Michael Stavarič «Die Schattenfängerin», Luchterhand

Michael Stavarič erfindet sich mit jedem seiner Bücher neu. Er kennt keine Grenzen. Seine Fähigkeit, sich in beinahe kindliche Welten zu versetzen, seinen Blick auf die Welt von allen Konventionen zu befreien, macht Michael Stavaričs Literatur zu einer echten Tiefenerfahrung. Sein Roman „Die Schattenfängerin“ ist bestes Beispiel dafür.

„Die Schattenfängerin“ erzählt aus der Sicht von Stella, einer Jugendlichen, die zur jungen Frau wird, einem jungen Menschen, die den jugendlichen Blick bewahren, ihre ganz eigene Welt bewahren kann, obwohl es ihr das Schicksal nicht leicht macht. Michael Stavarič macht sich zur Stimme dieser jungen Frau, lässt seiner Erzählfreude freien Lauf, entkrampft und losgelöst. Da schreibt einer, der nicht einfach eine Geschichte wiedergeben will, nacherzählen. Michael Stavarič schöpft Neues, evoziert Bilder, die während des Lesens Fragen stellen, wichtige Fragen. „Die Schattenfängerin“ erzählt von Rätseln und lässt sie stehen, von einem rätselhaften Kind, das sich nach dem Tod seines Vaters auf den Weg macht. Das mag märchenhaft klingen, was bei „Die Schattenfängerin“ auch nicht falsch ist. Und doch bleibt der Roman ganz nah an der Welt.

Michael Stavarič «Die Schattenfängerin», Luchterhand, 2025, 288 Seiten, CHF ca. 33.50, ISBN 978-3-630-87674-0

Stella wohnt mit ihrem Vater in einem Haus weg vom Dorf, auf einem Hügel. An ihr Grundstück grenzt nur dasjenige der Nachbarn, die dann nach Stella schauen, wenn ihr Vater wieder einmal weit weg auf Reisen ist, wenn er sich aufmacht, einmal mehr Zeuge einer Sonnenfinsternis zu werden, weit weg. Ein Umstand, den Stella zu akzeptieren gelernt hat, ohne zu verstehen, warum sie ihren Vater auf diesen Reisen nicht begleiten darf. Die Beziehung zwischem ihm und Stella, zwischen Vater und Tochter, ist eine beinah symbiotische. Stella geht nicht zur Schule, wird von ihrem Vater unterrichtet. Er zeigt ihr seine Welt, erklärt der immer hungrigen Stella all die Geheimnisse, die sich im Grossen und Kleinen auftun, wenn man bereit ist, hinzuschauen. Und so ist es auch nicht verwunderlich, dass Stella Pflanzenlexika, Anatomiebücher und juristische Werke wie einen Schatz hortet, Bücher aus der grossen Bibliothek ihres Vaters. Das Haus am Hügel ist das Tor zur Welt.

Doch eines Morgens wacht ihr Vater nicht mehr auf. Stella muss akzeptieren, dass ihr Vater eine Reise angetreten hat, von der er nicht zurückkommt. Stella ist fünfzehn, als es geschieht. Und nur weil Stella es schon immer gewohnt ist, auf eigenen Füssen zu stehen und ihr die Nachbarn auch in dieser Zeit fürs erste an ihrer Seite sind, darf sie bleiben, zwingen sie die Ämter nicht dazu, das Haus des Vaters verlassen zu müssen. Auf sich selbst gestellt, finanziell von ihrem Vater abgesichert, macht sich Stella auf, jenen Teil ihres Lebens zu erkunden, der ihr bisher verschlossen blieb. Der in vielen Kisten auf dem Dachboden ihres Hauses lagert. Hin zu ihrer Mutter, die seit vielen Jahren in einer Klinik vegetiert, von der ihr ihr Vater fast nichts erzählte, die in ihrem Leben kaum eine Rolle spielt. In ein Leben, das sich auch ausserhalb ihrer kleinen Welt abspielen muss. Auf den Friedhof, wo das Grab ihres Vaters ist, wo sie sich mit Kurti, dem Totengräber anfreundet und zur jüngsten Totengräberin des Landes wird. Und auf diese eine, erste, grosse Reise zur nächsten Sonnenfinsternis, jener Reise, zu der ihr Vater sie nie mitnehmen wollte, von der sie ahnt, das mehr zu fangen ist, als der lange Schatten der Sonne.

Es ist die Art des Erzählens, die fasziniert. Michael Stavarič scheint einer der wenigen Erwachsenen zu sein, die in sich den kindlichen Blick bewahren konnten, die unverbaute Sicht auf die Welt. Seine Art des Beschreibens erinnert an den Blick eines Autisten, der alles in sich aufnimmt, nicht filtern will und kann. Es gibt Stellen in diesem Buch, in denen sich Sinneseindrücke förmlich über mich ergiessen. Beschreibungen, die mir bewusst machen, wie gezielt, wie kausalisiert, wie ordnend mein Blick ist.

Ein wundersames Stück Literatur!

„Romane, wie sie Michael Stavarič schreibt, schreibt gegenwärtig sonst niemand.“ Frankfurter Rundschau

Interview

Der Buchmarkt ist voll mit Literatur, die sich mit Müttern und Vätern abmüht, Abrechnungen, Prozesse, Befreiungen, Konfrontationen… Dein Buch ist eine gegenseitige Liebeserklärung zwischen Tochter und Vater, auch wenn Schatten im Leben des Vaters geblieben sind. Gleichzeitig ist es ein Statement dafür, den eigenen Weg, den eigenen Blick zu finden, ohne Rücksicht auf Konventionen. Ein grosses Stück Michael Stavarič!?
Besser vielleicht: Ein weiteres Stück von Michael Stavarič auf seinem literarischen Weg. Selbstverständlich ist die Literatur voller Beziehungen und Befindlichkeiten, schließlich ist das der Faktor „Mensch“. Autor*innen schreiben über Dinge, von denen sie hoffen, dass sie bei Lesenden nicht auf taube Ohren stoßen; Vater-Tochter-Mutter-Sohn –  es ist ein absolutes Grundmotiv in nahezu jedem Buch. Ich habe in der „Schattenfängerin“ versucht, ein positives Bild einer Beziehung zu zeigen (was eigentlich so gar nicht meiner literarischen Tradition entspricht), vor allem auch deshalb, weil ich dieses Buch nicht nur für Erwachsene, sondern auch Jugendliche schrieb. Zumindest schwebte mir vor, dass es auch Jugendliche lesen können sollten – und dementsprechend habe ich meine übliche Konzeption etwas geändert. Ich dachte auch, in diesen Zeiten brauchen wir alle eine positive Heldin. Und einen ungewöhnlichen Twist.

Dein Roman spielt in der Gegenwart, auch wenn die Welt von Stella entrückt scheint. Stella wächst auf in einer Welt, in der Neugier den Puls ausmacht. Stella betäubt sich nicht, ihr Vater lässt sich und seine Tochter nicht betäuben – das Gegenteil von dem, was in vielen Familien geschieht. Alles an deinem Schreiben ist ein Statement für die Neugier, kindliche, unregulierte Neugier. Schreiben als Spur deiner eigenen Neugier?
Weltoffenheit entgegen allen Widerständen, so könnte ich es für mich zusammenfassen. Die Neugier ist dabei ein unerlässlicher Motivationsfaktor, sich auf die Welt einzulassen, sich in ihr zu orientieren, die hellen und dunklen Momente zu erkennen. Und sich vielleicht selbst aktiv entscheiden, auf welcher Seite man stehen mag. Außerdem ist die Welt nicht einfach nur unsere Erde, hierzu zähle ich auch das Sonnensystem, ja den ganzen Kosmos. Und die Sonne ist nicht zuletzt auch der Angelpunkt in diesem Roman. Ich erkenne für mich immer mehr, dass es beim eigenen Schreiben auch darum geht, die Lücken zu füllen, die man selbst aufweist. Das Schreiben macht mich kompletter, wissbegieriger und neugieriger. Vermutlich eine Erfahrung, die ich auch an meine Protagonisten weitergeben möchte.

Und doch ist Stellas Familie alles andere als ein harmonisches Gefüge. Stellas Vater taucht für seine Reisen immer wieder einmal für Wochen ab und Stellas Mutter vergetiert in einer Klinik, von ihrem Mann aufgegeben, von der Medizin parkiert. Viele Schatten in deiner Geschichte. Schatten, denen Stella zu begegnen versucht. Du räumst nicht auf in deinem Roman. „Aufräumen“ scheint ein weit verbreitetes Erzählprinzip zu sein. Ein Konterroman?
In einem Leben (egal wer es lebt) geht es nun mal nicht ohne Zäsuren, Tragödien, Bewährungsproben etc. ab; Identitätsstiftung ist anders nicht zu haben, denn nur so können Persönlichkeiten entstehen. Oder ich bleibe in diesem Fall lieber dabei: Heldinnen. Ich verstehe ein „Nicht-Aufräumen“ als erzählerische Qualität, es scheint mir näher am Leben zu sein. Vieles lässt sich auch gar nicht schlüssig begründen, analysieren und zu Ende erzählen (und erklären!). Insofern ist es wohl ein Konterroman, weil die übliche Haltung wohl wäre: Ich erzähle alles zu Ende – und auch gleich mit, was der/die Leserin davon zu halten hat. Das machen viele Romane unserer Zeit. Aber ihnen fehlt dann (aus meiner Sicht) der Zauber …

Manchmal erinnert mich das Personal in deinem Roman an ein Theaterstück; Ein Kind an der Grenze zwischen Kindheit und Erwachsensein, eine Peter-Pan-Figur, der Totengräber Kurti, der Bürgermeister, der besorgte und mahnende Pfarrer… Wie hast du dich durch deine Ideen geschrieben? War da ein Plan oder sind die Personen während des Schreibens aufgetaucht? 
Da hast du absolut recht. Theaterstück/Filmdrehbuch, etwas dazwischen. Ich habe es wirklich auch selbst so aufgefasst, insofern war ich die ganze Zeit über damit beschäftigt (beim Schreiben), Stella mit einer imaginären Kamera zu folgen. Oder wie ein Dramaturg/Regisseur die Handlung mit „Zurufen“ zu steuern. Alle prägenden Figuren in ihrer Kindheit sind Männer, insofern waren diese von Anfang an bewusst so konzipiert. Stella versucht sich nicht zuletzt auch im Umgang mit dem männlichen Prinzip.

Du hat deine Lust auf Fussnoten ausgelebt. Darin finden sich immer wieder Listen, Aufzählungen, Assoziationen. Texte, die mich mit einem Sternchen aus dem Lesefluss ziehen, die das Buch zwinkern lassen, die etwas von Stellas Lebensfreude, ihrem Blick auf die Welt zeigen. Wie kam es zu diesen literarischen Kringeln?
Du weißt ja, meine Romane sind oft von formalen Fragen geprägt, um nicht wieder mal zu sagen, Form vor Inhalt. In der Schattenfängerin habe ich mich aufs Erzählen konzentriert, wobei das Buch ja für jüngeres Publikum lesbar bleiben musste. Die Fußnoten sind gewissermaßen ein „formales Augenzwinkern“, wo ich diesen Hang zum Experimentellen kurz ausleben durfte. Minimal, aber doch. Schließlich würde wohl niemand in einem solchen Buch Fußnoten erwarten? 

Michael Stavarič wurde 1972 in Brno (Tschechoslowakei) geboren. Er lebt als freier Schriftsteller, Übersetzer und Dozent in Wien. Studierte an der Universität Wien Bohemistik und Publizistik/Kommunikationswissenschaften. Über 10 Jahre lang tätig an der Sportuniversität Wien – als Lehrbeauftragter fürs Inline-Skating. Zahlreiche Stipendien und Auszeichnungen, darunter: Adelbert-Chamisso-Preis und Österreichischer Staatspreis für Kinder- und Jugendliteratur. Zuletzt erschien bei Luchterhand der Roman «Das Phantom».

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Beitragsbild © Yves Noir

Theres Essmann «Schwarzer Schwan», Dörlemann

In ihrem 2020 erstmals erschienen Roman, damals unter dem Titel „Frederico Temperini“, jetzt neu bei Dörlemann unter „Schwarzer Schwan“, erzählt Theres Essmann von der ungewöhnlichen Begegnung zweier Männer, einer werdenden Freundschaft, einem sterbenden Stern und davon, was vom Leben übrig bleibt, wenn man alles auf eine Karte setzt.

In Geschichte, Sport und Kultur gibt es Namen, die sich unlöschbar ins kollektive Gedächtnis eingebrannt haben. Selbst dann, wenn man sich in der jeweiligen Sparte nicht auskennt. Man kennt den Namen Kennedy, auch wenn man mit Politik nichts am Hut hat. Man erinnert sich an Pelé, ein Fussballer doch, der irgendwann für Brasilien spielte oder an Picasso, dessen Bilder astronomische Summen generieren. Oder Paganini. Nicht nur MusikliebhaberInnen ist Niccolò Paganini ein Begriff. Paganani, den man in seinen Glanzzeiten den „Teufelsgeiger“ nannte, lebte und spielte in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts Geige wie kein anderer. Eine Kombination von Spieltechnik, Selbstinzenierung und wilder Leidenschaft. Ein Virtuose, der mit seinem Geigenspiel ganze Konzertsäle in Ekstase versetzte. Aber auch ein Mann der tiefen Widersprüche, ein Mann, der bis weit über seinen Tod missverstanden blieb und bis heute Rätsel aufgibt.

Theres Essmann «Schwarzer Schwan», Dörlemann, 2025, Titel der deutschen Erstausgabe: «Federico Temperini», 144 Seiten, CHF 30.90, ISBN 978-3-03820-171-7

Jürgen Krause ist Taxifahrer in Köln. Ein Mann, der sich mit seinem Leben zu arrangieren versucht, einer Familie, die in die Brüche ging, einem Sohn, der ihn an seiner Vaterrolle zweifeln lässt und einem Beruf, den er sich nicht ausgesucht hatte, in dem er strandete. Eines Abends, er trinkt bereits sein Feierabendbier in seinem Stammlokal, erhält er einen seltsamen Anruf eines Kunden, der ihn für eine Fahrt engagiert, keine Bitte, viel mehr eine Order. Krause nimmt widerwillig an und chauffiert einen Mann, der sich Frederico Temperini heisst und Krause bittet, ihn immer mal wieder als seinen Chauffeur da und dort hinzufahren. Weil der Herr im schwarzen Gewand zuverlässig einen Büttenumschlag mit Geld im Auto deponiert, grosszügig bezahlt und Krause bittet, jeweils auf ihn zu warten, bis er zum Taxi zurückkehrt, wird Krause sein regelmässiger Fahrer. Fahrten zu Konzerthäusern, zwischendurch auch einmal auf den Friedhof, das eine oder andere Mal gar an einen See, manchmal mit der Bitte ihn zu begleiten. Es sind Fahrten, bei denen sich die beiden ungleichen Männer auf ganz eigentümliche Weise näher kommen. Krauses Fahrgast Temperini gibt nicht nur Geld in die Kuverts mit der Bezahlung, er legt eine Fährte, eine in sein Leben, eine zu der Figur, in dessen Schatten sein eigenes Leben verlief; Niccolò Paganini. Temperini war einst Geiger, spielte jene Stücke, mit denen Paganini berühmt wurde. Aber Temperinis Stern ist im Gegensatz zu Paganini in der Bedeutungslosigkeit untergegangen. Temperini ist ein Geist.

Und trotzdem spielt er mehr und mehr eine Rolle in Krauses Leben. Krause beginnt sich zu sorgen, wenn ihn länger kein Anruf Temperinis erreicht. Krause erzählt von seinem Sohn, von einer schleichenden Entfremdung. Es begegnen sich zwei Männer, zwei Existenzen, die sich festgefahren haben. Das, was zwischen Krause und seinem seltsamen Fahrgast wächst, fühlt sich an wie eine ganz besondere Art der Freundschaft, eine Form der Zuwendung, die so gar nicht mit den Kollegen in seinem Stammlokal vergleichbar ist. Temperini öffnet ihm die Welt eines entrückten Künstlerlebens, Krause ihm die kleine Welt seiner Familie.

Bis Frederico Temperini eines Tages nicht zur ausgemachten Fahrt erscheint.

„Schwarzer Schwan“ ist die zärtlich erzählte Geschichte einer seltsamen Beziehung. Gleichzeitig ein wager Blick in das Leben eines Einzelgängers, der in seinem Tun alles auf eine Karte setzte, den das Schicksal ins Vergessen trieb, erzählt mit der Patina eines französischen Schwarz-Weiss-Spielfilms. Man liest das Buch und lässt es nach dem Ende der Lektüre noch eine Weile über dem Herz ruhen.

Ein berührender Roman, der eindringlich von den Wunden des Krieges erzählt und von der Kraft der Versöhnung.

Theres Essmann, 1967 im Münsterland, studierte Germanistik und Philosophie in Tübingen und lebt heute in Stuttgart, wo sie als Poesietherapeutin und Referentin für kreatives Schreiben arbeitet. Davor war sie 20 Jahre lang als Führungskraft in der freien Wirtschaft tätig. Für ihr 2020 erschienenes Romandebüt «Federico Temperini» wurde sie mit dem Literaturstipendium des Landes Baden-Württemberg ausgezeichnet und war für den Thaddäus-Troll-Preis nominiert. Ihr zweiter Roman «Dünnes Eis» stand auf der Shortlist für den Anna-Haag-Preis 2024.

Webseite der Autorin

Beitragsbild © Ruediger Nehmzow

Dorothee Elmiger «Die Holländerinnen», Hanser #SchweizerBuchpreis 25/07

Es gibt sie, die Autor*innen, die sich trauen, die nicht den üblichen Erzählkonventionen entlangschreiben, die nicht in erster Linie unterhalten wollen, sondern Leser*innen und Lesegewohnheiten aufbrechen. Neben Jonas Lüscher und Christian Kracht glänzt Dorothee Elmiger mit ihrer Expedition in menschliche Tiefen.

Es gibt Schreibende, die mich nicht wegen ihrer Geschichten faszinieren, sondern wegen ihrer Bilder, ihrer Sprache, ihrer Wucht, ihrem Sperren gegen das Konventionelle. Bei Dorothee Elmiger fasziniert alles; die Geschichte, die sich immer wieder spiegelt, die nicht nur inhaltlich an Filme von Werner Herzog erinnert, sondern auch in der Intensität ihrer Bilder. Dann die Sprache, das Mäandern in Satzkaskaden, von denen ich mir kaum vorstellen kann, wie und in welcher Intensität sie geschrieben werden mussten. Das Buch liest sich phasenweise so, als hätte Dorothee Elmiger die Fähigkeit, in einem unendlich langen Atem Satz an Satz aneinanderzureihen, abzusinken in die Tiefen einer Szenerie, weit hinauf oder tief hinunter. Als hätte sie tief eingeatmet und in einem Guss geschrieben, wofür anderen niemals die Luft reichen würde. Sie spielt mit der Sprache, die Sprache spielt mit ihr. Klar will Dorothee eine Geschichte erzählen. Aber es ist die Geschichte einer Frau, die sich verloren hatte, die Geschichte des Sich-Verlierens. Die Geschichte einer Frau, die in der Kulisse, in den Bildern absinkt, die ihr Leben fast verloren hätte.

Dorothee Elmiger «Die Holländerinnen», Hanser, 2025, 160 Seiten, CHF ca. 33.90, ISBN 978-3-446-28298-8

Die Frau erzählt die Geschichte auf der Bühne, hinter einem Mikrophon, vor Zuhörer*innen, einem ganzen Saal. Sie erzählt von einem Anruf eines Theatermachers, der sie zu einem ganz besonderen Projekt eingeladen hat, ihr den Auftrag gegeben hatte, das Geschehen, das Gesprochene, das Herausgefundene aufzuschreiben, festzuhalten, zu protokollieren. Ein Theaterprojekt mit dem Titel „Die Holländerinnen“. Der Theatermacher, der weitab im Urwald, zwischen den Wendekreisen am Meer, wie damals Werner Herzog mit Klaus Kinski „Fitzgeraldo“ oder „Aguirre der Zorn Gottes“, ein Theaterprojekt realisieren will, lädt eine ganze Truppe von Menschen in die Abgeschiedenheit ein, einen „Fall“ nachzuspielen, jenen der Holländerinnen. Man sammelt sich und macht sich gemeinsam auf, wobei niemand eine wirkliche Ahnung davon zu haben scheint, wo das Abenteuer hingehen soll, auch der Theatermacher selbst nicht. Man will eine Geschichte entstehen lassen. Man werde sich im Laufe der Arbeit verdoppeln, ja vervielfachen, es würden, im besten Falle, andere, verschüttete Teile ihrer selbst zum Vorschein kommen.

Sie selbst, die auf der Bühne steht und erzählt, von ihrem Manuskript liest, hatte die Aufgabe, als Protokollantin eine Mitschrift dieser Tage anzufertigen, eine Mitschrift, die im Grunde alles enthalte, ALLES, in Grossbuchstaben… Eine Aufgabe, die ihr in diesen seltsamen Tagen weit ab aller Zivilisation alles abverlangt, in der jede Begegnung, selbst ein ausrangierter Kühlschrank, den man an einer Halde entsorgte, eine Kaskade von Erinnerungen und Assoziationen auslöst. Geschichten, die andere, die Mitreisenden erzählen, Geschichten, die sie sich selbst erzählt. Auf den Spuren jener Frauen aus der holländischen Stadt Leiden, die damals auf ihrer Reise ohne Ende am selben Ort wie sie vor Ort gewesen waren, einer Reise auf den Spuren einer anderen Reise. Als hätte sich die mittelalterlichen Erzählungen „Canterbury Tales“ von Geoffrey Chaucer in eine undurchsichtige Gegenwart transformiert.

Was in diesem seltsamen, geheimnisvollen, rätselhaften Roman so bestechend ist, ist die Sprache, Dorothee Elmigers Kunst, sich einem Sprachrausch hinzugeben, der sich aller Schreib- und Erzählstrategie verweigert. Dorothee Elmigers Buch wabert an den Grenzen von Sein und Nichtsein, zwischen Leben und Tod. Es riecht nach der Feuchte des Urwaldes, schildert eine Gruppe loser miteinender verbundener Menschen, die dem Theatermacher in fast messianischem Gehorsam folgen. Man lauscht den kryptischen Äusserungen dieses Mannes, staunt darüber, wozu Menschen bereit sind, wenn sie der Überzeugung sind, an etwas Aussergewöhnlichen, Besonderen teilhaben zu können.

Wer plottgesteuert liest, wird von Dorothee Elmigers neustem Husarenstück enttäuscht sein. „Die Holländerinnen“ ist weder Strand- noch Einschlaflektüre. Ihr Buch setzt sich fest, nistet sich ein. Ihr üppiger Sound macht trunken. Wären Elmigers Sprachbilder Gemälde, dann erinnern sie an jene von Anselm Kiefer. Auch wenn Dorothee Elmiger bereits Trägerin des Deutschen Buchpreises 2025 ist, ist «Die Holländerinnen» für mich ein grosser Favorit um den Schweizer Buchpreis 2025! Auch wenn das Buch nicht für ein Publikum geschrieben ist, dass sich bloss wegtragen und unterhalten lassen will. Dieser Roman ist ein Diamant, der in den verschiedensten Farben funkelt!

Dorothee Elmiger, geboren 1985 in der Schweiz, lebt als freie Autorin und Übersetzerin in New York. Ihre Bücher «Einladung an die Waghalsigen» (2010), «Schlafgänger» (2014) und «Aus der Zuckerfabrik» (2020) wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt, für die Bühne adaptiert und vielfach ausgezeichnet.

Webseite der Autorin

Illustrationen © Lea Le / literaturblatt.ch

Petra Dvořáková «Die Krähen», Anthea

Petra Dvořáková erzählt in ihrem Roman „Die Krähen“ von den finsteren Abgründen in einer Familie. Ausgerechnet in jenem filigranen Gefüge, das Gesellschaft und Politik gerne idealisieren, das aber nicht erst in der Gegenwart Schauplatz einer Form von Gewalt ist, der nur ganz schwer zu begegnen ist.

In den Ästen einer alten Ulme nisten Krähen. Während Männchen und Weibchen brüten, die Jungen schlüpfen, beobachten sie das eigenartige Treiben im Haus davor. Bei den Menschen, bei denen das Brutverhalten so ganz anders zu verlaufen scheint, als in den immer gleichen Bahnen der Vögel, die beiden Mädchen, das eine mit kürzeren Haaren als das andere, bei denen es hinter den offenen Fenstern oft laut zu- und hergeht. Wo geschrieen und geweint wird. Wo sich ein Drama abspielt.

Was in seinen Grundzügen an ein Märchen erinnert, eine Familie mit zwei Kindern, das eine geliebt, das andere geduldet, das eine folgsam, das andere wild und aufmüpfig, eine Krähenfamilie, die das Geschehen im Haus zu spiegeln scheint; hier die von Instinkten geleitete Harmonie, dort die von Ehrgeiz und Zwängen zerfressene Welt des zivilisierten Menschen, ist ein Stück Wirklichkeit, das sich sehr oft nicht an der Oberfläche zeigt, dessen Wirkungen aber ganze Leben zerstören, Seelen derart beschädigen, dass es ein Leben braucht, um gegen all die Verletzungen anzukämpfen.

Petra Dvořáková: Die Krähen, Anthea, 2025, aus dem Tschechischen von Hana Hadas, 196 Seiten, CHF ca. 31.90, ISBN 978-3-89998-453-8

Jedes Jahr werden Tausende von Kindern bei innerfamiliären Konflikten zu Opfern von Gewalt. In Deutschland sind laut Statistik mehr als 70 % aller Opfer Häuslicher Gewalt Frauen und Mädchen. Viele Opfer werden gar nie statistisch erfasst, bleiben „Dunkelziffer“. Wie schwer sich Kinder selber helfen können, wie gefährlich eine Offenbarung innerfamilärer Missstände sein kann und wie schnell ein verzweifelter Versuch ein Kind zwischen die Fronten von Familie und Institutionen manövrieren kann, davon schreibt Petra Dvořáková.

Die Autorin erzählt aus drei Perspektiven; aus der Sicht des Mädchens, ihrer Mutter und zwischen den Kapiteln, als wäre es das entschlüsselte Krähen in einem Krähennest, von den Vögeln in der alten Ulme. Burana ist acht. Zusammen mit ihrer grösseren Schwester, die schon ihre Tage hat, besucht sie die gleiche Schule. Ihre Mutter arbeitet in der städtischen Bibliothek, ihr Vater, Václav, kümmert sich erst dann um die Belange der Familie, wenn seine Frau ihn dazu drängt. Immer dann, wenn die Situationen zu eskalieren drohen. Buranas Mutter steht permanent unter Strom; an ihrer Arbeitsstelle, zuhause als Ehefrau und Erzieherin und all den andern Müttern gegenüber, die ihre wunderbaren Kinder präsentieren und Familie demonstrieren.

Wäre Burana so wie ihre ältere Schwester Katuška, wäre, so glaubt die Mutter, alles kein Problem. Katuška ist hilfsbereit, zugewandt, brav und angepasst, während sich ihre kleinere Schwester in ihren Gedanken verliert, viel lieber zeichnet und bastelt, als staubsaugt oder die Küche in Ordung bringt, ihre Welt erkundet und in allem ein Abenteuer sieht. Bàra ist dauernde Provokation, so gar nicht das, was die Mutter braucht nach einem anstrengenden Tag, ein Schlachtfeld für Konflikte. Und wenn die Situation eskaliert, muss der Vater die strafende Hand spielen, auch wenn dieser genau weiss, dass er es nur tut, um seiner Frau zu genügen. Und wenn dann Bàra einmal allein mit ihrem Vater ist, dann wird die Sehnsucht nach Liebe zum Abgrund.

Bàra wächst in einem Klima der Verunsicherung auf. Der Kunstunterricht in der Schule wird zum Rettungsanker. Aber schnell wird klar, dass auch dieses Licht am Ende des Tunnels zum Irrlicht werden kann.

Petra Dvořákovás Roman ist in ganz einfacher Sprache erzählt. Bàra und ihre Mutter schildern jeweils ihre Sicht der Dinge. Umso beklemmender, denn die Ausweglosikeit treibt beide. Beide fühlen sich mehr und mehr in die Enge getrieben. Nur die Miniaturen aus der Sicht der Krähen blicken ohne Angst und Moral auf ein Geschehen, das mehr und mehr auf eine Katastrophe zuläuft. Ein wichtiges Buch.

Petra Dvořáková (1977, Velké Meziříčí) ist eine tschechische Schriftstellerin und Drehbuchautorin mit Schwerpunkt auf Romanliteratur. Ihr Debüt „ Verwandelte Träume“ (Proměněné sny) wurde 2007 mit dem renommierten Magnesia-Litera-Preis ausgezeichnet und behandelt Fragen von Religion und Glaube. Auch persönliche Erfahrungen prägen ihr Werk, etwa in «Ich bin Hunger» (Já jsem Hlad, 2009) über ihren Kampf mit Anorexie. «Die Krähen» (Vrány, 2020) wurde in Polen zum Bestseller und ist ihr erstes Buch, das auf Deutsch erscheint.

Hana Hadas, geboren 1972 in Uherské Hradiště, ist in der ehem. ČSSR und in Österreich aufgewachsen. Sie studierte Slawistik und Kunstgeschichte in München und ist seit 2001 als freiberufliche Übersetzerin und Dolmetscherin tätig.

Beitragsbild © Věra Marčíková

Melara Mvogdobo „Großmütter“, Transit #SchweizerBuchpreis 25/06

„Großmütter“ ist kein Frauenroman, sondern ein Buch über unsere Gesellschaft im 20. Jahrhundert und darüber hinaus. „Großmütter“ ist kein Roman über eine späte Revolte, aber eine beeindruckende Geschichte über zwei Frauenschicksale, die sich auf den ersten Blick kaum vergleichen lassen und doch schmerzhaft viele Parallelen aufweisen.

Das Gewicht eines Romans manifestiert sich nicht in erster Linie durch seine Seitenzahl, auch wenn das eine oder andere Buch sich damit zum Monument macht. Melara Mvogdobo deckt auch nichts auf, das wir nicht längst wüssten, das uns mahnen müsste, Zustände, die über Jahrhunderte Hoffnungen zerstörten, Leben auf grausamste Weise unterdrückten und nur allzu oft in Krankheit und Tod endeten. Wie leicht ist es, sich auf den Errungenschaften moderner Lebensformen auszuruhen, mit dem Zeigefinger dorthin zu zeigen, wo Unterdrückung und Gewalt gegen Frauen noch immer Normalität sind, Teil einer staatlichen oder religiösen Ideologie. Nicht erst mit ihrem Roman „Großmütter“ setzte Melara Mvogdobo ein Zeichen. Schon ihr Debüt ist ein Feldzug gegen zementierte Gesellschaftsstrukturen und patriarchalen Machtmissbrauch.

Zwei Frauenleben; das eine in der Schweiz, aufgewachsen auf einem Bauernhof. Arbeit bestimmt das Leben. Die junge Frau, der man eine Ausbildung verweigert, weil sie so etwas als zukünftige Ehefrau und Mutter gar nicht braucht, kommt auf den Hof eines Grossbauern, wird geschwängert, von allen geächtet, ohne Kind weit weg geschickt, zwangsverheiratet und von ihrem Ehemann bis ins hohe Alter nicht nur mit der Faust bestraft. Das andere in Kamerun, als weiblicher Ballast einer wohlhabenden Familie geboren, als Enttäuschung, weil man lieber einen Stammhalter gehabt hätte, früh verheiratet, von der Mutter beschworen, sich gegen Polygamie zu stemmen, vom Mann missbraucht und misshandelt, aller Träume beraubt, schlussendlich mit Hilfe ihrer Kinder zur Flucht nach Europa gezwungen.

Die Freiheit einer Frau reicht nur bis zum nächsten Nein eines Mannes.

Melara Mvogdobo «Großmütter», Transit, 2025, 128 Seiten, CHF ca. 26.90, ISBN 978-3-88747-416-4

Zwei Schicksale, die von Unglück zu Unglück stolpern, deren Aufbegehren schon im Keim erstickt wird, die all die Träume, die sie einst in sich trugen, davonschwimmen sehen, vernichtet durch die Macht der Konvention, unumstössliche Gesellschaftsordnung und das frauenverachtende Selbstverständnis männlicher „Vorherrschaft“. Und doch verlieren die beiden Frauen diesen letzten Kern nie, selbst dann nicht, wenn die Katastrophe unausweichlich scheint, wenn die Geschichte beweisen will, dass es immer so war und auch in Zukunft so bleiben wird, wenn ihnen das Schicksal Unmenschliches aufzwingt.

Dieser schmale Roman ist keine Anklage, auch wenn die Intentionen der Autorin mehr als deutlich werden. Melara Mvogdobo führt mir vor Augen, was ich allzu oft aus meinem Bewusstsein verliere, bildet man sich doch schnell viel auf die „Errungenschaften“ Westeuropas ein und schaut mit Herablassung auf Zivilisationen, die ganz offensichtlich nicht unseren Massstäben entsprechen. In bildhafter Sprache und grosser Emotionalität schrieb Melara Mvogdobo einen Roman, der mich tief bewegt. Alles an diesem Roman ist auf den Kern reduziert. Und trotzdem strahlt die Sprache in erstaunlich poetischer Kraft.

Zu gönnen ist die Nomination aber auch dem Transit Verlag mit Sitz in Berlin. Ein kleiner Verlag, der sich nicht nur um das gute, sondern auch um das schöne Buch verdient macht. Mit Sicherheit ist genau das etwas von dem, was einen Preis wie den Schweizer Buchpreis wichtig macht; für einmal sind Verlage im Scheinwerferlicht, die es sonst kaum so ins Rampenlicht schaffen. Verlage, die den Buchmarkt vielfältig und differenziert machen. Erstaunlich genug, dass es sie gibt und dass sie mit ihren Büchern Wagnisse eingehen, die bei grossen Verlagen im Streben nach Umsatz und Gewinn kaum Chancen hätten.

Melara Mvogdobo wurde 1972 in Luzern geboren. Nach ­einem Pädagogik-Studium und der Geburt von drei Söhnen lebte sie in der Dominikanischen Republik, in Kamerun und wieder in der Schweiz. Neben ihren schriftstellerischen ­Arbeiten unterrichtete sie traumatisierte Jugendliche, leitete Workshops über Textilkunsthandwerk und tropische Küche. 2022 zog sie mit ihrer Familie nach Andalusien. 2023 erschien ihr erster Roman «Von den fünf Schwestern, die auszogen, ihren Vater zu ermorden» (Edition 8, Zürich).

Illustrationen © Lea Le / literaturblatt.ch

Eva Schmidt «Sonne in einem leeren Zimmer», Golden Luft

Manchmal muss mir der Zufall helfen, dass ich literarische Kostbarkeiten entdecke. So eine Kostbarbeit sind die Prosastücke der Vorarlbergerin Eva Schmidt, erschienen im Mainzer Golden-Luft-Verlag. Nicht nur literarisch ein Kleinod, auch haptisch, in Aufmachung und Gestaltung.

Blättert man in den bereits erschienenen Veröffentlichungen des Verlags, stets fadengeheftet, die Umschläge von KünsterInnen gestaltet, zeigt sich Eva Schmidt in bester Gesellschaft; Franz Kafka, Stefan Zweig, John Burnside… und Eva Schmidt. Das mag Zufall sein. Aber viel eher das verlagseigene, sichere Gespür für Qualität. Für die Qualität in der Kürze, im Eingedampften, Konzentrierten. In dem, was bleibt, wenn nur noch der hochprozentige Sud übrig bleibt.

Auch wenn Eva Schmidt in den letzten drei Jahrzehnten längst zu einem Eckpfeiler der deutschsprachigen Literatur geworden ist, Eva Schmidt zu den Grossen der österreichischen Gegenwartsliteratur gehört, muss man sie noch immer als Geheimtipp deklarieren. Wahrscheinlich deshalb, weil Eva Schmidt weder eine Autorin der grossen Gesten, noch eine der spektakulären Plotts ist. Wer Eva Schmidts Bücher liest, blickt ins pure Leben, in die Normalität, die Stille. Es sind beinahe Standbilder, die die Autorin mit ihrem feinen Blick in den Fokus bringt. Eva Schmidt scheint ein spezielles Gespür für Situationen, Augenblicke zu haben, denen die meisten Menschen keine Aufmerksamkeit schenken würden.

Eva Schmidt «Sonne in einem leeren Zimmer», Golden Luft Verlag, 2019, mit einem Nachwort von Daniela Strigl, Umschlagabbildung: Tjark Ihmels, 24 Seiten, 14 Euro (D), ISBN 978-3-9818555-6-2

Kein Wunder, tragen einige ihrer Miniaturen Titel der Bilder des amerikanischen Malers Edward Hopper. „Sonne in einem leeren Zimmer“, „Zimmer am Meer“ und „Nachtschwärmer“ setzen seine Bildlandschaft bis hin zu seinen Farben in meine ganz eigene Erfahrungswelt. Eva Schmidts Prosastücke sind literarische Meditationen des Normalen. Kein Sog, kein Rausch, aber hörbare Stille. Sätze, die wie Kristalle spiegeln, ganz klar in der Kontur, im Einen die Vielfalt spiegelnd.

Wer literaisch geniessen will und nicht bloss aus Lust nach Zerstreuung liest, wer die Muse hat, einen Text wirken zu lassen, diesen wie ein Gedicht mehrmals zu lesen, dem ist „Sonne in einem leeren Zimmer“ genau der richtige Stoff, um dem medialen Dauerrauschen zu entkommen. Man wünscht sich ein kleines Podest, auf dem man das schmucke Büchlein auflegen kann, um immer und immer wieder daran vorbeizugehen, um einen Text lang aus dem Herumgerenne auszusteigen.

„Sonne in einem leeren Zimmer“ ist als Titel Programm, wirkt ganz tief. Es wäre der Autorin (und dem Verlag) zu gönnen, wenn die stille Autorin aus Bregenz die Aufmeksamkeit erhalten würde, die ihr zusteht.

Ein Kleinod!

Eva Schmidt, geboren 1952 in Lustenau, lebt in Bregenz, Vorarlberg. Sie debütierte 1985 mit Erzählungen («Ein Vergleich mit dem Leben», Residenz Verlag), der erste Roman folgte erst zwölf Jahre später unter dem Titel «Zwischen der Zeit» (1997). Nach einer Unterbrechung von fast zwanzig Jahren erschienen die beiden gefeierten Romane «Ein langes Jahr» (2016) und «Die untalentierte Lügnerin» (2019), mit beiden war sie für den Deutschen Buchpreis nominiert. 2019 veröffentlichte sie den Band «Sonne in einem leeren Zimmer», Erzählungen unter dem Titel «Die Welt gegenüber» (2021) und 2025 ihren neusten Roman «Neben Fremden«.

Beitragsbild © Klaudia Longo

Meral Kureyshi «Im Meer waren wir nie», Limmat #SchweizerBuchpreis 25/05

«Im Meer waren wir nie» ist ein Familienroman, wenn auch nicht Abbild jener klassischen, idealisierten Familie; Vater, Mutter, Kind. Ein Bild, das lange genug alles andere zur Ausnahme, zum Sonderfall machte. Ein Roman über Befreiungsversuche – und eine würdige Nomination zum besten Buch in der Schweizer Literaturlandschaft.

In „Im Meer waren wir nie“ passiert nur wenig. Kein Roman, der sich plottorientiert um Spannung und Unterhaltung bemüht. Nicht dass dieser Roman nicht unterhalten würde. Aber er tut dies auf eine ganz eigene Weise. Es sind die Innenansichten der beschriebenen Personen und ihrer Welten. Es ist die Atmosphäre, die Meral Kureyshi mit viel Feingefühl und Empathie zeichnet. In einer Sprache, die in ihrer Tonalität, ihrer Zerbrechlichkeit genau das widerspiegelt, was die Protagonistinnen auszuhalten haben; ihr Gefangensein in einer Situation, ihre Beinahe-Ausweglosigkeit, dieses Gefühl, nicht dort zu sein, wo die Frauen eigentlich sein wollen.

Die Erzählerin und ihre Freundin aus Kindertagen leben in zwei Wohnungen übereinander. Weil Sophie als alleinerziehende Lehrerin Unterstützung braucht, hat es sich über die Jahre irgendwie ergeben, dass die Erzählerin für Sophies Sohn Eric schaut, wenn seine Mutter nicht da ist, oder keine Kraft mehr hat, sich um ihren Sohn zu kümmern. Eric ist acht, vorlaut und voller Leben. 

Meral Kureyshi «Im Meer waren wir nie», Limmat, 2025, 216 Seiten, CHF ca. 30.00, ISBN 978-3-03926-085-0

Und weil die Erzählerin so sehr zur Familie gehört und sich aus Ermangelung einer eigenen, die sich irgendwo zwischen ihrer einstigen Heimat 2000 Kilometer entfernt und der Schweiz verloren hat, ist es für sie selbstverständlich, als man sie bittet, Sophies Grossmutter Lili im Altersheim beizustehen, ihr Gesellschaft zu leisten, sie zu begleiten, ihr vorzulesen. Man bezahlt sie dafür. Sie wird zu einer Stütze in einem filigranen Familiengefüge, aber ebenso zu einer Selbstverständlichkeit. Zu der, die immer Zeit hat, die sich allem stellt, die zum Dreh- und Angelpunkt wird. Auch in ihrer ursprünglichen Familie, denn Nuri, ihre jüngere Schwester zieht vorübergehend bei ihr ein, geflohen aus einem Leben in Bedrängnis.

Lili begleitete vor Jahren ihren pflegebedüftig gewordenen Ehemann Emil ins Altersheim. Als er starb, blieb sie. Und als auch sie immer mehr Hilfe benötigt, aber niemand aus der Familie jene Zeit aufbringen kann, ist die Erzählerin gerade richtig, um jene Rolle einzunehmen. Zwischen Lili und ihr entsteht eine seltsame Beziehung, weder Freundschaft noch etwas wie Verwandtschaft. Genauso die Beziehung zu dem kleinen Eric, der sich ihr gegenüber ebenso ablehnend wie Nähe suchend zeigen kann. Auch die Freundschaft zu Sophie, Erics Mutter, ist eine andere geworden oder die Beziehung zu ihrer jüngeren Schwester Nuri. Es sind alles Beziehungen in der Schwebe. Nicht zuletzt darum, weil in allen Beziehungen Unausgesprochenes liegt, Geheimnisse, die nach Klärung rufen.

Die Erzählerin weiss, dass sie ihnen allen sagen muss, dass sie eine Stelle weit weg gefunden hat. Lili schleppt eine Schachtel mit Briefen mit sich herum, Zeugnisse einer alten Liebe, von der sie ihrer treuen Begleitung nur häppchenweise erzählt. Sophie von einer Beziehung, einem neuen Mann an ihrer Seite. Und Lilis Leben gibt mehr als deutliche Signale, dass es nicht mehr lange dauern würde, dass es Dinge gibt, die ausgesprochen und noch getan werden müssten.

Meral Kureyshis Roman beschreibt einen Typus Familie, der immer mehr dem entspricht, was bleibt, wenn aus Träumen und Erwartungen nicht wird, was hätte werden sollen. Familien, aus denen sich die Männer in ganz unterschiedlicher Art und Weise entfernen, die Pflichten aber an den Frauen hängen bleiben. „Im Meer waren wir nie“ beschreibt Frauen, deren Lebensentwürfe sich in der Maschinerie der Realitäten verheddern. Sei es Lili, die statt ihrer Liebe die Sicherheit wählt und nie darüber hinwegkommt, seien es Sophie und ihre Mutter, die sich ein Stück Freiheit erkaufen, in dem sie eine bezahlte Begleitung engagieren. Sei es die Erzählerin selbst, die erst mit Lilis Tod den letzten Schritt aus dem Hamsterrad schafft.

Beeindruckend an diesem Roman ist die Sprache, die Kunst der Schriftstellerin, aus unglaublicher Nähe jene Welt zu zeichnen, aus der es fast kein Entkommen gibt. Bilder, die mit wenigen Sätzen ganze Geschichten öffnen. Sätze, die in ihrer Poesie nachhallen. Kein Roman der lauten Töne, dafür einer tiefen Wärme!

Meral Kureyshi, geboren 1983 in Prizren, kam 1992 mit ihrer Familie in die Schweiz und lebt in Bern. Sie studierte Literatur und Germanistik und arbeitet als freie Autorin. Ihr erster Roman «Elefanten im Garten» war nominiert für den Schweizer Buchpreis, wurde mehrfach ausgezeichnet und in viele Sprachen übersetzt. Ihr zweiter Roman «Fünf Jahreszeiten» wurde im Manuskript ausgezeichnet mit dem Literaturpreis «Das zweite Buch» der Marianne und Curt Dienemann-Stiftung. 2020 wurde sie zu den Tagen der Deutschsprachigen Literatur nach Klagenfurt eingeladen (Bachmannpreis). Für «Im Meer waren wir nie» erhielt sie 2025 einen Literaturpreis des Kantons Bern.

Illustrationen © Lea Le / literaturblatt.ch

Jonas Lüscher „Verzauberte Vorbestimmung“, Hanser #SchweizerBuchpreis 25/04

Die Lektüre des neuen Romans von Jonas Lüscher entlässt mich mit sehr gemischten Gefühlen. So wie ich vieles im Roman nicht einordnen kann, so kann ich nicht einmal den Titel „Verzauberte Vorbestimmung“ einordnen. Aber vielleicht ist genau das Prinzip „Einordnungsversuch“ der Schlüssel zu Jonas Lüschers Roman. 

Lieber Bär

Jonas Lüscher schrammte während der Covid-Pandemie knapp am Tod vorbei. Er ist ein Gezeichneter. Ich begegnete ihm nach seiner Krankkeit in Leukerbad am dortigen Literaturfestival, wo er Auszüge aus einem Manuskript las. Als wir uns auf der Strasse begegneten, miteinander sprachen, traf ich einen ganz anderen Jonas Lüscher wie vor der Pandemie; verletzlich, dünnhäutig, vorsichtig. Damals auf der Intensivstation stand eine ganze Batterie von Maschinen um das Bett des Schriftstellers, der währnd bestimmter Phasen schon glaubte, in den Prozess des Sterbens übergegangen zu sein. Das beschreibt Jonas Lüscher in seinem Roman, wenn auch erstaunlich zurückhaltend. Er war ganz und gar abhängig von Maschinen, die lebenswichtige Körperfunktionen übernahmen. Es muss eine ganz eigene Erfahrung sein, dass man sein physisches Dasein Geräten übergeben muss, dass man in Phasen maximaler Empfindsamkeit zu einem eigentlichen „Cyborg“ wird, unfreiwillig.

„Verzauberte Vorbestimmung“ ist  ein Konglomerat aus verschiedensten Handlungssträngen und Personen, Handlungssträngen, die sich überschneiden und solchen, die sich wieder verlieren. Personen, die über Dutzende von Seiten zentral erscheinen, dann aber nie mehr auftauchen. Einzige Konstanten in dem Buch sind der suchende Erzähler und der Schriftsteller, Dramatiker, Maler und Filmemacher Peter Weiss, der sich mit seinem Spätwerk „Die Ästhetik des Widerstands“ ein literarisches Denkmal setzte. Eine Figur in Lüschers Roman, die in ganz unterschiedlichen Zuständen und Erzählebenen auftaucht. Wie Lüscher selbst ein ewig Suchender, seine Kunst ein einziger Versuch des Einordnens. Eine andere Konstante in Lüschers Roman ist die Auseinandersetzung mit Technik, mit Maschinen, sei das die Maschinerie der modernen Kriegsführung, jene der Industrialisierung, der Medizin bis in die Architektur des Grossenwahns, wenn der Erzähler im Ägypten der Zukunft zwischen der perfekten Retorte und dem Realen, Vergessenen pendelt.

Jonas Lüscher «Verzauberte Vorbestimmung», Hanser, 2025, 352 Seiten, CHF, ca. 35.00, ISBN 978-3-446-28304-6

Das Buch beginnt mit Knall und Rauch. Ich erinnere mich an einen Kinobesuch zusammen mit meiner Frau vor vielen Jahren. Ich überredete sie zum Film „Der mit dem Wolf tanzt“, ein Streifen, der mit einem minutenlangen Schlachtgemetzel beginnt. Ich musste meine Frau während Minuten trösten, zurückhalten, beschwichtigen und besänftigen, damit die dem Kino nicht entfloh.  Genauso ging es ihr mit «Verzauberte Vorbestimmung» (Übrigens ein Titel, der angesichts des Romananfangs arg strapaziert!). Jonas Lüscher beschreibt die Erlebnisse eines algerischen Soldaten während des ersten Weltkriegs in den Schützengräben gegen die Deutschen. Den ersten strategischen Giftgasangriff, das Herannahen eine beinah fluoreszierenden Wolke, in der alles grausam erstickt, Menschen mit schrecklich verzerrten Fratzen tot zusammenbrechen. Eine apokalyptische Szenerie, die eigenartig fesselt und ebenso abschreckt. Aber wer sich an die Fersen dieses algerischen Soldaten heftet, verliert ihn wieder, obwohl er Jahre später in Paris zum Postboten geworden ist. Ein Erzählstrang, der wie viele andere aus dem Meer der Möglichkeiten auftaucht und wieder versinkt. So wie die Geschichte eines anderen Postboten, des Franzosen Joseph Ferdinand Cheval, der zwischen 1879 und 1922 an seinem „Palais idéal“ baute, aus gesammelten Steinen, auf einem Grundstück weitab, einem Monument, das Künstler wie Max Ernst und Pablo Picasso faszinierte und bis heute viele Touristen lockt. Oder sie Geschichte von Ned Ludd im tschechischen Varnsdorf, einem Ort der aufblühenden Textilindustrie. Ein Aufstand der Arbeiter, einer Frauenrevolte, einem Fabrikgrossbrand. Eine Geschichte, die Lüscher in ganz eigener Sprache, beinah märchenhaft erzählt. Eine Geschichte, bei der es aber weder um das Personal noch um die Geschichte selbst geht.

„Verzauberte Vorbestimmung“ ist eine literarische Auseinandersetzung. Sprachgewandt, plottabgewandt. Lüscher will weder unterhalten noch betäuben. Er nimmt mich mit in seine Odyssee, in ein Labyrinth, von dem nicht einmal er selbst das Ziel, die Mitte gefunden hat. Ein literarischer Stoffknäuel mit vielen Anfängen und Enden, ein Flickenteppich aus Fragmenten, Zuständen und Erzählebenen, der von mir alles abfordert, viel mehr, als ich bei fast allen Autorinnen und Autoren zulassen würde. Jonas Lüscher schreibt mit der Membran eines Überempfindlichen, eines Hochsensiblen, eines Verwundeten, Gezeichneten. 

Ich tat mich schwer mit der Lektüre, obwohl es immer wieder lange Passagen der Beglückung gab, nicht zuletzt dank seiner Sprachkunst. Ich werde Zeuge dieser Hypersensibilität. Und wenn ich die Lektüre zu einer solchen Zeugenschaft machen kann, dann lese ich mit grösstem Interesse und unsäglichem Staunen.

Liebe Grüsse

Gallus


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Lieber Gallus

Ich habe bisher keinen Roman von Jonas Lüscher gelesen, aber schätze seine klugen Gespräche über unsere Gesellschaft und deren Zukunft in verschiedenen Medien.  So interessierte ich mich sehr für seinen neuen Roman. Wegen einer vernichtenden Kritik in einer Innerschweizer Zeitung vor der ersten Lesung in der Schweiz war ich verunsichert, ob ich dieses Werk lesen soll, habe dann aber das Buch trotzdem gekauft. Wie reich wurde ich belohnt! Hilfreich war die Lektüre seiner Poetik-Vorlesungen von 2019 «In die Erzählung flüchten», wo das «Oszillieren zwischen mathematisch messbarer Wissenschaft und erzählender Literatur, zwischen Aufklärung und Romantik» ausführlich besprochen wird. 

Obwohl die Lektüre von «Verzauberte Vorbestimmung» anspruchsvoll ist, habe ich das Buch mit Interesse und Gewinn gelesen. Dass sich vieles nicht einordnen lässt, gefällt mir als Ausdruck der Herausforderungen und Ambivalenz des Menschen im Umgang mit Maschinen. Das in fünf Teile gegliederte Werk zeigt mehrere Erzählstränge, die abbrechen, wieder auftauchen und inkonstant durch die verschiedenen Abschnitte führen. Auch die Zeitebenen wechseln oft ohne Übergang, beginnen im Ersten Weltkrieg und enden in der Nach-Putin Ära. Die Auswirkungen der Macht der Technik und des Geldes auf die Menschen bestimmen in vielfältiger Weise den Text. Zum Beispiel die Veränderung des Ertrags der Arbeit an neuen Webstühlen in der Fabrik im Vergleich zu der an der Heimarbeit:
Sein Staunen über die Zahlen, die sich da untereinander reihten, Beträge, die ihm vor kurzem noch fantastisch erschienen waren, fand kein Ende. Es war ihm, als täten sich ganz neue Möglichkeiten, eine Ahnung eines anderen Lebens, vor ihm auf, und mit diesem weiten Horizont, der aber bei genauerer Betrachtung nur aus dem Wort «mehr» bestand, einem Begriff, den er nicht in der Lage war, mit konkreten Vorstellungen zu füllen, kam die Gier in sein Leben.

Mehrere Kapitel werden durch Peter Weiss, Maler, Autor, Filmer, der als Alter Ego auftritt, miteinander vernetzt. Sein frühes Gemälde «Die Maschinen greifen die Menschen an» stellt bildhaft die Ambivalenz des Verhältnisses Mensch- Maschine dar. Mit Peter Weiss besuchen wir auch den «Palais Idéal» vom Briefträger Cheval in Hauterives und die Weber im tschechischen Varnsdorf.

In den letzten zwei Kapiteln befinden wir uns im futuristischen Ägypten mit Cyborgs, Mensch-Maschinen, und Androiden, umgeben vom grössenwahnsinnigen architektonischen Gebilde New Kairo, herausgestampft aus der Wüste, absurd und eklektisch mit einem geplanten 1000 Meter hohen Wohn-Obelisken. Vor einem Jahr war ich in Ägypten auf den Spuren der Pharaonen und deren Grabstätten, 4000 Jahre alt und noch in besten Farben leuchtend, daneben Kairo und Alessandria als verkommene Moloche voll Lärm, Armut und Müll neben hochglanzpolierten Inseln für die Touristen. Aus dem Flugzeug konnte ich damals einen Blick auf die New Administrative Capital werfen. Mich beschäftigten und belasteten diese Gegensätze sehr. Literarisch drückt Jonas Lüscher dies so aus:

Für einen Moment war ich in der Lage gewesen, die pittoreske und exotische Seite dieser mir fremden Landschaft und dieser mir fremden Menschen mit ihren mir fremden Leben zu sehen, aber bald war es nur noch die Armut, manchmal sogar die schiere Not, die sich mir aufdrängte, und die neue Stadt in der Wüste, durch die ich mich noch keine vierundzwanzig Stunden zuvor hatte fahren lassen, erschien mir grotesk weit weg, und doch war es dasselbe Land, unbegreiflicher noch, dieselbe Regierung, die für beides verantwortlich war, und so unbegreiflich mir dies in jenem Moment schien, so einfach zu verstehen war der ökonomische Mechanismus, der die beiden Realitäten miteinander verband, die sechzig Milliarden, die sich der Feldmarschall aus China  und den Golfstaaten geliehen hatte, um seinen Traum zu bauen, und der sinkende Wert des ägyptischen Pfunds, der das Elend der Menschen, die ich vor dem Fenster an mir vorbeiziehen sah, Tag für Tag vergrösserte und ein Entrinnen unwahrscheinlicher machte.

Das zentrale Thema, das Überleben seiner schweren Covid Erkrankung im wochenlangem Koma auf der Intensivstation dank neuester Technik kommt, nach kurzem Anklingen am Anfang des Buches, erst im letzten Teil zur Sprache: Ein «Gespräch» zwischen einem Taxifahrer ohne Englischkenntnisse und dem Protagonisten ohne Arabischkenntnisse mittels Google-Translater führt zum Nachdenken über die Technik-Skepsis des Autors, der als wahrer Cyborg seine Covid Erkrankung nur dank der Herz-Lungen-Maschine überleben konnte. Diese Erfahrung prägte sich tief ein, Personen die im Koma wie in einem Traum vorhanden waren, werden nach dem Aufwachen wie Verstorbene vermisst. 

Dieser in seiner Struktur und in seiner Sprache einzigartige Roman umfasst die Zeitspanne von 1914 bis in die Zukunft, wo Cyborgs, also Mensch-Maschinen, ans Weltwissen angeschlossen sind. Die Beziehung von Menschen und Maschinen, deren grossartige Möglichkeiten, aber auch deren potenzielle Gefahren, zieht als roter Faden durch dieses Buch. Es endet mit hoffnungsvollem Ausblick.

Die Anregungen und die Auseinandersetzung mit diesem Buch werden mich noch lange begleiten. Ich wünsche ihm viele aufmerksame Leser!

Herzlich 

Bär

Jonas Lüscher wurde 1976 in der Schweiz geboren, er lebt in München. Seine Novelle Frühling der Barbaren war ein Bestseller, stand auf der Longlist für den Deutschen Buchpreis und war nominiert für den Schweizer Buchpreis. Lüschers Roman «Kraft» gewann den Schweizer Buchpreis. Jonas Lüscher erhielt ausserdem u.a. den Hans-Fallada-Preis, den Prix Franz Hessel und den Max Frisch-Preis der Stadt Zürich. Seine Bücher sind in über zwanzig Sprachen übersetzt.

Illustrationen © Lea Le / literaturblatt.ch

Eva Schmidt «Neben Fremden», Jung und Jung

Was bleibt von einem Leben? War es das, was man sich erhoffte? Welcher Rest davon ist geblieben? Eva Schmidt ist eine Autorin der kleinen Gesten. Umso eindringlicher ist die Geschichte von Rosa, die sich am Schluss ihres Lebens, das ganz dem Helfen gewidmet war, vor einem Scherbenhaufen sieht.

Vielleicht ist es genau das, was ich so sehr an den Büchern dieser Autorin mag; das Unspektakuläre. Eva Schmidt erzählt keine wilden Geschichten, sondern das Leben, oder zumindest das, was davon übriggeblieben ist. Ihre Romane schäumen nicht über und sind schon gar nicht plottorientiert. Es ist, als würde Eva Schmidt ein Buch lang eine Tür öffnen, um mich an femdem Leben teilhaben zu lassen, ganz nah, ganz direkt, ungeschönt und unverklärt. Für mich fremdes Leben, für die Autorin ganz vertrautes Leben. Nicht weil ich Autobiographisches vermuten würde, sondern weil ich der Autorin, seit sie schreibt, ein hohes Mass an Empathie zuschreibe.

„Neben Fremden“ ist nicht nur Titel, sondern Programm dieses Romans. Wir leben immer enger beieinander. „Dichtestress“ ist zu einem Schlagwort geworden. Gleichzeitig steigt die Vereinsamung, die Anonymität und die Wahrscheinlichkeit, dass man unbemerkt tot in seiner Wohnung vergessen geht, weil alle Verbindungen gekappt sind. Ich kenne meine Nachbarn nicht einmal mit Namen. Und wenn man sich mit ihnen beschäftigt, dann nur, wenn es zu laut ist oder der Geruch von Zigarettenrauch durch die gekippten Fenster schleicht. Und was man Jahrhunderte lang als die Idealform des Zusammenlebens propagierte, was die Politik nur zu gern als kleinste Zelle einer funktionierenden Gesellschaft propagiert, die Familie, wird immer mehr zerrieben zwischen idealisiertem Wunschtraum und vermintem Krisengebiet.

Eva Schmidt «Neben Fremden», Jung und Jung, 2025, 192 Seiten, CHF ca. 35.90, ISBN 978-3-99027-426-2

Rosa war Krankenpflegerin. Jetzt ist sie pensioniert. Der Mann, mit dem sie ein Stück Leben teilte, mit einer anderen verheiratet und erst kürzlich gestorben. Von ihrem Sohn hat sie schon ein halbes Leben ausser ein paar wenigen Ansichtskarten, nichts mehr gehört. Und ihr alter Hund wird es auch nicht mehr lange machen. Ihre Mutter ist schwierig, voller ungestillter Erwartungen, muss ins Altenheim, weil es im Haus nicht mehr funktioniert. Mit ihrer einzigen Freundin, wenn sie denn wirklich ihre Freundin ist, trifft sie sich nicht wirklich gerne und in der Nachbarwohnung unter ihr fliegen die Fetzen. Die einzige, mit der sie sich wirklich versteht, ist die Tochter dieser Nachbarn. Eine Jugendliche, die ganz ähnlich einsam und abgeschlagen zu sein scheint wie sie. Eine, die manchmal bei ihr in der Küche sitzt , eine Omlette von ihr isst und erzählt.

Aber seit dem Tod jenes Mannes, ihres Ex, steht ein Camper vor ihrem Haus. Er hatte ihn ihr gekauft. Ohne sie zu fragen. Rosa sieht in dem Wohnmobil eine Chance, eine Tür, aus ihrem festgefahrenen Leben auszubrechen, etwas zu wagen, all die Zwänge, Verstrickungen und Verwachsungen hinter sich zu lassen, wenn auch nur eine Reise lang. Sie packt ihre Sachen und fährt zur Probe zusammen mit ihrem immer kränklicher werdenden Hund in die Berge, auf einen stillen Campingplatz. Dort lernt sie eine Holländerin kennen, die sich an sie hängt, mit ihrem Hund Unn und einem bettlägerigen Mann im Camper. Eine Frau, für die Rosa einmal mehr zum Strohhalm wird. Bis die Holländerin eines Morgens mit ihrem Camper verschwunden ist. Aber Unn bleibt an Rosas Camper angebunden.

Rosas Leben ist wie eingeschweisst. So sehr sie sich bemüht, Fenster und Türen aufzureissen, so sehr wird sie von Umständen zurückgebunden. Aber Rosa bewahrt sich das letzte Stück Kraft. Jenes ganz eigene, das ihr niemand nehmen kann. Hoffnung. Hoffnung, dass auch sie es dereinst sein wird, der sich ein kleines Stück Glück auftut. Hoffnung, dass sie ihren Sohn zurückgewinnen kann, wenn auch nur die Gewissheit, dass es ihm gut geht. Eva Schmidts Roman ist derart zärtlich geschrieben, dass ich nach der Lektüre mir selbst Zeit geben musste. Eva Schmidt erzählt wahrhaftig, ganz in der Realität und feinem Gespür für die wirklich wichtigen Dinge des Lebens.

Eva Schmidt debütierte 1985 mit Erzählungen («Ein Vergleich mit dem Leben», Residenz Verlag), der erste Roman folgte erst zwölf Jahre später unter dem Titel «Zwischen der Zeit» (1997). Nach einer Unterbrechung von fast zwanzig Jahren erschienen die beiden gefeierten Romane «Ein langes Jahr» (2016) und «Die untalentierte Lügnerin» (2019), mit beiden war sie für den Deutschen Buchpreis nominiert. Zuletzt veröffentlichte sie einen Band mit Prosastücken («Sonne in einem leeren Zimmer», Golden Luft Verlag) und Erzählungen unter dem Titel «Die Welt gegenüber» (2021).

Beitragsbild © Klaudia Longo

Nelio Biedermann «Lázár», Rowohlt #SchweizerBuchpreis 25/03

Nelio Biedermann, der Shootingstar der CH-Literaturszene, schrieb einen gross angelegten Familien-, Geschichts- und Epochenroman, der an die grossen Vorbilder der Deutschen Literatur erinnert. Ein wagemutiges Buch, das ambitioniert geschrieben ist, mich aber enttäuscht zurücklässt – nicht zuletzt, weil es zum Schweizer Buchpreis nominiert ist.

Der Niedergang einer ungarischen Adelsfamilie vor 100 Jahren. Ein oppulentes Sittengemälde einer Epoche des Umbruchs, eines Reichs, das in seinem Selbstverständnis für die Ewigkeit eingeschrieben schien, einer Familie, die sich aller Selbstverständlichkeiten beraubt sieht, von Familienmitgliedern, die straucheln und stolpern, einer Zeit, die mit den Wirren von Revolution und Krieg erodierte.

Nelio Biedermanns Roman „Lázár“ ist auch seine Geschichte, die Geschichte seiner Familie, seiner ungarischen Wurzeln, fast 60 Jahre, von der Jahrhundertwende bis zum Ungarnaufstand 1956. Warum sollte man als ehrgeiziger Schriftsteller diesen ungeheuren Schatz an Geschichte und Geschichten nicht anzapfen. Vielleicht hätte ich bei der Lektüre auch viel mehr Bewunderung gezeigt, wenn der Roman nicht in der Liste der besten Bücher der Schweiz zu finden gewesen wäre. Vielleicht hätte ich anerkennend genickt, in der Überzeugung, dass sich da ein Schriftsteller voller Mut und Selbstbewusstsein an einen grossen Stoff wagt und in einer Art und Weise schreibt, die an grosse Vorbilder erinnert.

Aber mit der Brille eines Kommentators zum Schweizer Buchpreis, mit dem Anspruch, hier eines der besten Bücher des Jahres zu lesen, mit dem Wissen, dass ich da einen Roman lese, der zeitgleich in 20 Sprachen übersetzt in den Buchhandlungen überall zu finden ist, wurde die Lektüre schwierig, manchmal fast unerträglich. Und wenn ich mich dann noch hinreissen lasse, all die Kritiken und Rezensionen in den Medien zu diesem Buch zu lesen, dann zweifle ich nicht nur am Geschmack all jener, die mit hymnischen Expertisen den Roman lasen, dann zweifle ich auch an mir.

Neil Biedermann «Lásár», Rowohlt, 2025, 336 Seiten, CHF ca. 32.00, ISBN ISBN: 978-3-7371-0226-1

Schon auf den ersten Seiten erschlägt mich der Roman mit der Fülle an Adjektiven. Ich habe nichts gegen behutsam eingesetzte Adjektive, vor allem dann nicht, wenn sie unvermeidbar sind, wenn sie Eindrücke verstärken, die nicht ohne eben dieses Adjektiv auskommen. Aber ich will, dass das Geschriebene nicht wie mit Ausmalfarben beschrieben wird. Ich will, dass meine Eindrücke durch passende Beschreibungen, oder auch Auslassungen evoziert werden. Zu viele Adjektive lassen Szenen und Beschreibungen grell, überladen erscheinen, stören mehr, als dass sie helfen würden. Für mich unerklärlich, dass ein sogfältiges Lektorat da nicht eingegriffen hat.

Ich liebe Romane, die in „cineastisch“, wie auf Breitlandwand erzählt sind, ausufernd, die in Bildern baden, Geschichte ausbreiten. Aber dann muss jedes Detail stimmen. Ich darf nicht das Gefühl haben, dass da etwas in den Text hineinfliesst, das nicht in die Zeit gehört – oder noch viel schlimmer, das mir zu verstehen geben will, dass der Text auch etwas mit der Gegenwart zu tun hat. Warum ritzt sich eine der Protagonistinnen? Kann sein, dass es das früher schon gab. Aber wenn ein Roman erzählt wird, als wäre der Erzähler aus den 30ern, dann ist „Ritzen“ kein Thema, auch wenn es das damals in Kreisen des Adels vielleicht schon gab.
Nelio Biedermann ist 22 Jahre alt. Wenn jemand so jung ist, dann will ich gerade eben diesen jungen Blick sehen, dieses Unverbrauchte, Ungehemmte. Aber die einzigen Szenen, in denen sich der junge Mann ungehemmt zeigt, sind Sexszenen, die so gar keine Erotik verströmen. 

Warum macht Rowohlt aus Nelio Biedermanns Roman einen Bestseller in der Art und Weise? Hilft man dem jungen Autor, in dem man ihn derart pusht? Oder wird man Nelio Biedermann bei allem, was er in Zukunft schreiben wird, an „Lázár“ messen? Ich gönne dem Autor und dem Verlag den Erfolg, jedes Buch, das über den Ladentisch geht, die vollen Säle, wenn Nelio Biedermann liest. Aber ich hoffe auch, dass Nelio Biedermann die Bodenhaftung nicht verliert, die Nähe zu seinem Publikum, auf das er als Schriftsteller auch in Zukunft angewiesen sein wird.

Nelio Biedermann hat viel gewagt. Der Verlag vielleicht noch mehr. Ich kann auch gut nachvollziehen, dass man sich in einem Verlag sehr gut überlegt, in welches Buch, in welche Autorin, welchen Autor man investieren will, zumal ein gut verkauftes Buch auch viele andere Bücher mitträgt, die aus was für Gründen auch immer von uns LeserInnen nicht goutiert werden. Aber Nelio Biedermann ist ein ungeschliffener Diamant. Und als eben dieser schlecht zu vergleichen mit denen, die sich schon über Jahrzehnte an der Zeit geschliffen haben.

Toll, wenn „Lázár“ gelesen und geliebt wird. Für meine Liebe reicht es nicht.

Nelio Biedermann, geboren 2003, ist am Zürichsee aufgewachsen. Seine Familie stammt väterlicherseits aus ungarischem Adel, seine Grosseltern flohen in den 1950er Jahren in die Schweiz. Biedermann studiert Germanistik und Filmwissenschaft an der Universität Zürich. 2023 debütierte er im Aris Verlag mit «Anton will bleiben». Sein Roman «Lázár» erschien in mehr als zwanzig Ländern.

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Illustrationen © Lea Le / literaturblatt.ch