Ich bin gleichermassen verblüfft, erschlagen und beglückt. Nancy Hünger lässt mich nach der Lektüre ihres Romans mit vielen Fragen zurück. Genau das, was Literatur soll. Weder Sättigungsgefühl noch Berauschung. Aber ganz sicher das Gefühl, einer literarischen Perle begegnet zu sein.
„Wir drehen dem Meer den Rücken zu“ ist eine Liebesgeschichte, wenn auch auf einer Seite des Spektrums, wo Nancy Hüngers Buch zu einem Unikat wird, frei von aller Sentimentalität, ganz in der Realität, nie abgehoben, schon gar nicht entrückt. Eine Liebesgeschichte, die deutlich macht, dass Liebe letztlich kein Gefühl ist, sondern eine Entscheidung. Zu einem grossen Teil eine Entscheidung trotz allem. Es hätte die Geschichte einer Trennung werden können, einer Entfremdung, was es letztlich auch wurde, die Geschichte von Ent-Täuschungen, Ernüchterung. Aber da lieben sich zwei, auch wenn es blitzt und donnert, wenn graue Wolken aufziehen und man bei der Lektüre befürchten muss, dass der immer dünner scheinende Faden reissen könnte. Tut er aber nicht. Sie liebt ihn, er liebt sie, sie lieben sich beide, wenn auch nicht im satten Sound einer Romanze, wenn auch nicht im ausfliessenden Glück. Mag sein, dass es Glück gibt. Aber so wie die Liebe zur Entscheidung wird, so wird das Glück zu einem Teil der Bewegung zum Gegenüber.
Nancy Hünger Wir drehen dem Meer unsere Rücken zu», Azur, 2025, 150 Seiten, CHF ca. 31.90, ISBN 978-3-942375-77-1
Und weil Nancy Hünger in der Lyrik zuhause ist, ist ihr Roman, der auch formal ungewohnt erscheint, nicht nacherzählte Handlung, sondern Resultat einer permanenten Reflexion, eines Nachdenkens, des Haderns genauso wie dem Wissen darum, dass da etwas ist, dass man sich letztlich nur nehmen lassen kann, das jenes Stück Zuhause ausmacht, dass eine Beziehung, eine Langzeitbeziehung ausmachen muss. Neben der Erkenntnis, dass da immer zwei Planeten bleiben, zwei, die sich in einem instabilen Gravitationsfeld umkreisen. Im Wissen darum, dass wir uns letztlich dauernd aus dem Gefühl der Einsamkeit herauswinden müssen, dass es zum Gegenüber immer eine Distanz gibt, sieht man/frau über die Momente der Verzückung hinaus.
Da liebt eine Frau einen Mann, obwohl sie weiss und spürt, dass diese Liebe auch zum Kampf werden kann. Ein Kampf gegen seine Gewohnheiten, auch wenn er sich selbst als Feminist bezeichnet, gegen all die kleinen und grossen Selbstverständlichkeiten, die die feinen und groben Arten der Gewalt in Beziehungen, zwischen Liebenden offenbaren. Mag sein, dass die Grenze zu einer „toxischen“ Beziehung fliessend ist. Vielleicht spielen wir allzu leicht mit dieser Etikette, auch wenn Gewalt an Frauen, Gewalt in Beziehungen in keiner Weise kleingeredet werden darf. Nancy Hünger geht es in ihrem Roman aber nicht draum, Missstände aufzudecken. Sie führt mir vor Augen, dass der Missstand im Kleinen zu finden ist, dass wir in Traditionen sozialisiert werden, die die Formen männlicher Gewalt eindeutig begünstigen. Genau darin liegt die Stärke dieser Liebesgeschichte. Sie spiegelt, was überall passiert und tut dies in einer Sprache, die nicht analysiert, sondern Gefühle, Gedanken spiegelt. In teilweise ganz kurzen Kapiteln, die alle mit einer neuen Seite beginnen, wird das Erzählen zu einem Eintauchen, manchmal fast meditativ, manchmal wie lyrische Prosa, meistens eindringlich, intensiv, von entblössender Tiefe.
Im ersten Teil des Buches schildert die Autorin die Geschichte einer Liebe, deren Risse immer tiefer, immer offensichtlicher werden. Im zweiten Teil hoffen die beiden auf einer kanarischen Insel auf einen Neuanfang. Ausgerechnet dort, wo die Sonne brennt und es Asche regnet.
Ein ungemein starkes Stück Literatur!
Nancy Hünger, 1981 geboren, studierte Freie Kunst an der Bauhaus-Universität Weimar und verschrieb sich danach ganz der Literatur. Bei AZUR / Voland & Quist sind bereits sechs Bände mit Lyrik und Prosa erschienen, zuletzt «4 Uhr kommt der Hund» (2020). 2023 wurde sie mit dem Anke Bennholdt-Thomsen-Lyrikpreis ausgezeichnet. 2024 erhielt sie das Stipendium zum Rainer-Malkowski-Preis. Nancy Hünger lebt in Tübingen, wo sie das Studio Literatur und Theater leitet.
Eine Perle aus der Edition Thurnhof. «Die Reststrahlung der Zukunft, Einundzwanzig wahre Geschichten» ist eine gestalterische Offenbarung, Papier gewordene Kunst. Ein Fetisch!
Andere kaufen sich Schuhe, auch wenn keine Anschaffung notwendig wäre. Eine Tasche, einfach nur, weil sie schön ist. Oder ein Nippes, das sich dann irgendwann in den Tiefen des Hausstands verliert. Ich glaube, dass 95 % aller Onlinekäufe Kompensationshandlungen sind, auch wenn alle wissen, wie kurz die Befriedigung ist. Einmal beim Klicken auf den Button „Kaufen“ und ein zweites Mal beim Auspacken, beim Entfernen der Plastiktüte. Ich wohne in einem Mehrfamilienhaus und kann mir nicht vorstellen, dass alles, was sich dort an gewissen Tagen stapelt, notwendig und unverzichtbar sein sollte. Über die Gründe all dieser Kompensionshandlungen liesse sich ellenlang spekulieren. Und ich gestehe feierlich, dass ich nicht davor gefeit bin.
Ich kaufe aber nur noch selten Bücher, bin in der komfortablen Situation, dass die Bücher, manchmal auch ungefragt, zu mir kommen. Nicht als Geschenk, aber mit der unausgesprochenen Aufforderung, doch bitte darüber zu schreiben. Aber manchmal kaufe ich doch. Zahle gar Preise, die in keiner Weise der gekauften Lesezeit entsprechen, einfach nur, weil ich das Buch besitzen will, weil ich mit den Fingern über das dicke Papier streicheln will, weil ich lesen, schauen, staunen und verweilen will. Kompensation? Als stiller Protest gegen den reinen Konsum? Gegen die Schnelligkeit? Das Verbrauchen?
Clemens J. Setz «Die Reststrahlung der Zukunft, einundzwanzig wahre Geschichten», Edition Thurnhof Offsetlith, 2025, Offsetlithografien vom Stefan Zsaitsits, € 27.00, ISBN 978-3-900678-72-2
Bei diesem einen Buch ist die Anschaffung ein Statement. Für das Schöne und Gute. Für die Kunst. Für die Liebe zur Leidenschaft. Für ein Objekt, mit dem nicht einfach Gewinn generiert werden soll, ganz nach dem Motto „Mit möglichst wenig Aufwand möglichst viel Kohle“. Ein Buch aus der Edition Thurnhof, aus der Hand eines Verlegers, der nicht die grosse Bühne sucht, dessen Bücher nie auf Bestsellerlisten landen, dessen Leidenschaft nichts mit den Gesetzen von Aufwand und Ertrag gemein haben.
Seit über 40 Jahren entstehen im Niederösterreichischen Horn (wenn man dem Blick vom Satelliten glaubt mitten im Wald) Bücher, die ihresgleichen suchen. Toni Kurz und seine Frau Christa schaffen Druckkunstwerke, die Literatur und Illustration mit Sorgfalt,Kompromisslosigkeit und dem unbestechlichen Blick für Qualität vereinen. Über die Jahre muss der Verleger Toni Kurz ein bestechendes Netz zwischen Kunstschaffenden aufgebaut haben, das auch den Schreibenden, Malenden, Zeichnenden und Druckenden jenen Wert verspricht, der weit über das Finanzielle hinausgeht.
Auf die Frage, warum gerade Clemens J. Setz schrieb Toni Kurz: Ich habe natürlich schon gewusst, wer Setz ist, aber ich war nie der, der hinter den bekannten Namen her ist wie der Teufel hinter den armen Seelen. Ich lass auch den Leuten gerne Zeit, die sie ja brauchen, die Dinge werden schon, wenn sie reif sind.
Clemens J. Setz, ein ganz Grosser der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, Büchner Preisträger 2021 und Stefan Zsaitsits, Künstler, Grafiker und Zeichner schufen in der Reihe der Edition Thurnhof mit „Die Reststrahlung der Zukunft – Einundzwanzig wahre Geschichten“ ein Buchkunstwerk, das mein Herz schneller schlagen lässt. Literarische Miniaturen erzählt mit Schalk und der Überzeugung, dass Literatur auch ein Kampf gegen die Bedeutungslosigkeit ist, gepaart mit messerscharfen Illustrationen, gekonnt in Szene gesetzt, weit mehr als die Bebilderung dessen, was Setz inszeniert.
Auf die Frage, wie er zum Künstler Stefan Zsaitsits kam: 2012 habe ich ein Buch mit Barbara Frischmuth gemacht, die damals auf meine Anfrage geantwortet hat, sie kennt meine Reihe Oxohyph und würde gerne was machen, nur würde das länger dauern, weil sie mit einem neuen grossen Roman viel auf Lesereisen unterwegs wäre und keine Ruhe zum Schreiben hätte. Als ich auf ihre Frage, wer denn da die Bilder machen sollte, Zsaitsits genannt habe, hat sie erfreut ausgerufen „Der Stefan? Von dem habe ich zwei Zeichnungen in meiner Schreibstube hängen“, und mir binnen einer Woche in einem Express-Brief die Erzählungen „Der Hals der Sängerin“ geschickt, ein Buch, das schon vergriffen ist.
In kleiner Auflage für LiebhaberInnen, in noch viel kleinerer Auflage für all jene, die noch eins oder zwei drauf haben wollen, nummeriert und signiert, in Holzschuber mit Orignalzeichnung. Ich liebe es!
Clemens J. Setz wurde 1982 in Graz geboren, wo er Mathematik und Germanistik studierte. Heute lebt er mit seiner Frau und seiner Tochter als Übersetzer und freier Schriftsteller in Wien. 2011 wurde er für seinen Erzählband Die Liebe zur Zeit des Mahlstädter Kindes mit dem Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichnet. Zuletzt wurde er mit dem Georg-Büchner-Preis 2021 und dem Österreichischen Buchpreis 2023 geehrt.
Stefan Zsaitsits, geboren 1981 in Niederösterreich, Künstler, Grafiker und Zeichner, studierte von 2001 bis 2006 Malerei in der Meisterklasse von Adolf Frohner an der Universität für angewandte Kunst Wien. Seine Werke werden in Ausstellungen im In- und Ausland gezeigt und sind in nationalen sowie internationalen Sammlungen vertreten, darunter in der Albertina Wien, ebenso wie in zahlreichen privaten Sammlungen.
Nicht nur das Blau ihrer Augen machte Alina zu etwas Besonderem. Vielleicht die Tatsache, dass sie nicht in die Familie hineingeboren wurde, in der sie aufwächst, aber ganz sicher die Fähigkeit, Dinge zu sehen, die allen andern verborgen bleiben. „Was Alina sah“ ist ein perfektes Stück Erzählkunst.
Alexandra Lavizzari schreibt seit bald vier Jahrzehnten Erzählungen und Romane. Ob historisch oder ganz im Jetzt, Alexandra Lavizzari taucht tief ein. Genauso in der Geschichte um Alina, ein Mädchen, eine junge Frau, die die Fähigkeit hat, hinter die Dinge zu sehen, die das Unglück kommen sieht, die das Leid anderer in sich aufsaugt und den Schmerz zu ihrem eigenen macht, mit ihren tiefblauen Augen nicht nur ihre Gegenwart bezaubert, sondern durch die Zeit hindurchsehen kann. Vielleicht ist genau diese Fähigkeit auch die von Schreibenden; durch das Erzählen ein Leben zum eigenen werden lassen. Erzählen, als ob es das eigene Leben wäre. Und uns Leserinnen und Lesern die Möglichkeit geben, mitzuleben, so sehr, dass man zwischen zwei Buchdeckeln ins Geschehen eingreifen möchte.
Judith bekommt eine kleine Schwester. Alina ist nicht ihre tatsächliche Schwester, nicht einmal ihre Halbschwester. Weil Judiths Mutter wegen „Unterleibsproblemen“ nicht noch einmal schwanger werden sollte und sich die Eltern ein Einzelkind nicht vorstellen will, eine Monopolstellung in der Familie undenkbar ist, fahren die Eltern eines Tages weg und kommen mit Alina zurück. Die Stunde des Teilens hatte für mich geschlagen. Alinas Start ins Leben ist ein ganz anderer als der von Judith. Judiths Eltern, gut situiert, ohne wirtschaftliche Sorgen, der Vater hat gar Zeit für das kostspielige Hobby des Erfindens, ist Alinas Ort ihrer Geburt eine öffentliche Toilette. Alina kommt aus dem Heim in ihr neues Zuhause, ein Zuhause, das nie ganz ihr Zuhause sein würde, ein Nest, in dem sie sich immer fremd fühlt. Nicht weil es an der Liebe ihrer neuen Eltern oder an der Zuwendung von Judith gefehlt hätte, sondern weil Alina schon als kleines Mädchen spürt, dass nicht nur ihr Herz in einem anderen Takt pulst. Ihr Inneres sieht Dinge, die allen anderen verborgen bleiben, sie trägt einen Schmerz mit sich herum, von dem andere nicht einmal etwas erahnen.
Alexandra Lavizzari «Was Alina sah», PalmArtPress, 2025, 218 Seiten, CHF ca. 36.90, ISBN 978-3-96258-226-5
Zum ersten Mal wird es spürbar, als die kleine Alina den Tod eines befreundeten Nachbarn voraussieht, man ihre Prophezeiung aber viel mehr als schlechtes Omen sieht, als Störung einer Ordnung, als eklatante Einmischung in den Lauf der Dinge. Während Alina in ihren schulischen Leistungen alles andere als reussiert, müssen nicht nur die Eltern erfahren, dass ihre Adoprivtochter ein verborgenes Leben führt. Erst sind es Gelegenheitsjobs, organisierte Hilfen, die ihr Taschengeld aufbessern, später mehr und mehr Abwesenheiten, die die Familie mit Sorge erfüllen und Judith, die Erzählerin zur pflegeleichten, beinah unsichtbaren Nebensache machen. Während es sich in der Stadt mehr und mehr herumspricht, dass Alina den besonderen Blick hat, drohendes Unglück sehen kann, wird auch mehr und mehr klar, wie sehr die werdende Frau darunter zu leiden hat. Vor allem dann, wenn das Unglück doch eintritt und Alina nicht verhindern kann, was sie mit ihrem Blick durch Zeit und Raum hindurch schon einmal miterleben muss.
Niemand kann Alina helfen, auch Judith nicht. Auch ihre Eltern nicht, die alles Erdenkliche tun, um Alina vor sich selbst zu schützen. Während Alina mehr und mehr zum Medium wird, sich das Geld auf ihrem Bankkonto sammelt, Vater mit seiner Erfindung eines zusammenklappbaren Wohnwagens nicht nur wegen Alinas Geschichte immer wieder ins Stocken gerät und die Mutter sich in ihren anerzogenen Selbstverständlichkeiten bedroht sieht, verliert sich Alina im Bann ihres Blicks.
Man kann „Was Alina sah“ durchaus als Parabel darüber lesen, was mit Menschen geschieht, die über ganz spezielle Fähigkeiten verfügen. Was von aussen wie ungerechtfertigtes Übermass an Glück erscheint, kann für die Betroffenen zur lebensbedrohenden Bürde werden. Aber Alexandra Lavizzaris Roman ist einfach gut erzählt. In einer Unverkrampftheit, wie man sie sonst viel eher im Angelsächsischen antrifft. Ein Roman, der mit Bildern spielt, die mitreissen. Ein Buch, das nicht loslässt. Köstlich und mit viel Können!
«Malen und Schreiben sind bei mir zwei vollkommen verschiedene Welten, die eigentlich nichts miteinander zu tun haben», erklärt Alexandra Lavizzari (Pastell).
Alexandra Lavizzari, 1953 in Basel geboren, Studium der Ethnologie mit anschliessendem zweijährigem Praktikum am Rietberg Museum, Zürich. Sie lebte von 1980-2000 in Nepal, Pakistan und Thailand und ist nun, nach einem längeren Aufenthalt in Italien, mehr oder weniger in Südwestengland ansässig, wo sie sich neben dem Schreiben auch als Kunstmalerin betätigt. 1999 erschien bei Zytglogge ihr erstes literarisches Werk, die Novelle ‚Ein Sommer‘. Es folgten viele Romane und Erzählungen, auch biografische Essays über Künstlerinnen und Schriftstellerinnen.
Wenn unbeirrbare Leidenschaft, das sichere Gefühl für Ästhetik und ein Plan, der sich in keiner Weise von wirtschaftlichem Denken leiten lässt, zusammenfinden, dann entstehen Kostbarkeiten, die ihresgleichen suchen, papierene Kunst, die einen Verkaufsort bräuchte, der sich grundlegend von den Gemischtwarenläden der Gegenwart unterscheidet.
Als nach der Erfindung des Buchdrucks das gedruckte Buch zu einem Kulturgut wurde, auch für «Normalsterbliche» erschwinglich, jedes Buch ein Manifest von Sorgfalt und Kompromisslosigkeit war, war Literatur noch weit weg vom Verbrauchsmaterial der Gegenwart. Dass es noch immer Verlage, BuchkünstlerInnen und BannerträgerInnen des Guten und Schönen gibt, grenzt an ein Wunder. Aber dass der Schweizer Schriftsteller, Herausgeber, Dichter und Lektor Markus Bundi zu ihnen gehört, verwundert nicht. Zusammen mit dem Grafiker Claudius Fischer erscheinen jährlich zwei Hefte, die eigentlich auf Samtkissen und Marmorsockeln zu Ansicht und Verkauf präsentiert werden müssten. Papierobjekte zum Lesen, Staunen und Verweilen, Kunststücke, die sich nach der Lektüre nicht so einfach in ein Regal schieben lassen, Hefte, die man nach der Lektüre in jedem Fall noch eine Weile mit sich herumträgt, weil sie einem ans Herz wachsen.
Markus Bundi: Menschen werden von Bildern inspiriert, und seit es Sprache gibt, evozieren Texte in deren Köpfen Bilder. Wenig erstaunlich also, dass das altgriechische Wort Idee nichts anderes meint als »Bild«. Darin trafen wir uns, die Herausgeber der edition aequinoctium schon früh. Claudius Fischer, der Zeichner und Gestalter, und ich, der Wörtermensch. Manchmal als ein scharfer Gegensatz – wie Tag und Nacht –, dann wieder ganz nah beieinander wie die Tag- und Nachtgleiche. Diese Wechselwirkung wollen wir befördern, indem wir sie nach aussen tragen, uns darüber austauschen, welches Tandem aus Kunst und Literatur gemeinsam abheben und fliegen könnte. Und so wird, wenn alles gut geht, auf das kommende Aequinoctium das nächste Heft erscheinen …
Am 22. September 2024 erschien das erste Heft der beiden Initianten selbst; «Als Sisyphos seinen Stein verlor», eine Kurzgeschichte von Markus Bundi (Erstveröffentlichung) und Zeichnungen aus dem Abreisskalender-Tagebuch von Claudius Fischer.
Die Hefte der edition aequinoctium haben einen Umfang von 16 bis maximal 24 Seiten, sind in ein Format 13 mal 21 gekleidet und werden mit grösster Sorgfalt von Hubert Oeschger in Bad Zurzach gedruckt. Die Auflage jedes Heftes ist limitiert, die einzelnen Exemplare handsigniert.
Im Frühling 2025 erschien «Nicht ganz stabil», ein Text von Zsuzsanna Gahse (Gewinnerin des Schweizer Grand Prix Literatur) und Fotografien des Künstlers Christoph Rütimann. Ein kongeniales Paar! Betrachtungen über den Mittelpunkt und die Wölbungen darüber.
Das dritte Heft, erschienen zur Tag- und Nachtgleiche im Herbst 2025, enthält neue Gedichte von Katharina Lanfranconi sowie einen durch das Heft fliessenden Farbrausch. Tuschearbeiten, die Sadhyo Niederberger aus Aarau speziell für die Edition geschaffen hat. Text und Bilder durchdringen sich, spiegeln sich wider und setzen Kontrapunkte.
Das ideale Weihnachtsgeschenk für kunstaffine HaptikerInnen!
Markus Bundi, lic. phil. I, geboren 1969, studierte Philosophie, Neue Deutsche Literatur und Linguistik an der Universität Zürich. Er arbeitete in jungen Jahren als Journalist, erst als Sport-, dann als Kulturredaktor bei einer Schweizer Tageszeitung. Seit über zwanzig Jahren unterrichtet er Philosophie an der Alten Kantonsschule Aarau. Er lebt als freier Autor, Literaturvermittler, Lektor und Herausgeber (u. a. der Werkausgabe Klaus Merz) in Neuenhof/ Schweiz. Für seien literarische Arbeit wurde er mehrfach ausgezeichnet. Er ist Mitglied bei PEN Deutschland.
Claudius Fischer, geboren 1962, lebt in Würenlingen. Ausbildung zum Grafiker. Weiterbildung an der F+F Schule für Kunst und Design und an der Schule für Gestaltung in Bern/Biel. Arbeit als Grafik-Designer in verschiedenen Agenturen und viele Jahre als Hausmann. Seit 2000 eigenes Studio für Grafik-Design. Diverse Auszeichnungen, zuletzt 20214 Red Hot Design Award in visueller Kommunikation.
Jina Khayyer stand mit ihrem Debüt „Im Herzen einer Katze“ auf der Longlist zum Deutschen Buchpreis 2025. Ein Buch, das gleichermassen aufwühlt wie verunsichert. Ein Buch, das LeserInnen mit Sicherheit aus der Komfortzone lockt und Fragen aufdrängt, die man eigentlich nur ungerne zulassen will.
Dass uns vieles an der Welt sprachlos zurücklässt, daran scheinen wir uns gewöhnt zu haben. Vielleicht auch eine natürliche Reaktion darauf, dass vieles unbegreiflich erscheint, unlösbar, durch fast nichts mehr zu korrigieren. Sprachlosigkeit einhergehend mit Tatenlosigkeit. Aber wenn ich dann durch die Lektüre eines Buches gezwungen werde, mich Tatsachen zu stellen, die Menschen zu Tausendenden nicht nur die Freiheit, sondern das Leben kostet, dann kann Lesen beinahe unerträglich werden.
Jina Khayyer stammt aus dem Iran. Einem Land, das von Mullahs, bärtigen Männern regiert wird, das sich im Würgegriff einer Form des Islams befindet, willkürlicher Macht, die auf dem Rücken all derer zementiert wird, die sich dem Regime widersetzen und nicht akzeptieren wollen, dass das Recht auf Freiheit, Meinungsäusserung mit Füssen getreten wird. Am allermeisten leiden Frauen darunter, eine ganze Generation, die in den Medien mitansehen muss, wie auf der anderen Seite der Grenzen weibliche Freiheit gelebt werden kann, deren Mütter in Zeiten des Aufbruchs, als mit dem Wahlsieg Mohammad Chātamis bei den Präsidentschaftswahlen 1997 mit einem Mal Presse- und Bewegungsfreiheit möglich schienen und Frauen sich unverhüllt, geschminkt und in voller Haarpracht in den Strassen der Metropolen bewegten.
Jina Khayyer «Im Herzen der Katze», Suhrkamp, 2025, 253 Seiten, CHF ca. 36.90, ISBN 978-3-518-43248-8
Die Autorin lebt und wirkt in Deutschland. Ein grosser Teil ihrer Familie lebt aber noch immer im Iran, allen voran ihre Schwester, die einen Iraner heiratete und durch nichts aus diesem Land zu vertreiben ist. Über ihre sozialen Kanäle erfährt die Erzählerin dieses Romans, dass in den Strassen von Teheran eine junge Frau mit gleichem Vornamen wie sie von Sittenwächtern umgebracht wurde. Der Mord an Jina Mahsa Amini am 16. September 2022 wird der Anfang einer weiteren, blutigen Revolte gegen ein Regime, das sich mit ebenso massloser wie gezielter Gewalt an der Macht zu halten versucht. Jina in Deutschland muss aus der Ferne zuschauen, wie sich auf dem Bildschirm manifestiert, was nicht einmal in den wüstesten Träumen vorstellbar ist. Obwohl es Dank des Mutes vieler Verzweifelter immer wieder zu Kundgebungen und einem Aufflammen der Revolte kommt, macht das iranische Regime mit aller Härte klar, dass vor nichts zurückgeschreckt wird, auch nicht vor öffentlichen Hinrichtungen von Menschen, deren Vergehen einzig und allein die Hoffnung auf Freiheit war.
Jina Khayyer erinnert sich an eine Reise in ihr Ursprungsland, als sie als junge Frau für kurze Zeit in den Schoss ihrer grossen Familie zurückkehrte, als sie als westlich sozialisierte Frau mit einem Schleier verhüllt mit dem Auto eine Reise durch den Iran unternahm. Eine Reise durch ein einst blühendes, buntes, kulturell vielfältiges Land mit vielen Sprachen und ebenso vielen Ethnien. Durch ein Land, das aber schon damals nur noch ein Schatten seiner selbst war, in der Angst erstarrt, kontrolliert von bärtigen Männen, die ihre Kalaschnikows ganz offen tragen und nur schon durch einen „falschen“ Blick provoziert werden können. Und wer, vor allem als Frau, erst recht als junge Frau, einmal in die Mühlen dieses Machtapparts gelangt, entkommt ihm kaum mehr unverletzt in Geist und Seele.
„Im Herzen einer Katze“ ist im wahrsten Sinne des Wortes ein Road-Tripp. Ein Höllentripp! Nichts für zarte Seelen, die sich nicht in der Lage sehen, der Fratze des lachenden Unrechts ins Gesicht zu schauen. Auch wenn der Roman seine Längen hat und damit vielleicht die scheinbare Idylle in der Quarantäne einer Familie zeigen will, ordnet die Autorin auf beeindruckende Weise, was in seiner Gesamtheit fast nicht zu ertragen ist. Immer wieder blitzt die arabische Kunst des Fabulierens, der blumigen Erzählung auf, der Weisheit in einer Sprache, die schon über viele Jahrhunderte ihre Blüten trägt und auch durch die graue Gegenwart nicht auszulöschen ist.
Mit Sicherheit war die Nominierung zum Deutschen Buchpreis auch ein Signal, ein Manifest, ein Zeichen. Ein Zeichen, das unmissverständlich ist und an all jene gerichtet ist, die sich den gegenwärtigen Verhältnissen im Iran strategisch verschliessen.
Jina Khayyer ist Schriftstellerin, Dichterin, Malerin und Journalistin. In Deutschland geboren, iranischer Abstammung lebt und arbeitet sie seit 2006 in Paris und in der Provence. Sie ist Autorin für die Zeitschriften ‹The Gentlewoman›, ‹Fantastic Man› und ‹Apartamento›. Zuletzt wurden ihre Gedichte und Zeichnungen in der Kunsthalle Baden-Baden im Rahmen der Gruppenausstellung SEA AND FOG (2024) ausgestellt. «Im Herzen der Katze» ist ihr Romandebüt und stand in der Shortlist zum Deutschen Buchpreis 2025.
Dreh- und Angelpunkt dieses Romans ist ein Loch, Schacht ¾, eine Kohlenmine im Donbass, jener Gegend, in der seit Jahren ein unerbittlicher Angriffskrieg der Russen gegen ihren einstigen Bruderstaat, die Ukraine, den Boden mit Blut tränkt, eine Gegend, in der das Böse immer wieder seine Fratze zeigt.
Während des Zweiten Weltkriegs wurden Tausende von Juden im Donbass ermordet und ihre Leichen in eben diese stillgelegte Kohlenmine geworfen. Nach dem Krieg wurde die Mine mit einem Betonpfropfen verschlossen. Aus den Augen, aus dem Sinn. Aber wie naiv zu glauben, all die Geister dieser Toten würden Ruhe geben, man könne so einfach vergessen. Tausende von Toten in einer Mine, die einst ein grosses Versprechen war, die Reichtum verhiess, mit deren Kohle man die Räder einer prosperierenden Wirtschaft antreiben wollte, in deren Unterhalt sich aber ein Wurm einfrass, der Stollen so unsicher wurde, man sich gezwungen fühlte, die Mine stillzulegen. Eine Mine, die im Unterbewusstsein einer ganzen Gegend wirkt wie ein ewig schlechtes Gewissen.
Und als im Juli 2014 das Passagierflugzeug MH-17 über eben diesem Bergbaudorf von russischen Freischärlern abgeschossen wird, regnet es Frackteile und Tote über einem Dorf, das mit den Auswirkungen des Bösen einmal mehr unfreiwillig in die Mangel genommen wird. Ein Irrtum, denn die Männer, die die Maschine vom Himmel holten, glaubten eine feindliche Transportmaschine im Visier zu haben. Eine Tat, die die russischen Besatzer mit allen Mitteln zu vertuschen versuchen, so wie man damals die Toten im Schacht ¾ stillhalten wollte, eine Tat, bei der fast 300 Unschuldige ihr Leben verloren, darunter 80 Kinder. Unschuldige damals, Unschuldige heute.
Sergej Lebedew «Die Beschützerin», S. Fischer, 2025, aus dem Russischen von Franziska Zwerg, 256 Seiten, CHF ca. 37.90, ISBN 978-3-10-397521-5
Der Roman, der fünf Tage rund um diesen tragischen Abschuss einer Boing 777 beschreibt, mit Rückblenden in die Zeit, als man noch hoffen konnte, die Kohlenmine würde das werden, was man von ihr erhoffte. Eine sterbende Hauptfigur in Sergej Lebedews Roman ist Marianna, die Wäscherin im Dorf. Jene Frau, die alles wieder weiss wäscht. Aber sie ist krank, krebskrank. Und weil sie im Sterben liegt, ist ihre Tochter Shanna zurück ins Dorf gekommen. Ein schwieriger Gang, denn ihre Mutter ist nicht mehr die, die sie einst gewesen war. Als ob all das Böse, dass sie über die Jahrzehnte aus den beschmutzen Stoffen der Menschen waschen musste, den Krebs wie eine Schmutzschicht auf ihre Haut getrieben hätte. Shanna ist nicht nur einfach traurig, sondern enttäuscht, wütend, nicht zuletzt darum, weil die Mutter sie zurück in dieses Dorf gebracht hatte, ein Dorf, von dem sie ahnt, dass das Böse auch sie ereilen will, und weil sie es nicht schafft, den Schmutz von den Laken ihrer Mutter zu waschen.
Zum Beispiel ihr Nachbar Valet, gleich alt wie Shanna, mit ihr aufgewachsen, aber als junger Mann nach Moskau gezogen, um sich am grossen, starken Bruder zu orientieren, um dereinst mächtig zurückzukehren und sich das zu nehmen, von dem er schon ein ganzes Leben überzeugt war, es würde ihm zustehen. Valet lauert auf seine Gelegenheit. Bis ihm eine Leiche im Gestrüpp, eine Tote aus dem Passagierflugzeug MH-17 das bietet, was er glaubt, würde ihm helfen, Shanna auf seine Seite zu bringen.
Vorgesetzter von Valet ist General Korol, ein Veteran aus dem Tschetschenienkrieg, der schon in den 70er Jahren in dieser Stadt als KGB-Offizier diente, die dritte Stimme des Romans, die vierte Stimme die des Ingenieurs, der damals die Kohlemine plante, er ausgerechnet ein Jude.
Man mag Sergej Lebedew vorwerfen, dass er es mit den geschichtlichen Tatsachen und Schauplätzen nicht so genau nimmt. Das kann einem dann stören, wenn man einem Schriftsteller seine Freiheiten verweigert. Wenn man nicht spürt, worum es Lebedew in diesem Roman doch eigentlich geht. Lebedew bündelt all das Böse an einem Ort, an jenem Ort, der bis in die Gegenwart immer wieder zum Totenfeld wurde. Es ist ein Roman über einen ewigen Schmerz. Ein Roman eines Mannes, den dieser ewige Schmerz aus seiner Heimat vertrieb. Ein Roman mit einer mehr als deutlichen Anklage. Starke Worte!
Sergej Lebedew arbeitete nach dem Studium der Geologie als Journalist. Gegenstand seiner Romane sind für den 1981 Geborenen die russische Vergangenheit, insbesondere die Stalin-Zeit mit ihren Folgen für das moderne Russland. Bei S. Fischer sind seine Romane «Der Himmel auf ihren Schultern» (2013), 2Menschen im August» (2015), «Kronos› Kinder» (2018) und «Das perfekte Gift» (2021) erschienen. Zuletzt erschien der Erzählband «Titan oder Die Gespenster der Vergangenheit» (2023). Sergej Lebedew lebt zurzeit in Potsdam.
Franziska Zwerg, geboren 1969, studierte in Berlin und Moskau Slawistik, Germanistik und Theaterwissenschaft und übersetzt zeitgenössische russische Literatur, neben den Romanen von Sergej Lebedew u.a. Werke von Dmitry Glukhovsky, Viktor Martinowitsch, Viktor Remizov.
Dem unverändert aktuellen Thema von Krieg, Gewalt und Zerstörung widmen sich zwei lesenswerte Bücher auf unterschiedliche Weise. Sowohl Ishbel Szatrawska aus Polen mit ihrem Debüt als auch Sergej Lebedew aus Russland mit einem neuen Roman. Beide sind 1981 geboren.
Lieber Gallus
Vor Kurzem trafen wir Freunde und Bekannte aus der Ukraine anlässlich der Tournee des grossartigen Chores «CANTUS» aus Uschgorod, Transkarpatien. Sie berichteten eindrücklich, wie sie den Krieg erleben. Es sitzen junge Leute in Kiev in ihrer Freizeit in den Cafés zusammen und diskutieren lebhaft, obwohl sie nachts bei steten Bombenangriffen kaum schlafen. Das Strassenbild tagsüber im Zentrum gleicht einer modernen europäischen Stadt, unweit davon entstehen täglich neue Zeichen der Zerstörung. Müde, aber überzeugend kämpfen sie weiter um ihr Land, ihre Kultur, ihr Leben. Für uns Schweizer nicht vorstellbar.
Ishbel Szatrawska hat einen historischen Familienroman geschrieben, der im ehemaligen Ostpreussen spielt. Diese Gegend hat eine sehr bewegte Geschichte an einem Schmelztiegel von Völkern, hier haben Polen, Deutsche, Litauer und Russen um Macht und Einfluss gekämpft. Nur schon von diesen historischen und kulturellen Verflechtungen zu erfahren, war für mich hochinteressant. Der Zweite Weltkrieg mit dem Nationalsozialismus, die sowjetische Invasion und die Jahre des Kommunismus in der Region um Königsberg bilden den Hintergrund des Romans. Hauptpersonen sind die Grossmutter Janka und die Enkelin Alicja sowie der Chirurg Max und Jankas Sohn Wolf. Ihre Erlebnisse in einer Zeit des Umbruchs, des Krieges mit Verschiebung der Grenzen werden bildhaft und sprachgewaltig geschildert. Jede Person bekommt ein charaktervolles Gesicht und bleibt trotzdem geheimnisvoll. Einige Weiterentwicklungen bleiben für den Leser, die Leserin offen, machen das Buch noch interessanter und anregender. Ein Roman, der wirklich in tiefe Abgründe des Menschseins führt.
Ishbel Szatrawska «Die Tiefe», Voland & Quist, 2025, aus dem Polnischen von Andreas Volk, 461 Seiten, CHF ca. 35.90, ISBN 978-3-86391-414-1
Die aus Olsztyn stammende Autorin möchte mit ihrem Buch eine Lücke füllen, da bisher Vieles aus der Geschichte Ostpreussens nicht bekannt ist und kaum aus der Sicht einer Polin dargestellt wurde. An der Buchvernissage im Literaturhaus Zürich sagte sie, dass das Buch in Polen in den verschiedenen Bezirken sehr kontrovers aufgenommen wurde. In der ehemals ostpreussischen Region sehr gut, in Zentralpolen teils mit Unverständnis. Dort hat die polnische Bevölkerung die Deutschen als Invasoren erlebt.
Mich hat die poetische kraftvolle Sprache von Szatrawska sehr beeindruckt. Zeitlich und örtlich hin und her springend erzählt, ist das Buch nie unübersichtlich. Der geschickte Perspektivenwechsel gibt dem Werk eine faszinierende Dichte und Tiefe. Wie sich Grossmutter Janka und ihre ebenso starke Enkelin Alicja den Herausforderungen stellen, bleiben im Gedächtnis hängen:
Nimm nichts von Deutschen. Alicja erstarrte, sie hielt ein bunt verpacktes Schokoladenbonbon in ihrer Faust. Sie brauchte sich nicht umzudrehen. Auch so wusste sie, dass Grossmutter Janka mit der Zigarette in der Hand unter dem Vordach stand, unbewegt, bedrohlich. Obgleich der Sommer in diesem Jahr ein typisch preussischer war, mässig warm, wolkig, mit unangenehm kühlem Wind aus Norden, spürte sie, wie ihr heiss wurde.(Buchanfang, Janka noch Mädchen)
Wie der Chirurg Max umgeben von immer mehr Zerstörung und Eindringen der Russen unter schwierigsten Bedingungen und in einem widerlichen Umfeld arbeiten muss, haben mich als pensionierten Hausarzt erschüttert:
Halt!, rief Max, das ist ein Operationssaal. Der Grösste der Meute zielte sofort auf seinen Kopf. Unwillkürlich hob er die Hände. Johanna schluchzte in der Ecke. Er hörte, wie sie ihr die Kleider vom Leib rissen. Er schaute in den Lauf des Gewehrs, um die Frauen nicht sehen zu müssen, in der erhobenen Hand hielt er noch immer den Nadelhalter. (Russeneinfall in Königsberg am Ende des Zweites Weltkriegs)
Menschen verlieren Würde und Heimat und müssen entwurzelt ums nackte Überleben kämpfen. Keine leichte Kost, aber ein Buch, das zu Herzen geht. Sehr zu empfehlen!
Sergej Lebedew, studierter Geologe setzt sich bereits seit Jahren mit den unterirdischen Spuren menschlichen Terrors auseinander. Erstmals 2011 (deutsche Ausgabe) mit «Der Himmel auf ihren Schultern» und aktuell im soeben erschienen Roman «Die Beschützerin»; Fünf Tage im Juli 2014 im Donbass, wo bereits die Nationalsozialisten im Zweiten Weltkrieg Tausende Juden umgebracht und verscharrt haben. 2014 wurde zudem ein Passagierflugzeug von den Russen abgeschossen.
Sergej Lebedew «Die Beschützerin», S. Fischer, 2025, aus dem Russischen von Franziska Zwerg, 256 Seiten, CHF ca. 37.90, ISBN 978-3-10-397521-5
Der russische Originaltitel »Белая дама», «Die weisse Dame», wäre für mich sinnvoller, denn Marianna, dreissig Jahre lang Leiterin einer Bergbau-Wäscherei, versucht dunkle hartnäckige Flecken in der Wäsche weisszuwaschen. Später versucht auch ihre Tochter Shanna, unerschöpflich das Böse dieses Ortes wegzuzwaschen. Reinwaschen als Metapher fürs Verdrängen schrecklicher Tatsachen. Hier, im «Schacht ¾» eines Bergbaus lagern bis unter die Erdoberfläche aufgeschichtet Leichen, erschossen und ermordet durch verschieden Aggressoren:
Unter uns liegen von den Deutschen erschossene Soldaten der roten Armee. Unter ihnen die Gefangenen sowjetischer Gefängnisse, erschossen von den Bolschewiki beim Rückzug der roten Armee. Unter ihnen sind weisse, rote, grüne und zufällige Ansässige, als Geiseln genommen und hingerichtet im Bürgerkrieg von den vorrückenden und sich zurückziehenden Truppen… Und unter ihnen sind die getöteten Streikenden der ersten Revolution von 1905.
Eine dunkle Geschichte mit vier ProtagonistInnen zwischen Schuld und Versöhnung, Geschichtsbewusstsein und Vergessen, Verlassenheit und Wut. Neben Marianna, die «Beschützerin», die an Krebs stirbt, und ihrer Tochter Shanna erscheint Valet, ein früherer Nachbar von Shanna, der «gehärtet und abgedroschen» von Moskau zurückkehrt, um die prorussischen Separatisten zu unterstützen und Shanna endlich zu entführen. Er schenkt ihr einen teuren Lippenstift, den er einer Leiche aus dem abgeschossenen Flugzeug entwendet hat. Auch General «Korol», ein typischer KGB-Offizier, welcher Mariannas Akte unter «Schneewittchen» notiert hat, kehrt an diesen Ort zurück, überwacht die «Totenkammer», Schacht ¾, damit der Bevölkerung keine unnötigen Fragen kamen. Als innere Stimme, als Geist, lässt Lebedew einen jüdischen Ingenieur sprechen:
Daraufhin wurde eine neue Waffe geboren: der lange Arm des Todes, der bis über den Ärmelkanal reichen konnte. Eine vollendete Form, ein Hai der Lüfte, ein Gerät ohne Menschen darin. Es war die V2… Als man uns im Frühjahr 1942 tötete, wurden sie bereits produziert, getestet und vorbereitet. Zwangsarbeiter setzten sie zusammen – lebende Tote. Damit sie andere Menschen in Tote verwandeln konnten.
Erschüttert und nachdenklich lege ich das Buch weg. Metaphorisch etwas überladen zeigt dieses düstere Buch nachhaltig, was Kriege mit uns Menschen machen. Ein Mahnmal! Mit Hoffnung? Ich bin gespannt auf deine Eindrücke und grüsse herzlich
Ishbel Szatrawska, 1981 in Olsztyn (ehemals Allenstein, Polen) geboren, studierte polnische Literatur und Theaterwissenschaft an der Jagiellonen-Universität in Krakau, wo sie heute lebt und schreibt. Sie ist Autorin von sechs Theaterstücken. Ihr Debütroman «Toń» (dt. «Die Tiefe») stand auf Platz eins der Bestsellerliste für polnische Literatur und wurde zu einem der «10 besten Bücher des Jahres» gewählt.
Andreas Volk, 1971 in Idar-Oberstein geboren, lebt seit bald zwanzig Jahren als Literaturübersetzer in Warschau. Er übersetzte bereits Ishbel Szatrawskas Theaterstück «Totentanz. Schwarze Nacht, schwarzer Tod». 2013 wurde er mit dem Übersetzerpreis der Vereinigung der polnischen Bühnenautoren und -komponisten Zaiks und 2022 mit dem Karl-Dedecius-Preis ausgezeichnet.
Sergej Lebedew wurde 1981 in Moskau geboren und war viele Jahre auf geologischen Expeditionen im Norden Russlands und in Zentralasien unterwegs, bevor er zu schreiben anfing. Sein erster Roman «Der Himmel auf ihren Schultern» stand auf der Longlist des russischen Nazbest-Preises 2011. Zuvor sind in Russland seine Gedichte, Essays und journalistischen Texte erschienen. Lebedew lebt seit 2018 in Potsdam.
Franziska Zwerg, geboren 1969, studierte in Berlin und Moskau Slawistik, Germanistik und Theaterwissenschaft und übersetzt zeitgenössische russische Literatur, neben den Romanen von Sergej Lebedew u.a. Werke von Dmitry Glukhovsky, Viktor Martinowitsch, Viktor Remizov.
«Aletheia» kämpft gegen Desinformation, Fake-News und Manipulation. Eine Aktivistengruppe, die zu allem bereit ist, auch wenn Blut fliessen muss. „Es gibt nur eine Wahrheit und sie ist absolut», ist Teil ihres Manifests und Kampfansage zugleich. Raphaela Edelbauers Roman ist der mutige Versuch, sich mitten ins Wespennest zu setzen!
Nicht erst seit der Pandemie grassieren „alternative Fakten“. Aber ganz sicher gewannen sie seit dem Niedergang grosser Zeitschriften und Zeitungen an Einfluss. Das Netz ist voller „News-Portale“, die aber eigentlich nicht zur Meinungsbildung beitragen wollen, sondern Meinungen vertreten. Seit sorgältiger Journalismus nicht mehr in einem finanziell gesicherten Umfeld gedeihen kann und private, und von Wirtschaft und Politik gesteuerte Medien mehr oder weniger unabhängige Berichterstattung immer offensiver verdrängen und „Wahrheit“ mehr und mehr relativ erscheint, war es mehr denn je an der Zeit, dass sich die Literatur intensiv mit „Wahrheit“ beschäftigt. Zwar nicht inhaltlich, ist Erzählen doch immer Fiktion, sondern philosophisch und mit dem, was die Desorientierung rund um diesen Begriff an der Gesellschaft bewirkt.
Dass sich Raphaela Edelbauer diesem Thema und all den darunter liegenden Schichten annimmt, ist ein Glücksfall, zumal die Autorin nicht erst mit diesem Roman beweist, wie viel ihr an Tiefe, Einsicht, Genauigkeit und Auseinandersetzung liegt. Was die äusserst kluge Autorin wagt, ist viel und ist vielleicht auch deshalb mit Bravour gescheitert.
Wir wissen, dass der Aufstieg des Populismus und seiner alternativen Fakten, dass Verschwörungstheorien oder das Sabotieren der Wissenschaft dem unbeabsichtigten Wirken des Krebses Postmoderne zuzuschreiben ist. Deswegen streben wir nach einer philosophischen Revolution. Auch wenn sich der Verfall in der politischen und gesellschaftlichen Sphäre ereignet, so kann dieser Verfall nicht ohne einen Umsturz der Begriffe aufgehalten werden. Ohne den Anker eines Wahrheitsbegriffs läuft jede politische Maßnahme ins Nichts.
Raphaela Edelbauer «Die echtere Wahrheit», Klett-Cotta, 2025, 448 Seiten, CHF ca. 40.90, ISBN 978-3-608-96630-5
Eine kleine Gruppe philosophischer Terroristen lebt zusammen in einem abgefuckten Gebäude ohne Heizung, um zum grossen Schlag gegen eine entgleiste Gesellschaft auszuholen. Bernward, Brigitte, Paul, Bettina, die man nur „die Chirurgin“ heisst – und die Erzählerin Petra, die sich selber Byproxy nennt, seit einem Unfall an einen Rollstuhl gefesselt ist und sich mit dem Eintritt in die Gruppe, dem neuen Namen, mehr als nur ein neues Leben geben will. Byproxy muss sich die Akzeptanz der Gruppe schwer verdienen. Nicht zuletzt die Chirurgin ist alles andere als glücklich, dass noch jemand bei den geheimen Plänen mitmischen soll. In einem Geflecht aus politischen Grundsatzdiskussionen, philosophischen Streitgesprächen und einem HinundHer zwischen Misstrauen und Erleichterung dümpelt die Gruppe auf den einen Punkt, der endlich mithelfen soll, eine Wende in der zu Fels erstarrten Gegenwart hinzuführen.
Dass Byproxy im Rollstuhl sitzt, „verdankt“ sie ihrer besten Freundin. Eine Autofahrt mit katastrophalen Folgen. So wie Byproxy, alias Petra, sich aus den Folgen dieser Katastrophe befreien will, so soll das mit dem grossen Knall in der Wiener Innenstadt passieren, obwohl Byproxy weiss, dass sie die Wunden nicht schliessen kann. Die Gruppe handelt aus purer Verzweiflung, aus Verzweiflung an einer Gesellschaft, die mehr und mehr in seine Extreme zerfällt, die allen Ernstes glaubt, Wahrheit sei rein subjektiv, Politik, die sich ihre Wahrheit zurechtbiegt und Menschen, die sich einlullen lassen.
Raphaela Edelbauers heere Absichten, den Diskurs, das Nachdenken über Wahrheit und den Umgang mit solchen scheitert heroisch. Ich mag die Leidenschaft ihres Schreibens, auch wenn ihre Klugheit, das Mit-der-grossen-Kelle-Anrühren manchmal beinahe schulmeisterlich tönt. Ich mag das Setting, wenn ein Stein unaufhaltsam ins Rollen kommt, habe aber Mühe, wenn das Personal im Roman verkopft, seelenlos wirkt. Was Byproxy mit ihrer Freundin auszustehen hat, mit jener Person, mit der sie einst maximal viel verband, die sie aber auch maximal verwundete, diese Geschichte rührt bis in den Bauch. Auch die Verzweiflung an einer lahmenden Gesellschaft.
Ein Buch, das mir nach der Lektüre quer im Magen liegt. Aber vielleicht war genau das die Intention der Autorin. Raphaela Edelbauer will weder streicheln noch schmeicheln. Ihr Roman sperrt sich, will nicht bloss unterhalten. Nur wer sich auf die Gedankengänge dieser übersprudelnden Autorin einlässt, kann sich faszinieren lassen. Schon beeindruckend, auch wenn es vielleicht einen Beipackzettel gebraucht hätte. Das Buch ist kein Versprechen, aber der Biss eines literarischen Pitbulls.
Raphaela Edelbauer, geboren in Wien, studierte Sprachkunst an der Universität für Angewandte Kunst. Für ihr Werk «Entdecker. Eine Poetik» wurde sie mit dem Hauptpreis der Rauriser Literaturtage ausgezeichnet. Ausserdem wurde ihr 2018 der Publikumspreis beim Bachmann-Wettbewerb, der Theodor-Körner-Preis und der Förderpreis der Doppelfeld-Stiftung zuerkannt. Ihr Debütroman «Das flüssige Land» stand auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises, ihr dritter Roman «Die Inkommensurablen» auf der Longlist. Für ihren zweiten Roman «DAVE» erhielt sie den Österreichischen Buchpreis. Raphaela Edelbauer lebt in Wien.
Es ist ganz leicht, in den Wind zu sprechen, das Falsche zu sagen, sich ins Moos zu wühlen, zwischen Flechten auf dem kargen Stein jenseits der Baumgrenze verblassen zu wollen.
Sie fährt weg, hinauf, mit der Absicht, sich zu entfernen. Hinauf in die Berge, in einen Berggasthof hoch oben, in ein kleines Zimmer, nur mit dem Allernötigsten. Um sich eine Pause zu geben. Vielleicht um Klarheit zu schaffen, denn unten im Tal, dort, wo sich sonst ihr Leben abspielt, ist ein Mann, den sie liebt, dem sie einen langen Brief schreibt, manchmal am Tisch in der Nähe der Gäste im Gasthof, manchmal auf dem Zimmer, manchmal unterwegs. Einen Brief, in dem sie viel mehr schreibt, als das, was sie sich erhofft. In dem sie schreibt, wovor sie sich fürchtet, vor dem Grossen und dem Kleinen, vor all dem Unumkehrbaren, vor dem sich die meisten verschliessen, wenn sie den Gesprächen im Gasthof lauscht, wenn sie sich losschreibt, von all dem, was sich in ihren Kopf zwängt, all die Nichtig- und Oberflächlichkeiten, mit denen wir uns zutexten, mit denen wir über- und zudecken, was mit Grossbuchstaben geschrieben werden müsste.
Ein Brief voller Hoffnungen, ein Brief, den sie nicht abschicken wird, der alles sagt und doch das letzte nicht ausspricht. Die Hoffnung, der Mann im Tal würde seine Sachen packen, würde erkennen, dass sie ihn braucht, dass sie ihn jetzt braucht, wie sehr sie sich wünscht, er würde losfahren und zu ihr kommen. Sie erzählt von ihm, wie er ihr in Nachrichten mitzuteilen versucht, wie leicht der Schritt doch ist aus all den Dingen, die sie nicht aufhalten kann, die sich an sie heften, von denen sie sich nicht befreien kann. Sie glaubt nicht, dass es Auszeit gibt, einen Fluchtplan, dass man alles weglegen kann, selbst das wenige, das sie mit ins Tal nimmt, auch wenn sie die Versuchung spürt, dieses Allerletzte zurückzulassen.
Romina Nikolić «Litanei der Leichtigkeit, in der du–» (SL 219), Sukultur, 2025, 24 Seiten, CHF ca. 3.90, ISBN 978-3-95566-190-8
„Litanei der Leichtigkeit, in der du-“ ist ein leidenschaftlicher Text über das Verlorensein, über die Sehnsucht nach Sicherheiten, ein Zwiegespräch mit sich selbst, mit dem Wind, dem weiten Blick über das Tal. Ein Versuch des Verortens, weil die Erzählerin spürt, dass sie abgetrennt von dem ist, mit dem sie sich doch so verbunden fühlt. Ein Erklärungsversuch all jenen gegenüber, die glauben, man müsse sich bloss ein bisschen schütteln, ein bisschen zusammenreissen, ein bisschen besinnen.
Dieses kleine gelbe Büchlein ist der perfekte Begleiter auf einer Reise. Nicht bloss auf die Reisen weg, sondern auch auf die Reisen hin. Es passt in jede Tasche, als Einladung in ein Tagebuch, als Sehhilfe neben das Bündel Fahrkarten, in die Brusttasche ganz nah beim Herzen, dort wo man den Puls nur noch hört, wenn man unter der Wasserlinie in der Badewanne liegt. „Litanei der Leichtigkeit, in der du-“ von Romina Nikolić ist ein Kleinod aus einer ganzen Reihe literarischer Marksteine unter dem Titel „Schöner Lesen“, herausgegeben von Sofie Lichtenstein und Moritz Müller-Schwefe.
Romina Nikolić, geb. 1985 in Suhl, wuchs in Schönbrunn/Thür. auf, studierte Literaturwissenschaft und Philosophie. Seit 2009 neben der eigenen schriftstellerischen Tätigkeit Organisatorin von Lesereihen und diversen literarischen Projekten, u. a. als freie Mitarbeiterin bei der Literarischen Gesellschaft Thüringen oder Mitbegründerin von Love Crime Books, einem Independent-Label für Fanfiction-Anthologien. Zweifache Preisträgerin beim Jungen Literaturforum Hessen-Thüringen, Walter-Dexel-Stipendiatin der Stadt Jena. Lebt als Projektmanagerin, Lyrikerin und Herausgeberin in Jena.
Nur wer Fragen stellt, nur wem dieses undefinierbare „komische“ Gefühl nicht genügt, nur wer weiss, dass Oberflächen niemals zeigen, was in den Schichten darunter liegt, erfährt Geschichte und Welt, wie sie wirklich sind. Robert Prosser misstraut den Oberflächen und reisst an den feinen Haarrissen, die wir sonst allzu gerne einfach mit frischer Farbe aufhübschen.
Eine Recherchereise in den Libanon, jenes von Krisen, Glaubenskriegen und Terrorismus zerfressene Land, auf den Spuren der dortigen Sprayerszene, die der Welt zwischen Trümmern und Partys einen Kontrapunkt setzten will. Die Reise eines Mannes, der selbst auf der Suche ist nach dem, was seine Sprache sein soll. Der Zwiespalt eines Mannes, der sein geerbtes Haus im Tirol zu einem Teil der touristischen Machinerie werden lässt, die sein Heimatdorf aushöhlt. Das Wissen um das „Nest“ irgendwo in den Bergen über dem Dorf, in dem sich während des Weltkriegs Deserteure versteckt hielten, Männer, die über Monate und Jahre in den Wäldern an der Baumgrenze auf das Ende des Krieges warteten und selbst mit dem Zusammenbruch des Dritten Reiches nicht mehr wussten, wo ihr Platz sein sollte. Und die Geschichte eines Malers, eines Deutschen, der durch den Krieg versehrt zusammen mit einer anderen Malerin sein Glück in einem kleinen Haus an eben jenem Dorfrand suchte, ein Mann, der im Krieg seinen rechten Arm verlor, seine Hand, mit der er malte, der in dem kleinen Tiroler Dorf hofft, wenigstens etwas von dem zurückzugewinnen, was ihm der Krieg genommen hatte.
Robert Prosser «Das geplünderte Nest», Jung und Jung, 2025, 176 Seiten, CHF ca. 35.90, ISBN 978-3-99027-427-9
Auf nicht einmal 200 Seiten webt Robert Prosser ein dichtes Netz aus Erzählsträngen, starken Bildern, eindringlichen Szenen und Dialogen, die zeigen, wie sehr Robert Prosser in seinem Schreiben performativ arbeitet. Mit der Lancierung seines neuen Romans wird Robert Prosser wie schon mit seinem Vorgängerroman „Verschwinden in Lawinen“ zusammen mit dem Percussionisten Lan Sticker Romanfragmente auf der Bühne inszenieren, eine Umsetzung, die seine Texte unvergesslich macht.
Vieles an diesem Roman ist autobiographisch. Ein junger Mann sucht nach seiner Art der Kunst. Schon als kleiner Junge schickt seine Mutter ihn zu dem Maler am Rande des Dorfes, zu Hugo Lenz, der in seinem kleinen Haus mit dem wenigen, das seine Kunst an Geld bringt, zu überleben versucht, der sich auch nicht zu schade ist, zwischendurch eine Garage frisch zu streichen, um wieder zu etwas Geld zu kommen. Ein Mann, der im Krieg seinen rechten Arm verloren hatte, mit seiner Linken malen lernen musste und zu Lebzeiten erst nur noch mit Schwarz arbeitete, später noch mit Rot dazu. Wie könnte er noch Farben verwenden? Es kam ihm falsch vor, verlogen. Ausser Schwarz, ja, alles müsste schwarz sein. Auch später, als der Erzähler bereits glaubte, in der Sprayerszene seinen Platz gefunden zu haben, waren es Spaziergänge mit Lenz, die ihn herausforderten. Und als Lenz dann mit einem Mal gestorben war, das Haus am Rand des Dorfes unbewohnt, die Kunst des Malers ins Vergessen zu sinken drohte, war es eine journalistische Arbeit, die den Erzähler zur vertieften Recherche veranlasst. Eine Recherche, die mehr ans Licht bringt als beabsichtigt, eine Recherche, die einen Mann zeigt, der sich ein Leben lang aus der Finsternis einer dunklen Kriegserfahrung herauszumalen versucht, der das Grauen eines Krieges stets mit sich herumtragen muss, am Stummel seines weggeschossenen Arms. Die Geschichte seines Grossvaters, der ihm das „Ludwig-Haus“ vererbt hatte, ein Haus, das der Erzähler zimmerweise vermietet, das ihm finanzielle Sicherheit gibt. Die Geschichte eines Grossvater, der nie viel erzählte während den letzten Monaten des Krieges, aber als Aufseher von Kriegsgefangenen amtete und dies wohl nur schwer mit seinem Gewissen vereinbaren konnte, auch lange nach dem Krieg. Erst recht, als einer dieser Gefangenen, der „Ukrainer“ flüchten konnte und sich jenen anschloss, die sich im „Nest“ oben in den Bergen über dem Dorf zu verstecken versuchten.
Es ist der Blick auf die Gegenwart, seine Reise in den Libanon, und in die Vergangenheit, die Recherche über den Maler Hugo Lenz (dem Maler Werner Scholz 1898 – 1982 nachempfunden), die diesen Roman auszeichnet, den Blick unter die Fassade. So wie sein Tiroler Heimatdorf für den Tourismus ebenfalls eine Hochglanzfassade verkauft. Und gleichsam seine Sprache, der Sound seiner Sprache, der Wechsel von klarem Rhythmus und äusserst sinnlichen Passagen. Ein Autor mit einem feinen Sensorium und einer ausgeprägten Gabe, seiner Sprache pulsierendes Leben zu schenken.
Musik und Komposition: Lan Sticker Text und Stimme: Robert Prosser Produktion: Zora Pictures
Interview
Ich lese dich, höre dich und sehe dich – und ich bin schwer beeindruckt. Dein Roman ist vieles; ein Buch über einen Künstler wie dich, der nach seiner Ausdrucksfom sucht. Ein Roman über eine Rückkehr in eine Heimat, die Heimat und Fremde zugleich ist. Ein Roman über die Eindrücke einer intensiven Recherchereise in den Libanon, einem Land, das mehr als durch ein Meer von uns getrennt ist, das voll in Zeiten des Umbruchs steht, auf der Grenze zwischen Selbstzerstörung und Aufbruch. Ein Roman über einen Künstler, der im Krieg den Arm verlor, mit dem er seine Sprache gefunden hatte, mit dem er seine Kunst machte, der einen Neuanfang suchte und ihn bis zu seinem Tod nie wirklich fand. Ein Roman über Österreich und seine Vergangenheitsbewältigung, über Deserteure im Zweiten Weltkrieg, über Anpassung und Widerstand. Und ein Roman über das Erbe, über die verschwiegene Vergangenheit in Familien. Was stand am Anfang deines Schreibens?
Der eigentliche Auslöser für diesen Roman liegt weit zurück, gute zwölf Jahre. Ich schrieb eine meiner ersten Reportagen, über zwei Maler und eine Malerin, die in Alpbach, meinem Geburtsort, zur Zeit des Zweiten Weltkriegs eine Art Exil gefunden hatten. Im Nachhinein verfolgte mich lange das Gefühl, als wäre ich diesen drei Persönlichkeiten nicht gerecht geworden, als hätte ich an ihnen vorbeierzählt. Aus dem Vorhaben, nun endlich eine passable Geschichte hinzubekommen, wurde letztlich dieses Buch und das Schicksal der drei Künstler findet sich destilliert in den beiden Romanfiguren Lenz und Marie wieder.
Im Libanon sind die Trümmer der Geschichte überall sichtbar. In Österreich muss man sich auf die Suche machen, wenn man ihnen auf die Spur kommen will. Dort, nicht erst seit der der fatalen Explosionskatastrophe vom 4. August 2020, die Ruinen einer schleichenden Apokalypse, hier das Tirol, die perfekte Tourismuskulisse in einer Landschaft, unter der die Zeugnisse scheinbar vergangener Katastrophen schlummern, auch solcher, die nie wirklich ein Ende fanden. Nirgends ist Idylle. Unter jedem aufgesetzten Fuss ist Geschichte, Blut und Leid. Wie sehr verstehst du Literatur als Aufbrechen? Als Konfrontation?
Es müsste eine Konfrontation der leiseren Art sein. Oder besser: eine Beschwörung. Sodass die Idyllen ihre Brüchigkeit verraten, ihre Untiefen. Deshalb ist mir auch die Recherche sehr wichtig, alles, was vor dem eigentlichen Schreiben passiert, dieses Herantasten an den Erzählstoff, die eigene, körperliche Erfahrung der Nischen und Schatten. Und weil das Internet so wenig zur Recherche taugt, sich online nur Fetzen, Schnipsel finden, deshalb ergibt sich ein tiefergehendes Verständnis erst durch reale Begegnungen, durch Gespräche und die tatsächlich zurückgelegten Wege. Bezüglich Beiruts war es der Versuch, die Distanz zu überwinden, der Fremde ein wenig Vertrautheit abzugewinnen. Und bei Tirol ging es mir darum, in der gewohnten Umgebung eine Art von Fremde aufzuspüren. Beirut wollte ich mir in gewisser Weise erarbeiten, erschließen. Einer der mitunter faszinierendsten Aspekte dieser Stadt ist, dass sie viele Blickwinkel und Ansätze erlaubt und immer wieder anders erzählt werden kann. Die Romanhandlung setzt im Frühjahr 2024 ein – zu einem Zeitpunkt, an dem sich Beirut als sehr dunkel und verlassen zeigte, wortwörtlich: gekappter Strom, die auffällige Leere einer Stadt, aus der viele Menschen geflohen sind. Die Hisbollah präsentierte sich als staatstragende Macht, doch war zu erahnen, dass man im Zuge des Gaza-Kriegs auf eine Zäsur zusteuert. Und Alpbach – das Dorf, das in einer fiktionalisierten Weise im Roman als Vorlage dient – das musste umgekrempelt werden, um abseits der bekannten Klischees und all der Werbeschablonen, die auf den Bergen lasten, Rätselhaftes und Überraschendes zu finden.
Ins Dorf, in dem dein Roman spielt, setzt du eine ganze Reihe von Menschen, die auf die eine oder andere Weise am Leben zu scheitern drohen – oder auch wirklich scheitern. Keine Gewinner, keine Profiteure, Aussenseiter. Wie sehr fühlte sich Robert Prosser in seiner eigenen Geschichte in gewissen Zeiten als Aussenseiter?
Die Rolle als Aussenseiter, die ist für mich sehr positiv behaftet, vermutlich liegt das am Aufwachsen in einem Tiroler Bergdorf. Die Entscheidung, es mit dem Schreiben zu probieren, die ist selten eine leichte, egal von wo man kommt. Vielleicht hat mir Alpbach in meinem weiteren Weg sogar mehr geholfen, als wie wenn ich in Innsbruck oder Wien aufgewachsen wäre. Es hätte leicht passieren können, und ich wäre Bankangestellter geworden oder hätte eine Lehre gemacht, sommers Maurer, winters Schilehrer, etwas in diese Richtung. Das wäre natürlich auch kein Untergang gewesen, aber ich bilde mir ein, dass ich mir wegen Alpbach schon in meiner Jugend eine gewisse Starrköpfigkeit angeeignet habe, um auch in einer engen Dorfgesellschaft den Traum, ein Künstler zu werden, umsetzen zu können. Rückblickend kommt mir vor, als wäre ich in eine gewisse Aussenseiter-Rolle hineingeraten. Mein erster Schritt in Richtung Kunst, das war damals Hip-Hop und vor allem Graffiti. Der einzige Sprayer in einem Bergdorf, da lässt sich eine gewisse Absurdität nicht verleugnen. Und im Kern war die Existenz als Autor darin bereits angelegt. Wann wäre man als ein solcher kein Aussenseiter? Einerseits, weil es ein ungewöhnlicher Beruf ist und ich im Alltag oft mit Menschen zu tun habe, denen eine solche Existenz fremd ist. Andererseits – und das fällt mir bei Recherchen oft auf, oder wenn ich für Reportagen unterwegs bin – nimmt man aufgrund des Schreibens zuallererst die dankenswerte Position des Beobachters ein, des Fragestellers, einer, der im Hintergrund der Geschichte nachspürt, um aus diesem Abseits hervor schließlich den Text zu fördern.
Im „Nachwort“ zu deinem Roman verrätst du, dass es zur Figur des Malers Hugo Lenz eine reale Figur gibt, die des Malers Werner Scholz, den es mit anderen zusammen in der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts aus den Wirren der Ferne in deine Heimat verschlagen hatte, die gemeinsam eine Art Künstlerkolonie gründen wollten. Mir scheint dein Buch auch eine Homage an all jene Menschen, die kompromislos ihrer Kunst folgen, die alles daran setzen, um ihre Stimme, ihren Strich, ihre Farben zu finden.
Absolut. Wenn jemand eine Passion, eine Berufung aufgrund einer inneren Notwendigkeit verfolgt, dann empfinde ich das persönlich wie auch aus einem literarischen Blickwinkel hervor als sehr anziehend. Durch die Figur des Lenz etwa konnte ich darüber schreiben, wie einer an einem fremden Ort versucht, heimisch zu werden, aber just aufgrund seiner Kunst, die ihn erst in die Fremde geführt hat, ein Aussenseiter bleibt. Und zugleich verbindet er sich dank der Malerei und dank der Suche nach Farben und Materialien, nach Rötel und Schiefer, mit dem Gebirge und wird ein eigenwilliger Teil davon. Darin steckt, glaube ich, nicht nur eine besondere Tragik, sondern auch eine erzählenswerte Schönheit.
Du bist ein Meister der Performance. Zusammen mit dem Percussionisten Lan Sticker schaffst du es in beeindruckender Weise, deine Texte in Sprachmusik, Klangbilder und Wortlandschaften umzusetzen. Wie sehr mischt sich der Performer schon in den Prozess des Schreibens ein? Gibt es neben dem Schriftsteller auch den Rapper Robert Prosser? Und gibt es den Sprayer noch?
Den Sprayer, den gibt es nur noch als interessierten Beobachter. Der Rapper, der geistert noch weiter, flackert in der Rezitation auf, das lässt sich vermutlich nie ganz abschütteln. Und die Aufführung selbst, die mischt sich relativ früh ein, insofern, als ich einzelne Skizzen auf ihre Bühnentauglichkeit abklopfe. Der Performer horcht beim Schreiben mit und wenn ich das Buch halbwegs vor Augen habe, dann versuche ich, daraus eine Erzählung zu lösen, eine Fährte aus dem Roman bis auf die Bühne – oder zumindest in den Proberaum, um dort mit Lan an einer Performance zu arbeiten. Die Rhythmen und Melodien, die wir dann ausprobieren, verändern wiederum meine eigene Sicht auf die Geschichte, der Text wird nochmals neu aufgefächert und in anderer Art lebendig.
Robert Prosser studierte Komparatistik sowie Kultur- und Sozialanthropologie in Innsbruck und Wien. Autor und Performancekünstler. Für seine Romane hat er zahlreiche Auszeichnungen erhalten, u.a. 2014 den Reinhard-Priessnitz-Preis. Mit «Phantome» (2017) stand er auf der Longlist zum Deutschen Buchpreis. Zuletzt erschienen: «Verschwinden in Lawinen» (2023).