Ayelet Gundar-Goshen kümmert sich als Traumapsychologin um geschundene Seelen. Als Schriftstellerin erzählt sie von dem, was sich hinter den menschlichen Fassaden abspielt, wenn der Mensch sich dem nicht stellt, was nach traumatischen Erlebnissen Seele in Schmerz verwandelt. Und als israelische Schriftstellerin und Therapeutin sticht sie mitten in die eiternde Beule einer in sich geschlossenen Gesellschaft.
Schon erstaunlich, dass Ayelet Gundar-Goshen so ehrlich und ungeschönt ein Stück „Krankengeschichte“ ihres Landes erzählt, ohne dass man ihr deshalb bedrohlich nahe kommt. Was in Israel momentan geschieht ist zwar nicht die Kulisse des Romans, aber sehr wohl Teil der Geschichte. Die Unfähigkeit der israelischen Politik alles stets in hier und dort einzuteilen, die eigene Gesellschaft von der arabischen Welt abzukoppeln, sich im kollektiven Trauma aus jahrhundertelanger Verfolgung, Massenvernichtung und Emigration während der Nazizeit und globalem antisemitischen Aufflammen auf Abwehr, Einigelung in „präventive“ Gewalt einzuschiessen, lässt viele Israelit*innen und Juden zu Eingeschlossenen werden. Ein kollektiver Mix aus Angst, Misstrauen und Vorurteilen lähmt viele, am meisten jene, die in der Politik Macht nicht als Verantwortung sehen, auch für den Schwächeren, sondern in der Demonstration von Potenz.
Was Ayelet Gundar-Goshen in ihrem beklemmenden Roman erzählt, liest sich wie eine Analyse der geschundenen Seele Israels. Nur mit dem Unterschied, dass sich diese Seele nicht auf die Couche legen will, um in der Reflexion darüber, was sich in den Verwachsungen des Seelenlebens verheddert hat, verträgliche Lösungen zu finden.
Ayelet Gundar-Goshen «Ungebetene Gäste», Kein & Aber, 2025, aus demHebräischen von Ruth Achlama, 320 Seiten, CHF ca. 31.00, ISBN 978-3-0369-5063-1
Ein junges Paar, Naomi und Juval, leben mit ihrem kleinen Uri in einem mehrstöckigen Haus mitten in Tel Aviv. Während sich Naomi in ihrem Zuhause und auf Spaziergängen zum Spielplatz mit aller Liebe und Fürsorge um ihren kleinen Jungen kümmert, der noch immer von ihr gestillt wird, aber schon laufen kann, ordert Juval einen arabischen Handwerker, um in seiner Abwesenheit die Balkonbalustrade auszubessern. Eine Eingangszene im Buch, die symtomatisch zeigt, wie tief das Misstrauen vieler Israelis gegenüber Arabern sitzt. Man ist zwar auf ihre Arbeit angewiesen, aber mit ihnen alleine in einem Raum zu sein, wird zur Pein. Während der Handwerker kurz die Toilette benutzt und Naomi sich bereits eine Generalreinigung der Toilette vornimmt, macht sich der kleine Uri am Handwerkszeug zu schaffen und lässt einen Hammer über die Balkonbrüstung fallen. Der Hammer wird zum Auslöser einer Kette von Katastrophen. Der Hammer tötet einen jungen Mann auf der Strasse. Naomi schweigt über das, was auf sie zurückfallen könnte. Der arabische Handwerker wird verhaftet und eines terroristischen Verbrechens bezichtigt. Und weil Noemi drei Tage lang schweigt, sich trotz schlechtem Gewissen nicht durchringen kann, der Polizei die Wahrheit zu sagen, bringt sie für die Familie des unschuldig Verhafteten einen Stein ins Rollen, der alles mitzureissen droht.
Obwohl der Verhaftete dann doch freikommt und man Naomi in einem aufwändigen und kostspieligen Prozess von jeder Verantwortung freispricht, nimmt Juval eine lukrative Stelle in der nigerianischen Hauptstadt Lagos an. Die Flucht soll ein Neubeginn werden. Aber während sich Juval mehr und mehr in einer alten Liebesbeziehung verstrickt und Naomi sich nur in der abgeschotteten und bewachten Siedlung unter ihresgleichen bewegen kann, wird mehr und mehr deutlich, dass sich beide erst dann in ihrem Leben als Familie finden können, wenn sie sich dem stellen, was sie von innen und aussen bedroht, wenn sie den eigenen Ängsten entgegentreten, wenn sie bereit sind, nicht nur sich selbst und dem Partner gegenüber ehrlich zu sein, sondern der Realität um sie herum. Aber statt sich aufzutun, drohen sich die beiden mehr und mehr zu verlieren.
Ayelet Gundar-Goshens Roman fesselt ungemein, auch wenn die Spannung nicht im Kampf der Protagonist*innen mit sich selbst liegt, sondern wie es die Familie schafft aus den Verstrickungen von Lügen, Verdrängung und Ignoranz einen Ausweg zu finden, zurück zum Familienglück. Schon der Titel „Ungebetene Gäste“ lässt sich vieldeutig lesen! Für mich war die Handlung zu vielfädig. Ich hätte mir von der Psychologin Ayelet Gundar-Goshen mehr Nähe zu den Leidenden gewünscht, nicht zuletzt zu jenen, die in der Kette der Katastrophen die tatsächlichen Opfer sind. Nichts desto trotz ein spannendes, aufschlussreiches Lesevergnügen.
Ayelet Gundar-Goshen, geboren 1982, studierte Psychologie in Tel Aviv, später Film und Drehbuch in Jerusalem. Für ihre Kurzgeschichten, Drehbücher und Kurzfilme wurde sie bereits vielfach ausgezeichnet. Ihrem ersten Roman «Eine Nacht, Markowitz» (2013) wurde der renommierte Sapir-Preis für das beste Debüt Israels zugesprochen, 2015 folgte der Bestseller «Löwen wecken», für den, genauso wie für «Lügnerin» (2017), eine Filmadaption in Planung ist. Zuletzt erschien bei Kein & Aber «Wo der Wolf lauert» (2021). Ayelet Gundar-Goshen lebt in Tel Aviv.
Ruth Achlama, geboren 1945 in Quedlinburg, studierte Rechtswissenschaft in Heidelberg und Bibliothekswissenschaft in Jerusalem. Heute ist sie hauptberuflich als freie Übersetzerin tätig und lebt in Tel Aviv.
Martina Clavadetscher ist eine jener Autor*innen, die sich thematisch mit jedem Buch neu erfindet. In ihrem neusten Roman brennt sie ein Loch in die Gegenwart. Ein Loch in die Tiefen des Verdrängten, ein Loch in den Mief unter Oberflächen, ein Loch in die Selbstverständlichkeit.
Im Vorsatz des Romans steht ein Zitat des literarischen Grossmeisters helvetischer Literatur Friedrich Dürrenmatt: Die Welt ist grösser als ein Dorf: über den Wäldern stehen die Sterne. Nicht nur ein Zitat, sondern ein Patenspruch. Martina Clavadetschers Roman hat viel von Dürrenmatt’scher Dynamik. Man kann den Roman als einen clever konstruierten Kriminalroman lesen, wird doch schon auf den ersten Seiten ein Toter im Eis gefunden und ein schrulliger Beamter, den man für eine erste Beurteilung schnell an den Ort des Geschehens, mitten im zugefrorenen Ödwilersee, ordert, sitzt sonst in den Katakomben seines Polizeiarchivs. Man kann den Roman aber auch als Psychogramm einer im Untergrund schwelenden Gesinnung lesen, einer Mannschaft, der Geld und Macht Recht zu geben scheint, die fest daran glaubt, dass die Zukunft mit dem Totengeld der Vergangenheit zu kaufen ist. Oder als kümmerlichen Befreiungsversuch eines in Traditionen und Generationen gefangenen Schwächlings und seiner kontrollsüchtigen greisen Mutter, die den Schatz aus einer unrühmlichen Vergangenheit ins Trockene bringen will, um jeden Preis.
Martina Clavadetscher «Die Schrecken der anderen», C. H. Beck, 2026, 333 Seiten, CHF 34.00, ISBN 978-3-406-83698-5
Martina Clavadetscher baut nicht nur auf mehreren Ebenen eine Geschichte, sie inszeniert. Vielleicht spürt man hier die Theaterfrau, die genau weiss, wann es den Blick auf die Totale braucht und wann den Fokus auf Details. Schibig, den man aufs Eis des Ödwilersees schickt, nimmt die Spur auf, obwohl es in der Folge gar nicht seine Aufgabe wäre und die Polizei den Fall mit genügsamen Erklärungen vorschnell ad acta legt. Schibig verbeisst sich. Vielleicht auch wegen der Alten auf dem Campingplatz am Ufer, die ziemlich schnell klar macht, dass sie viel mehr weiss, als sie mit Bemerkungen preis gibt, dass da etwas schon lange auf kleiner Flamme kocht und ein ganz persönlicher Rachefeldzug Genugtuung will. Schibig und die Alte werden zu einem Duo, jeder vom andern gleichermassen angezogen wie verunsichert, beide sicher, dass unter dem Eis noch viel mehr verborgen ist als bloss ein einziger Toter.
Wenn Verbrechen wie hierzulande seit Jahrhunderten ununterbrochen und in Zeitlupe begangen werden, wenn der grosse Akt des Bösen sich in unzähligen kleinen, zögerlichen, ja geradezu nichtig erscheinenden Momenten vollzieht, dann wird die Menschheit getrost dabei zuschauen, ohne dahinter Schlimmes zu vermuten, ohne es zu sehen, was tatsächlich geschieht – es geschieht zwar vor aller Augen, aber niemand erkennt es als das, was es wirklich ist. Eine barbarische List.
Nicht weit vom Ödwilersee wohnt Kern mit seiner Frau Hanna. Kern ist Sohn eines Industriellen, der während des Weltkriegs mit Verbindungen zu den Nationalsozialisten zu Reichtum und Beziehungen gekommen war. Ein Imperium, das vom Glanz vergangener Zeiten lebt und das zu sterben droht, weil es Kern nicht gelingen will, seine Frau Hanna mit einem Stammhalter zu bestücken. Die Ehe ist längst erkaltet. Hanna sucht sich das Glück ausserhalb. Und über allem thront die Mutter Kerns. Über allem ganz wörtlich, denn sie haust in ihrem Zimmer unter dem Dach der Villa, greise und krank, betreut von immer und immer wieder wechseldem Pflegepersonal, weil die alte Frau nicht nur ein Drachen im Haus ist, sondern Wächterin über einen schlummernden Vulkan, der dereinst seine heisse Glut über dem ganzen Land ausspeien soll, um eine neue Ordnung zu erzwingen.
Dulden ist die scheinheiligste Form von Verbrechen.
Dass der Reichtum unseres Landes, die Konten unserer Banken noch immer mit dem Geld jener gefüllt sind, die während der Herrschaft Hitlers mit dem Leben bezahlen mussten, ist längst kein Geheimnis mehr. Trotzdem wird es allzu leicht vergessen. Schon allein mit der Tatsache, dass antisemitisches und nationalistisches Gedankengut kein Unding mehr zu sein scheint und die Krise im Nahen Osten Tür und Tor öffnet, um lange Moderndes in die Atmosphäre zu speien. Während und nach dem Tausendjährigen Reich und dem Schrecken eines Weltkrieges wurde unsäglich viel Reichtum in die Schweiz verschoben oder auf Konten, die einen ganz anderen Zweck signalisierten. Nicht nur, um Finanzkraft in Sicherheit zu bringen, sondern um all jenen eine Zukunft zu ermöglichen, die mit dem Ende des Naziregimes gezwungen waren unterzutauchen – oder noch viel schlimmer; darauf hofften, irgendwann wie Phönix aus der Asche zu steigen.
Martina Clavadetschers Roman „Die Schrecken der andern“ tarnt sich als Krimi, ist aber viel mehr. Nicht zuletzt eine scharf gezeichnete (manchmal wohl auch bewusst überzeichnete) Anlayse einer Welt unter der Postkartenidylle. Wir wissen, dass der Drache lauert, und dass kein Kissen reicht, um das Böse zu ersticken.
Martina Clavadetscher geboren 1979, ist Schriftstellerin und Dramatikerin. Nach ihrem Studium der Deutschen Literatur, Linguistik und Philosophie arbeitete sie für diverse deutschsprachige Theater, war für den Heidelberger Stückemarkt nominiert und zu den Autorentheatertagen Berlin 2020 eingeladen. Für ihren Roman «Die Erfindung des Ungehorsams» wurde sie 2021 mit dem Schweizer Buchpreis ausgezeichnet. Sie lebt in der Schweiz.
Eine Liebesgeschichte, nicht nur eine. Eine Abschiedsgeschichte, existenzielle Ängste, ein Toter und mit „Schweizweh“ ein Buchtitel, der all jene trigert, die sich an diesem Land und seinen „Eingeborenen“ reiben. Karin Antonia Mairitsch zeigt mit ihrem Debüt Sprachkraft, Mut und einen präzisen Blick auf den Nerv der Zeit.
Es mag ein Schachzug gewesen sein. Zumindest bei mir hätte er funktioniert: Eine gebürtige Österreicherin schreibt einen Roman mit dem Titel „Schweizweh“. Man muss nicht hergezogen sein, eingewandert oder als Flüchtling hier leben, um Schmerzen zu lokalisieren. Aber wenn eine Schriftstellerin, Künstlerin und Hochschulrektorin, die in Klagenfurt/Österreich zur Welt kam und schon lange in der Schweiz lebt und wirkt, mit 57 ihr literarisches Debüt schreibt und das Buch mit „Schweizweh“ betitelt, dann reizt mich das. Nicht weil ich eventuelle Kritik am Land und den Einheimischen nicht tolerieren würde, ganz im Gegenteil, sondern weil mich der differenzierte Blick von aussen interessiert. Denn Unterschiede zwischen Kärnten und der Schweiz gibt es unzweifelhaft. Ich bin seit über vier Jahrzehnten mit einer Kärntnerin verheiratet, die mit der Heirat ihre Heimat hinter sich gelassen hatte. 700 Kilometer Distanz – mit den Alpen dazwischen.
Aber „Schweizweh“ ist keine Anklage, keine Abrechnung. Es sind die Geschichten einer Handvoll Menschen, die in der durchorganisierten, dem Perfektionismus verschriebenen Land ihre Schmerzen lokalisieren, die nach ihrer Heimat, ihrer Zugehörigkeit fragen, die nicht zuletzt mit der Angst leben, aus einem leistungsorientierten System zu fallen.
Jonathan hat eine schwierige Zeit hinter sich. Er begleitete seine Frau bis in den Tod, vermisst sie, je mehr seine eigene Existenz ins Wanken gerät. Er verlor seinen Job mit dem Gefühl, von seinem Chef hinausgemoppt worden zu sein. Ein Job, den er mochte. Endlich eine Stelle, in der er Zukunft gesehen hätte. Eine Entlassung, die ihn zu tiefst verunsicherte, spürte er doch zu Beginn seiner Arbeit beiderseitige Sympathie – vielleicht sogar mehr. Und da gab es auch noch Hélène, die Frau, die nach dem Tod seiner ersten Frau in sein Leben getreten war. Die er mochte, aber wahrscheinlich nicht liebte. Eine Beziehung, die scheiterte. Und er ist gebürtiger Österreicher, glaubt, in sich einen etwas anderen Takt zu spüren, als jener, der in der Schweiz vorherrscht, kann das, was er an Heimatgefühlen in sich spürt, wenn er nur schon an seine Grossmutter denkt, nicht so einfach wegstecken. Jonathan braucht Distanz und nimmt sich eine Auszeit in der Türkei. Nicht um Ferien am Strand zu machen, sondern um sich klar zu werden, wohin es gehen sollte.
Karin Antonia Mairitsch «Schweizweh», Edition Meerauge, 2025, 256 Seiten, CHF 26.00, ISBN 978-3-7084-0684-8
Ausgerechnet in der Zeit, in der Jonathan in den Ort in der Türkei eintaucht, Beziehungen zu knüpfen beginnt, denn er spricht wegen einer ersten grossen Liebe leidlich türkisch, liegt eines Morgens ein toter Mann vor Jonathans Stammcafé. Polizei, Presse und alle, die dort wohnen, beginnen mit Spekulationen und weil die Polizei schnell einen Schuldigen lokalisieren muss und ein mögliches Täterprofil auf Jonathan zu passen scheint, gerät dieser in die Mühlen der türkischen Polizei, in einer Zeit, in der die Sicherheitsorgane des Landes eh schon in Alarmbereitschaft sind und sich vor ausländischer Einmischung fürchten. Jonathan landet in Untersuchungshaft, wochenlang ohne Kontakt zur Aussenwelt.
Gleichzeitig erzählt Karin Antonia Mairitsch von Sophie. Ihre Frau, ihre Lebenspartnerin liegt im Sterben. Sophie nimmt in kleinen und grossen Schritten Abschied von ihr, begleitet sie, in den letzten Tagen zusammen mit dem Bruder ihrer Frau. Sophie, die sich nicht nur mit dem langsamen Sterben ihrer Partnerin konfrontiert sieht, sondern auch mit einer Sinnsuche in dem, was sie bisher als ihre Berufung, ihren Beruf sah, in einem Zustand des Aufbruchs ohne zu wissen, wo all das hinführt, was jetzt eine andere Richtung nimmt. Ein Weg, den Sophie irgendwann zu Jonathan führt.
Was diesen Roman speziell macht, ist seine Sprache und seine Architekur. Da schreibt eine Künstlerin, die es in ihrer Tätigkeit als bildende Künstlerin gewohnt ist, ihr Denken in Worte zu fassen, sehr oft in unkonventionellen Bildern, Sichtweisen, die erstaunen. Aus keiner Schreibschule. Der chronologisch erzählte Roman lebt von schnellen Schritten, hüpft von Perspektive zu Perspektive, zeigt, wie grundverschieden Protagonisten ihr Leben lesen, Entscheidungen fällen. Manchmal sind Abschnitte nur einen Satz lang und dann blendet der Scheinwerfer wieder aus einer anderen Richtung, nie verwirrend, stets vielstimmig.
Karin Antonia Mairitsch ist ein beeindruckendes und kunstvolles Debüt gelungen, das viel Aufmerksamkeit verdienen würde!
Interview
Er wollte sich die Liebe von der Seele schreiben, heisst es von Jonathan. Das wollten auch Sie. Sie schreiben über Liebe, aber auch von den Bedrohungen der Liebe; dem Tod, dem Erkalten, dem drohenden Vergessen, der Hektik, der Selbstoptimierung… Und doch schwingen dermassen viele innige Schilderungen, Liebeserklärungen in Ihrem Buch. Sie schaffen es eindrücklich, ehrlich und ganz nah zu bleiben. Nichts wirkt abgedroschen. Liebe und Tod, die zwei grossen Themen der Literatur. Gab es Leitplanken, Grenzen, die Sie nicht überschreiten wollten?
Ja, es gab Grenzen. Solche, die ich nicht überschreiten wollte und solche, die uns die Sprache setzt. Erstere betrifft all die Qualitäten von Liebe, Beziehung und Begegnung, die genau nur der geliebten (oder befreundeten) Person zufliessen können. Sie sind unwiederbringlich und nicht teilbar mit Dritten; in einer Weise entgrenzt, die für Aussenstehende unzugänglich bleibt. So beständig wie sie flüchtig sind, so fest wie flüssig, so leise wie laut, so verhaftet in uns selbst wie in der anderen Person, so unbeschreiblich verlebendigt bleiben diese Qualitäten und erst recht ihre sprachliche Fassung bei den Liebenden (oder Befreundeten) – im Leben, und über das Irdische hinaus. Ein Versprechen, das sich die Liebenden gegeben haben, mehr noch: ein Band, das nicht durchschnitten wird.
Jene Grenzen, die uns die Sprache setzt, oder genauer: die mir die meine setzt, betreffen all jene Emotionen, die frau artikulieren möchte und doch nicht kann. Schmerz oder Trauer zum Beispiel. Sie lassen sich nicht einmal annähernd so in Worte kleiden, wie diese Empfindungen uns zu erschüttern vermögen. Liebe und Tod sind die grossen Themen der Literatur, weil sie sich ihrer sprachlichen Fassung im Grunde doch entziehen. Und so sehr wir uns mühen, so offen und ehrlich wir in uns hineingraben und wühlen, ringen um Worte und ihre Kraft, so werden wir am Ende nicht erschöpfend ausgedrückt haben, was die Liebe und der Tod in unseren Leben bewegt hat. Mit diesem Phänomen setze ich mich immerfort auseinander und schrieb 2020 in «Helmi Vent – Lab Inter Arts»: «Die Sprache ist fremdkörperlich. Sie ist niemals das Denken selbst. Und auch nicht das Fühlen. Sie ist der Versuch, mich dir mitzuteilen, dir mitzuteilen, was ich denke oder fühle oder bin oder tue. Und das beschreibend gibt sie ihr Bestes. Sie bleibt experimentell.» (Mairitsch 2020, S. D. 95)
Quelle: Mairitsch, Karin (2020): Helmi Vent – Lab Inter Arts. Einblicke in das Labor ‹Hätte Hätte Fahrradkette›. St. Gallen/Berlin: Vexer Verlag.
Liest man die Kapitelüberschriften, dann klingt es nach Lyrik, nach Poesie. Auch im Text gibt es Passagen, die an lyrische Prosa erinnern. Kam das gewollt oder war es Intuition?
Wenn ich vorhin von jenen Grenzen sprach, die durch die Herausforderung gesetzt sind, uns mittels Sprache hinlänglich auszudrücken, folgt entweder die (zuweilen durchaus hilflose) Schweigsamkeit oder eine Form der künstlerischen Artikulation, die sich jenseits des Anspruchs auf exakte Be-Zeichnung oder verbale Deutungshoheit oder narrative Vermessung und erzählerische Folgerichtigkeit auszudrücken vermag. Die Lyrik, die Poesie sind für mich jene künstlerisch-sprachlichen Ausdrucksformen, die uns «ermuntern, vom Wissen ins Gefühl zu kommen, um dort, im Gefühl, wissend zu werden» (vgl. Mairitsch 2020, S. D. 93). In diesem Sinne müssen sie nicht immer verstanden werden, sie sind offen gegenüber erzählerischen Möglichkeits- und Vorstellungsräumen und können sich weiten, bis sie verstanden sind.
Für mich ist dieser Zugang daher weder eine Frage des Willentlichen noch des Intuitiven. Es ist vielmehr der Versuch, den Raum zu weiten für das Mögliche, das Vorstellbare, das Unaussprechliche und Unbekannte in uns; ein Findungsfeld, das sich mit jedem Lesen neu konstituieren, neu erfinden und entfalten kann. Lyrik war im Übrigen mein erster Zugang zur Literatur und zum Schreiben. Ich kehre gerne in diese Beheimatung zurück: «mMan spricht, worin man gewachsen ist. Wir können nicht behaupten, in der Sprache erwachsen zu sein. Wir altern mit ihr und lernen noch. Bestenfalls sind wir in ihr beheimatet.» (Mairitsch 2020, S. D. 92)
Quelle: Mairitsch, Karin (2020): Helmi Vent – Lab Inter Arts. Einblicke in das Labor ‹Hätte Hätte Fahrradkette›. St. Gallen/Berlin: Vexer Verlag.
Es sind nicht so sehr die Personen, die im Vordergrund stehen, sondern die grossen Fragen des Lebens: Wohin geht mein Weg? Wo liegt meine Erfüllung? Wie wird Liebe? Was bleibt von ihr? Wie begegne ich dem Tod? Wie kann ich in meinem Herzen behalten, was Liebe ausmacht? War das Schreiben eine Selbstvergewisserung?
Ein Selbst muss sich nicht vergewissern – es ist. Und es ist viele. Weswegen mein Schreiben keine Selbstvergewisserung ist, sondern Da-Sein ist. In diesem Sinne eröffnet das Schreiben vielgestaltige Möglichkeiten, ein Leben und sein Vieles zu durch-leben.
Es greifen viele Themen ineinander. Manchmal scheint es, als würde ein Thema überhandnehmen, um sich dann wieder in den Hintergrund zu ziehen. Es hätte ein Kriminalroman werden können, ein Gefängnisroman, ein politischer Roman, ein Burnoutroman… Aber es ist in erster Linie ein Liebesroman – wenn auch weit weg von Üblichen, Lichtjahre weg vom Kitsch, aber mit grosser Empathie geschrieben. Drohte nie die Gefahr, die Übersicht zu verlieren? Können Sie etwas erzählen über den Schreibprozess?
In der Tat gab es Momente, in denen es herausfordernd war, die Übersicht zu behalten. Meistens, wenn eine neue Figur den Roman betrat und ich mich zunächst dieser Figur annähern musste, um ihr Da-Sein zu erkunden. Einer der irritierendsten Momente war sicherlich das Auftauchen der Leiche am Strand. Das kam früh, sehr überraschend und blieb lange rätselhaft – denn wenn ich eines nicht wollte, dann einen Kriminalroman schreiben. Schreibend durfte ich erfahren, dass die Verschränkung aller Protagonist:innen und deren Schicksale einen Angelpunkt – eben die Leiche am Strand – brauchte und dass das Erzählen zur Conditio sine qua non wird, um die Verbundenheit mit sich, der Welt und allen Menschen erfahrbar zu machen.
Womit ich verraten habe, dass ich, die ich normalerweise planvoll und konzeptionell gefestigt vorgehe, bei diesem Roman keinem durchgängigen Konzept folgte, das ich vorab zurechtgelegt und das die Charaktere wie auch die Handlungsstränge definiert hätte. Das Konzept erarbeitete ich zu einem späteren Zeitpunkt und kam bei der Einreichung zum Werkbeitrag der Zentralschweizer Literaturförderung zum Tragen1. Vielmehr begann das Schreiben unvorhergesehen, einzig gekoppelt an die Idee der Gleichzeitigkeit von Ereignissen und der Verbundenheit von allem und jedem, und endete erst mit dem Ende, das ebenso unvorhersehbar eintrat. Mein exploratives Schreiben ins scheinbar Ungewisse verstehe ich dennoch nicht primär als einen intuitiven Prozess. Es ist für mich eher die Erkundung dessen, was ist, das seine Denkform und sprachliche Ent-Äusserung noch sucht.
1 Das Manuskript »Schweizweh« wurde 2020 mit dem Werkbeitrag der Zentralschweizer Literaturförderung ausgezeichnet.
In der Architektur Ihres Romans wählten Sie eine recht eigenwillige Struktur: Chronologisch, aber immer wieder aus verschiedenen Perspektiven, so dass man Ansichten ganz unterschiedlich gespiegelt las. War diese Form schon von Beginn weg klar oder drängte sie sich während des Schreibens auf?
Diese Form war schnell, fast von Beginn an klar. Bei all der Gleichzeitigkeit von Ereignissen erhoffte ich mir mit der Chronologie eine gewisse Nachvollziehbarkeit. Durch die verschiedenen Perspektiven, Ansichten und Wahrnehmungen, ja, auch durch Wiederholungen und Neu-Kontextualisierungen entfaltet sich eine Vielschichtigkeit, die mir wichtig ist: Ein Leben hat viele Schichten, hat Wiederholungen, Umwege und Wendungen, die sich nicht so einfach preisgeben. Sie wollen durchschritten, oder in diesem Falle: entschieden werden.
Sie sind bildende Künstlerin. Wie weit half Ihnen Ihre künstlerische Arbeit sonst? Ist Schreiben nicht das lange, filigrane Malen auf eine Grossleinwand?
Mit dem künstlerischen Prozess und einem visuellen Ausdrucksrepertoire vertraut zu sein, hilft sehr: So, wie sich in meinem Œuvre seit jeher viele Werke mit Sprache, lyrischen Titeln und Textminiaturen finden1 und ich mit altmeisterlicher Schichtentechnik2, gestischer Abstraktion3 sowie gegenständlicher bzw. figürlicher Malerei und Zeichnung4 vertraut bin, so zeichne und male ich umgekehrt auch beim Schreiben in Schichten und Gesten, setze Striche, lasse Weissraum und trage dramatisch pastos zuweilen sanft transparent auf. Insofern würde ich mich selbst nicht als «bildende Künstlerin» oder «Autorin» bezeichnen, denn ich bin beides und einiges mehr – doch mit der bildenden Kunst auch schreibend und mit dem Schreiben auch zeichnend und malend.
Interessant sind die prozessualen Parallelitäten:
Erst wenn der Titel (des Werks, der Ausstellung, des Buches) bekannt ist, beginnt das visuelle Gestalten bzw. das Schreiben.
Die weisse Fläche zu Beginn ist stets eine Hürde, die einfühlende Überwindung braucht.
Der erste Pinselhieb, der erste Strich, der erste Satz sind ent-scheidend und be-stimmend für das Ganze und Folgende. Sollte sich zu einem späteren Zeitpunkt herausstellen, dass diese ersten «Gehversuche» nicht passen oder nicht stimmig sind, wird radikal verworfen und der Papierkorb (ein wichtiges Werkzeug im Künstlerischen!) bemüht.
Wenn es zum künstlerischen Vorhaben ein Konzept gibt, dann rudimentär und ergebnisoffen.
Der Prozess lebt von Verwerfungen, Umwegen, Unvorhergesehenem und Überraschungen. Letztlich werden es diese Ereignisse sein, die den Prozess beleben und den Spannungsbogen erzeugen.
Denken (im Sinne von Zurücktreten, Analysieren und Bewerten, im Sinne von Vordenken und Entwerfen) und nicht-denkend Tun wechseln einander ab.
Das Ende (der Erzählung, des Werks, etc.) ist eine bewusste Ent-Scheidung.
Karin Antonia Mairitsch, geboren 1968 in Klagenfurt, Studium der Malerei an der Akademie der bildenden Künste in Wien, Promotion an der Kunstuniversität Linz, ist bildende Künstlerin, Gestalterin, Kuratorin, Dozentin, Autorin sowie Herausgeberin einiger Fachbücher im Bereich Medien, Gesellschaft und Kunst. «Schweizweh» ist ihr Romandebüt. Karin Mairitsch kann auf eine rege internationale Ausstellungs- und Performancetätigkeit zurückblicken. 2020 etwa hat sie das Mehrjahresprojekt l21 kuratiert. 2019/2020 wurde sie mit dem Werkbeitrag der Zentralschweizer Literaturförderung und 2020 mit einer Nominierung für den Luzerner Werkbeitrag in der Sparte Freie Kunst ausgezeichnet.
Auch die letzten noch intakten Gegenden unseres Planeten drohen im Sog wirtschaftlicher Interessen zu kippen. Am „Ende der Welt“ forscht eine kleine Gruppe, ob mit dem Einsatz künstlicher Stoffe den Veränderungen von Klimawandel und Wirtschaftinteressen entgegnet werden kann. Der Debütroman von Sophia Klink ist ein Sprachkunstwerk – für einmal etwas, das der Welt nur gut tun kann!
Der Kurilensee, ein riesiger Kratersee, 77 km2 gross, liegt ganz im Süden der dünn besiedelten Halbinsel Kamtschatka, auf russischem Staatsgebiet, aber 6773 Kilometer von der Hauptstadt Moskau entfernt. Wenn es also einen Ort gibt, der weit ab vom Schuss ist, und normalerweise nur mit Helikopter erreichbar, dann der Kurilensse, an dem eine Forschungsstation liegt, in der eine kleine internationale Crew sich mit den Auswirkungen des Klimawandels beschäftigt, vor allem darum, weil der See wirtschaftlich eine grosse Bedeutung für die Lachsfischerei hat, einem Wirtschaftszweig, der mehr und mehr in Bedrängnis kommt, weil natürliche Lachspopulationen rückgängig sind, der Überfischung ausgesetzt und die Tiere empfindlichst gestresst auf die Einwirkungen des Menschen reagieren. Ein kleiner, von einem Zaun gegen Bären geschützer Ort, an dem die Protagonistin Anna das drohende Ungleichgewicht zwischen Lachsen und Phytoplankton, zum Beispiel Kieselalgen, untersucht, Lachsfische vor der Laichablage zählt und Teil einer Equipe von Wissenschaftler*innen und Rangern ist. Zur Gruppe gehört Vowa, ein Ranger, der jeden Bären an seinem Fell zu kennen scheint, mit dem Anna schon im sechsten Jahr den Sommer über in der Forschungsstation lebt.
Anna und Vowa sind ein Paar, was für die anderen in der Station längst kein Geheimnis mehr ist. So wie wenig ein Geheimnis bleibt an einem Ort, von dem man ohne Gewehr, Boot oder Hubschrauber kaum weiter weg kommt. Jeder in der Station hat seine fixe Aufgabe und als Ganzes hat man in diesem Sommer die Aufgabe, wissenschaftliche Grundlagen dafür zu schaffen, ob man mit einer Phosphatdüngung das aus dem Gleichgewicht kippende Ökosystems des Lachssees aufhalten kann, oder ob der Einsatz von 5 Tonnen künstlicher Düngung nicht der Anfang vom Ende ist, ein nicht wieder gut zu machender Eingriff mit nicht vorhersehbaren Konsequenzen. Die Crew auf der Station ist nicht nur auf den Lebensmittel- und Materialnachschub per Helikopter angewiesen, sondern auch auf die finanziellen Mittel derer, die daran interessiert sind, dass wirtschaftliche Interessen wissenschaftlich abgestützt sind.
Wir könnten einfach alle Daten auflisten und ganz ehrlich eingestehen, dass wir keine Ahnung haben, was das Beste für den Kurilskoye ist.
Sophia Klink «Kurilensee», FVA, 2025, 240 Seiten, CHF ca. 35.90, ISBN 978-3-627-00330-2
Anna ist nicht nur fasziniert von der Artenvielfalt in und um den See, sie ist auch erfüllt von ihrer Arbeit, sieht in den Kleinstlebewesen im See nicht nur einen Forschungsgegenstand, sondern eine Spiegelung der Natur, ihrer Schönheit, ihrer Vollendung als Teil der Evolution. Aber so wie das ökologische Gleichgewicht dieses Sees weitab von der Zivilisation bedroht ist, so bedroht ist die Station selbst. Nicht nur weil jeder Winter an den Bauten nagt, Bären sich immer wieder einmal an den Einrichtungen zu schaffen machen und auch den Bewohnern bedrohlich nahe kommen können, sondern weil man der Station auch ganz leicht über die Finanzen die Nabelschnur zur Zivilisation kappen kann. Eine permanente Ungewissheit, die zusammen mit der zu treffenden Entscheidung wegen der Düngung mehr und mehr zu einer Belastung wird. Trifft man die richtigen Entscheidungen? Wohin führt Annas Weg? Wohin soll es gehen mit Anna und Vowa? Als Anna spürt, dass auch ihre Gesundheit Kapriolen schlägt, weitet sie ihre Untersuchung aus auf den eigenen Körper, misst die Temperatur. Ist sie schwanger, obwohl die beiden mit Gummi verhüten?
Werfe nie einen gestressten Fisch zurück ins Wasser, sagt Vowa.
Alles an diesem menschenfeindlich scheinenden Ort schreit nach einer Entscheidung, bevor die Crew die Station im September für den Winter wieder verlassen wird. Was an Sophia Klinks Debüt fasziniert, ist aber weit mehr als die Geschichte und die Psychologie unter Wisschenschaftler*innen und Rangern. Sophia Klink hängt die Spannung auch an keinen Showdown, kein Psychodrama auf der Forschungsanlage. Absolut faszinierend ist der Blick der Autorin auf die Natur, ihr Tun, auf die Zusammenhänge, die mir als Leser über weite Strecken verborgen bleiben. Sophia Klink ist nicht einfach Schriftstellerin, die sich mit sorgfältiger Recherchearbeit das nötige Wissen holte, um einen „Ökoroman“ zu schreiben. Sophia Klink ist promovierte Biologin und erzählt von ihren eigenen Erfahrungen in einer Sprache, die ihre Liebe, ihre Faszination und ihre Ehrfurcht vor der Natur und ihren Zusammenhängen widerspiegelt. Und weil Sophia Klink „nebenbei“ auch noch preisgekrönte Lyrikerin ist, wird ihre Sprache zu einem magischen Instrument, schillernd, ohne abgehoben zu wirken, schön wie Kieselalgen selbst.
„Kurilensse“ ist ein Roman wie der grosse, weite See selbst; tief und voller Zauber!
Interview
Was für ein Roman! Ich bin hell begeistert! Habe das Gefühl, einem Unikat begegnet zu sein. Ein Unikat darum, weil sie in ihrer ganz eigenen Sprache ihrem Stoff begegnen, aus Sicht einer Wissenschaftlerin literarisch schreiben. Was sie wissenschaftlich vermitteln, bleibt selbst für Laien wie mich verständlich. Gekoppelt mit ihrer Begeisterung in ihrer Sicht auf die Schönheit der Natur und ihrem sprachlichen Können werden aus ganzen Abschnitten literarische „Nahaufnahmen“, Stilleben ganz eigener Art. Wissenschaftliches Schreiben klingt sonst so ganz anders, eine eigene, analytische Sprache. Inwieweit half ihnen bei der Findung einer eigenen Sprache ihr lyrisches Gespür?
Das war ein längerer Prozess über viele Texte hinweg. Ich schreibe ja seit Jahren literarisch über Natur und Wissenschaft und habe viel herumexperimentiert, welche sprachliche Form zu welchem Inhalt passt. Dem Klang nachzuspüren, ist mir dabei sehr wichtig. In der naturwissenschaftlichen Sprache liegt schon an sich so viel poetisches Potential. Es erzeugt aber auch eine Reibung, die ich ästhetisch spannend finde. Diesen Kontrast herauszuarbeiten, hat mich in diesem Roman besonders interessiert. Als ich angefangen habe zu schreiben, hat sich die Sprache dann schönerweise wie von selbst eingestellt. Da musste ich gar nicht mehr lange suchen. Die Sprache stellte sich einfach ein.
Wie leicht wäre es gewesen, die Story dramatisch aufzublasen; noch mehr Countdown in die Handlung, eine dramatische Liebesgeschichte oder ein fatales Psychospiel in einer abgelegenen Forschungsstation. Aber darum ging es ihnen nicht. Es ging ihnen nicht einmal darum, einen „Ökoroman“ zu schreiben, auch wenn es doch einer ist. Aus ihrem ganzen Roman spricht der Respekt, die Ehrfurcht und die Sorge um eine Welt, die durch die Eingriffe des Menschen aus dem Gleichgewicht gebracht wird. Die Liebe zu ihrer Arbeit, sowohl als Biologin, als Wissenschaftlerin wie auch als Sprachgestalterin, als Künstlerin. Was stand zu Beginn ihres Schreibens an diesem Roman? Waren es Verarbeitungen eines eigenen Forschungseinsatzes? Und wie weit mussten sie sich als Wissenschaftlerin zügeln?
Inspiriert haben mich auf jeden Fall meine eigenen Forschungserlebnisse. Im Masterstudium bin ich auf einer meeresbiologischen Station im nordwestlichen Russland gewesen und wusste schon damals, dass ich über diesen Ort schreiben muss. Mich hat beim Schreiben eine Sehnsucht angetrieben und die Trauer darüber, dass es diese unberührte Wildnis irgendwann nicht mehr geben wird. Dass ich auf den Kurilensee gestossen bin, war ein Glücksfall. Dadurch konnte ich viel übertragen, ohne meine eigenen Erinnerungen überschreiben zu müssen. Und natürlich war ich neugierig auf dieses andere Ökosystem, das mir gleichzeitig fremd und bekannt vorkam. Zügeln musste ich mich als Wissenschaftlerin dabei gar nicht so sehr. Es gibt so viele Details über Kieselalgen, Lachse und den menschlichen Körper, die ich liebend gerne im Roman angesprochen hätte. Aber natürlich versuche ich beim Recherchieren jenen Informationen nachzuspüren, die sich mit den Gefühlen meiner Protagonistin Anna verknüpfen lassen. Für mich sind es doch zwei sehr unterschiedliche Modi, Informationen für ein Paper konzise darzustellen oder sie auf eine Emotion hin zu befragen. Allein aus Fakten lässt sich keine Geschichte entwickeln. Zellen und Moleküle müssen auch erst mal so beschrieben werden, dass man sie sich vorstellen kann. Das geht in vielen Fällen einfach nicht auf. Ich freue mich eher, wie viele Proteine, Wasserstoffbrückenbindungen und Dinoflagellaten es am Ende doch in den Roman geschafft haben.
Man kann den Kurilensee sehr gut auch als Metapher für das globale Gleichgewicht sehen. Ist Literatur so etwas wie die verbliebene Hoffnung angesichts der im düster werdenden Prognosen?
Ich hoffe schon, dass Literatur einen kleinen Anstoss geben kann. Wo sollen wir anfangen, eine bessere Welt zu imaginieren, wenn nicht in der Sprache? Ich verstehe die Literatur als Mittel, immer wieder unsere Perspektive zu verschieben und uns emotional für andere Lebenswirklichkeiten zu öffnen. Auch mal den Blick auf winzige Kieselalgen und unsichtbare Stoffwechselprozesse zu richten, die wir sonst nicht wahrnehmen. Ich finde, dass Literatur da nachhaltig unseren Blick auf die Welt verändern kann. Geschichten haben eben eine ganz andere Kraft als Zahlen. Und sie können trösten, wenn die Prognosen immer düsterer werden.
Ich habe mir im Netz Bilder und Illustrationen von Kieselalgen angesehen und bin restlos fasziniert, sei es von ihrer Geometrie, ihrer Körperlichkeit, sei es von ihrer Aufgabe, ihrem Dasein. Es ist der faszinierte Blick in die Kleinheit, der auf das Grosse überschlägt. Ihre Begeisterung, die in ihren Beschreibungen lesbar wird, ist pure Verzückung. Auf der andern Seite der Schmerz darüber, dass Profitgier und kurzfristiges Denken so viel Zerstörung mit sich ziehen. Sie moralisieren in ihrem Roman nicht. Anna hat die Hoffnung nicht verloren. „Kurilensee“ ist auch eine Liebesgeschichte. Eine ganz zarte. Auch eine Liebesgeschichte an die Natur, ihre Arbeit als Wissenschaftlerin, an die Sprache. Wo holen sie den Dünger, um ihre Hoffnung nicht sterben zu sehen?
Vielleicht ist die Wissenschaft auch hier ein wichtiger Anker für mich. Wenn ich mich mit Kieselalgen, Pilzen und Bakterien beschäftige, verliert die winzige Gruppe der Trockennasenprimaten ganz schnell an Bedeutung. Mir diese Dimensionen immer wieder vorzustellen, was wir alles nicht verstehen oder kontrollieren können, daraus ziehe ich persönlich viel Zuversicht. Dass es Lebensformen gibt, die unsere Zerstörungswut überdauern werden. Der Ohnmacht zu verfallen, hilft auch einfach nicht. Anna entscheidet sich schliesslich auch dafür, an das Schöne zu glauben und in eine neue Generation zu investieren, der man diese Liebe mitgeben muss, um die Zukunft besser zu machen.
Nicht vor den Bären oder dunklen Nächten habe ich Angst, sondern vor den Menschen, die glauben, alles unter Kontrolle zu haben, schreiben sie in „Kurilensee“. Das gilt überall, auch in der Politik, denken wir nur an all die Männer, die der Überzeugung sind, ihre Macht mit Kriegen demonstrieren zu müssen. Hat nicht die Spezies Mensch versagt, weil sie den Profit über die Empathie stellt? Sie moralisieren nicht, zumindest spüre ich das nicht. Wie sehr mussten sie sich davor hüten?
Mir ist wichtig, dass die Moral meiner Texte subtil mitschwingt. Meine Kritik an Überfischung, Geldgier und blindem Anthropozentrismus wird hoffentlich auch so deutlich. Es hat sich richtig angefühlt, gerade die Ambivalenzen in der Schwebe zu halten und auch zu zeigen, wie Anna letztendlich bei der Manipulation des Sees dabei ist. Bis zum Schluss weisss sie eben nicht, was richtig oder falsch ist. Aber sie will sich nicht ihrer Verantwortung entziehen, sondern sich der ganzen Tragweite ihres Verhaltens bewusst sein und genau hinsehen.
Lyrik vom Feinsten: Sophia Klink «Ich lösche die Kirschen aus meinen Genen», hochroth Verlag, 2025, 54 Seiten, ISBN 978-3-949850-62-2
Sophia Klink, geb. 1993 in München, hat Biologie studiert und promoviert zurzeit über die Symbiose zwischen Bakterien und Pflanzen. Sie wurde mit dem Literaturstipendium München und dem Wolfgang-Weyrauch-Förderpreis beim Literarischen März ausgezeichnet und mit Stipendien des British Council und der Stiftung Kunst und Natur gefördert. Sie war Finalistin beim open mike, Aufenthaltsstipendiatin der Roger Willemsen Stiftung, des Adalbert Stifter Vereins und der Villa Sarkia in Finnland. Im Frühjahr 2025 erschien ihr Lyrikdebüt bei hochroth München. Durch einen Forschungsaufenthalt am Weissen Meer in Russland zu ihrem Roman »Kurilensee« inspiriert, stand sie mit einem Auszug daraus auf der Shortlist des W.-G.-Sebald-Preises.
Gabrielle Alioth lebt und schreibt seit Jahrzehnten an der Ostküste Irlands. Die Insel, ein Sehnsuchtsort vieler, spielt einmal mehr die Hauptrolle in einem ihrer Bücher – diesmal in einer düsteren Perspektive, schonungslos und und ungeheuer stimmungsvoll. „Die letzte Insel“, ein Roman über das Ende.
Immer mehr Menschen erfahren die Konsequenzen dessen, was unverantwortliche Vergangenheit und Gegenwart anrichten. Seien es Dürren und Sturzfluten dort, wo man in der Vergangenheit niemals in der Intensität damit rechnen musste, Städte, die im Smog ersticken, Trockenheiten, die infernale Brände auslösen oder Altlasten aus der Vergangenheit, die uns in Gegenwart und Zukunft tödlich bedrohen; Abfälle, die in Fässern im Meer versenkt wurden, bis hin zu radioaktivem Material, Phosphor, das aus Bomben ausgestandener Kriege austritt und an die Strände gespült wird, um sich in Verbindung mit Sauerstoff unkontrolliert zu entzünden oder der steigende Meeresspiegel, der ganze Landstriche und Inseln unbewohnbar macht und letztlich noch mehr Menschen dazu zwingen wird, ihre Zukunft an einem scheinbar sicheren Ort zu suchen.
Warum ein Buch lesen, das einem weder schont noch einen Ausweg bietet, das ungeschönt schildert, was passieren wird, wenn die Mehrheit nicht zu einem Richtungswechsel bereit ist. Ist „Die letzte Insel“ ein moralisches Manifest zur Umkehr? Nein. Aber Gabrielle Alioth ist eine Schriftstellerin, die genau hinschaut, sich den Tatsachen nicht verschliesst, auch wenn die Fotografien, die sie dann und wann ins Netz stellt, glauben machen, sie lebe im Paradies. Noch ist es das. Aber es gibt wohl keinen Ort mehr, an dem nicht festgestellt werden muss, dass er auf die eine oder andere Weise, ganz direkt oder indirekt, von den Auswirkungen klimatischer oder umweltbelastender Veränderungen betroffen ist. Auch wenn politische Strippenzieher strategisch darüber hinwegsehen wollen.
Gabrielle Alioth «Die letzte Insel», Lenos, 2025, 229 Seiten, CHF 29.00, ISBN 978-3-03925-045-5
„Die letzte Insel“ erzählt von den Konsequenzen. Gabrielle Alioth spinnt weiter, was sie als aufmerksame Beobachterin nicht nur in ihrer Umgebung, sondern überall feststellen muss. Ihr Roman, der in naher Zukunft angesiedelt ist, ist weder realitätsfremder Sience-Fiction noch übertrieben dunkle Dystopie. In zwei Handlungssträngen erzählt die Autorin von Menschen, die im Leben an einen Punkt gekommen sind, an dem sie nur noch hinnehmen können, was übrig geblieben ist. Von zwei Menschen, die nicht nur in ihrem eigenen Leben, sondern auch in einer scheinbar freien Gesellschaft, im Traum von Glück an einen Endpunkt gekommen sind.
Im Nachhinein wurde Vieles zum Zeichen.
Holm ist Biologe und hat sich auf eine kleine Insel absetzen lassen. Nicht um Neues zu erforschen, sondern um das festzuhalten, was in absehbarer Zukunft durch den steigenden Meeresspiegel verschwinden wird. Völlig überrascht findet er dort eine kleine Gruppe Verbliebener, die Letzten, die trotz allem ausharren; eine kleine Gruppe Mönche. Nach einem nassen Einstand und dem Verlust eines Teils seiner Ausrüstung beginnt Holm seine Streifzüge auf der rauen, baumlosen Insel, einem Eiland, auf dem ihm sehr schnell bewusst wird, wie verloren er wäre, gäbe es die Männer in den Kutten nicht. Holm hat sich von einem totalitären System der Kontrolle und staatlich geführten Wissenschaft abgesetzt. Sein Wirken auf der Insel ist ein letztes Aufbäumen, sein letzter Kampf gegen die Resignation.
Zweite Protagonistin ist eine Schriftstellerin, die alleine und zurückgezogen mit ihrem Hund in einem Haus unweit der Küste lebt. Sie blickt von ihrem Schreibzimmer auf das, was vom grossen Garten übrig beglieben ist. Nicht enden wollende Regenfälle verursachten eine Sturzflut, überfluteten das Haus und rissen Teile des Gartens weg. Mit ihm ihren Mann Alexander. Sie trauert. Nicht nur über den Tod ihres Mannes und das Bewusstsein, wie schnell alles zu Ende sein kann. Sie trauert auch darum, in ihrem Leben nicht mit offenen Karten gespielt zu haben, um all das unrettbar Versäumte.
Beide, die Ich-Erzählerin und der Forscher, erinnern sich, lauschen den Stimmen, die sie heimsuchen, den Lieben, von denen sie lassen mussten. Beide klammern sich an das, was geblieben ist, was sie am Leben hält.
„Die letzte Insel“ ist ein leidenschaftlich erzählter Roman über das Enden. Aber nicht die Trauer darüber steht im Vordergrund, sondern die Liebe zur Natur, zu Pflanzen und Tieren, zum Wind, zum Regen und den Momenten grösster Vertrautheit mit dem, was die beiden Protagonisten und die Schriftstellerin selbst umgibt. „Die letzte Insel“ ist eine Liebeserklärung an das Leben, selbst dann, wenn nur noch wenig davon übrig bleibt, wenn man sich der Endlichkeit bewusst ist. „Die letzte Insel“ beschreibt nicht nur eine geographisch nachvollziehbare Kulisse (Gabrielle Alioth verriet mir, dass es für die Insel eine „Vorlage“ gibt: Inish Meain), sondern das, was an Erinnerungen bleibt, jene Insel, die bleibt, wenn alles andere untergeht. Vor allem die Erinnerungen an die Momente grössten Glücks, der Liebe, des Geborgenseins.
Interview
Wir leben alle auf einer Insel. Wenn ich im Sommer im Süden der Schweiz, im Tessin, zwei Wochen Ferien mache, dann bin ich auf einer Insel, die mich glauben lässt, noch wäre alles in Ordnung. Noch mehr, weil die Schweiz selber eine Insel ist, politisch und wirtschaftlich, wenn auch immer mehr in Bedrängnis. Du pendelst zwischen Irland und der Schweiz, hast im Gegensatz zu vielen Schweizer*innen den Blick von Aussen. Was beschäftigt dich am meisten als „Auslandschweizerin“?
Die Insel ist eine dankbare Metapher für unser Dasein, die Beschränktheit unserer Wahrnehmung, das Leben in einer wie auch immer gearteten „Blase» und vielleicht auch für unsere Sehnsucht nach einer Rückkehr ins Paradies.
Irland und die Schweiz haben sich in ihrer „Inselhaftigkeit“ in den letzten vierzig Jahren angenähert. Beide sind europäischer geworden, wobei Irland ein viel dynamischeres Land bleibt. Als Auslandschweizerin staune ich oft über die – teilweise durch den Föderalismus bedingte – Langsamkeit der Prozesse in der Schweiz; und da ist das gesellschaftliche und private Klagen über die Zustände. Wenn ich Schweizer*innen zuhöre, denke ich manchmal, dass Jammern eine Art «bonding experience» sein muss. Dem gegenüber steht das schweizerische Bewusstsein, dass man halt doch etwas Besseres ist. Die Schweizer reisen ja gern in die ganze Welt, aber viele, so scheint es mir, nur, um sich selbst zu beweisen, dass die Schweiz halt doch der beste Ort auf der Welt ist.
Wie viel von dem ist in diesen Roman mit eingeflossen?
Einer der interessantesten Aspekte von Inseln, denke ich, ist ihre offenkundige Begrenztheit, denn an Grenzen, in der Konfrontation mit dem Fremden/Anderen, wird man sich seiner Voreingenommenheit, seiner (Vor)Urteile bewusst, beginnt sein Verhalten, sein Versagen in einem grösseren Kontext zu sehen. In früheren Romanen ging es mir oft um gesellschaftliche Grenzen, in diesem eher um eine Auseinandersetzung mit natürlichen, bzw. den Grenzen, die eine von Menschen beschädigte Natur uns setzt.
Ich weiss, dass du gerne lange Spaziergänge am Meer entlang machst, dass du fotografierst und dich inspirieren lässt. Vieles auf diesen Spaziergängen scheint in den Roman eingeflossen zu sein, wahrscheinlich auch Erfahrungen mit Phosphor, Erfahrungen mit Überschwemmungen und Unwettern. Wie sehr ärgert dich die Gedankenlosigkeit vieler Menschen?
Der Abfall hier an den Stränden ist ein echtes Problem, und die Iren stehen da weit hinter den Schweizern zurück. Ich sehe aber, dass man sich bemüht und dass es schon sehr viel besser geworden ist. Weniger offensichtlich sind industrielle oder staatliche/militärische Verschmutzungen, z.B. die Munition, die die Briten nach dem Zweiten Weltkrieg im Beaufort’s Dyke versenkt haben und von der immer mal wieder was an den irischen Küsten angeschwemmt wird, als versuche die Vergangenheit sich an der Gegenwart zu rächen.
Ärgern tut mich das beides nicht. Ich nehme es zur Kenntnis, finde es streckenweise interessant. Eine meiner wichtigsten Erfahrungen hier in Irland war, dass die Natur immer gewinnt. Der Bach in dem Tal, in dem ich zuerst lebte, ist jedes Jahr über die Ufer getreten, nicht weil die Umwelt sich veränderte, sondern weil sich die Landschaft über Jahrtausende so entwickelt hatte. In den ersten Jahren versuchten wir den Überschwemmungen mit Mauern und Wällen beizukommen. Aber das Wasser war immer stärker, klüger. Das hat mich Demut gelehrt und ich bin dankbar für diese Lektion. In diesem Sinne denke ich auch, dass die Natur die Klimakrise auf ihre Weise überstehen wird, ob die Menschheit dazu auch in der Lage ist, ist eine andere Frage.
Dein Roman ist weder Manifest noch Kampfschrift, keine Abrechnung, kein moralisierender Zeigefinger. Aber manchmal sind deine Schilderungen und Aufzählungen doch haarscharf daran vorbeigeschrammt. Ich bin mir des Dilemmas bewusst. Einfache Unterhaltung allein – daran warst du nicht interessiert. Gibt es während des Schreibens einen Warnmechanismus oder muss man auf ein gutes Lektorat vertrauen, dass man nicht überbordet?
Den Leser*innen irgendetwas zu vermitteln, gehört nicht zu meinen Zielen, ich habe keine „Message“. Das würde ich mir nicht anmassen und es würde meinem Grundverständnis von dem, was Literatur kann und soll, fundamental widersprechen.
Ich denke, das Ziel eines Romans ist es, ein Geschehen und die darin involvierten Personen in seiner/ihrer Komplexität und Ambivalenz darzustellen. Dabei geht es nicht darum, eine Wirklichkeit (oder gar Wahrheit) abzubilden, sondern Zusammenhänge zu erforschen, Konstellationen auszuloten, vielleicht zu einem möglichen Ende zu führen, vielleicht auch Alternativen zu entwickeln. Grundsätzlich denke ich, was Literatur/Kunst im besten Fall erreichen kann, ist, dass der Betrachter, die Leserin seine/ihre Wirklichkeit etwas anders betrachtet, dass sich seine/ihre Wahrnehmung ein klein wenig verschiebt.
Tatsächlich hat mich der Verlag gedrängt, den Text in dem von Dir beschriebenen Sinn zu „schärfen“. Ich habe dem nachgegeben, aber vielleicht hätte ich doch mehr Widerstand leisten sollen.
Dein Roman spielt in nicht allzuferner Zukunft. Sind deine Schilderungen das Resultat einer sorgfältigen Recherche über mögliche Zukunftsszenarien oder vertraust du deiner Intuition, deiner Beobachtung, deiner Erfahrung?
Bevor ich ernsthaft zu schreiben begann, habe ich einige Jahre als Konjunkturforscherin gearbeitet und mit ökonometrischen Simulationen die wirtschaftliche Entwicklung einzelnen Branchen prognostiziert. Lange habe ich es als 180-Wendung in meinem Leben betrachtet, dass ich dann zu schreiben begann. Inzwischen beginne ich die Ähnlichkeiten zwischen Simulation und Fiktion zu verstehen. Beide werden dort eingesetzt, wo das Wissen an eine Grenze stösst, oder wie der frühere Rektor der Uni Basel Antonio Loprieno, sagte „die literarische Fiktion und die wissenschaftliche Simulation vermitteln Bilder alternativer Realitäten.“ Beides sind Versuche, die Grenze zwischen Wissen und Glauben zu bewältigen, in beiden wird die Grenze zwischen Faktischem und Möglichem in Frage gestellt. Beide entwerfen ein Bild von dem, was sein könnte.
Recherchen bilden einen wesentlichen Teil meines Schreibens. Ich denke, ich bin sorgfältig dabei, aber nicht in der Absicht oder gar mit dem Anspruch, etwas möglichst Plausibles zu konstruieren. Genauso wie die Vergangenheit, über die ich in früheren Romanen geschrieben habe, ist auch die Zukunft eine Funktion eines sich laufend verändernden Zustandes, eine Reflexion der Gegenwart und sagt primär etwas über diese aus.
Ein Haus ist eine Insel. Ein Garten ist eine Insel. Eine Klostergemeinschaft ist eine Insel. Eine Liebe ist eine Insel. Wir brauchen diese Inseln. Und doch sind die Bedrohungen manigfaltig. Der Forscher Holm und die Schriftstellerin erinnern sich an ihre Insel-, ihre Liebeserlebnisse. Bleibt man letztlich nicht doch allein, auf der letzten Insel seiner selbst?
Ja ist die einfache Antwort auf diese Frage. Natürlich gibt es Momente der Geborgenheit, der Liebe, in denen wir uns mit einem Menschen, der Welt verbunden fühlen. Aber ich denke, es ist eine (schöne) Illusion zu glauben, dass wir einen anderen Menschen verstehen können oder von ihm verstanden werden, fassen können, was und wie er/sie empfindet. Wir sind zwar nicht immer einsam, aber doch immer allein und dieser Roman ist auch einer über das Scheitern der Liebe.
Gabrielle Alioth, geboren 1955 in Basel, war als Konjunkturforscherin und Übersetzerin tätig, bevor sie sich dem Schreiben zuwandte. 1990 publizierte sie ihren ersten, preisgekrönten Roman «Der Narr». Es folgten zahlreiche weitere Romane, Kurzgeschichten, Essays sowie mehrere Reisebücher und Theaterstücke. Daneben ist sie journalistisch tätig. Seit 1984 lebt Gabrielle Alioth in Irland. Für ihr Werk wurde sie 2019 mit dem Kulturpreis der Gemeinde Riehen ausgezeichnet. Gabrielle Alioth ist Präsidentin des PEN Zentrums deutschsprachiger Autoren im Ausland.
Es gibt sie, die Autor*innen, die sich trauen, die nicht den üblichen Erzählkonventionen entlangschreiben, die nicht in erster Linie unterhalten wollen, sondern Leser*innen und Lesegewohnheiten aufbrechen. Neben Jonas Lüscher und Christian Kracht glänzt Dorothee Elmiger mit ihrer Expedition in menschliche Tiefen.
Es gibt Schreibende, die mich nicht wegen ihrer Geschichten faszinieren, sondern wegen ihrer Bilder, ihrer Sprache, ihrer Wucht, ihrem Sperren gegen das Konventionelle. Bei Dorothee Elmiger fasziniert alles; die Geschichte, die sich immer wieder spiegelt, die nicht nur inhaltlich an Filme von Werner Herzog erinnert, sondern auch in der Intensität ihrer Bilder. Dann die Sprache, das Mäandern in Satzkaskaden, von denen ich mir kaum vorstellen kann, wie und in welcher Intensität sie geschrieben werden mussten. Das Buch liest sich phasenweise so, als hätte Dorothee Elmiger die Fähigkeit, in einem unendlich langen Atem Satz an Satz aneinanderzureihen, abzusinken in die Tiefen einer Szenerie, weit hinauf oder tief hinunter. Als hätte sie tief eingeatmet und in einem Guss geschrieben, wofür anderen niemals die Luft reichen würde. Sie spielt mit der Sprache, die Sprache spielt mit ihr. Klar will Dorothee eine Geschichte erzählen. Aber es ist die Geschichte einer Frau, die sich verloren hatte, die Geschichte des Sich-Verlierens. Die Geschichte einer Frau, die in der Kulisse, in den Bildern absinkt, die ihr Leben fast verloren hätte.
Dorothee Elmiger «Die Holländerinnen», Hanser, 2025, 160 Seiten, CHF ca. 33.90, ISBN 978-3-446-28298-8
Die Frau erzählt die Geschichte auf der Bühne, hinter einem Mikrophon, vor Zuhörer*innen, einem ganzen Saal. Sie erzählt von einem Anruf eines Theatermachers, der sie zu einem ganz besonderen Projekt eingeladen hat, ihr den Auftrag gegeben hatte, das Geschehen, das Gesprochene, das Herausgefundene aufzuschreiben, festzuhalten, zu protokollieren. Ein Theaterprojekt mit dem Titel „Die Holländerinnen“. Der Theatermacher, der weitab im Urwald, zwischen den Wendekreisen am Meer, wie damals Werner Herzog mit Klaus Kinski „Fitzgeraldo“ oder „Aguirre der Zorn Gottes“, ein Theaterprojekt realisieren will, lädt eine ganze Truppe von Menschen in die Abgeschiedenheit ein, einen „Fall“ nachzuspielen, jenen der Holländerinnen. Man sammelt sich und macht sich gemeinsam auf, wobei niemand eine wirkliche Ahnung davon zu haben scheint, wo das Abenteuer hingehen soll, auch der Theatermacher selbst nicht. Man will eine Geschichte entstehen lassen. Man werde sich im Laufe der Arbeit verdoppeln, ja vervielfachen, es würden, im besten Falle, andere, verschüttete Teile ihrer selbst zum Vorschein kommen.
Sie selbst, die auf der Bühne steht und erzählt, von ihrem Manuskript liest, hatte die Aufgabe, als Protokollantin eine Mitschrift dieser Tage anzufertigen, eine Mitschrift, die im Grunde alles enthalte, ALLES, in Grossbuchstaben… Eine Aufgabe, die ihr in diesen seltsamen Tagen weit ab aller Zivilisation alles abverlangt, in der jede Begegnung, selbst ein ausrangierter Kühlschrank, den man an einer Halde entsorgte, eine Kaskade von Erinnerungen und Assoziationen auslöst. Geschichten, die andere, die Mitreisenden erzählen, Geschichten, die sie sich selbst erzählt. Auf den Spuren jener Frauen aus der holländischen Stadt Leiden, die damals auf ihrer Reise ohne Ende am selben Ort wie sie vor Ort gewesen waren, einer Reise auf den Spuren einer anderen Reise. Als hätte sich die mittelalterlichen Erzählungen „Canterbury Tales“ von Geoffrey Chaucer in eine undurchsichtige Gegenwart transformiert.
Was in diesem seltsamen, geheimnisvollen, rätselhaften Roman so bestechend ist, ist die Sprache, Dorothee Elmigers Kunst, sich einem Sprachrausch hinzugeben, der sich aller Schreib- und Erzählstrategie verweigert. Dorothee Elmigers Buch wabert an den Grenzen von Sein und Nichtsein, zwischen Leben und Tod. Es riecht nach der Feuchte des Urwaldes, schildert eine Gruppe loser miteinender verbundener Menschen, die dem Theatermacher in fast messianischem Gehorsam folgen. Man lauscht den kryptischen Äusserungen dieses Mannes, staunt darüber, wozu Menschen bereit sind, wenn sie der Überzeugung sind, an etwas Aussergewöhnlichen, Besonderen teilhaben zu können.
Wer plottgesteuert liest, wird von Dorothee Elmigers neustem Husarenstück enttäuscht sein. „Die Holländerinnen“ ist weder Strand- noch Einschlaflektüre. Ihr Buch setzt sich fest, nistet sich ein. Ihr üppiger Sound macht trunken. Wären Elmigers Sprachbilder Gemälde, dann erinnern sie an jene von Anselm Kiefer.
Dorothee Elmiger, geboren 1985 in der Schweiz, lebt als freie Autorin und Übersetzerin in New York. Ihre Bücher «Einladung an die Waghalsigen» (2010), «Schlafgänger» (2014) und «Aus der Zuckerfabrik» (2020) wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt, für die Bühne adaptiert und vielfach ausgezeichnet.
Die Schriftstellerin Liane Steffen verbringt einige Monate in einer Gästewohnung in Paris. Ein Schreibaufenthalt, Zeit, um den Spuren ihres Schreibens, den Spuren ihrer Gedanken zu folgen. Zeit, um Klarheit zu schaffen in einer Zeit, in der ein Virus vieles in Frage stellt. Zeit um eine Frau wiederzuentdecken, der man in Paris 1845 wegen einer lesbischen Beziehung den Prozess machte, eine Schriftstellerin, der letztlich als Feministin der Prozess gemacht wurde.
Liane geniesst das Abtauchen in die Stadt Paris, das Abtauchen ins Alleinsein, ins Quartier, die Cafés, die Läden, die Strassen, das Abtauchen in all die Geschichten, die die Menschen um sie herum mit sich herumtragen, jenen Menschen, denen sie immer und immer wieder begegnet, auf der Strasse, an den Nebentischen im Café. Das Abtauchen in Erinnerungen an ihre Freundin Jana, die vor ein paar Jahren an Krebs sterben musste, an ihren Lebensmensch, ihre Freundin. Das Abtauchen in die Recherche um ein Schreibprojekt, während dem sie auf die fast vergessenen Schriftstellerin, Näherin, Gefängniswärterin und Mutter Louise Crombach stösst, die vor fast 200 Jahren als feministische Schriftstellerin ihrer Gutgläubigkeit zum Opfer fiel. „Zeit ihres Lebens“ ist ein buchlanger Brief an eben diese Freundin Jana, die wie sie Schriftstellerin war, der sie in diesem Buch das zu erklären versucht, was auf der einen Seite das Virus und auf der anderen Seite ihre intensiven Recherchen zutage brachten.
Ulrike Ulrich «Zeit ihres Lebens», Berlin, 2025, 336 Seiten, CHF ca. 36.90, ISBN 978-3-8270-1523-5
Sie ist auf Abstand zu ihrem Lebenspartner Carmine, zu ihrem Sohn Tom, der in London lebt, zu ihrem Verleger Zlotan, der sie in Paris besucht und sie ermuntert, aus dem, was mit ihrem Schreiben passiert, ein Buch zu machen. Hier der Abstand zu ihrem Leben sonst, hier die Nähe zu ihrem Leben hier, zu den Menschen, mit denen sie ins Gespräch kommt, deren Leben sich mit ihrem verknotet, wenn sie der Obdachlosen zu einer Impfung und einer Brille verhilft, wenn sie mit einem Lehrer aus dem Quartier bis in die Banlieues fährt, wenn sie sich zu Recherchen in den Archiven im Netz und in der Stadt verliert und mehr und mehr im Leben einer Frau, die sie als Schriftstellerin und Feministin fasziniert, der sie buchstäblich auf die Spur zu kommen versucht, von der sie Fragen beantwortet bekommen will. „Zeit ihres Lebens“ ist die Spur einer leidenschaftlichen Suche in Vergangenheit und Gegenwart. So sehr die Trauer um den Tod ihrer Freundin Jana vor 8 Jahren noch immer nicht verklungen ist, so sehr steigt die Neugier und Faszination für eine Frau, deren Erinnerung sie nicht verblassen lassen will. So wie der buchlange Brief an ihre Freundin genauso ein Akt des Vergegenwärtigen, des Nichtvergessens wird.
Lianes Wohnung, in der sie für die paar Monate wohnt, liegt im Montmartre, einem der vielen Schmelztiegel der Stadt, dort, wo sich wie nirgendwo sonst in der Stadt der Wunsch vieler eingenistet hat, aus ihrem Tun, ihrer Sehnsucht Kunst zu machen. Einem Ort der Gegensätze, wenn man die vielen kleinen Zelte derer sieht, die sich so die letzte Chance eines Dachs nehmen, die ihr Leben zu einer einzigen Demonstration werden lassen. „Zeit ihres Lebens“ ist die Spur durch dieses befristete Stück Leben. Nicht zuletzt das Protokoll einer intensiven Auseinandersetzung der Entstehung eines Textes, der Suche nach einer Spur, der Suche nach Sprache. Ein Parisroman, der das Mäandern im Innenleben einer Suchenden zur Maxime werden lässt. Ein Roman, der genau das beschreibt, was sonst in der Spur von Schriftsteller*innen verborgen bleibt, wenn sie ein Buch auf den Markt bringen. „Zeit ihres Lebens“ beschreibt die Auseinandersetzung davor, bis zu dem Punkt, aus dem eine Biographie der Schriftstellerin Louise Crombach werden könnte. „Zeit ihres Lebens“ beschreibt ein Stück Zeit eines Lebens – intensiv, leidenschaftlich, mit dem unsäglichen Bedürfnis nach Tiefe. Spannung für einmal ganz anders!
im Literaturhaus Zürich
Ulrike Ulrich, geboren 1968 in Düsseldorf, lebt seit 2004 als Schriftstellerin in Zürich. 2010 erschien ihr Debütroman «fern bleiben», dem 2013 der Roman «Hinter den Augen» folgte, und 2015 der Erzählband «Draussen um diese Zeit». Mit Svenja Herrmann hat sie Anthologien zum 60. und 70. Geburtstag der Menschenrechte herausgegeben. Mit Axmed Cabdullahi erschien «Ein Alphabet vom Schreiben und Unterwegssein». Ihre Texte wurden u. a. mit dem Walter Serner-Preis 2010, dem Lilly-Ronchetti-Preis 2011 und Anerkennungspreisen der Stadt Zürich ausgezeichnet. 2016 erhielt Ulrike Ulrich ein Werkjahr der Stadt Zürich und 2018 einen Pro Helvetia-Werkbeitrag für den Roman „Während wir feiern“, der 2020 erschien und im Jahr darauf mit dem Festival „Zürich liest ein Buch“ gefeiert wurde.
Mit seinem neuen Roman „Die Schwestern“ schreibt sich der aus Schweden stammende Romancier Jonas Hassen Khemiri in die erste Liga der Europäischen Autoren.
Es gibt diese Bücher, dieses eine Buch. Man schlägt es auf, fängt an zu lesen und es ist um einen geschehen. Ein Satz, den man selbst nie hinschreiben würde, zu kitschig, zu pathetisch, wahrscheinlich auch falsch, wann ist es schon um einen geschehen. Und doch: Eine Welt hat sich aufgetan, und man ist ganz in ihr versunken. Es gab für einige Tage nur dieses Buch, nur dieses eine. Deswegen hat man einst mit dem Lesen angefangen. Und deshalb hat man damit nicht wieder aufgehört, und deshalb wird man dabei bleiben.
Und worum es geht? Um drei Schwestern, die auf die Namen Ina, Evelyn und Anastasia hören und die englisch miteinander sprechen, die Mikkola-Schwestern, sobald sie die Straße betreten und durch die Siedlung gehen, was natürlich besonders ist und auffällt und es sonst niemand in ihrem Umfeld macht (da spricht man Schwedisch, da spricht man vielleicht einen wirren junge-Leute-Slang, zu Hause sprechen die Eltern oftmals Arabisch). Es geht daher um das Aufwachsen und dann Leben in der migrantischen Community der großen Städte Schwedens, wo man gleichermaßen dazugehört und nicht dazugehört und man also nichts falsch und nichts richtig machen kann, und das hat natürlich Folgen, über die zu erzählen ist; Stoff, um daraus Geschichten zu entwickeln, ergibt es sowieso genug. Es geht um verlorengegangene Väter, die zuweilen wieder auftauchen und die auch im zweiten oder dritten Anlauf keinen Platz in ihren Familien finden (was sie ehrlich schmerzt, was aber dennoch nicht dazu führt, dass sie mal ins Denken kommen, traditionell-verspannte Männer, die sie sind und rechthaberisch und eigenbrötlerisch dazu, das wird nichts). Es geht entsprechend um Mütter, die versuchen ihre immer wieder aufs Neue auseinanderfliegenden Familien zusammenzuhalten, was sie selbst an die Grenzen ihrer Kräfte kommen und zuweilen auch seltsam werden lässt (die Mutter der drei Schwestern etwa springt zwischendurch aus dem Fenster, das geht einigermaßen glimpflich aus, trotzdem bleibt das Verhältnis zwischen den drei Töchtern und ihr – sagen wir mal – schwierig). Es geht in einem zweiten, immer wieder kreuzenden und sich abwechselnden Erzählstrang um einen Jungen, der den drei Schwestern immer wieder über den Weg läuft, sich mal mit der, mal mit der befreundet, und der Junge heißt Jonas Hassen Khemiri, was Zufall sein mag und der heranwächst und nach diversen Irrungen und Wirrungen am Ende Schriftsteller wird, was ja vorkommen kann. Es geht um einen Zeitraum von 30 Jahren und was da alles passieren kann, an einem kalten Januartag im Jahr 1994, im Sommer 1997, im Jahr 2003, während eines Auslandssemesters in Paris; was möglich ist, was scheitert, was noch dazwischen schwankt, darum geht es.
Jonas Hassen Khemiri «Die Schwestern», Rowohlt, 2025, aus dem Schwedischen von Ursel Allenstein, 732 Seiten, CHF ca. 36.90, ISBN 978-3-498-00497-2
Es geht um einen Fluch, der auf den drei Schwestern lastet oder lasten soll und ihnen das Leben schwer macht (kann man da nichts machen, sich von jemanden entfluchen lassen, etwa?). Es geht um Partys in hippen Büroetagen, in denen alle alles auf einer Karte setzen, wo der Alkohol fließt und es auch nicht an anderen Drogen fehlt und wo bullige Türsteher den Einlass kontrollieren, so dass man, steht man wie die drei Schwestern nicht auf der Gästeliste, heimlich durchs Fenster hineinklettern muss und ebenso heimlich wieder hinaus und dazwischen ist viel passiert. Es geht um das Aufwachen mit Popcorn im Haar. Es geht um Basketball, um einen Alley oop, um einen Dunk, wie man einen harten Press-Defence über das ganze Feld spielt, vielleicht wird man ein Basketballstar oder wenigstens ein Profi, das wäre doch eine Option, großgewachsen und gelenkig, wie Anastasia und Jonas nun mal sind, und um ihren sagenumwobenen Trainer aus der amerikanischen NBA-Liga geht es, der tatsächlich dort nur einmal für ein Spiel eingesetzt worden war, um nicht einen Punkt zu erzielen, nicht einen Rebound, nicht einen Block, nicht mal einen Freiwurf, und alles fällt wie ein Soufflee in sich zusammen, aber da spielen die beiden schon kein Basketball mehr, sie googlen nur mal kurz im Nachhinein, wer ihr Trainer eigentlich gewesen war.
Es geht also auch um Wahrhaftigkeit, es geht um Illusionen und um Träume und ob das, was man sich vorstellt, irgendeine Chance auf Verwirklichung hat und wenn, was dann. Es geht um die Bewerbung auf eine angesagte Schauspielschule, jedes Jahr bewerben sich um die 3.000 bis 4.000 junge Leute, dort und zu zehn von ihnen werden angenommen, und auch Evelyn und ihre beste Freundin Cecilia versuchen es, und das ist nur begrenzt eine gute Idee, man sollte nicht alles teilen wollen. Es geht um eine Verlagsgründung, der Schlachthaus Verlag will nur Bücher verlegen, an die sich sonst kein Verleger herantraut und wenn das kein Geld einbringt, dann ist es umso besser. Es geht um Liebe und um Ehen und um eine Beerdigung in Tunesien auf einem entsprechenden staubigen Friedhof, aber vorher muss der Leichnam noch aus dem Krankenhaus abgeholt werden, und also besticht man zwei Krankenwagenfahrer, man kann den toten Körper ja schlecht im Kofferraum seines eigenen Wagens mitnehmen, was, wenn einen die Polizei anhält, was sagt man dann. Und es geht um diesen einen Moment beim Lesen, womit man plötzlich geradezu erschreckt versteht, wie das alles, was einem aus so vielen Winkeln und an so vielen Orten über viele Seiten hinweg so überaus packend und komplex erzählt wurde, mit einem mal zusammenhängt („Ach, so!“, ruft man laut aus, in seinem Lesesessel), und dann werden die Erzählfäden wieder lockergelassen und man fällt zurück in das weich-warme Rätseln und sich Treiben lassen und muss gar nicht wissen, ob man tatsächlich richtig liegt mit seiner Vermutung oder ob man etwas nur nicht richtig verstanden hat: Es warten ja noch so viele Seiten auf einen, zum Glück.
Und es geht immer wieder um die Frage: Was ist eine Geschichte? Was erzählen wir uns, wenn wir erzählen; erzählen wir, um dem Leben einen Sinn zu geben und was wäre das für einer oder wollen wir anderen Leuten schlichtweg nur gefallen? Und was ist erst, wenn wir Erzähltes aufschreiben? Wenn wir versuchen, Leben in Schreiben zu verwandeln und dann Geschriebenes vor uns liegt und lebendig wird …
Das alles ist schon spannend genug, reicht locker aus, dieses Buch bedingungslos zu empfehlen. Aber dann ist da noch dieser Sound, dieser Jonas-Hassen-Khemiri-Beat, der vom ersten Satz an auf eine sich durchziehende Bass-Line und auf Tempo und auf Tempowechsel und auf Dichte und auf Unterströmungen aller Arten setzt und der dabei zugleich so kunstvoll schreibt, so entspannt und sicher auch, dass jeder Satz (der zuweilen locker über eine Buchseite mäandert und noch ein paar Zeilen mehr, wenn es nötig ist) in den am Ende 137 Kapiteln je genau an dem Ort steht, an dem er zu stehen hat und an keinem anderen. Was also für ein Buch! Wirklich! Und ja, es gibt viele gute Bücher, auch viele sehr gute – aber dieser Roman ist dann doch noch mal – besonders. Ach, also einzigartig. Richtig toll ist er. Und wunderbar noch dazu.
Jonas Hassen Khemiri, geb. 1978 in Stockholm, ist einer der renommiertesten Autoren Skandinaviens. Seine sechs Romane wurden in über dreissig Sprachen übersetzt, und seine Dramen werden in der ganzen Welt inszeniert. Er wurde mit zahlreichen schwedischen und internationalen Preisen ausgezeichnet, darunter der Per-Olov-Enquist-Preis, der Augustpreis und der Prix Médicis Étranger. Sein Roman «Die Vaterklausel» war für den National Book Award nominiert. Seit 2021 lebt Khemiri in New York, wo er Kreatives Schreiben unterrichtet.
Ursel Allenstein, 1978 geboren, übersetzt u.a. Sara Stridsberg, Johan Harstad und Tove Ditlevsen. 2011 und 2020 erhielt sie den Hamburger Förderpreis, 2013 den Förderpreis der Kunststiftung NRW und 2019 den Jane-Scatcherd-Preis für ihre Übersetzungen aus den skandinavischen Sprachen.
Georgi Gospodinov hat seinen todkanken Vater während des Sterbens nicht nur mit seiner Anwesenheit begleitet, sondern mit Stift und Papier. So wie Sterben und Tod immer auf ganz eigene Weise mit dem Leben konfrontieren, so nehmen mich die Gedanken des Autors mit in meine eigene Erinnerung und in die Konfrontation mit dem, was auch bei mir dereinst kommen wird.
Georgi Gospodinov liebte seinen Vater, liebt ihn noch immer. Nur deshalb konnte der Schriftsteller ein solches Buch schreiben. Ein Buch, das nicht in erster Linie von seiner Trauer und seinem Schmerz erzählt, sondern von seiner Liebe, seinem Respekt und den vielen Erinnerungen, von denen der Autor genau weiss, dass sie in seinem eigenen Leben und in den Leben seiner Familie zu Samen geworden sind, die irgendwann zu Keimlingen und zu Pflanzen werden, so wie Geschichten, wenn sie denn erzählt oder gelesen werden immer etwas weiterleben lassen in den Leben jener, die den Kern dieser Geschichten in sich aufnehmen.
Ja, mein Vater war Gärtner. Jetzt ist er ein Garten.
„Der Gärtner und der Tod“ ist ein ganz und gar persönliches, intimes Buch. Georgi Gospodinov lässt mich an seinem Innersten teilhaben, als wäre ich sein Freund, ohne Absicht, einfach nur um sich mit dem Schreiben, dem Festhalten und Nacherzählen dem zu vergewissern, was sonst wie heisser Dampf im Äther zu verschwinden droht. „Der Gärtner und der Tod“ ist eine buchlange Liebeserklärung an den Vater, an das Schreiben, an die Sprache, die aus den Wunden, die Sterben und Tod aufreissen, etwas werden lassen, das wächst und gedeiht und wieder mit einer Pflanze verglichen werden kann. Es ist ein Akt gegen das Vergessen, gegen das Verschwinden, wissen wir doch alle, wie viel Leben, wie viele Geschichten mit dem Tod weggerissen werden, unwiederbringlich. Da stirbt jemand und mit ihm alles, was er an Erinnungen, Namen, Gefühlen und Bildern mit sich herumgetragen hat, alles ein Leben lang wie ein Schatz gehütet.
Es ist wichtig, ihre Hand zu halten, während sie sterben, sage ich zu einem Freund, der ebenfalls seinen Freund verloren hat. Wichtig ist, dass wir sie danach loslassen, antwortete er nach kurzem Schweigen.
Gregori Gospodinov «Der Gärtner und der Tod», Aufbau, 2025, aus dem Bulgarischen von Alexander Sithmann, 240 Seiten, CHF ca. 35.90, ISBN 978-3-351-04261-5
Auf Seite 104 stirbt Georgi Gospodinovs Vater, morgens um 5.17. Er sitzt am Bett seines Vaters, hält seine Hand, vier Tage vor Weihnachten, im Winter 2023. Es beginnt die Zeit danach. Die Zeit davor beschreibt Gospodinov im ersten Teil des Buches. Von einem starken Mann, der mehr und mehr nur noch ein Schatten seiner selbst war, der vor fast zwei Jahrzehnten schon einmal durch Krebs das Leben zu verlieren drohte, damals aber obsiegte. Nicht zuletzt durch seinen unerschütterlichen Lebenswillen, durch seine Liebe zu seiner Familie und seinem grossen Garten, in den er bis zuletzt viel investierte. Der ihm viel mehr war als ein Lebensmittellieferant, der Zeichen seiner Liebe zu seiner Familie war, einer Liebe, die mehr als deutlich lesbar war.
Der zweite Teil seines Buches ist die Auseinandersetzung mit dem Danach, mit all den Fragen, die der Tod mit einem Mal in den Vordergrund stellt, nicht zuletzt jene, warum wir uns so tunlichst dagegen wehren, uns zu Lebzeiten mit Sterben und Tod auseinanderzusetzen. Wie mit einem Mal alles wieder zum ersten Mal wird, zum ersten Mal ohne jene Person, die ein Eckpfeiler des eigenen Lebens war. Die Selbstvergewisserung eines neuen Kapitels, das letzte Hineingeworfensein in einen Abschnitt ohne Fangnetz.
Ich weiss, dass mit dem Tod meines Vater nicht nur eine, sondern mehrere Welten gestorben sind.
Dieses Buch ist viel mehr als Literatur, Unterhaltung. Es gab für mich derart viele Lese- und Gedankenpausen, bei denen das Buch zum Katalysator, zum Brennglas, zum Ansporn und Multiplikator wurde, dass ich dem Buch viel mehr verdanke als Genuss und Genugtuung. In zugänglicher Sprache umarmt mich dieses Buch, dabei ist er es, den man während der Lektüre brüderlich zur Seite nehmen will. Georgi Gospodinov beschenkte mich zu tiefst – und dafür kann ich ihm nur innig danken.
Vielleicht war das die Mission meines Vaters … ohne dass es ihm selbst bewusst war: Hirte einer kleinen Herde von Geschichten zu sein, die er von Hand aufgezogen hatte und die ihm überallhin folgten. Oder einfach Gärtner – dort, dort im Garten mit den Geschichten und den Familienstammbäumen.
Georgi Gospodinov wurde 1968 in Jambol, Bulgarien, geboren. Einem großen internationalen Publikum wurde er mit seinem ersten Roman bekannt, dem «Natürlichen Roman» sowie dem Roman «Physik der Schwermut», die in mehr als zwanzig Sprachen übersetzt wurden. Gospodinov wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, u. a. zweifach mit dem Bulgarischen Buchpreis und dem Jan Michalski-Preis. Für seinen Roman «Zeitzuflucht» erhielt er 2023 den International Booker Prize. Er lebt und arbeitet in Sofia.
Alexander Sitzmann studierte Skandinavistik und Slawistik in Wien, forscht und lehrt an der dortigen Universität. Seit 1999 ist er als literarischer Übersetzer aus dem Bulgarischen, Mazedonischen und den skandinavischen Sprachen tätig.
In wenigen Worten viel zu sagen, wär schon Kunst genug. Aber Lukas Holliger reisst mit wenigen Sätzen Horizonte auf, schlägt wilde Kapriolen, untergräbt die Realität mit Witz und Schalk.
Thommy ist hingefallen. Die Füsse unpraktisch verdreht. Hätte das Nachdenken nicht gefehlt, wäre er nicht hingefallen. Aber hätte das Nachdenken gefehlt, wäre das das Hinfallen gewesen. „Mensch mit Senf“ ist nach „Glas im Bauch“ und „Unruhen“ der dritte Band in einer Reihe, die mit Zeichnungen des Autors bei der Edition Meerauge erscheint. Einer Reihe mit einer kleinen kreisrunden Öffnung im Cover mit Blick auf das rote Vorsatzpapier des Buches. Ein Auge, ein Meerauge, vielleicht sogar ein Mehrauge, denn Lukas Holliger scheint genau dieses zu besitzen. Ein Auge mehr, den Blick durch und über die Realität hinaus. Den Protagonist*innen in seinen Miniaturen geschieht genau das, was den Figuren in seinen Zeichnungen geschieht; sie lösen sich auf, sie verweigern sich der Wirklichkeit und zeigen Linien darüber hinaus. Sie zwingen mich zu einem zweiten Blick, sperren sich der Logik. Sie tun in ihrer erfrischenden Art genau das, was sich der Zwang zur Authentizität verbaut. Weder seine Miniaturen noch seine Zeichnungen sind Abbilder dessen, was überall sonst abgebildet wird.
Franz wurde befohlen, was er ohnehin hätte tun wollen. Nach Jahren verwechselte selbst er diese Zufälligkeit mit Unterwürfigkeit. Ich spüre die Lust des Autors. Er missachtet jede Grenze, jedes Mass. Beides, Geschichten und Zeichnungen zwingen mich zur Reflexion, spielen mit Gedanken. Spuren eines Nachdenkers, eines Beobachters, der sich nicht begnügt, nachzuerzählen, abzubilden, aufzuzeigen. „Mensch mit Senf“ ist eine Sammlung von Aufforderungen, die Welt nicht todernst zu nehmen. Miniaturen mit wenigen Strichen hinein ins Surreale und darüber hinaus. Bei seinen Zeichnungen ist man an Tomi Ungerer erinnert. Nichts ist zu viel, bei Texten und Zeichnungen alles bis zu absolut Minimalen reduziert. Fast alles liegt beim Betrachter.
Zufällig, beim Kleiderkauf, bewegt sich in Gabis Augenwinkel eine andere Kundin synchron. Als sich das Spiegelbild verselbstständigt, erschrickt Gabi zu Tode.
Lukas Holliger «Mensch mit Senf», Edition Meerauge, 2025, Prosaminiaturen und Zeichungen, 160 Seiten, CHF 23.00, ISBN 978-3-7084-0710-4
Lukas Holliger, geboren 1971, studierte Germanistik, Kunstgeschichte und Geschichte, lebt und arbeitet in Basel als Kultur- respektive Satireredaktor beim Radio SRF sowie als Autor von Prosa, zahlreichen Theaterstücken, Hörspielen und Libretti. 2015 erschien Holligers Prosadebüt Glas im Bauch (Edition Meerauge) mit Kurz- und Kürzestgeschichten, 2017 sein erster Roman Das kürzere Leben des Klaus Halm (Zytglogge), der für den Schweizer Buchpreis nominiert war. 2021 folgte der Erzählband Unruhen (Edition Meerauge), 2024 der Roman 1983 – Verfluchte Hitze (Rotpunktverlag).
Wenn Amir auf seine Uhr schaut, möchte er nie wissen, wie spät es ist, sondern wie lange sein Leben noch dauert. Webseite des Autors