von den beiden unterscheidet, ist der absolute Ernst, mit dem sie ihren Kampf ausficht. Ganz im Gegensatz zu Lias, wird ihr das Politische jedoch zunehmend wichtiger als das Persönliche – was wiederum vielleicht auch einem ganz persönlichen Motiv geschuldet sein mag. Und vergessen wir nicht: Alles, was über die Figuren (und somit auch über Yvette) gesagt wird, unterliegt der schmerzhaft gebrochenen, nach und nach versagenden Stimme eines nicht unbedingt verlässlichen Erzählers.

Sie sind Vater von Kindern. Die Wahrscheinlichkeit ist gross, dass ihre Kinder Sie irgendwann fragen werden, warum man damals nicht handelte, als es noch möglich war. Ich bin Vater von fünf Kindern. Im Nachhinein staune ich über meinen naiven Mut und die Tatsache, dass keines meiner Kinder meine Vergangenheit in Frage stellt. Ein bisschen Sorge?
Ich sehe meine Aufgabe, meinen Kindern (und Mitmenschen insgesamt) gegenüber darin, so authentisch, offen und zugewandt zu sein wie nur möglich. Ohne dabei den Humor zu verlieren. Ich glaube, darin liegt unsere eigentliche Bestimmung: Uns zu erkennen und zu erneuern, an jedem einzelnen Tag. Die sprichwörtliche Veränderung zu sein, die man in der Welt sehen will. Jede Veränderung im Kleinen bedeutet auch eine im Grossen.

Sie schreiben von der „explosiven Mischung Wut“. Das spürt, liest und sieht man überall. Nicht nur bei Fussballspielen, Demonstrationen, überall dort wo viele Menschen zusammenkommen. Warum habe ich das Gefühl, dass diese zerstörerische Kraft förmlich darauf wartet, bis sie sich der Kontrolle entziehen kann oder bis das filigrane Gefüge einer funktionierenden Gesellschaft zu wanken beginnt?
Alles bleibt solange in einer vermeintlich sicheren Schwebe bis das filigrane Gefüge, von dem sie sprechen, solche Risse bekommt, dass es zerbricht. Dies gilt für die Natur wie für die Menschheit: Solange es den Eliten gelingt, das soziale Ungleichgewicht nicht zu gross werden zu lassen, solange die Natur nicht solche Schäden heraufbeschwört, dass der soziale Frieden nachhaltig gestört wird, geht alles seinen gewohnten Gang. Seit einigen Jahren erleben wir jedoch, dass unser Alltag zunehmend Störungen unterliegt. Eine Gesellschaft, die es als ihr Recht ansieht, in sicherem Wohlstand zu leben, ist durch nichts darauf vorbereitet, wenn beide Faktoren, eng aneinander geknüpft, ihren explosiven Point of no Return erreichen.

Ist Ihr Schreiben Ihr ganz persönlicher „Kampf“?
Dieses Buch hat mir geholfen, meine Wut, meine Angst, meine Ohnmacht zu überwinden. Es gilt also im besten Sinne das Credo: Besser ich schreibe über Menschen, die Autos anzünden und Fast-Food-Ketten-Fillialen in die Luft jagen, als selbst damit anzufangen.

Mischa Kopmann wurde Ende der sechziger Jahre in einer Kleinstadt in der Südheide geboren. Um die Milleniumswende gewann er einige Literaturpreise (u. a. Allegra Kurzgeschichten Preis, Walter-Serner-Preis), unterbrach dann jedoch sein literarisches Schaffen, um seine zwei Kinder grosszuziehen. Im Februar 2017 erschien bei Osburg sein Debütroman «Aquariumtrinker», 2019 die «Dorfidioten». Der Autor lebt in Hamburg.

Beitragsbild © Kathrin Brunnhofer

Jakob Augstein «Strömung», Aufbau

Jakob Augstein muss es wissen. In seinem literarischen Debüt schreibt er von Franz Xaver Misslinger, einem Mann, dem politisch nichts zu misslingen scheint. Von einer steilen Politkarriere, von Kalkül und Macht, von Verrat und tiefen Verletzungen. Jakob Augstein weiss es, weil er sie kennt in den geschlossenen Kreisen der politischen Alphamenschen.

Ungewöhnlich genug, dass der 55jährige Verleger, Herausgeber, Journalist und medialer Tausendsassa einen Roman herausgibt. Es scheint lange gekocht zu haben. Und was ich lese, erstaunt und fasziniert mich gleichermassen. Wer „Strömung“ liest, wird Realpolitik nicht mehr mögen, wird sich in Vielem bestätigt wissen. Mag sein, dass Augstein Klischees bedient. Aber weil es ein Augstein-Roman ist, liest sich dieser Roman so ganz anders, als von jemandem, der sich durch Recherche an eine solche Geschichte wagt.

Misslinger wollte unbedingt das Beste aus sich machen. Das Optimum. «Optimieren» war ein Wort, das er gerne gebrauchte. Aber er wollte dabei mühelos bleiben.

Jakob Augstein «Strömung», Aufbau, 2022, 301 Seiten, CHF 32.90, ISBN 978-3-351-03949-3

Misslinger ist früh in die Politik eingestiegen, durchaus mit der Absicht, etwas in Bewegung zu versetzen. Aber wohl vor allem sich selbst. Er ist in den Zirkeln der Partei aufgestiegen, immer unter der Patenschaft seines grossen Mentors und Förderers, immer im sicheren Wissen darum, dass er an entscheidender Stelle getragen wird. Überhaupt ist er sich das Getragen-werden gewohnt. Nicht zuletzt von seiner Frau Selma und seiner Tochter Luise. Seine Karriere war ein Leben lang oberstes Gesetz, oberster Massstab, dem sich alles unterzuordnen hatte. Misslingers Leben richtete sich stets nach den Gesetzen innerparteilicher Strömungen. Bis nicht nur er felsenfest davon überzeugt ist, dass er am kommenden Parteitag ganz an die Spitze gehievt wird, alles von der einen, entscheidenden Rede abhängt, seinem sicheren Gespür für die richtigen Worte. Kurz vor jenem alles entscheidenden Parteitag rät man ihm, eine Auszeit zu nehmen, sich die Rede in aller Ruhe zurechtzulegen. Und weil Misslinger spürt, dass Distanz nur gut tun kann, auch vor dem drohenden ehelichen Scheiterhaufen, dem, was übrig bleibt, weil er nie da war, als es ihn in Ehe und Familie wirklich gebraucht hätte, tritt er eine Reise in die USA an. Eine Reise mit seiner sechzehnjährigen Tochter Luise, von der er genau weiss, dass er einiges gutzumachen hat. Zu seiner Überraschung nimmt Luise die Einladung an und die Reise beginnt. 

Es gab doch ein paar andere Themen, Freiheit, Gerechtigkeit und so, aber wenn man alles Nebensächliche weggestrichen hätte, wäre als Wesenskern das Geldverdienen übrig geblieben.

Keine Reise in einen Urlaub. Misslinger gelingt es in keinem Moment, aus der Strömung auszutreten. Seine Tochter Luise ist längst nicht die brave, leicht zu begeisternde Tochter, die sich ein Vater als Begleitung wünscht. Luise stellt ihren Vater in Frage, immer und immer wieder. Sie, die in einer Generation aufwächst, der die Sorge um eine Zukunft schon mit 16 existenziell geworden ist. Sie, die schon mit 16 jegliches Vertrauen in die leeren Worthülsen aktueller Hinhaltepolitik nicht mehr hinhalten will. Zwar will Misslinger verstehen, aber eigentlich nur den Zugang zur Tür, die ihm zeigen soll, wie er mit Worten seine Tochter von seinen Ansichten überzeugen kann. Während er sich mit den Ängsten und dem Unverständnis seiner Tochter konfrontiert sieht, muss er feststellen, dass ihn die Strömung zuhause an den Schaltkreisen der Macht auszuspucken droht.

«Dreh dich mal um!»

„Strömung“ ist ein flirrendes Psychogramm eines Machtmenschen, der all sein Tun einem einzigen Ziel unterordnet; der Macht. Zwar immer unter dem Mäntelchen des Gemeinwohls, aber stets mit dem fokussierten Blick auf die nächste Stufe der Karriere, auf jenen Thron, von dem er überzeugt ist, er stünde ihm zu.
Augsteins Protagonist Franz Xaver Misslinger ist der Archetyp eines Politikers. Augsteins Roman ein Strudel, in dem sich Misslinger immer tiefer in Strömungen verliert, in einem unaufhaltsamen Ende. „Strömung“ ist der tiefe Blick in ein System, einen Strom, dessen Gesetze scheinbar der Mensch schreibt, dessen Unkontrollierbarkeit man aber nicht wahrhaben will. „Strömung“ ist faszinierend erzählt!

Jakob Augstein, geboren 1967, ist Verleger und Publizist. «Strömung» ist sein erster Roman.

Beitragsfoto © Mathias Bothor