Wolfgang Hermann «Bildnis meiner Mutter», Czernin

Wolfgang Hermann stellt sich mit seiner neuen Erzählung „Bildnis meiner Mutter“ die Frage: Was weiss ich von meiner Mutter? Ich habe Bilder, Erinnerungen, Fantasien. Und ich habe mein Nichtwissen: Aus diesem Nichtwissen will ich meine Kraft schöpfen. Ein Buch über viele Mütter!

Vater- und Mütterbücher scheinen in Mode zu sein. Das ist aber nur oberflächlich betrachtet so. Ein grosses Thema, nicht nur in der Literatur, ist die Herkunft. Letztlich beschäftigt sich auch die Geschichtsforschung mit nichts anderem als unserer Herkunft. Grosse Teile der Astronomie, der Naturwissenschaften überhaupt; Woher komme ich. Wer und was wir sind, ist in vielem Resultat. Wir alle haben Mütter und Väter, die einen als Geschenk, viele als lebenslange Hypothek. Man kann sich dieser Herkunft stellen. Man kann sein familiäres Erbe nicht ausschlagen. Wer in den Spiegel sieht, sieht all die Generationen zuvor, mit Sicherheit Mutter und Vater. Was und wie viel ist Teil meiner selbst? Wie sehr leitet mich, was Generationen vor mir mitverursachten?

Wolfgang Hermann schrieb eine Erzählung über seine Mutter, nicht über seinen Vater. Auch wenn dieser in seiner Erzählung „Bildnis meiner Mutter“ auch eine Rolle hat, wenn nicht sogar eine eigentliche Hauptrolle, denn er war der Grund, warum es seiner Mutter nie gelang, die zu werden, die sie gerne hätte werden wollen; eine eigenständige, emanzipierte Frau, eine erfolgreiche Sängerin, eine Künstlerin, eine Mutter, die ihren Kindern nicht aus lauter Verzweiflung all ihre verfügbare Liebe gibt, sondern eine, die sich im Gefüge einer liebenden Familie allen zuwenden kann; milde, fürsorglich.

Wolfgang Hermann «Bildnis meiner Mutter», Czernin, 2023, 120 Seiten, CHF 29.90, ISBN 978-3-7076-0788-8

Aber Wolfgang Hermanns Mutter wurde ein solches Leben verweigert. Nicht nur von ihrem Ehemann, auch von der Zeit, der Geschichte, dem Leben in der Provinz, in den Fesseln von Konvention und Patriarchat. In einem Interview erklärte Wolfgang Hermann, er habe seiner Mutter mit dem Buch ein „kleines Denkmal“ setzen wollen. Die Erzählung ist sehr wohl ein Denkmal. Ein Denkmal für all die Frauen in den vergangenen Jahrzehnten und Jahrhunderten, die Pläne, Gaben, Talente mit sich herumtrugen, die Zeit es ihnen aber verweigerte, diese zu Gelebtem werden zu lassen.

Wolfgang Hermanns Mutter wächst in der Zwischenkriegszeit auf, ist die Tochter eines erfolgreichen Geschäftsmannes, der in Bregenz eine Sägerei betrieb. Zusammen mit ihren Geschwistern wuchs sie in einer Familie auf, in der es klar war, dass man die Kinder ihren Neigungen entsprechend unterstützte. Nicht zuletzt, weil das Geld vorhanden war. Sie nahm Gesangsstunden, träumte von einer Karriere als Sängerin. Aber weil man erst etwas Solides lernen sollte, begann sie in der Sägerein ihres Vaters, später im Bauunternehmen ihres Onkels zu arbeiten. Dass sie neben ihrer künstlerischen Ader auch eine für Zahlen und Bilanzen hatte, schien erst ein Fluch, später im Leben der Mutter die Rettung. Früh hatte sie ein eigenes Auto, schien genau zu wissen, was sie wollte, wie ihr Weg in eine selbstbestimmt Zukunft aussehen sollte. Aber weil sie stets alles zu kalkulieren versuchte, weil sie alles bestimmen wollte, nahm ihr das Schicksal schnell das Heft aus der Hand. Ihre wahre Liebe heiratete eine andere und der Mann, der sich erst mit Manieren von der besten Seite zeigte, ihr Mann, der Vater ihrer Kinder wurde, entpuppte sich immer mehr zum Wüterich, zum unbeherrschten Patriarch, zum unkontrolliert um sich schlagenden Tyrannen. Nicht nur seiner Frau, auch seinen Kindern, auch dem kleinen Wolfgang gegenüber, der schon als kleiner Junge seine Mutter aus schierer Verzweiflung aufforderte, sich scheiden zu lassen. Ihr Mann, anfänglich glühender Kommunist, versucht sich mehr schlecht als recht als Architekt in einem bürgerlich konservativen Umfeld, dass es dem «Roten» alles andere als einfach macht. Trotz seines langsam wachsenden Erfolgs zwingt er seine Familie zu sparen, schickt seine Kinder in abgetragenen Kleidern zur Schule, gibt sich gegen alles und jeden misstrauisch, nimmt in keine Weise an jenem Leben teil, dass seiner Frau einst alles bedeutete.

Obwohl seine Mutter die ist, die die Familie durch die Wirren der Nachkriegszeit manövriert, die das brüchige Gefüge zusammenhält, die sich gegen die Ablehnung ihrer eigenen Familie stemmen muss, die nichts von dem erreicht, was einst ihr Herz bewegte, bleibt sie an der Seite des Tyrannen. Trennung ist keine Option. Einmal ja gesagt, ist ein Versprechen, das sich nicht erweichen lässt. Erst als ihr Mann stirbt, als reife Frau, nimmt sie in schriftlichen Aufzeichnung „das Heft in die Hand“ und rächt sich zumindest im geschriebenen Wort.

„Bildnis meiner Mutter“ ist ein Denkmal für all die Frauen, denen man(n) die Kraft absaugte, das zu tun, was ihnen gegeben war. Wolfgang Hermann zeichnet mit aller Liebe dieses Bildnis. Das Bildnis seiner Mutter, die auf Fotos zu lächeln versucht, die aber ein Leben lang beinahe erstickt an den Zwängen ihrer Zeit.

Interview

Auch wenn es ein Buch über Deine Mutter ist, ist es auch eines über Deinen Vater. Ein Vater, der seine Liebe verloren hatte. Nicht nur die Liebe zu Deiner Mutter, auch die Liebe zu seinen Kindern. Eine Tatsache, für die es kein Zurück mehr gab. Der Ehemann Deiner Mutter, Dein Vater war ein Gefangener seiner selbst. „Bildnis meiner Mutter“ ist eine Liebeserklärung an Deine Mutter – aber nicht auch ein leiser Beginn, jenen groben Vater verstehen zu wollen?
Familie ist ein Labyrinth an unterirdischen Verbindungen. Ich wollte meiner Mutter ein kleines Denkmal setzen. Sie hat viel mitgemacht mit meinem Vater. Keine mitteleuropäische Frau würde das heute mit sich machen lassen. Mein Vater kam aus einer kargen, harten Welt. Sozialistische Ideale, keine Menschlichkeit. Und Armut. Meine Mutter setzte dem ihre Operettenwelt entgegen.
In ihren letzten Lebensjahren fanden beide zu Frieden und beinahe Harmonie. Vielleicht war es auch nur Erschöpfung.

Du hast das Buch noch zu Lebzeiten Deiner Mutter zu schreiben begonnen, es aber erst lange nach ihrem Tod zu Ende geschrieben. Im Buch erklärst Du, warum Du es damals nicht hättest veröffentlichen können. Braucht es nicht auch eine gewisse Distanz, um sich beim Schreiben nicht von einem verzehrenden Feuer leiten zu lassen?
Ich schrieb einmal eine kleine Erzählung nach einer Episode aus dem Leben meiner Mutter, die sie mir erzählt hatte. Die Erzählung hiess „Die Eisenbahn“. Nach der Veröffentlichung meinte meine Mutter: „Ach, das war doch alles ganz anders! Das hast du falsch verstanden!“
So ist es wohl immer, wenn jemand anderes unsere Geschichte aufschreibt; es kann nie stimmen.

Dein „Bildnis meiner Mutter“ ist das Bildnis der Mehrzahl aller Frauen über Jahrzehnte und Jahrhunderte. Meine Mutter beispielsweise wäre gerne länger zur Schule gegangen, hätte gerne ein Instrument erlernt. Aber ihre Eltern hatten dafür kein Ohr. Sie würde sowieso heiraten und hätte genug zu tun als Ehefrau, Mutter und Haushälterin. Zwänge sind auch heute Thema und werden es bleiben. Verschieben sie sich einfach? Was Du an Deiner Mutter exemplarisch zeigst, erleben Frauen auch noch heute millionenfach.
Ja, Frauen erleben in großen Teilen der Welt auch heute noch Unterdrückung und Unfreiheit. Meine Mutter stammte aus vergleichsweise privilegierten Verhältnissen, sie nahm Gesangsstunden, besuchte die Handelsschule. Eine Generation zuvor wäre das unmöglich gewesen. Austrofaschismus und Naziherrschaft warfen das Land für Jahrzehnte zurück. Meine Mutter, auf der Suche nach Selbstverwirklichung im Gesang, heiratete einen Mann, der dafür keinerlei Verständnis aufbrachte. Es ging um wirtschaftlichen Aufschwung und Wohlstand, da blieb keine Zeit für die Kunst. Ausserdem wurde sie Mutter von fünf Kindern.

Das Leben Deiner Mutter war von „Verzicht“ dominiert. Eine durchaus katholisch geprägte Haltung, trug ihre Mutter noch während Jahren einen Kapuzinergürtel, ging zu Beichte. „Verzicht“ an sich ist nicht schlechtes. Vielleicht ist Verzicht sogar der einzige Weg, unsere Existenz auf diesem Planet auch in hundert Jahren noch zu ermöglichen. War ihr Verzicht eine reine Selbstgeisselung, die Überzeugung, dass ein Mensch grundsätzlich schlecht ist?
Meine Mutter wurde streng katholisch erzogen, aber sie war lebensfroh und gesellig. Sie hatte das Pech, in karge, düstere Zeiten geboren zu werden. Fleiss und Arbeit waren hohe Werte für sie, aber sie war gesellig und liebte Bälle und tanzen. Sie glaubte immer an das Gute, sah auch in jedem Menschen seine guten Qualitäten. Sie glaubte daran, daß es allen gut gehen sollte. Nein, sie war keine Asketin, sie war sehr dem Leben zugewandt.

Dein Vater war in seinen frühen Jahren ein glühender Kommunist. Doch eigentlich auch nur auf der Suche nach einer Gesellschaftsform, die allen ihr Recht geben soll. Wann und warum kippte die Suche in Gram, Wut und unsägliches Misstrauen?
Mein Vater wuchs in Armut im Austrofaschismus auf, er finanzierte sich das Geld fürs Gymnasium selbst durch Nachhilfestunden. Kaum aus der Schule heraus, steckte er in der Uniform der deutschen Wehrmacht und nahm am Polen-Feldzug teil. Durch eine Entzündung kam er ins Lazarett und war von da an b-tauglich, d.h. ihm blieb die Teilnahme am Überfall auf die Sowjetunion erspart. Die Lektion, die das Leben ihn lehrte war, dass alles Kampf und Überleben des Stärkeren ist. Also Disziplin und Entsagung, um nach oben zu kommen. Seine Mutter war eine sehr harte, kalte Frau aus Böhmen. Ich denke, sie lehrte ihn Sätze wie „Beim Geld hört die Freundschaft auf“ und auch, dass du hart und stark sein musst, wenn du da draussen in dieser Welt der Wölfe überleben möchtest. Als „Roter“ hatte er es im schwarzen Vorarlberg als Architekt nicht leicht.

Wolfgang Hermann, geboren in Bregenz, studierte Philosophie in Wien, anschliessend lange Aufenthalte in verschiedenen Ländern. 1996–1998 Universitätslektor in Tokio. Lebt in Wien. Zahlreiche Bücher, u. a. «Herr Faustini verreist», «Abschied ohne Ende», «Schatten auf dem Weg durch den Bernsteinwald«, «Das japanische Fährtenbuch», «Walter oder die ganze Welt«, «Der Lichtgeher», «Herr Faustini bekommt Besuch» und «Insel im Sommer«. Übersetzungen in zahlreiche Sprachen.

Webseite des Autors

Beitragsbild © Volker Derlath

Julia Schoch «Das Liebespaar des Jahrhunderts», dtv

„Das Liebespaar des Jahrhunderts“ meint jedes Liebespaar des letzten Jahrhunderts. Julia Schochs zweiter Roman einer Trilogie beschreibt die Mechanismen einer Partnerschaft derart entlarvend, als wäre ihr Schreiben in ein grelles, blau schimmerndes Neonlicht getaucht. Ein schonungsloser Roman über den Schattenwurf eines institutionalisierten Lebenstraums.

Sie kennen das; Sie schauen in einen fremden Spiegel, in einem Raum, dessen Licht die kleinste Pore in ihrem Gesicht zeigt, der ein Spiegelbild offenbart, das einem zweifeln, das den kalten Schauer der Ernüchterung über den Rücken kriechen lässt, die leise Ahnung darüber, wie leicht man sich von Idealen betäuben, von Fassaden blenden, von Ernüchterungen verstummen lässt.

Eine Frau erzählt von ihrer Ehe. 30 Jahre ist sie verheiratet und in einer Beziehung geblieben, die sich wie ein nur noch schwer manövrierbares Schiff immer weiter von allen Küsten entfernt. Eigentlich hatte sie schon längst die Absicht, jene drei Wörter loszuwerden, die dieser Ehe endlich ein Ende mit Schrecken setzen würden. Aber aus der Jahrzehnte lang verschobenen Absicht wird ein romanlanger Erklärungsversuch darüber, was Beziehungen anrichten, die sich institutionell in Gewohnheiten und gegenseitigen Abhängigkeiten verloren haben. „Ich verlasse dich“ – so kurz wie die drei Worte, die meist zu Beginn einer Beziehung stehen; „Ich liebe dich“.

Julia Schoch «Das Liebespaar des Jahrhundert», dtv, 2023, 192 Seiten, CHF 32.90 ISBN 978-3-423-28333-5

Vielleicht erklärt sich der Umstand, dass sie bleibt, darin, dass das Abwägen zwischen Vor- und Nachteilen, zwischen Verlust und Gewinn über die meiste Zeit ein unentschiedenes ist. Das, was zu Beginn jeder Ehe, jeder offiziell gemachter Beziehung als Leidenschaft und Zustand des Verliebtseins, Herz und Verstand in Wallung versetzte, verändert sich mit der Zeit, erst recht in einer amtlich gewordenen Ehe, einem Konstrukt, das selbst mit grösster Anstrengung nicht so einfach beendet werden kann. Die Gründe warum man bleibt und eben diese drei Worte „Ich verlasse Dich“ nicht ausspricht, sind so vielfältig wie das, was Menschen bei einer Ehe einander hinter diesem „Ja“ versprechen. So wie im Roman von Julia Schoch, eigentlich ein buchlanger Monolog: „Du warst seit langem der erste Mensch in meinem Leben, der nicht sofort wieder verschwinden wollte.“

„Ich dachte: Das wird nicht mehr gut. Aber es ging einfach weiter.“

Sie erinnert sich an die Zeit, als sie sich während des gemeinsamen Studiums kennen lernten. An die Zeit, in der alles wie ein Wunder erschien, der Himmel golden schimmerte und man sich diesem ganz nah fühlte. Sie beide wuchsen in der DDR auf, einer Diktatur, und die Liebe war nicht nur ein unendlich weites Land, das man zu zweit entdecken wollte, sondern Rückzugsort und Bastion in einem System, das omnipräsent kontrollieren wollte. Die Liebe versprach ein gemeinsames Abenteuer. Aber mit dem gemeinsamen Weg wächst nicht nur das Reservoir an überstandenen Prüfsteinen, sondern jenes vieler kleiner und grosser Verletzungen, nicht zuletzt von Selbstverletzungen. Was zu Beginn nur Gefühl, Leidenschaft, Glück war, wird im Zusammenleben in einer Wohnung, im Teilen der Aufgaben, mit einer Familie, den Kindern, all den Pflichten nach innen und nach aussen zu einem feinmaschigen Konstrukt von Erwartungen und Mechanismen.

„Das Liebespaar des Jahrhunderts“ ist eine erzählte Liste all der Gründe, warum es dreissig Ehejahre wurden, obwohl es eine lange Kette von Momenten gab, die ihr genügend Gründe geliefert hätten, einen Punkt zu machen. Julia Schoch hält mir selbst einen Spiegel hin, leuchtet mit bläulich grellem Neonlicht in die Winkel, die wir gerne im Dämmer lassen. Manche Szene, mancher Gedankengang war wie ein Schlag in die Kniekehle. Sie entblösst, reisst alle Maskerade, alle falschen Fassaden weg. Aus der Lektüre tauchen Gedanken, die das eigene Verdrängen bis über Schmerzgrenzen hinaus spiegeln. Schlussendlich bleibt ihre Gewissheit: „Jeder lebt sein Leben.“

Ein Roman, der nicht umgarnen will. Aber ein Roman, der mich staunen lässt, nicht nur inhaltlich, nicht nur über seine Wirkung, auch über den Mut dieser Autorin!

Julia Schoch, 1974 in Bad Saarow geboren, aufgewachsen in der DDR-Garnisonsstadt Eggesin in Mecklenburg, gilt als »Virtuosin des Erinnerungserzählens« (FAZ) und bekam für ihre von der Kritik hochgelobten Romane und Erzählungen schon viele Preise, zuletzt den Schubart-Literaturpreis für ihren Roman «Das Vorkommnis. Biographie einer Frau». Für ihr schriftstellerisches Gesamtwerk wurde ihr 2022 die Ehrengabe der Deutschen Schillerstiftung verliehen. Sie lebt in Potsdam.

Rezension (und Interview) von «Das Vorkommnis. Biographie einer Frau» auf literaturblatt.ch

Beitragsbild © Bogenberger Autorenfotos

Hansjörg Schneider „Spatzen am Brunnen“, Diogenes – ein Geburtstagsgeschenk an seine LeserInnen

„Spatzen am Brunnen“ ist nicht das erste Alterswerk des Schriftstellers Hansjörg Schneiders, das zurückschaut, hineinschaut und dabei weit mehr als in der klein gewordenen Welt eines alten Mannes bleibt, stets ehrlich und äusserst sympathisch. Hansjörg Schneider interpretiert nicht. Er ist und bleibt ein feiner Erzähler – und feiert heute seinen 85. Geburtstag!

Seit einem halben Jahrhundert veröffentlicht Hansjörg Schneider Romane, Theaterstücke, Hörspiele. Seit der Verfilmung seiner Hunkeler-Krimis mit dem 2015 verstorbenen, unverwechselbaren Hunkeler-Darsteller Mathias Gnädinger, kennen ihn auch jene LeserInnen, denen das breite Werk des Schriftstellers bisher verschlossen blieb. Für Theaterbegeisterte unvergessen bleibt Hansjörg Schneiders Stück „Sennentuntschi“, das 1981 als Theaterübertragung im Schweizer Fernsehen ausgestrahlt wurde und zu einem Skandalstück wurde. Ebenso unvergessen bleibt der Film „Der Erfinder“ mit dem Schauspieler Bruno Ganz in der Hauptrolle, ein Spielfilm, der auf dem gleichnamigen Theaterstück Hansjörg Schneiders basiert. In den Jahren nach „Sennentuntschi“ und „Der Erfinder“ galt Hansjörg Schneider nach Friedrich Dürrenmatt und Max Frisch zu den meistgespielten Dramatikern der Schweiz.

2020 erschien der zehnte und bislang letzte Hunkeler-Krimi unter dem Titel „Hunkeler in der Wildnis“. Nicht dass es danach ruhig um den Schriftsteller geworden wäre, Hansjörg Schneider veröffentlicht munter weiter, aber ganz offensichtlich hat das literarische Bewusstsein eines Landes bloss ein Kurzzeitgedächnis und man vergisst schnell, wer einst im Land die Literaturszene aufmischte und mit seinem breiten Œuvre durchaus das Zeug hätte, dass man wenigstens einen Platz in seinem Geburtsort oder seinem Wohnort nach dem Schriftsteller benennen könnte.

Hansjörg Schneider «Spatzen am Brunnen», Diogenes, 2023, 208 Seiten, CHF 29.00, ISBN 978-3-257-07241-9

In Coronazeiten begann Hansjörg Schneider ein Tagebuch zu führen. Nicht aus einer Not und schon gar nicht als Auseinandersetzung mit der Pandemie. Vielleicht weil ein Mann von über 80 Jahren unvermittelt spürt, dass jeder Tag zu einem Geschenk wird, der mitansehen und miterleben muss, wie einstige Freundschaften durch Krankheit, Sterben und Tod ein Ende finden. Ganz bestimmt, weil das Schreiben für Hansjörg Schneider längst zu einer Lebensnotwendigkeit geworden ist, weil Schreiben seine Form der Auseinandersetzung mit seiner Welt, seinen Erinnerungen, seinen Träumen und Befürchtungen geworden ist.

„Sprache als ordnende, rettende Kraft.“

Hansjörg Schneiders Tage sind still, verlaufen langsam. Seine täglichen Spaziergänge gehören zu seinem Schreiben. Gehen, Sitzen, Kaffee trinken, Beobachten, und sei es auch nur das gesellige Treiben der Spatzen am Brunnen – das braucht der Autor, um später am Küchentisch seinen Stift in die Hand zu nehmen und wie seit Jahrzehnten stets Heft um Heft damit zu füllen. Schreiben bestimmt seinen Tag. Schreiben ist seine Art des Sehens, des Erinnerns, seine Auseinandersetzung mit einer Welt, die nicht nur ihm immer fremder und unzugänglicher wird. „Spatzen am Brunnen“ ist ein Füllhorn an Kleinstgeschichten, Anekdoten, kleinen Denkmälern für Persönlichkeiten aus Literatur, Film und Theater, Menschen, die aus dem kollektiven Bewusstsein zu verschwinden drohen, eine Welt, die mit dem Autor ins Vergessen rutscht.

„Es gibt für mich nur die erhellende Klarheit der Sprache. Sprache wirft Licht in die Welt, auf das Leben, auf das Sterben.“

Ich liebe Hansjörg Schneiders unaufgeregten Blick auf das, was passiert, selbst auf die Auswirkungen der Pandemie, die ihn in seinem Leben nur rudimentär betreffen. Um den Autor ist es ruhig geworden, auch wenn sich die Gedanken im Autor sebst manchmal zu Stürmen auftürmen, nicht zuletzt dann, wenn er sich unverstanden fühlt, sei es als Autor, als Zeitgenosse oder als Rädchen im (Kultur-) Getriebe. Trotz allem spricht keine Bitterkeit, kein Weltschmerz. Hansjörg Schneiders Fenster zur Welt wird wohl kleiner, die Tiefenschärfe aber nimmt zu. Und mich selbst ermuntert sein Buch, sein Tagebuch, meinen eigenen Blick zu weiten, weg von meinem Nabel, meinen Befindlichkeiten, dem Unveränderbaren.

Hansjörg Schneider, geboren 1938 in Aarau, arbeitete als Lehrer und als Journalist. Mit seinen Theaterstücken, darunter «Sennentuntschi» und «Der liebe Augustin», war er einer der meistaufgeführten deutschsprachigen Dramatiker, seine «Hunkeler»-Krimis führen regelmässig die Schweizer Bestsellerliste an. 2005 wurde er mit dem Friedrich-Glauser-Preis ausgezeichnet. Er lebt als freier Schriftsteller in Basel.

Beitragsbild © Philipp Keel Diogenes

Raphaela Edelbauer «Die Inkommensurablen», Klett-Cotta

Raphaela Edelbauer schrieb sich in einen Rausch. „Die Inkommensurablen“ ist eine flirrende Momentaufnahme in der Metropole Wien kurz vor Ausbruch des 1. Weltkriegs. Bestechend virtuos begleitet sie vier Leben, die in diesen Tagen schicksalshaft miteinander verschlungen werden, in einer Stadt, die in den Wirren der Zeit kocht.

Inkommensurable – eigentlich ein Begriff aus der Mathematik; nicht messbar, nicht vergleichbar.

Am 28. Juni 1914 starb bei einem Attentat das deutsch-österreichische Thronfolgerpaar in Sarajevo. Nachdem Russland eine Teilmobilmachung anordnete, Österreich-Ungarn am 28. Juli Serbien den Krieg erklärte und wenig später Russland die Generalmobilmachung erliess, wuchs die Spannung in Europa bis zum Überlaufen. In Wien wartete man elektrisiert auf die unmittelbaren Auswirkungen der Spannungen zwischen den Grossmächten. 

In einer Stimmung aus Euphorie, Umbruch, Ausgelassenheit und Fatalismus steigt am Wiener Hauptbahnhof ein junger Mann aus dem Zug. Hans hat ein Inserat in der Zeitung gelesen. Das Inserat einer Psychoanalytikerin, einer Frau, von der er sich Klärung verspricht. Dass Hans, der im Tirol Pferdeknecht war, und mit seinem Verschwinden auf dem Hof eine Rückkehr unmöglich macht, in eben jenem Wien auftaucht, das zu kippen beginnt, ist Zufall. Hans, der ungewohnt belesen ist und durchaus weiss, was sich auf dem Kontinent abspielt, hat keine Ahnung, in was für eine Stadt er eintaucht. Er war noch nie in Wien. Er war überhaupt noch nie weg, nur immer bei seinen Pferden, von denen er sicher war, dass sie ihn besser verstehen als alle andern auf dem Hof.

Raphaela Edelbauer «Die Inkommensurablen», Klett-Cotta, 2023, 352 Seiten, CHF 36.90, ISBN 978-3-608-98647-1

Zielsicher, aber mit kaum mehr Geld in der Tasche, findet er das Haus der Psychoanalytikerin Helene Cheresch, kann sie überreden, ihn kurz anzuhören und Hans erzählt. Hans ist davon überzeugt, dass er Dinge träumt, von denen andere danach erzählen, dass seine Gedanken mit deren anderer in unerklärlicher Verbindung sind – inkommensurabel, ein Begriff, von dem nicht nur Hans keine Ahnung hat. Nach seiner kurzen Audienz bei der Psychoanalytikerin trifft er Klara und Adam, von denen er förmlich mitgerissen, mitgespült wird. Klara und Adam sind PatientInnen von Helene Cheresch, Klara eine junge Mathematikerin und Adam Sprössling einer Offiziersfamilie. Klara ist kurz davor, ihr Studium in Mathematik zu beginnen als eine der ersten Frauen in Wien und Adam weiss, dass seine Familie mit aller Selbstverständlichkeit erwartet, dass er sich als Freiwilliger meldet, um mit der gleichen Selbstverständlichkeit in einem heldenhaften Einsatz zum schnellen Sieg zu helfen.

Zu dritt sind sie im Gewusel der brodelnden Grossstadt unterwegs, zuerst zu einem Diner in Adams Elternhaus, das wie erwartet im Desaster endet, später dorthin, wo Klara aufwuchs, in die Gosse, einem Ort, dem Hans mit der gleichen Abscheu begegnet wie das Adams Elternhaus. Hans als Knecht, der an Ordnung glaubt, Adams Eltern, die an eine gottgegebene Ordnung glauben, die ihnen sämtliche Privilegien zugesteht, die ihnen schon seit Generationen versprochen sind.

Ein Dreigespann in einer kochenden Menschensuppe. Hans, der Knecht, Klara, das Mädchen aus der Gosse und der Adlige Adam, durch „Zufall“ zu SchicksalsgenossInnen vereint. Ein ganzes Land, eine Stadt in einem fiebrigen Zustand, weil alles spürt, dass eine Zeitenwende alles verändern wird. Eine ganz ähnliche Situation wie in der Gegenwart, wo jeder, der nicht blind und abgeschottet lebt, genau spürt, dass diese fiebrigen Zustände an Intensität zunehmen.

Raphaela Edelbauer hat jene Tage im Sommer 1914 ausgesucht, eigentlich bloss 24 Stunden, in denen gleich mehrere Welten zu implodieren drohen. Ganz bestimmt das Resultat einer gross angelegten Recherche. Aber die Recherche dient nicht der blossen Staffage. In Raphaela Edelbauers Buch tauche ich in die Tiefen jener Zeit. Ihr Roman will jedoch kein Abbild sein, so wie der Maler, selbst wenn er „realistisch“ malt nie die Realität abbildet. „Die Inkommensurablen“ ist Destillat, im Brennglas betrachtet, schrill und doch glasklar. „Die Inkommensurablen“ ist ein Sprachkunstwerk mit Untiefen, Verzerrungen, Doppelböden und Verschränkungen mit Mathematik und Philosophie. Kein einfaches Lesevergnügen – aber selbst das orientiert sich an Zeiten wie damals und heute.

Raphaela Edelbauer, geboren in Wien, studierte Sprachkunst an der Universität für Angewandte Kunst. Für ihr Werk «Entdecker. Eine Poetik» wurde sie mit dem Hauptpreis der Rauriser Literaturtage ausgezeichnet. Ausserdem wurde ihr der Publikumspreis beim Bachmann-Wettbewerb, der Theodor-Körner-Preis und der Förderpreis der Doppelfeld-Stiftung zuerkannt. Ihr Debütroman «Das flüssige Land» stand auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises, für ihren zweiten Roman «DAVE» erhielt sie den Österreichischen Buchpreis. Raphaela Edelbauer lebt in Wien.

Webseite der Autorin

Beitragsbild © Apollonia Bitzan

Giuliano da Empoli «Der Magier im Kreml», C. H. Beck

„Der Magier im Kreml“ fasziniert. Ein Roman, der sich an der Seite eines scheinbar fiktiven Beraters ganz nah an die Person Wladimir Putin heranwagt. Ein Buch, das mich staunen lässt und mit all den Realbezügen einen Schauer des Schreckens über meinen Rücken zieht.

Der Westen reibt sich noch immer die Augen. Seit über einem Jahr Krieg in Europa, ein Krieg, der nicht am 24. Februar 2022 begann, sondern schon viel früher mit der Annexion der Krim und den kriegerischen Handlungen im Donbas. Eine „Spezialoperation“ die nach russischen Vorstellungen schnell und als „Befreiung“ hätte funktionieren sollen. Kein Wunder sind die Sachbuchregale in Buchhandlungen voll mit Publikationen, die zu erklären und verstehen versuchen, warum sich die russische Seele und allen voran Wladimir Putin so sehr in ihrer Existenz, ihrem Stolz und Selbstverständnis bedroht fühlen, das man bereit ist, einen jahrelangen Abnützungskrieg anzuheizen, der eine ganze Generation RussInnen und UkrainerInnen traumatisieren wird.

«Die einzige Waffe, die ein Armer hat, um seine Würde zu bewahren, ist es, anderen Angst einzuflössen.»

Die Figur des russischen Präsidenten wurde und wird zum Mysterium, für die einen zur Verkörperung des Bösen, für eine grosse Mehrheit der Russen selbst zur Lichtgestalt im Kampf gegen eine globale Verschwörung. Und während deutsche PolitikerInnen auf Grossdemonstrationen fordern, man müsse dem Despoten die Hand reichen, man müsse um jeden Preis verhandeln, sterben Tausende Unschuldiger in einem unkontrollierten Gemetzel, wird der Osten der Ukraine unter russischem Dauerbeschuss zur real gewordenen Apokalypse.

Giuliano da Empoli «Der Magier im Kreml», C. H. Beck, 2023, aus dem Französischen von Michaela Meßner, 265 Seiten, CHF 36.90, ISBN 978-3-406-79993-8

Kein Wunder, dass ein Roman mit dem Namen „Der Magier im Kreml“, geschrieben von einem Politikwissenschaftler nicht nur die Hoffnung weckt, mit der Lektüre etwas mehr zu verstehen, sondern all jenen Bestätigung liefert, die schon immer „wussten“ wie die russische Seele tickt, wie ein diktatorisches Staatsgefüge funktioniert. Der italo-schweizer Schriftsteller und Wissenschaftler wollte eigentlich ein Essay schreiben, verstand aber schnell, dass er mit den Mitteln der Fiktion den Zusammenhängen eines russischen Machtapparates viel näher kommen würde.

«Die erste Regel der Macht lautet, auf Fehlern zu beharren, in der Mauer der Autorität nicht den kleinsten Riss zu zeigen.»

Erzählt wird das Zusammentreffen eines Sprachwissenschaftlers und eines ehemaligen Einflüsterers Wladimir Putins; Wadim Baranow. Wadim Baranow, dessen real existierendes Pendant Wladislaw Surkow war, von 2013 bis 2020 Putins Berater, mittlerweile von der Bildfläche verschwunden. Wadim Baranow, die einzige nicht reale Figur im Roman, erzählt vom Aufstieg Putins, einem Mann den man aus dem unscheinbaren Büro des russischen Geheimdiensts holte, um die alten Machtstrukturen nach den verheerenden Annäherungen Gorbatschows und Jelzin an den Westen wieder herzustellen. Damals glaubte man noch, der kleine blonde Mann mit dem leicht linkischen Gang wäre die ideale Figur, die sich leicht führen liesse, die dem russischen Machtapparat jenen Glanz und jene Grösse zurückgeben würde, die man vor den Augen der Weltöffentlichkeit verloren hatte. Aber Wladimir Putins Fähigkeiten gingen weit über jene eines reinen Apparatschiks hinaus. Von Beginn weg schaffte es der russische Präsident sowohl im Kreml wie in seinem Riesenreich in einem Klima der Angst und Verunsicherung seine Macht zu zementieren und dem russischen Selbstbewusstsein das zurückzugeben, was man ihm genommen hatte.

«Der Zar lebt in einer Welt, in der selbst die besten Freunde zu Höflingen oder unerbittlichen Feinden werden, meistens sogar beidem zugleich.»

Giuliano da Empolis Roman fasziniert, weil er mir als Leser nicht den leisesten Zweifel lassen will, der Autor wüsste nicht haargenau, wie der russische Staatsapparat tickt. Giuliano da Empolis Erzählen ist allglatt, auf Hochglanz getrimmt. Dass die Kritik derart klatscht, beweist, wie sehr sich alle bestätigt fühlen, die schon immer ahnten, wie durchtrieben und gefährlich jener unscheinbar wirkende Mann war und ist. Als Sachbuch funktioniert das Buch sehr wohl. Ich verstehe, warum die naive Haltung, man müsse nur mit der offenen Geste der Verhandlungsbereitschaft auf den Kriegsherrn zugehen, angesichts dieser Lektüre unmöglich scheint. Aber als Roman fehlt mir nicht nur die Nähe zum Personal, sondern auch eine gewisse Zurückhaltung in der Art des Erzählens. Das Buch passt perfekt in eine Zeit, in der man krampfhaft nach Erklärungen sucht. Das Buch passt perfekt in die Vorstellung, dass der Kreml der Nabel des Bösen sei. „Der Magier im Kreml“ ist nicht der Versuch einer Erklärung, sondern Erklärung selbst, geschrieben von einem Könner, der nie nur einen Satz lang zweifelt.

Giuliano da Empoli ist ein italo-schweizerischer Schriftsteller und Wissenschaftler. Er ist der Gründer von Volta, einem pro-europäischen Think Tank mit Sitz in Mailand, und Professor für Vergleichende Politikwissenschaft an der Sciences Po Paris. Zuvor war er stellvertretender Bürgermeister für Kultur in Florenz und Berater des italienischen Ministerpräsidenten Renzi. Er ist Autor zahlreicher, international veröffentlichter Essays, darunter zuletzt «Ingenieure des Chaos» (2020) über neue Propagandatechniken, das auch ins Deutsche übersetzt wurde. «Der Magier im Kreml» ist sein erster Roman. In Frankreich wurden über 300.000 Exemplare verkauft und die Rechte inzwischen in fast 30 Länder vergeben, das Buch wurde u.a. ausgezeichnet mit dem Grand Prix du Roman de l’Académie française und war Finalist für den Prix Goncourt.

Michaela Meßner geboren in Mainz, lebt als Literaturübersetzerin in München. Sie hat u.a. Werke von Alexandre Dumas, Anne und Emily Brontë, Jean Baudrillard und César Aira ins Deutsche übertragen. 1992 wurde sie mit dem Raymond-Aron-Preis ausgezeichnet.

Beitragsbild © Francesca Mantovani, Editions Gallimard

Usama Al Shahmani «Der Vogel zweifelt nicht am Ort, zu dem er fliegt», Limmat

Dafer Schiehan ist aus dem Irak geflohen und in der Schweiz angekommen. „Der Vogel zweifelt nicht am Ort, zu dem er fliegt“, Usama Al Shahmanis dritter Roman, erzählt, was der Titel seines Buches meint, vom Dazwischen, vom Zweifel, dem Erkennen, von Ängsten und der Befreiung des Ankommens.

Usama Al Shahmani hat im vergangenen Herbst nicht nur seinen dritten Roman veröffentlich. Seit dem Erscheinen seines ersten Romans “In der Fremde sprechen die Bäume arabisch“, mit seinen ausgedehnten Lesereisen, dem grossen Echo, der Tatsache, dass man ihn gerne einlädt und mit ihm einen emphatischen, leidenschaftlichen und kompetenten Gesprächspartner gewinnt, dass seine Anwesenheit auch in nationalen Medien bemerkbar ist, nicht zuletzt als fixes Mitglied in der KritikerInnenrunde beim SRF-Literaturclub, scheint Usama Al Shahmani unaufhaltsam ins kollektive „Kulturbewusstsein“ der Schweiz hineinzurutschen. Seine Romane überzeugen Leserinnen und Leser wegen ihrer orientalischen Erzählkunst, der Perspektive weit über persönliche Betroffenheit hinaus und der positiven Grundhaltung allen Widrigkeiten und Traumata zum Trotz. Vielleicht auch, weil Bücher und Person eine Einheit bilden, weil Usama Al Shahmani genau das repräsentiert, was er beschreibt; den Suchenden, den Wandernden, den Fragenden, den Dankbaren.

In „Der Vogel zweifelt nicht am Ort, zu dem er fliegt“ schildert Usama Al Shahmani das Wegfliegen und Ankommen von Dafer Schiehan, der wegen eines regimekritischen Theaterstücks den Irak verlassen muss und trotz eines negativen Asylbescheids in der Schweiz eine Aufenthaltsbewilligung erhält. Nach vielen Stationen, Zeiten in Durchgangsheimen, in Zimmern mit vielen anderen Flüchtlingen zusammen, bewohnt Dafer eine kleine Wohnung im thurgauischen Weinfelden. Der Sprachwissenschaftler hat Arbeit in einem Restaurant am Bodensee gefunden, als Tellerwäscher, weit weg von seiner Heimat, seiner Familie, weit weg von einer Gewissheit, in einem Dazwischen.

„Dafer fragte sich, ob er wirklich etwas verloren hat, als er seine Heimat verliess. Oder ist Heimat bloss eine grosse Lüge, die wir gerne glauben?“

Usama Al Shahmani «Der Vogel zweifelt nicht am Ort, zu dem er fliegt», Limmat, 2022, 176 Seiten, CHF 30.00, ISBN 978-3-03926-042-3

Dafer erzählt in Rückblenden von seiner Kindheit in einer kleinen Stadt, seiner Familie und seinen Verwandten, von seiner ledig gebliebenen Tante Aschuak, die eines Tages das Land für immer verliess und er als Kind nicht verstehen konnte. Von seiner Grossmutter, die ihm die Welt mit Geschichten erklärte. Von den Zeiten, als auf dem Teheraner Flughafen jener bärtige, alte Mann einem Flugzeug entstieg und in eine jubelnde Menge tauchte, das ganze Land in Aufruhr versetzte und mit einem Mal alles ganz anders war, Jungs nicht mehr in die Nähe von Mädchen kamen und man nur noch auf dem Boden sitzend ass. Von seinem Umzug nach Bagdad, seinem Studium, der gewonnenen Freiheit und den perfiden Bedrohungen eben dieser Freiheit. Wie er mit KommilitonInnen in die Welt des Theaters eintauchte, weil das Theater ein offenes Feld für Lebensentwürfe zu werden begann. Bis Saddams Sicherheitapparat dem Aufbruch im Kleinen ein abruptes Ende setzte und der Inhalt eines Theaters aus seiner Feder Henkersseil zu werden drohte. Dafer musste fliehen, alleine, einer Zukunft beraubt, voller Ängste, zuerst mit der Absicht, nach England zu gelangen, schlussendlich in der Schweiz gestrandet.

„Kultur war verdächtig, mit ihr wurde man für die Familie zur Last, zur Gefahr.“

In der Schweiz ist Dafer nicht nur die Sprache fremd. Aber er spürt, dass es die Sprache ist, die ihm die Tür zu Land und Menschen sein wird. Er beginnt zu lernen. Über die Sprache hinaus die Gebräuche der Einheimischen. Langsam entschlüsselt er die Rätsel der Einheimischen, selbst die überdeutlichen Signale von Fremdenfeindlichkeit und offensichtlicher Ablehnung.
Und als Saddam im Irak gestürzt wird und ein Besuch in seiner Heimat wieder möglich ist, muss er wie viele andere Geflüchtete erfahren, dass der Vogel an jenem Ort, den er verliess, fremd geworden ist. „Wärst du hier geblieben, so wären viele schlimme Dinge in dieser Familie nicht passiert“; sagt ihm seine Mutter.

„Der Vogel zweifelt nicht am Ort, zu dem er fliegt“ ist der Roman eines Angekommenen. Vielleicht nach „In der Fremde sprechen die Bäume arabisch“ und „Im Fallen lernt die Feder fliegen“ so etwas wie der letzte Teil einer Trilogie. Dafers Blick auf das Land, in dem er angekommen ist, ist der eines Dankbaren – wenn auch mit einem ordentlichen Schuss entlarvender Erkenntnis. Drei Worte beschreiben die Schweiz: Zuverlässigkeit, Toleranz und Jammern; „Jammern gehört zu den erlesensten Genüssen ihres Lebens.“

Usama Al Shahmani, geboren 1971 in Bagdad und aufgewachsen in Qalat Sukar (Nasirija), hat arabische Sprache und moderne arabische Literatur studiert. Er publizierte drei Bücher über arabische Literatur, bevor er 2002 wegen eines Theaterstücks fliehen musste und in die Schweiz kam. Er übersetzt ins Arabische, ist seit 2021 Literaturkritiker beim «Literaturclub» des Schweizer Fernsehens SRF. Sein erster Roman «In der Fremde sprechen die Bäume arabisch» wurde mehrfach ausgezeichnet und war u. a. für das «Lieblingsbuch des Deutschschweizer Buchhandels» nominiert. Usama Al Shahmani lebt in Frauenfeld. 

Rezension zu «Im Fallen lernt die Feder fliegen» auf literaturblatt.ch

Essay „Wo die Diktatur beginnt, liegt die Kultur im Sterben – Eine Kindheit zwischen dem Krieg und dem bewaffneten Frieden“ auf der Plattform Gegenzauber

Beitragsbild © Caroline Minjolle

Anna Kim «Geschichte eines Kindes», Suhrkamp

„Geschichte eines Kindes“ ist eine wahre Geschichte über ein Kind, dem man das Nest verweigert. Über eine Mutter, die sich ihrer Verdammnis verweigert und ein System, das mit rassistischer Gesinnung scheinbar Gutes tut. Auch wenn die Geschichte in der us-amerikanischen Provinz angesiedelt ist. Solche Geschichten sind globale Gegenwart!

Dass Menschen auf Grund ihres Aussehens taxiert werden, ist noch immer Reflex. In einer Zeit, in der es angesagt wäre, sich immer mehr Gedanken darüber zu machen, ob man nicht selbst diesem automatischen Schubladisieren unterworfen ist. Wir leben im Zwang des Einordnens. Ob hellhäutig oder dunkel, ob dick oder dünn, ob sympathisch oder unsympathisch – wir ordnen ein. Unser Urteil darüber, wie wir taxieren, bestimmt unser Tun, bewusst oder unbewusst. Obwohl es immer mehr Stimmen gibt, laute und leise, die uns auffordern, sich diesen Zwängen und Automatismen entgegenzustellen, bestimmen sie unser Tun und Lassen, bis hinein in die Sprache.

Seit wir von totalitären Gesinnungen wissen, was institutionalisierter Rassismus anrichten kann, seit wir präsentiert bekommen, dass die europäische Kultur seit Jahrhunderten durchsetzt ist von Rassendünkel und dem Glauben, helle Hautfarbe rechtfertige Macht und Unterdrückung, weil Geschehnisse in der Gegenwart zeigen, dass Rassismus noch längst nicht überwunden ist, sind Bücher wie „Geschichte eines Kindes“ von Anna Kim mehr als Unterhaltung. Sie sind Notwendigkeit.

Anna Kim «Geschichte eines Kindes», Suhrkamp, 2022, 220 Seiten, CHF 33.90, ISBN 978-3-518-43056-9

1953, in einer Kleinstadt im US-Bundesstaat Wisconsin. Carol Truttmann ist jung und bekommt ein Kind. Ein Vater ist nicht da. Aber auch ihre Muttergefühle siegen nicht über den Entschluss, den kleinen Jungen noch in der selben Nacht zur Adoption freizugeben. In der kleinen, konservativen Stadt, in der nichts verborgen bleibt, wäre das schon Skandal genug. Aber der kleine Junge ist nicht „weiss“ wie seine Mutter, sondern „negrid“. Und seine Mutter weigert sich, den Vater zu nennen, obwohl sie von den Sozialdiensten der Stadt immer und immer wieder aufgefordert wird, einen Namen zu nennen, um das Verfahren einer rechtsgültigen Adoption in Gang zu bringen. Der kleine Daniel wird bis zur Adoption in ein Heim gebracht, während eine ganze Maschinerie versucht, einen Pflegeplatz für den dunkelhäutigen Jungen zu finden und eine übereifrige Angestellte des Sozialdienstes keinen Versuch unterlässt, der jungen Mutter wegen des unbekannten Vaters auf den Zahn zu fühlen. Detektivische Nachforschungen, die aus gegenwärtiger Sicht mehr als übergriffig erscheinen, die mehr als verständlich machen können, dass sich eine junge Frau mehr und mehr verweigert.

Man sorgt sich durchaus um den kleinen Daniel. Man ahnt, dass er es in einem rein weissen Umfeld in Zukunft schwer haben wird. Dass auch eine Familie, die den kleinen Daniel adoptieren wird, nicht einfach einen Jungen in ihre Familie aufnehmen wird, sondern sich feindlichen Gesinnungen stellen muss. Anna Kim verdeutlicht das schmerzhaft eindringlich in den Akten des Sozialdienstes der Erzdiözese Green Bay, die in drei Teilen die Nachforschungen dokumentieren. Briefe, Telefonate und Berichte, die schneidend präzise verdeutlichen, wie sehr Behörden und vor allem die österreichstämmige Sozialarbeiterin Marlene Winckler durchdrungen ist von völkischem Gedankengut, der Überzeugung, dass alle nichtweissen Menschen der weissen Rasse unterlegen sind. Die Passagen dieser Akten, die Sprache, die Art und Weise, wie über das Schicksal des kleinen Jungen verhandelt und verfügt wird, schmerzt und macht offensichtlich, wie tief das elitäre Bewusstsein institutionalisierte „Nächstenliebe“ dominiert.

Anna Kims Roman ist vielschichtig. Eine junge Wiener Autorin tritt ein Sommersemester als Writer in Residence in Wisconsin an und findet ein Zimmer bei einer älteren Frau. Die beiden Frauen kommen sich näher, bis die Vermieterin die Geschichte ihres dement gewordenen Ehemanns erzählt, eben jenes Jungen, der im Sommer 1954 zur Adoption freigegeben werden konnte. Eines Mannes, der ein Leben lang, selbst bei der Suche nach einem Pflegeplatz als an Demenz Erkrankter, Rassismus, ob offensichtlich oder latent, erleiden musste.

Anna Kim, in Südkorea geboren und in Deutschland und Österreich aufgewachsen, weiss, was es heisst, taxiert und schubladisiert zu werden. Anna Kims Roman ist keine Anklage, sondern eine Offenlegung ganz subtiler Mechanismen. „Geschichte eines Kindes“ ist die Geschichte aller Kinder, die nicht dort geboren werden, wo alle so aussehen wie das Kind selbst. „Geschichte eines Kindes“ ist die Geschichte jener Kinder, die nicht herbeigesehnt werden, die man weghaben will. Darüber, dass eine Schwangerschaft zu einem Verdammnis werden kann.

 
Anna Kim wurde 1977 in Südkorea geboren, zog 1979 mit ihrer Familie nach Deutschland und schliesslich weiter nach Wien, wo die Autorin heute lebt. Im Suhrkamp Verlag erschienen zuletzt die Romane «Anatomie einer Nacht» (2012) und «Die große Heimkehr» (2017). Für ihr erzählerisches und essayistisches Werk erhielt sie zahlreiche Stipendien und Preise, darunter den Literaturpreis der Europäischen Union.

Simon Strauss «zu zweit», Tropen

Er wacht auf. Gleich mehrfach. Das Haus steht im Wasser. Es regnet. Die Stadt, in der er seit Geburt lebt, ist von allen verlassen. Nur ihn scheint man vergessen zu haben. Simon Strauss Novelle „zu zweit“ ist ein Sprach- und Bildkunstwerk von betörender Schönheit.

Er verkauft Teppiche und Stoffe, führt das Geschäft seiner Eltern weiter, das aber seit dem Abtauchen seiner Mutter nur mehr schleppend läuft. Simon Strauss nennt seinen Protagonisten nur „Verkäufer“, weil ein Name nichts zur Sache tut. Weil „Verkaufen“ das ist, was den jungen Mann ausmacht, der sich lieber im Kabuff hinter seinem Laden vor dem Leben draussen auf der Strasse versteckt. Nicht dass er sich zurückgezogen hätte. Er war schon immer so. Als Kind oder als Schüler. Erst recht als sich nach der Pflichtschulzeit sein einziger „Freund“ in ein Studium absetzte und er mit aller Selbstverständlichkeit in das Geschäft seiner Eltern hineinwuchs. Erst recht, als sich seine Mutter völlig überraschend aus der Familie absetzte, obwohl die Zweckgemeinschaft zwischen Mutter und Vater schon immer etwas Unsicheres hatte. Schon als der Vater das Geschäft trotzig weiterführte, blieb die Kundschaft aus, weil man das Geschäft wegen der freundlichen Bedienung der Mutter betrat.

Seit dem Tod seines Vaters wohnt er nicht mehr in der Wohnung über dem Geschäft, sondern in einer kleinen Mansarde in der gleichen Stadt. Still für sich, reduziert auf sein kleines Leben zwischen Wohnung und Geschäft.

Bis zu jenem Morgen, an dem er alles verändert kaum wiederfindet. Alles im Wasser versinkt, noch immer Regen auf die Stadt niedergeht, aber er der einzige scheint, den man zurückgelassen hatte. Nicht mutwillig. Aber weil er es in seiner Sehnsucht nach Stille und Abgeschiedenheit schlicht versäumt hatte, wie alle anderen Bewohner der Stadt das Weite zu suchen. Der stille Teppichhändler, der Verkäufer macht sich auf den Weg durch das Haus, die Stadt, zum Fluss, durchs leere Land.

Simon Strauß «Zu zweit», Tropen, 2023, 160 Seiten, CHF 32.90, ISBN 978-3-608-50190-2

Der Verkäufer, dem vor der Flut nichts wichtiger war als die Gegenstände, die Ordnung in seinem Laden, hat sich längst angewöhnt, dass ihm die Dinge wichtiger sind als die Menschen, denen sie dienen sollten. Trägt man den Dingen Sorge, bleiben sie. Ganz anders als die Menschen. Auf sie ist kein Verlass. Das zeigten ihm eine Mutter, die mit einem Mal verschwand und ein Vater, der sich nach dem Verschwinden seiner Gattin immer mehr in sich zurückzog, hinter die Nähmaschine zu seinen Kreuzworträtseln. Bis auf die junge Frau, die ihn als letzte all der Vertreterinnen von Teppichen und Stoffen noch besuchte, die für einen kurzen Moment, ein paar Augenblicke lang etwas in den Laden zurückbrachte, was längst abgebrochen schien. Aber weil dem jungen Verkäufer wie stets in solchen Situationen die Worte fehlten, war die Vertreterin wie ein kurzes Auflodern eines Feuers, das er längst erloschen glaubte.

Der Teppichmann macht sich auf den Weg durch eine verlassene Welt. Aber weil er Zeit seines Lebens den Dingen mehr zugewandt war als den Menschen oder auch den Tieren, ist es ein Gang durch die Hinterlassenschaften. Er stört sich nicht an seiner Einsamkeit, mehr an seiner Verlassenheit. Die junge Frau in seinem Laden zeigte etwas, von dem ihn nicht nur sein Leben beschnitten hatte, mehr noch das, was über die Stadt, das Land hereingebrochen war und ihn zurückgelassen hatte.
Irgendwann steht er auf einer Brücke und lässt sich fallen. Aber statt ins Wasser zu fallen, landet er im Kleiderhaufen eines Flosses. Auf einem Floss mit einer jungen Frau. Einer künstlichen Insel mit eben jener Frau, die er verloren glaubte.

„zu zweit“ gibt sich dystopisch, endzeitlich, ist aber keine Dystopie. Die verlassene Landschaft in Simon Strauss Novelle ist die Kulisse eines Aufbruchs. Der Teppichmann, den seine Geschichte lehrte, sich nur noch auf seine Dinge zu verlassen, spürt mit einem Mal die Sehnsucht eines Gegenübers. „zu zweit“ ist eine Reise mit ungewissem Ziel. Spektakulär an der Novelle ist die Sprache, mit der Simon Strauss eben diese Dinge und ihre Arrangement zeichnet. Bilder mit einer ungeheuren Kraft. Eine Sprache, die einem während der Lektüre trunken macht. „zu zweit“ spielt mit den Zwischenräumen, nicht zuletzt mit den archetypischen Bildern von Träumen, der Welt des Unterbewussten. „zu zweit“ ist ein Tripp in eine beinahe entmenschte Welt.

Interview

«Ich glaube, wir sollten uns darauf einstellen, dass sich die Dinge ändern werden.»

„zu zweit“ will keine Dystopie sein, keine postapokalyptische Novelle. Auch kein Flutroman, kein Klimaroman. Es ist die Reise eines jungen Mannes aus seiner selbstgewählten Isolation. Ein Aufbruch mit offenem Ziel. Auch kein Überlebensabenteuer, denn der junge Mann scheint in seiner Situation keine Angst zu haben. Ihr Buch schrammt an sämtlichen Einordnungsversuchen vorbei. War das von Beginn weg Absicht, Programm?
Nein. Ich hatte zugegebenermassen kein Programm und auch fast keine Absicht. Ausser, dass ich möglichst etwas schreibe, das meinen inneren Bildern entspricht und sich nicht an der äusseren Aktualität orientiert. Entstanden ist das Buch aus Träumen, aus Bildfetzen und Phantasmen, die mich in der Nacht umgetrieben haben. «Abbruch mit offenem Ziel“ – das finde ich eine sehr gute Beschreibung, genau darum geht es, um den Moment, in dem auf einmal alles anders ist und die alte Ordnung mit dem neuen Augenblick ringt. Wie will man so etwas einordnen? Ich jedenfalls habe darauf bestanden, dass „zu zweit“ kein Roman ist. Dieses Mal – im Gegensatz zu „Sieben Nächte“ und „Römische Tage“ – aber eben auch kein autofiktionaler Text. Daher, als einziger Ordnungsversuch, die Gattungsbezeichnung: „Novelle“.

Jene schrulligen, eigenbrötlerischen Abgewandten haben in der Literatur eine lange Tradition. Spricht da vielleicht sogar ein kleiner Funke Sehnsucht des Schriftstellers, sich von der Welt „da draussen“ abzuwenden? Schon der Akt des Schreibens ist doch die Umkehrung aller Auseinandersetzung mit der Welt. Man blickt in eine Innenwelt, in sich hinein, ein Abbild aller Eindrücke der Realität?
In der Tat hat das Schreiben etwas zutiefst eigensinniges an sich. Also im wahrsten Sinne des Wortes. Es geht um die Schärfung der Wahrnehmung, um das genaue Gehör für den Ton, das Abstreifen aller möglichen Schutz- und Sympathieschilder. Alle Figuren, die ein Autor erschafft, haben etwas mit ihm selbst zu tun, denke ich. Und so steckt auch in dem Abgewandten etwas von mir als Mensch. Vielleicht mehr Sehnsucht als Tatsache, denn ich selbst bin ja mittendrin, umgeben von vielen, im Gespräch mit so manchem. Aber als Autor weiss ich, dass diese Welt des Aneinandervorbeiredens und Durchschauens nichts Bleibendes hat, dass all die Erfahrungen, die wir so machen, verpuffen wie Seifenblasen. Deshalb ist der Einzelgänger das ehrlichere Ego des Autors. In ihm kann er finden, was ihm selbst dem Augenschein nach fehlt: Die Einsamkeit. In diesem Sinne geht es in der Tat um Innenwelt, um das Gegenbild, die Umkehrung. 

Der Teppichmann entwickelt nach der ersten Begegnung mit der jungen Vertreterin eine fast obsessive Sehnsucht nach einer weiteren Begegnung mit jener Frau. Und ausgerechnet ihr begegnet er auf seiner „Reise“ durch eine verlassene Welt. Bei jedem anderen Buch wäre ein solcher Zufall unglaubwürdig. Aber weil es in Ihrer Novelle nicht um einen Bericht mit maximaler Glaubwürdigkeit geht, sondern um Bilder, Dinge, die Geschichten erzählen, ist ein solcher Zufall erstaunlich nebensächlich. War die Absicht Ihres Schreibens am Anfang die selbe wie jene mitten im Schreibprozess?
Es war ein sehr langwieriger und durchaus auch schmerzhafter Schreibprozess. Mein Lektor, Tom Müller, vom Tropen-Verlag hat mich auf dieser Reise als strenger Kapitän begleitet. Es gibt bestimmt fünf verschiedene Fassungen von „zu zweit“. Ich habe das Gefühl, dass sich der Text immer mehr verdichtet hat, immer klarer wurde, worauf die Konzentration liegt – eben genau auf dem, was Sie beschreiben: Den Bildern, den Geschichten der Dinge, dem Wunder der Begegnung. Ich glaube, für diesen Text spielt das Kriterium der Logik oder realistischen Nachvollziehbarkeit keine Rolle – es geht ihm ja genau darum, auf das Unwahrscheinliche, Staunenswerte, Zufällige von Begegnungen hinzuweisen. Wieviele Menschen umgeben uns räumlich jeden Tag und wir lernen nie eine oder einen von ihnen kennen. Das ist doch das eigentlich Ungeheuerliche unserer Existenz: Nicht dass wir sterben, sondern dass wir leben und so viel an uns vorbeigeht, ohne dass wir es bemerken. 

Der Protagonist hatte sich in seinem Leben angewöhnt, die Dinge kurz um Erlaubnis zu fragen, bevor er sie benutzt. Eine Angewohnheit, die unseren Umgang mit Dingen durchaus verändern könnte. Dass uns alles ungefragt zu dienen hat, könnte auch der Ursprung dessen sein, dass wir den Bezug zum Material, das wir brauchen, längst verloren haben. Steckt also doch etwas Anklagendes in Ihrem Buch?
Nein, nichts Anklagendes. Vielleicht eher eine Erinnerung daran, wieviel wir von dem, was uns angeblich Lebloses umgibt, profitieren. Die Vorstellung, dass all die Gegenstände und Naturstrukturen, mit denen wir leben nichts davon mitbekommen, was wir sind, denken, glauben und fühlen, ist doch absurd. Es muss sich in ihnen etwas sammeln und speichern von unserem Leben. Das tragen sie weiter. Und erzählen später einmal von uns. Ich stelle mir vor, dass die Dinge viel über uns reden. Nicht schlecht. Aber doch hin und wieder leicht verwundert – woran wir alles denken. Nur nicht an sie. Deshalb vielleicht die Erinnerung: „no ideas but in things“ (William Carlos Williams)

Katastrophenszenarien haben sowohl in der Literatur wie im Film eine lange Tradition. Ihr Protagonist scheint die eigentliche Katastrophe gar nicht so sehr wahrzunehmen. Es scheint eine menschliche Überlebenshilfe zu sein, Katastrophen relativieren zu können. Anders wäre es nicht erklärbar, dass wir unseren Alltag perfekt dem Schrecken der Gegenwart anpassen. Er sieht die Dinge, nicht das Woher und Warum. Selbst die Frage nach dem Wohin ist inexistent. Ist „zu zweit“ ein Spiegel der Zeit?
So wie Sie es beschreiben hat es tatsächlich etwas von einem Spiegel. Nicht das Woher und Warum und auch nicht das Wohin. Hauptsache das Jetzt. Das Hier. Das eigene Bild. Ich habe „zu zweit“ nicht als Spiegel unserer Zeit konzipiert, aber natürlich fliesst in jedes Schreiben das tägliche Sein und Fühlen mit ein. Und ich glaube eben, dass wir am Rand einer grossen Veränderung leben. Ich bin kein Adventist – und doch ahne ich, dass sich unser Lebenswandel, unsere Ordnung und unsere Vorstellungen noch einmal grundlegend ändern werden. Wie weit entfernt schien uns ein Krieg mit Panzern. Wie fiktional das Wegschwimmen ganzer Dörfer. Wie unvorstellbar eine Pandemie, die Milliarden Menschen bedroht. Ich glaube, wir sollten uns darauf einstellen, dass sich die Dinge ändern werden. Mit meinem Schreiben an „zu zweit» habe ich versucht, mir das selbst vorzuführen und einzuschärfen. 

Simon Strauss, geboren 1988, studierte Altertumswissenschaften und Geschichte in Basel, Poitiers und Cambridge. Er ist Mitgründer der Gruppe »Arbeit an Europa«. 2017 promovierte er an der Humboldt-Universität zu Berlin. Er lebt in Frankfurt und Berlin, ist Redakteur im Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Zuletzt erschienen von ihm «Sieben Nächte» (2017) und «Römische Tage» (2019).

Beitrgsbilder © Maximilian Goedecke photography

Theresia Enzensberger «Auf See», Hanser

Was bewirken übersteigerte Selbstwahrnehmung, überdurchschnittliche Intelligenz gekoppelt mit Charisma und finanzieller Potenz? Wann kippen Utopien und werden zu selbstzerstörerischen Mechanismen, die nicht mehr zu stoppen sind? Theresia Enzensberger schrieb mit „Zur See“ einen Roman, der sich mit Grenzüberschreitungen und eben jenen Mechanismen beschäftigt, die Utopien in ein Fiasko verwandeln. Eine überaus geistreiche Dystopie, die hart an der Realität geschrieben ist.

Kaum jemand zweifelt daran, wie nahe die Menschheit an jenen Punkt gekommen ist, an dem das globale Gleichgewicht unkorrigierbar ins Unbekannte kippt. Auch wenn es solche gibt, die glauben machen wollen, dass alles bei weitem noch nicht so dramatisch sei und andere sich in ihrer Verzweiflung an Strassen und Gemälde kleben, weil es nach ihrer Ansicht der einzige Weg ist, die gewünschte Dramatik zu erzeugen. Dass es in genau solchem Klima nicht weiter verwunderlich ist, dass man mit scheinbar neuen, utopischen Ideen und Konzepten eine Alternative schaffen will zu all den Sachzwängen, aus denen man nicht aussteigen zu können glaubt, ist nicht weiter verwunderlich. Und so wie Theresia Enzensberger in ihrem Roman schildert auch kein Phänomen der Gegenwart.

„Auf See“ spielt in nicht allzu ferner Zukunft. Nicholas Verney, zuerst an der Philosophie gescheitert, um später Wirtschaftswissenschaften zu studieren, baut selbst zu Geld gekommen zusammen mit einer Investorengruppe vor der Nordseeküste eine künstliche Seestadt. Ein in sich geschlossenes Refugium, bewohnt von WissenschaftlerInnen und PionierInnen, das sich ausserhalb eines bestehenden Staatsgefüges auf gesellschaftliches und wirtschaftliches Neuland wagen soll. Eine Utopie, die schnell an den Mechanismen von Machterhaltung und sektenähnlichen Strukturen scheitert. Was zu Beginn scheinbar gut durchdacht magnetische Wirkung erzeugt, durchaus der Meeresbrandung trotzt, beginnt an den menschlichen und technischen Wirklichkeiten auseinanderzubrechen.

Theresia Enzensberger «Auf See», Hanser, 2022, 272 Seiten, CHF 34.90, ISBN 978-3-446-27397-9

Dort, auf jener künstlichen Insel, die sich aus Trotz immer mehr dem Aussen verschliesst, wächst Yada auf, irgendwann das einzige Kind auf und in der Seestadt, die einzige Tochter jenes Mannes, der wie ein Sektenguru die bröckelnden Strukturen des künstlichen Eilandes zusammenhalten versucht. Permanent überwacht und im Glauben gelassen, der Rest der Welt wäre längst im Chaos untergegangen, abgeschottet und im Überlebenskampf trainiert, von MitstreiterInnen ihres Vaters unterrichtet und optimiert, glaubt sie nicht nur den Warnungen ihres Vaters, sondern auch den Geschichten um eine kranke Mutter, einer zerstörten Familie.

Bis Yada, die bald volljährig wird und die Risse in der Seestadt immer klarer zu deuten versteht, von der künstlichen Insel flieht und sich auf die Suche nach ihrer Mutter macht. Yada findet eine Welt, die zwar kaputt ist, aber mitnichten dem entspricht, was ihr ihr Vater an Szenarien vorbetete. Sie muss feststellen, dass nichts jenem Bild entspricht, das man ihr während ihres ganzen Lebens an die rissig gewordenen Wände ihres immer kleiner werdenden künstlichen Kosmos projizierte. 

„Auf See“ erzählt auch die Geschichte von Helena, Yadas Mutter, die einst fasziniert vom charismatischen Nicholas Verney, mit der Geburt von Yada eine Familie gründete, aber im Plan ihres Mannes immer weniger Platz bekam, bis sie vor der Entscheidung stand, mit auf die Insel zu kommen oder im Kampf um das Sorgerecht für die Tochter einer juristischen Übermacht ausgesetzt zu sein. Helena verliert ihre Familie, ihre Tochter. Sie stürzt sich in ihre Kunst, die Malerei und wird durch ein Kunstprojekt ungewollt zu einer Lichtgestalt für Menschen, die nach Visionen dürsten.

Ob die Welt ihres Vaters auf der künstlichen Insel oder die Welt ihrer Mutter mitten in der Kunst – beides sind Projektionsflächen für Menschen, die in ihrer verzweifelten Suche nach alternativen Lebensentwürfen zu allem entschlossen sind. Die Gegenwart, in der immer mehr Menschen ums nackte Überleben kämpfen und andere in der gleichen Krise grosse Kasse machen, in der sich selbst in der ersten Welt das Leben immer mehr auf der Strasse abspielt und sich eine Upperclass hinter Mauern und Panzerglas verstecken muss und ihren Erfolg mit feierlicher Selbstzufiedenheit zelebriert, erscheint ein Roman wie der von Theresia Enzensberger alles andere als dystopisch oder realitätsfremd. Theresia Enzensberger, die die Erzählstränge ihrer ProtagonistInnen geschickt mit den Aufzeichnungen aus Helenas Archivs mischt; Recherchen über „utopische“ Lebensentwürfe, „alternative“ (Über-) Lebensstrukturen bis hin zu jenen Geschichten, die Sekten, wie jene der Scientologen, weltumspannend einflussreich und mächtig machten.

„Auf See“ ist unsäglich spannend und faszinierend klug geschrieben. Ein Roman, der unter die Haut fährt!

Theresia Enzensberger wurde 1986 geboren, sie lebt in Berlin. Sie studierte Film und Filmwissenschaft am Bard College in New York und schreibt als freie Autorin unter anderem für F.A.Z., F.A.S., Monopol, ZEIT Online und DIE ZEIT. 2014 gründete sie das BLOCK Magazin, das 2016 bei den Lead Awards als bestes Newcomer-Magazin prämiert wurde. Bei Hanser erschien 2017 ihr erster Roman «Blaupause», der mit der Alfred-Döblin-Medaille ausgezeichnet wurde, sowie zuletzt ihr zweiter Roman «Auf See» (2022).

Beitragsbild © Rosanna Graf

Doris Konradi «Aber die Insel», Elsinor

Monte Sano, eine Insel weit draussen im Atlantik, ein einziges Hotel über einer Bucht, zu erreichen nur mit einer Fähre. Paula hat tief in die Tasche gegriffen, um dort hin zu kommen, möglichst weit weg von dem Schlamassel, aus dem sie sich zuhause nicht mehr zu winden wusste. Eine Reise, weit über die Grenzen hinaus.

Paula ist Richterin und nimmt sich eine Auszeit. Vielleicht auch ein bisschen mehr als eine Auszeit. Vielleicht auch nicht bloss eine Auszeit von alldem, was sie immer weniger frei atmen liess. Kurz bevor sie ihre Sachen packte, machte man ihr auch noch den Vorwurf, ihr fehle es an Empathie. Ausgerechnet. Und da war auch noch Henrik. In maximaler Distanz will sie ihre gebeutelte Seele baumeln lassen, die Sonne geniessen, ein Buch lesen, ein bisschen spazieren.

Das Hotel auf der Insel ist in die Jahre gekommen, obwohl man davon im Hotel selbst nichts merkt. Nicht einmal 40 Zimmer, ein ausgesuchtes Unterhaltungsprogramm, Gastronomie vom Feinsten, die Insel ein einziger Garten. Auf der anderen Seite der Insel soll sich eine Forschungsstation befinden, abgeriegelt, von der Hotelseite her nicht zu erreichen. Und weil das Hotel der einzige Grund ist, hierher zu kommen, bleibt der Steg in der Buch auch meistens leer. Aber Paula langweilt sich schnell. Mag sein, dass es an daran liegt, dass sie allein angereist ist, dass sie keine Lust verspürt, an den organisierten Geselligkeiten teilzunehmen, dass sie gar niemanden kennenlernen will, dass sie ihre Ruhe haben will. Zur Langeweile gesellt sich der Frust darüber, dass Paula genau spürt, dass die grösstmögliche Distanz nur ein dumpfer Versuch ist, etwas zurückzulassen, was man doch überall mit sich herumschleppt. Irgendwann fügt sie sich in den Hotelrhythmus, weil sie merkt, dass sie hier nicht finden wird, worauf sie hoffte. Ausser den wenigen Momenten in jener Bucht, etwas vom Hotel entfernt, im leisen Schauer einer undeutlichen Bedrohung.

Doris Konradi «Aber die Insel», Elsinor, 2022, 200 Seiten, CHF 29.90, ISBN 978-3-942788-69-4

Aber dann plötzlich überstürzen sich die Ereignisse. Paula versäumt die ausgemachte Fähre zurück aufs Festland. Weil ihr Zimmer bereits wieder vermietet ist, wird sie in eine leeren Personalzimmer einquartiert. Und als sie nach einer langen Nacht aufwacht, ist nicht nur das Fenster von einem eigenartigen Niederschlag trübe, sondern das ganze Hotel leer. Aus einem nicht beschlagenen Fenster sieht sie, dass kein Blatt geblieben ist, die ganze Insel von einer Art Schnee bedeckt, alle Bäume kahl und die Sonne nur durch einen Schleier sichtbar. Irgendetwas musste passiert sein. Man hatte das Hotel evakuiert – und sie vergessen.

Weil Paula annehmen muss, dass alles ausserhalb des Gebäudes lebensfeindlich geworden ist, bunkert sie sich ein, stets in der Hoffnung, irgendwann werde irgendwer auftauchen, um sie zurück in ihr Leben zu bringen. Aber niemand kommt. Nach Wochen ohne jeglichen Kontakt zur Aussenwelt macht sich Paula mit dem was an haltbarem Proviant übriggeblieben ist auf auf die andere Seite der Insel. Hin zu dieser Forschungsanstalt, 100 Kilometer quer durch ein totes Eiland, stets mit der Angst, sich mit zu vergiften. Ein Tripp, der mit schwindenden Vorräten zu einem Tripp in den flirrenden Wahrnehmungen zwischen Wahnsinn, Panik und Momenten glasklarer Einsichten wird. Und in ebenjener unwirklichen Umgebung begegnet sie den Geistern unmittelbar, vor denen sie mit ihrer Reise zu Beginn entfliehen wollte.

Doris Konradis Roman „Aber die Insel“ ist kein Abenteuerroman, und doch ist er einer. Ein Abenteuer einer Verwandlung. Paula beginnt sich mit sich selbst auseinanderzusetzen, ultimativ. „Aber die Insel“ ist keine Robinsonade, und doch ist er eine, eine Gestrandete, Ausgesetzte, Verlorene, Vergessene. „Aber die Insel“ ist auch kein Endzeit- oder Ökoroman, aber vielleicht doch. Paula erfährt nach und nach, was die Gründe für die Zerstörungen, das ausgelöschte Leben auf der Insel sein müssen. Paula wandelt sich zu einer anderen. In den Monaten auf der Insel ändert sich alles, am meisten in ihr selbst.

Ich nahm das Buch rein zufällig in die Hand, begann zu blättern und hätte es nach nicht einmal einer Seite auf die Seite gelegt. Aber ich blieb hängen, erstaunt, beeindruckt, verblüfft. Doris Konradis Roman ist sprachlich überzeugend ohne Irritation konstruiert, eine Reise in die Tiefe ohne störendes oder effekthaschendes Beigemüse. Ein Roman, der ein Wagnis beschreibt, ein Roman mutig geschrieben!

Interview

Inselgeschichten, in der Literatur oder im Film, haben eine lange Tradition und strahlen ungeheure Faszination aus. Nicht zuletzt darum, weil das Geschehen auf einen scheinbar überblickbaren Kleinkosmos reduziert wird. Was war die Initialzündung zum Schreiben dieses Romans? Eine „Inselerfahrung»?
Mehr als die Insel stand am Anfang des Schreibens das Urlaubshotel im Vordergrund. Ein Ort des Luxus‘, der in seinen Abläufen überall auf der Welt ähnlich ist. Sich etwas leisten, den Urlaub, eine Auszeit, das gute Leben in exotischer Umgebung, ist zu einem Credo unserer Lebensweise geworden. Viele haben diesen Wunsch, aber global betrachtet bringt uns diese Art zu denken in eine zunehmend ausweglosere Lage.

Eine junge Frau flieht vor ihrem Leben. Sie ist Richterin. Doch eigentlich eine Aufgabe, mit der man Ordnung in eine Schieflache bringen soll. Ausgerechnet sie, die sich in maximale Distanz zu ihrem bisherigen Leben zu bringen versuchte, kämpft sich auf einer Insel durch ein aus allen Fugen geratenes Gleichgewicht, quer durch eine Insel, auf der die Apokalypse einbrach, alles Leben ausgelöscht wurde. Sie begrenzen die Katastrophe auf eine Insel. Von einer Insel kann man sich retten. Von der Erde kaum. Wollten Sie ihrer Protagonisten die eine Chance nicht verwehren?
Es ist richtig, dass ich offene Enden mag, es gern dem Leser, der Leserin überlasse, welche Schlüsse gezogen werden. Das ist vielleicht die Hoffnung, ohne die ich selbst nicht leben möchte, die Hoffnung darauf, dass der Mensch grundsätzlich in der Lage ist, Lösungen zu finden. Inzwischen liegt mir eine endzeitliche Klimadystopie und Naturzerstörung zu nah an dem, was wir in der Realität erleben, um darüber zu schreiben. Über reale Politik mag ich oft gar nicht nachdenken, als Schriftstellerin brauche ich diese Hoffnung.

Viele Bilder aus Ihrem Roman sind archetypisch. Eine Inselidylle, ein Mensch kämpft sich allein durch die Katastrophe, allein in einem Hotel, die Welt im Würgegriff derer, die sich über die Ordnung der Natur hinwegsetzen… Ihr Roman ist eine Versuchsanordnung: Was passiert mit einem Individuum, wenn man aller Sicherheit beraubt wird. Das sind existenzielle Fragen. Fragen, die mit weltweiten Pandemien und Klimaängsten nachvollziehbar sind. Sind wir letztlich mit uns allein?
Es wird viel von individueller Freiheit gesprochen, dazu gehört auf der anderen Seite auch das Alleinsein. Doch oft fehlt der Mut, es für sich selbst zu bejahen und Verantwortung zu übernehmen. Meistens höre ich „die Politik“ muss etwas tun, „der Staat“ ist in der Pflicht. Hinter diesen Phrasen kann man sich als Individuum gut verstecken. Ich finde es wichtig, das Denken nicht zu begrenzen, was auch beinhaltet, sich seinen Ängsten auszusetzen und Sicherheit nicht als selbstverständlich anzusehen.

Schon als Zitat vor Ihrem Roman steht ein Satz von Wolfgang Herrndorf; „Als Gegensatz zur Zivilisation wird oft Barbarei genannt, doch ein passendes Wort wäre im Grunde Einsamkeit». Viele Menschen haben während der Pandemie erfahren, was Einsamkeit bedeutet. Wie nahe sie an der „Zivilisation» ist, wie schnell wir in Einsamkeit hineinfallen, auf eine Insel in uns selbst. Wir leben zwar in einer Welt, die so fleissig kommuniziert wie noch nie. Gleichzeitig vereinsamen Menschen mitten drin. Ihre Protagonistin erwacht gleich mehrfach. Was müssen wir tun, dass wir aufwachen?
Das Zitat von Wolfgang Herrndorf drückt viel von dem aus, was mir beim Schreiben des Romans durch den Kopf ging. Zivilisation bedeutet, in einem Regelsystem mit anderen zu leben. Meine Protagonistin erlebt, dass diese Regeln nicht mehr gelten in ihrer Situation. Sie ist dadurch gezwungen, die Welt mit anderen Augen zu sehen als bisher, was auch frühere Entscheidungen in Frage stellt. Das, was wir Zivilisation nennen, ist stark positiv konnotiert, hat aber auch hingeführt, wo wir heute stehen. Einen Schritt zurücktreten und wahrnehmen, was geschieht lohnt sich in jedem Fall.

Ein Strand, ein Hotel, Sonne, gutes Essen, ein perfektes Unterhaltungsangebot – so, wie sich die meisten den perfekten Urlaub vorstellen. Und dann implodiert das Geschehen. Nichts erinnert an die Hochglanzidylle. Aus der Idylle, dem Paradies wird eine Hölle. Ist „Schreiben» so wie das „Lesen» nicht auch ein Fluchtversuch?
Für mich ist Fiktion – und Kunst überhaupt – keine Flucht. In der Fiktion kann ich genau diesen Schritt zurücktreten und damit vielleicht die Dinge klarer sehen. Nicht umsonst bekämpfen Despoten immer die Kunst in all ihren Ausdrucksformen, so auch die Literatur. Denken wir nur an Afghanistan, mit welcher Macht Frauen das Lesen vorenthalten wird. Jede Kunst kann subversiv sein oder zum Nachdenken anregen. Vor allem aber vermittelt sie ein Gefühl für das, was ist oder was sein könnte. Für mich kondensiert sich in der Fiktion die Essenz des Lebens.

Doris Konradi (1961) lebt als freie Autorin in Köln. Nach ihrem Abschluss als Diplomvolkswirtin wandte sie sich der Arbeit in kulturellen Organisationen zu, bildete sich fort in Drehbuchschreiben, tanzte viele Jahre bei der Wigman-Schülerin Katharine Sehnert, lernte Cellospielen. Dem Schreiben widmete sie sich nach der Geburt ihrer zweiten Tochter. Die erste Kurzgeschichte «Freunde von Lula» gewann den 3. Preis beim Bettina-von-Arnim Wettbewerb 2003. Danach folgte ihr Debütroman «Fehlt denn jemand». Seit 2014 interdisziplinäre Projekte mit Künstler:innen aus verschiedenen Bereichen. Für ihre Arbeit erhielt Doris Konradi zahlreiche Auszeichnungen.

Beitragsbild © Malin Kundi