Wolfram Schneider-Lastin (Hrsg.) «Fragen hätte ich noch. Geschichten von unseren Grosseltern», Rotpunktverlag

30 Autorinnen und Autoren aus der Schweiz, Deutschland und Österreich erzählen von ihren Grosseltern, Geschichten bis nach Italien, Frankreich, Polen, Tschechien, Ungarn, der Ukraine, Israel, Pakistan und der DDR. Geschichten von Berührten, Geschichten, die berühren.

Auf einem meiner Regale steht ein eingerahmtes, sepiafarbenes Foto. Ein Mann in Anzug und Kravatte sitzt in einem Korbstuhl neben einem Tischchen mit Spitzendecke. Mein Grossvater. Er war Tischler, Schreiner. Auf dem Foto hatte er etwas zu repräsentieren. Dazu gehören wohl auch die Bücher auf der Ablage unter dem Tischchen und das offene Buch mit Stift auf dem weissen Tischtuch. Mein Grossvater starb, als ich ein Jahr alt war. Meine Mutter erzählt, er habe mich, schon gezeichnet von seiner Krankheit, noch in Händen gehalten. Er wurde nicht alt, aber von meinem Grossvater gibt er Zeugnisse, die noch immer an den Wänden im Haus meiner Mutter und meiner Tante hängen; Aquarelle und Ölbilder, von naturalistisch bis abstrakt. Mein Grossvater war begabt und hätte sich wohl viel lieber als Künstler gesehen, statt als Handwerker, der nur mit grösster Anstrengung dem nachgehen konnte, was seiner Leidenschaft entsprach. Aus Geldknappheit und weil meine Grossmutter wohl alles andere als glücklich darüber war, dass ihr Gemahl Geld für Ölfarben ausgab, bemalte er seine Leinwände gar beidseitig, sodass man sich später, als man dann doch das eine oder andere Bild einrahmte, sich stets für das eine oder andere entscheiden musste, im Wissen darum, dass das verborgene Bild Schaden nehmen würde. Die Begabung meines Grossvaters setzte sich in meiner Mutter, die auch heute noch mit über achtzig malt, meinem Bruder, der in Zürich seit Jahrzehnten ein Atelier führt und meinen Kindern fort. Eine Begabung, die mich stets in die Nähe der Kunst führte, gepaart mit dem ewigen Zweifel, der mit Sicherheit auch meinen Grossvater begleitete, denn nach seinem Tod sah man an den Wänden meiner zur Witwe gewordenen und wieder verheirateten Grossmutter nie ein gemaltes Bild meines Grossvaters. 

«Schon lange wollte ich meine Beziehung zu meinem Grossvater in einer Erzählung festhalten. Mir war klar, dass mir das einiges abfordern würde. Vielleicht hatte ich sie deshalb noch nicht zu Papier gebracht, als die Einladung mit der Frage kam, ob ich einen Text beisteuern möchte für ein Grosseltern-Buch. Ja, natürlich, das war mein erster Gedanke. Und doch zögerte ich ein paar Wochen lang, bevor ich zusagen konnte, denn ich wusste: Über meinen Grossvater schreiben bedeutet über mich schreiben. Und das heisst: rausrücken mit dem, was ich für sehr privat halte. Das war und ist schwierig für mich, denn ich leide durchaus nicht unter Bekenntiszwängen. Nun bin ich aber überglücklich, es gewagt zu haben, über diese Geschichte entspannen sich neue Beziehungen, auch in der Familie, ich stehe neu mit zwei Cousins in intensivem Kontakt, ich erfuhr so viel mehr über meinen Grossvater und meine Herkunft. Die Geschichte ist noch lange nicht auserzählt. Und nicht zuletzt: Die Geschichte meines Grossvaters verbindet sich mit allen Geschichten und mit allen Grosseltern im Buch. Und auch die Autorinnen und Autoren haben – so behaupte ich – einen neuen und vertieften Zugang zueinander. Das hat grosse poetische Kraft.» Romana Ganzoni

Wolfram Schneider-Lastin «Fragen hätte ich noch. Geschichten von unseren Großeltern», Rotpunkt, 2024, 256 Seiten, CHF ca. 32.00, ISBN 978-3-03973-039-1

Vielleicht ist genau das die grosse Tür, die sich auftut, wenn man die Geschichtensammlung „Fragen hätte ich noch“ liest. Das Buch lädt ein, sich mit den eigenen Grosseltern zu befassen, sich zu fragen, was denn an Erinnerungen, an Wissen, an Persönlichem noch da ist. Wer sich nicht aktiv mit seinem Stammbaum, seiner Herkunft befasst, weiss vielleicht nur wenig, vor allem von dem, was Fotografien nicht erzählen. Urgrosselten und ihre Vorfahren verschwinden im Vergessen. So wie die meisten von uns in 100 Jahren vergessen sein werden. Meine Mutter ist weit über achzig. Wenn ich sie noch einmal fragen möchte, dann wäre es jetzt an der Zeit. Wer war meine Grossmutter? Warum habe ich von ihr ein derart nüchternes Bild? Warum empfinde ich meinem Grossvater gegenüber derart viel Wärme und Sympathie, obwohl ich ihn nie wirklich erleben konnte.

«Einige der Geschichten im Buch rufen in Erinnerung, dass Europa in der Weltgeschichte eine ebenso verdienstvolle wie zerstörerische Rolle spielt. Von hier gingen ja auch vielfältige Brutalitäten aus, die sich vor, während und nach den beiden Weltkriegen zugetragen haben, etwa die Gründung der Staaten Israel, Indien und Pakistan, oder die Zerstückelung ganzer Kontinente. Die meisten meiner Vorfahren – aber nicht alle von ihnen – entkamen der Vergewaltigung, Enteignung und Entwurzelung durch die europäischen Kolonialmächte. Durch eine postkoloniale Fügung des Schicksals bin ich in der Schweiz aufgewachsen: Mein Vater war Bankier.» Waseem Hussain

Wolfram Schneider-Lastin, der Herausgeber und Mitverfasser des Buches, schildert in seinem knappen Vorwort die Entstehungsgeschichte des Buches, wie er während der Pandemie begann, die Geschichte seiner Grossväter aufzuschreiben, sie an Freunde weitergab und Lektüre und Reaktionen eine wahre Welle auslösten. Entstanden ist eine erstaunliche Sammlung von Geschichten, von Frauen und Männern im 20. Jahrhundert, die sich ganz verschieden durch ein Jahrhundert der Kriege und Umwälzungen stemmten. Geschichten von Liebe und Hass, von Ernüchterung und Enttäuschungen, vom grossen Schweigen und dunklen Geheimnissen, von tiefer Verbundenheit und schmerzhaftem Ekel.

«Dass sich meine Grosseltern krumm und bucklig gearbeitet haben, dass vor lauter Arbeit kein Denken möglich war, das kam nochmals stärker durch. Und ist damit übertragbar auf Menschen, die eben am Rand und «unten» wie blöd und hart arbeiten, dass nichts anderes mehr möglich ist. (s.a. «Jahrhundertsommer»). Und – das ist mir im Vergleich mit den anderen Geschichten aufgefallen – dass es von meiner Oma nur überhaupt zwei Fotos gibt, denn niemand hatte einen Fotoapparat und auch keine Zeit für so etwas, dass sie auch kein Auto hatten, vor dem man sich hätte fotografieren lassen können, dass sie auch nie in Urlaub fahren konnten, von dem es Fotos hätte geben können, dass sie arm waren, ohne dass sie je von sich gedacht hatten, arm zu sein. (Und meine andere Seite der Familie war noch sehr viel ärmer.) D.h. die Klassenfrage, die Frage nach der Herkunft, drängt bei jedem weiteren Schreiben und im Alter immer stärker durch.» Alice Grünfelder

Ein wunderbares Buch, eine Einladung, ein Zeitdokument.

Wolfram Schneider-Lastin, geboren 1951 in Schwäbisch Gmünd, studierte Schauspiel, Germanistik, Geschichte, Altphilologie und Kunstgeschichte an den Hochschulen Stuttgart, Tübingen, Wien und Rom. Seit 1988 lebt er in der Schweiz, wo er seine wissenschaftliche Karriere – nach der Promotion über Johann von Staupitz – an verschiedenen Universitäten und als Redakteur der Zeitschrift Librarium fortsetzte. Als Schauspieler hat er sich vor allem mit literarischen Lesungen einen Namen gemacht.

Die Autorinnen und Autoren: Fabio Andina (CH), Esther Banz (CH), Nelio Biedermann (CH), Sabine Bierich (D/CH), Zora del Buono (CH/D), Alex Capus (CH), Verena Dolovai (A), Daniela Engist (D), Oded Fluss (ISR/CH), Romana Ganzoni (CH), Roswitha Gassmann (CH), Alice Grünfelder (D/CH), Gottfried Hornberger (D), Waseem Hussain (PAK/CH), Markus Knapp (D), Andreas Kossert (D), Martin Kunz (CH), Hanspeter Müller-Drossaart (CH), Christa Prameshuber (A/CH), Helmut Puff (D/USA), Klemens Renoldner (A), Christian Ruch (D/CH), Ariela Sarbacher (CH), Thomas Sarbacher (D/CH), Herrad Schenk (D), Gerrit Schneider-Lastin (DDR/CH), Wolfram Schneider-Lastin (D/CH), André Seidenberg (CH), Ruth Werfel (CH), Anke Winter (D/CH)

«Ich wundere mich über die historische Amnesie in Jurys, Feuilletons, sogenannten Kulturkreisen, wie wenig von diesem Wissen vorhanden ist, wie wenig diese Leute in diesen Bubbles selbst von anderen Kreisen wissen, in denen sie sich nicht bewegen, wie viel für «alt» gehalten wird und noch lange nicht überwunden ist – und wie viel Kraft es kostet, diese Vergangenheit und auch Krisen anderswo wieder und wieder gegen den Mainstream in Erinnerung zu rufen.» Alice Grünfelder

Illustration © Hannes Binder

Reinhard Kaiser-Mühlecker «Brennende Felder», S. Fischer – Österreichischer Buchpreisträger 2024

Bin ich der, der ich bin? Richte ich mich bloss in einem Leben ein? Wie viel konstruiere ich von dem, was ich meine Wahrheit nenne? In „Brennende Felder“ brennt es gleich mehrfach. Reinhard Kaiser-Mühlecker schont mich in seinem neusten Roman nicht, zuletzt in meinem Wunsch, mich identivizieren zu wollen. Sein Meisterwerk flirrt in seiner aufgeladenen Hitze und der gekonnt spröden Annäherung an sein Personal.

Reinhard Kaiser-Mühlecker ist Bauer und Schriftsteller. Aber so sehr er seinen letzten Teil einer eigentlichen Trilogie („Fremde Seele, dunkler Wald“ (2016) und „Wilderer“ (2022), ohne dass man sie für dieses Buch gelesen haben müsste) in bäuerlicher Umgebung spielen lässt, so sehr konfrontiert mich der Autor mit urmenschlichen Schwächen, sei es in der Zeichnung seiner Protagonisten oder mit dem, was der Autor während des Lesens mit mir geschehen lässt. 

Nichts an „Brennende Felder“ beschreibt ländliche Idylle. Da brennen die Felder wegen der sommerlichen Gluthitze wirklich. Und überall lauert der Tod. Sei es ein Bauer, der in eine Futtermaschine gerät, eine Bäuerin, die den Strick nimmt. Das Leben auf dem Hof war und ist ein K(r)ampf, der so rein gar nichts mit Landliebe zu tun hat.

Reinhold Kaiser-Mühlecker «Brennende Felder», S. Fischer, 2024, 368 Seiten, CHF ca. 36.90, ISBN 978-3-10-397570-3

Luisa kommt zurück in dieses Dorf, in dem sie aufgewachsen ist, wo ihr Bruder noch immer den elterlichen Hof über Wasser zu halten versucht und der andere Bruder an seinen psychischen Verletzungen leidet. Luisas Vater spielte nie eine Rolle und ihr Stiefvater, von dem sie eine Kindheit lang glaubte, er wäre ihr Vater, erklärt ihr nach seinem Outing seine Liebe, steht Jahre später vor der Tür und beginnt mit ihr das, was damals unmöglich war. Auch ihre Mutter lebt noch im Dorf. Man schaut sich aber bei zufälligen Begegnungen nicht einmal in die Augen. Abgestorbenes Leben überall. Und überall kann es zu brennen beginnen.

Nachdem ihr Stiefvater bei einem nächtlichen Streifzug ums Leben kommt, Ermittlungen aber gar nie richtig in Fahrt kommen, lernt Luisa Ferdinand kennen, von dem sie annehmen muss, dass er der Bauer ist, bei dessen Konfrontation Bob, der Stiefvater, ums Leben kam. Aber statt diesen Ferdinand zur Rede zu stellen, richtet sich Luisa auf Ferdinands Hof häuslich ein und kümmert sich um Anton, den autistischen Sohn des Bauern. Eine Art Wiedergutmachungsversuch, denn Luisa hat selbst zwei Kinder aus zwei gescheiterten Ehen, zu denen sie den Draht verloren hat, einer Tochter und einem Sohn, die sich mehr und mehr deutlich von ihr abwendeten. Zwischen Ferdinand und Luisa entwickelt sich durchaus eine Beziehung, auch wenn einem als Leser im Laufe der Lektüre ziemlich bald klar wird, dass Luisa nicht nur Bindungsprobleme mit sich herumträgt, sondern alles zwischen Anziehung und Abstossung, zwischen Leidenschaft und Hassgefühlen kippt.

Luisa will Schriftstellerin sein. Sie träumt von einem eigenständigen Leben als Künstlerin. Ferdinand hat ihr sogar ein Schreibzimmer in seinem Haus eingerichtet. Ein Zimmer, das sie abschliesst. Das Leben auf dem Hof, all die Arbeiten, sind für sie nur Kulisse, Material, aus dem sie Literatur schaffen will. Noch so ein Feuer, wenn auch ein eigenartiges Strohfeuer, denn was sie schreiben will, scheint nie richtig Form annehmen zu wollen.

Während des Lesens wird immer deutlicher, dass Luisa ihre Sicht der Dinge ganz eigen interpretiert. Mehr und mehr Fragen stellen sich, Bilder kippen immer und immer wieder. Seien es ihre Beziehungen, die nicht enden wollenden Eskapaden, die Ruinen einer Familie und Luisas Hang, alles und jeden in ein für sie stimmiges Muster quetschen zu wollen.

„Brennendes Feuer“ beschreibt innere und äussere Feuer. Nicht zuletzt das Feuer, das jene Institionen frisst, die über Jahrhunderte das Existieren ausmachten; bäuerliche Arbeit, Ehe und Familie. „Brennende Feuer“ beschreibt aber auch den Zustand einer Gesellschaft, die den Blick auf das Wesentliche verloren hat, die sich im Kopf verliert, sich seine eigene Welt zusammenspinnt. „Brennende Feuer“ ist literarischer Hochgenuss, vielschichtig, verzwickt und von Hitze aufgeladen.

Reinhard Kaiser-Mühlecker wurde heute für sein Buch „Brennende Felder“ mit dem Österreichischen Buchpreis ausgezeichnet.

Interview

Nicht wenige Schriftstellerinnen und Schriftsteller erzählen mir immer wieder, dass sie ohne klaren Plan mit dem Schreiben beginnen und sich die Türen zu einer Geschichte erst nach und nach öffnen. So ist doch auch das Schreibprinzip von Luisa, deren grösster Wunsch nicht bloss das Verfassen eines Romans ist, sondern das Leben als erfolgreiche Schriftstellerin. Bei ihnen und den Romanen „Fremde Seele – dunkler Wald“, „Wilderer“ und dem neusten „Brennende Felder» – im weitesten Sinne eine Familiensaga aus drei verschiedenen Perspektiven – kann ich mir ein intuitives Schreiben schlicht nicht vorstellen, zumal ihr Roman auf so vielen Ebenen spielt. Oder täusche ich mich?
Mein Schreiben geschieht tatsächlich ohne Plan, aber es gibt immer etwas, das ich im Voraus weiss, kenne – in diesem Fall war es eine Persönlichkeitsstruktur. Luisa ist bereits in «Fremde Seele, dunkler Wald» angelegt, in «Wilderer» ein wenig entwickelt, im vorliegenden Buch habe ich versucht, sie möglichst breit, aber doch noch mit ausreichend Leerstellen, Lücken, Geheimnissen darzustellen.

Luisa ist eine schillernde Person, unfassbar, vielgesichtig (um nicht den Ausdruck schizophren zu benutzen, auch wenn er durchaus zutreffend ist). Eine seltsam nach innen gerichtete Person, die ihre Sicht der Dinge permanent über ihre Wahrnehmung spannt und alles ausblendet, was sie nicht braucht. Durchaus ein gesellschaftliches Phänomen, dass sich bis in die Politik und ihre Köpfe zeigt. Sie ist eine vernarbte Person, verwundet von einer Familie, eine Frau, der jedes Mittel genommen ist, um sich wenigstens mit der Vergangenheit zu arrangieren. Alle sind Versehrte. Sie ist weit weg davon, sich helfen zu lassen. Was muss passiert sein, dass Luisa zu einer Verlorenen wurde?
Ja, so kann man es sagen, sie ist wirklich eine Verlorene. Immer schon, wahrscheinlich. Was wird erworben, was vererbt? Auch darum geht es in dem Buch schliesslich. Jakob und sie sind für mich die zwei Seiten einer Medaille. So wenig wie er sich helfen lassen könnte, so wenig kann sie sich helfen lassen, weil sie keine Hilfe benötigt. Das Problem sind immer die anderen, das Gegenüber. Sie sucht ihr Heil in der Zukunft, besser gesagt: im Träumen.

© Sandra Kottonau

Luisas Familie ist ein Trümmerhaufen. Viele Familien sind Trümmerhaufen. Und doch; Trümmerhaufen sind keine Fallgruben. Es gibt Menschen, die aus Trümmerhaufen aufstehen, herausklettern und Berge versetzen. Luisa aber nimmt selbst Katastrophen in Kauf, um die Kulissen für sie ins richtige Licht zu rücken. Man könnte meinen, es gäbe im Kaiser-Mühlecker-Kosmos keine Chance, sich selbst am Schopf zu packen. Wie viel Pessimismus spielt da mit (auch wenn ich glaube, dass ein Biobauer aus Prinzip ein Optimist sein muss.)?
Im Leben bin ich optimistisch, natürlich, so machen die Tage mehr Spass. Ich kenne auch genug Schwarzmaler, und mit denen langweilt mich ein Gespräch schnell. Als Landwirt, aber auch als Schriftsteller benötigt man ein grosses Reservoir an Hoffnung und Zuversicht. Aber zur Frage: Es hat einen ganz eigenen Reiz, «das Unglück, das als Glück gedacht war» (Arnold Stadler) darzustellen. Und sowohl Luisa als auch Jakob, um nur diese beiden herzunehmen, sind auf eine Weise auch Stehauffiguren.

Luisa keht in ihr Dorf zurück. Sie kehrten nach langen Aufenthalten ebenfalls ins Dorf ihrer Eltern zurück und übernahmen einen Hof. Das Motiv des Zurückkehrens ist ein wichtiges in ihren Romanen. Wie weit ist das Schreiben an sich eine Form des Zurückkehrens? Ich kenne Menschen, denen das Reflektieren völlig fremd ist. Luisa reflektiert auch nicht. Wer aber nicht bloss ein Geschichtchen erzählen will, sondern die Welt miteinbinden will, muss unweigerlich reflektieren.
Ja, und man muss sich um die Vergangenheit, das Vergangene kümmern. Das tut Luisa zum Beispiel nicht, auch deshalb ist ihr Schreiben möglicherweise, wenn überhaupt, nur für ein Buch gut. Wir schöpfen aus dem, was war: Was wir gesehen, gehört, gelesen, in irgendeiner Art und Weise erlebt und erfahren haben. Das macht die Menschen aus, und das macht auch die Schriftsteller aus.

Es brennt in ihrem Roman, was man auch metaphorisch verstehen kann. Selbst Luisa brennt von ihrer Idee, Schriftstellerin sein zu wollen (Schon Schriftsteller-sein ist ein Unding, ist doch die Schriftstellerei kein Zustand.) Es brennt auch „unterirdisch“, Mottbrände auf den sonst dunklen Feldern von Familien. Es brennt in der Gesellschaft. Wie weit sind gute Schriftsteller Seismologen?
Ich glaube fest daran, dass in jedem Schreiben die Gegenwart steckt, dass man allem Geschriebenen die Zeit ansieht bzw. ansehen wird, in der es verfasst wurde. Insofern ist es fast überflüssig zu bemerken, dass ich es durchaus als eine Aufgabe von Schriftstellern ansehe, ihre «Zeit aufzuschreiben», wie es bei Hermann Lenz einmal heisst. Wie gut einem das gelingt, kann allerdings immer erst der spätere Blick zeigen.

Reinhard Kaiser-Mühlecker wurde 1982 in Kirchdorf an der Krems geboren und wuchs in Eberstalzell, Oberösterreich, auf. Er studierte in Wien und betreibt eine Landwirtschaft. »Ich sehe es als eine Art Verpflichtung an, die Welt, die ich kenne, erfahrbar zu machen – einem, der sie nicht kennt.« Sein Debütroman »Der lange Gang über die Stationen« erschien 2008, anschliessend die Romane »Magdalenaberg«, »Wiedersehen in Fiumicino«, »Roter Flieder«, »Schwarzer Flieder« sowie »Zeichnungen. Drei Erzählungen«. Der Roman »Fremde Seele, dunkler Wald« stand 2016 auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises. 2019 erschien der Roman »Enteignung«. Für sein Werk wurde Reinhard Kaiser-Mühlecker mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. Im Frühjahr 2022 erschien Reinhard Kaiser-Mühleckers Roman »Wilderer«, der für den Deutschen Buchpreis und den Österreichischen Buchpreis nominiert war und mit dem Bayerischen Buchpreis 2022 ausgezeichnet wurde.

Webseite des Autors

Beitragsbild © Peter Rigaud

Dave Eggers «Die Augen und das Unmögliche», Atlantis

Gibt es Kinderbücher? Jugendbücher? Wahrscheinlich gibt es Bücher, die explizit für ein Publikum geschrieben sind. Aber manchmal gibt es Bücher, die alle Sprachen sprechen, jene der Kinder, jene Jugendlicher und jene Erwachsener. Bücher wie „Die Augen und das Unmögliche“ von Dave Eggers. Bücher mit scheinbar einfacher Melodie. Mit Zwischen-, Unter- und Obertönen.

Haben sie „Momo“ von Michael Ende gelesen und dabei irgendwann das Gefühl gehabt, sie würden eine Kindergeschichte lesen? Eine einfache Geschichte für einfache Gemüter? „Momo“ spiegelt genauso wie Dave Eggers „Die Augen und das Unmögliche“ die Welt und was passiert. Diese Geschichte ist auch keine Tiergeschichte, auch wenn der Protagonist Johannes ein Hund ist. Ein Hund mit einer Aufgabe, denn in diesem grossen, riesengrossen Park ist Johannes ‹Das Auge›. Kein Wachhund, aber der Blick fürs Ganze, das Auge für die drei alten, weisen Bisons Freya, Meredith und Samuel, die seit ewigen Zeiten das Sagen über die Geschicke der Tiere haben und stets in ihrem Gehege bleiben, von Wärtern gefüttert.

Dave Eggers «Die Augen und das Unmögliche», Atlantis, 2024, Illustrator Shawn Harris, aus dem amerikanischen Englisch von Ilse Layer, 240 Seiten, CHF ca. 33.00, ISBN 978-3-7152-3013-9

In diesem riesigen Park hat es auch Menschen, mal wenige, mal viele. Solche, die mit Rädern an den Füssen über Wege und Strassen flitzen, manchmal mit eigenartigen Geräuschen aus tragbaren Kisten. Solche, die tanzen. Aber auch solche, die unerklärlichen Lärm verursachen, Dinge zerstören oder Müll zurücklassen. Oder solche in Uniformen. In diesem Park gibt es neben Wegen und Strassen auch Gebäude. Manch eines ist riesig. Und in der Mitte des Parks geschehen seltsame Dinge, denn dort wächst ein riesiges Ding mit nur wenigen Fenstern, das die Tiere im Park verunsichert.

«Lebendig sein heisst, seinen Weg zu gehen.»

Überhaupt scheint im Park eine Zeit des Umbruchs anzubrechen. Der immergleiche Alltag des Parks wird mehr und mehr gestört. Eines Tages stehen rund um das neu entstehende Gebäude Tafeln mit Bildern. Bilder, die Johannes eine Wirklichkeit zeigen, von der er nichts wusste, einer Wirklichkeit, die in über die Massen in Bann zieht, die in so sehr fesselt, dass er nicht einmal merkt, dass er von einem der Menschen gestreichelt wird. Eine Berührung durch dieses Bild und eine Berührung durch diese Hand.

Johannes ist der einzige seiner Art. Es gibt wohl noch andere Hunde, aber diese werden an Leinen von Menschen geführt. Sie sind auch nicht so schnell wie er, denn Johannes ist, wenn er denn will, so schnell wie das Licht. Man achtet Johannes, denn ohne ihn gäbe es ‹Das Auge› nicht für die drei alten Bisons. Und ohne Freya, Meredith und Samuel gäbe es die tausendjährige Ordnung nicht.

Doch eines Tages gerät Johannes, erstarrt im Bann jener Bilder vor dem eigenartig grossen Gebäude mitten im Park, in die Fänge von Menschen. Sie packen ihn und zerren ihn in eine metallene Kiste auf Rädern. Nur mit Hilfe seiner vielen Freunde im Park gelingt Johannes die Flucht vor den Dieben. Und weil ihm Gutes getan wurde, weil man ihn unter Aufbietung aller Kräfte rettete, meint auch Johannes etwas Grosses tun zu müssen; Die drei Bisons Freya, Meredith und Samuel sollen frei sein.

In „Die Augen und das Unmögliche“ geschieht das Unmögliche. Es ist eine Geschichte über Freiheit und Mut, über die Grenzen dieser Freiheit und die Kraft der Gemeinschaft. Wie leicht wir uns fesseln lassen, weil wir zu wissen glauben. Dave Eggers Roman ist eine phantastische Parabel über eine Welt, die aus den Fugen gerät. Über die Macht von Bildern, äussere und innere.

Ich bin sicher, dass meine Enkelinnen mir gerne beim Vorlesen zuhören würden. Und ich bin sicher, dass ich dieses Buch immer und immer wieder lieben werde.

Berndt Lindholm, Forest Interior, 1878, Finnische Nationalgalerie, Helsinki, Finnland

PS Die Gemälde in diesem Buch sind klassische Landsachftsgemälde längst verstorbener Künstler. Der Illustrator Shawn Harris malte Johannes den Hund in alle diese Bilder hinein, ohne die Gemälde sonst zu verändern.

Dave Eggers (*1970) ist einer der bedeutendsten zeitgenössischen Autoren. Sein Werk umfasst zahlreiche Bücher für Erwachsene, darunter «Every»,»»Der Circle» und «Ein Hologramm für den König». Ebenso hat er bereits mehrere Bücher für junge Leser*innen geschrieben, darunter «Die Mitternachtstür» und «Her Right Foot» und «What Can a Citizen Do?», die beiden letzteren illustriert von Shawn Harris. Dave Eggers ist Gründer von McSweeney’s, einem unabhängigen Verlag, und Mitbegründer von 826 National, einem Netzwerk von Schreib- und Nachhilfezentren für Jugendliche. Er lebt mit seiner Familie in Nordkalifornien.

Die neun Gemälde in diesem Buch sind klassische Landschaftsgemälde längst verstorbener Künstler. Shawn Harris, mit dem Dave Eggers schon häufig zusammengearbeitet hat, hat Johannes in alle Bilder hineingemalt, ohne sie ansonsten zu verändern. Shawn Harris lebt in Nordkalifornien, wo er auch gerne Songs schreibt, surft und Racquetball spielt.

lse Layer arbeitete nach ihrem Studium zunächst im Kulturbereich und in einem Verlag, bevor sie sich 1991 als Literaturübersetzerin für Spanisch und Englisch selbstständig machte. Sie lebt in Berlin. Für ihre Übersetzungen hat sie diverse Auszeichnungen und Preise erhalten, darunter den Deutschen Jugendliteraturpreis.

Dave Eggers «Die Parade», Rezension auf literaturblatt.ch

Beitragsbild © Brecht van Maele

Lukas Hartmann «Martha und die Ihren», Diogenes

«Martha und die Ihrigen» ist Lukas Hartmanns persönlichstes Buch, ein Buch über seine Herkunft. Ein Buch, aus dem viel Dankbarkeit spricht, weil Martha, die Grossmutter von Lukas Hartmann, die einzige Person im Roman, die den wirklichen Namen auch im Buch trägt, mit ihrem kargen Leben alles in den Dienst ihrer Familie steckte. Ein Buch – ein Denkmal.

Lukas Hartmann ist ein Mann der starken Biographien, ob über Le Corbusier und seinen Cousin, den Maler Louis Soutter („Schattentanz“), über Lydia Welti-Escher, die reiche Erbin Alfred Eschers („Ein Bild von Lydia“), über John Webber, einen Schweizer Expeditionsmaler, der 1788/89 an der Seite des Entdeckers James Cook bis „Ans Ende der Meere“ vorstiess oder vor bald einem halben Jahrhundert über den Pädagogen und Schulreformer Heinrich Pestalozzi („Pestalozzis Berg“). Lukas Hartmann ist ein literarisches Urgestein der Schweiz. Wer liest, begegnet ihm immer wieder, ob in Kinder- und Jugendbüchern oder in Romanen, die mit umsichtiger und penibler Recherche Vergangenheiten öffnen, ob an Schullesungen oder in Botanischen Gärten für Erwachsene. Was Lukas Hartmann in seinem künstlerischen Schaffen gelungen ist, ist in der Form nur ihm und Franz Hohler gelungen: Generationen von Fans.

Dass nach einer schwierigen, gesundheitlichen Phase nun zum ersten Mal ein Roman aus seiner Feder erscheint, der sich ganz offensichtlich mit seiner eigenen Herkunft und Geschichte auseinandersetzt, erstaunt nicht. Lukas Hartmann feierte am 29. August seinen 80. Geburtstag. Vielleicht einer der Gründe, warum sich Lukas Hartmann nach fast 50 Romanen für Kinder und Erwachsene mit der Geschichte seiner Familie auseinandersetzt. Aber vielleicht auch, weil die Geschichte seiner eigenen Familie beispielhaft ist für viele Familiengeschichten; Geschichten, die aus Armut, Zwängen und Mühsal in die Freiheiten der modernen Zeit münden, auch wenn diese Freiheiten trügerisch bleiben.

Lukas Hartmann «Martha und die Ihren», Diogenes, 2024, 304 Seiten, CHF ca. 34.00, ISBN 978-3-257-07273-0

In seinem neusten Roman ist Martha, seine Grossmutter, Dreh- und Angelpunkt der Geschichte. Martha wächst auf einem bitterarmen Bauernhof auf, der Vater nach einem Unfall schwach und kränklich, die Mutter stets kurz vor dem Zusammenbruch. Man reisst die Familie amtlich auseinander und verteilt die Kinder als Verdingkinder in alle Richtungen. Martha kommt wieder in eine Bauernfamilie, zeichnet sich als willige und flinke Arbeitskraft aus, selbst dort, wo niemand sonst die Hände schmutzig machen will. Sie glänzt in der Schule, aber niemand hat das Geld, sie länger als notwendig in die Schule gehen zu lassen. Sie schuftet in der Fabrik, heiratet einen Schuhmacher, der aber bald mehr und mehr krank stirbt und sie mit Kindern alleine lässt. Martha lässt sich nicht unterkriegen, tut alles, dass es ihren zwei Söhnen besser als ihr ergeht, heiratet ein zweites Mal und erweist sich als geschickte Geschäftsfrau, auch wenn das Eheglück erneut nicht auf ihrer Seite steht.

Toni, der ältere Sohn von Martha, wird nach den Wirren des Weltkriegs Postbeamter, eine sichere Stelle, heiratet und wird selbst auch Vater zweier Söhne, von denen der ältere, im Buch Bastian, unverkennbar die Züge des Autors hat.

Martha ist genau das, was viele Grossmütter damals waren; aufopfernd, fleissig, anpassungsfähig und zäh. Martha ist weit weg von den Idealen einer modernen Frau, auch wenn nicht einmal ein Jahrhundert dazwischensteht. Ein Leben voller Grenzen, Zwänge und Erwartungen. Ein Leben in Arbeit und Pflicht. So sehr darin trainiert und von Schicksalschlägen gepeitscht, dass selbst in Zeiten, in denen es wirtschaftlich besser geht, über Jahrzehnte Eingefleischtes nicht einfach abgelegt werden kann. Ein Leben in absoluter Disziplin, ohne Ansprüche, schon gar kein Luxus. Liegenbleiben erst, wenn man krank oder ernsthaft verletzt ist.

Toni, ihr Sohn, Bastians Vater, schnuppert in seinem Leben an den Annehmlichkeiten der Moderne, auch wenn ihm das Beispiel seiner Mutter lehrt, dass man es nur unter Aufbietung aller Kräfte zu etwas bringen kann. Toni macht Karriere bei der Post. Aber weil auch ihm seine Gesundheit, die durch masslosen Kräfteverschleiss kontinuierlich schlechter wird, den Lebensabend schwer macht, er sich zerreiben lässt in den Pflichten eines Sohnes, eines Ehemanns und Vaters, wird aus Bastians Elternhaus, wie damals im Haus seiner Mutter Martha, kein Nest. Das Leben ist Kampf.

Was den Roman besonders macht, ist die Sachlichkeit, mit der Lukas Hartmann erzählt. Der Erzählton ist in eine fast trockene Schicksalshaftigkeit getaucht, genau wie die Leben seiner Grossmutter und seines Vaters. Sie hatten nie die Chance einer Wahl. Sie hatten zu funktionieren. Erst seine Generation, erst Bastian, kann sich sein Leben nach eigenen Vorstellungen formen. Nichts nach dem Motto „Früher war alles viel besser“. Die Lektüre dieses Romans macht unsäglich demütig und dankbar.

Lukas Hartmann, geboren 1944 in Bern, studierte Germanistik und Psychologie. Er war Lehrer, Journalist und Medienberater. Heute lebt er als freier Schriftsteller in Bern und schreibt Bücher für Erwachsene und für Kinder. Er ist einer der bekanntesten Autoren der Schweiz und steht mit seinen Romanen regelmäßig auf der Bestsellerliste.

Lukas Hartmann «Der Sänger», Rezension mit Interview

Lukas Hartmann «Ein passender Mieter», Rezension

Beitragsbild © Bernard van Dierendonck

Julia Phillips «Cascadia», hanserblau

Eine todkranke Mutter mit ihren beiden erwachsenen Töchtern auf einer Insel im Nordwesten der USA. Sie sind arm und mit jedem Jahrring werden die Hoffnungen kleiner. In einer Mischung aus Trotz und Verzweiflung stellen sie sich dem Kampf ums Überleben – und einem Grizzly.

Sam und Elena, zwei Schwesterm, leben zusammen mit ihrer kranken Mutter in Kaskadien, einem Landstrich im Nordwesten der USA, der sich bis in die kanadische Provinz British Columbia zieht. Eine Sehnsuchtsgegend vieler Touristen, die Insel San Juan, nahe der kanadischen Grenze, zwischen den Grossstädten Vancouver und Seattle, ein Ort, an dem Mensch und Natur noch immer im Gleichgewicht nebeneinander zu existieren scheinen; unberührte Landstriche, grenzenloser Himmel, Orcas. Aber für Sam und ihre ältere Schwester Elena ist die Insel alles andere als das Paradies oder jener Ort, an dem sie bleiben wollen. Gemeinsam schmieden sie Pläne. Wenn dereinst die Krankheit ihrer Mutter ein Ende haben wird, werden sie das Haus verkaufen und mit dem Erlös irgendwo weit weg ein neues Leben beginnen, weil das, worin sie stecken, nur ein schmaler, enger Durchgang sein kann, dessen Licht am Ende des Tunnels leicht vernebeln kann.

So paradiesisch die Kindheit war, so unendlich die Möglichkeiten damals schienen, so sehr sind sie in die Pflichten rund um ihre Mutter eingebettet, in die immer grösser werdenen Sorgen um ihre finanzielle Lage, obwohl sie beide arbeiten, Sam als Snackverkäuferin auf eine Fähre und Eliane auf einem nahen Golfplatz. Ihre Mutter, krank geworden durch giftige Dämpfe in der Kosmetikindustrie, liegt in ihrem Zimmer, überlebt nur durch technische Hilfsmittel, muss immer wieder zum Arzt gefahren werden, ist nicht krankenversichert und hat längst Abschied genommen von jeglicher Art Hoffnung, ausser vor der Zuwendung ihrer beiden Töchter.

«Nichts war so gekommen, wie sie es sich vorgestellt hatte.»

Julia Phillips «Cascadia», hanserblau, 2024, aus dem Englischen von Pociao und Roberto de Hollanda, 272 Seiten, CHF, ca. 33.90, ISBN 978-3-446-28153-0

Es scheint alles festgefahren zu sein. Sam und Elena leben im Schattenwurf zwischen dem drohenden Tod ihrer Mutter, der Aufschiebung aller möglichen Zukunft und der Bedrohung einer immer misslicheren wirschaftlichen Lage, die sich mit der Pandemie nur noch zugespitzt hatte. Sie beide verschliessen sich immer mehr, ebenso ihre Mutter, bei der der Fernseher das einzige Tor zu einer Welt geworden ist, die sich längst verschloss. Ihrer Mutter sind die beiden jungen Frauen der letzte Halt und den Schwestern blockiert die Krankheit ihrer Mutter alles, was Hoffnung bedeutet, auch die Hoffnung auf ein eigenes Leben, auf Liebe, eine Zukunft.

Bis ein Bär auftaucht, Elena ihn neben der Fähre, auf der sie arbeitet, im Meer schwimmen sieht. Bis sie auf der Veranda ihres Hauses den riesigen Rücken eines Bären sehen, dieser sich am Haus zu schaffen macht, hier und dort eine Duftmarke setzt, man Gerüchte zu hören bekommt, Tiere seien gerissen worden, man könne sich nicht mehr sicher sein, schon gar nicht zu Fuss. Bis sich die Zeitung und die Behörden melden und eine Frau, Madeline, eine Biologin, man erst kaum glaubt, dass es sich um einen Grizzly handeln soll, sich Elena seltsam faszieniert und angezogen fühlt und Sam spürt, dass da etwas lauert, was mehr als bloss Bedrohung sein könnte.

«Der Bär hatte sie an den Rand einer Katastrophe geführt und sie dann verschont – was für ein Geschenk! Seine Präsenz: gewaltig, unvorstellbar, ein furchterregender, heiliger Anblick.»

Während Sam, die Perspektive, aus der die Geschichte erzählt wird, sich und ihr sowieso schon arg fragiles Familiengefüge mehr und mehr bedroht sieht, sich die letzten Hoffnungen zerschlagen könnten, öffnet sich Elena einem Wesen, das mit seiner unvorhersehbaren Art, seiner Wildheit und Kraft alles symbolisiert und in strotzendes Leben verwandelt, was ihr in ihrer Enge fehlt. Während Sam sich trotzig rüstet, entschwindet Elena in einer beinahe entrückten Anbetung an ein Wesen, dass sich nicht fassen lässt. Was sich während der Lektüre abzeichnet, trifft ein; die Mutter stirbt, der Bär packt zu und nichts ist mehr so, wie es sich Sam über die letzten Jahre ausgemalt hatte. Das kleine Licht am Ende des Tunnels flackert bedrohlich.

Julia Phillips verwebt Geschichten, Stimmungen ineinander. Es gelingt ihr meisterhaft, das Geschehen mit einem grossen Mass an Sinnlichkeit aufzuladen, man scheint den Bären förmlich zu riechen. Aber das ist auch die Bedrohung, die Hilflosigkeit in Armut und Existenzängsten, die Trotzigkeit, die der Hoffnungslosigkeit entspringt, die Angst vor Einmischung und unsensiblen Behörden. „Cascadien“ ist ebenso Millieustudie wie Familienroman, Sozialdrama und ultimative Konfrontation. Da die Realität von Armut und Krankheit, hier das Archaische der Natur, dort das Märchenhafte, die Hoffnung auf Erlösung in einem Roman, der einem bis zur letzten Seite atemlos lesen lässt.

Julia Phillips, geboren 1988, lebt mit ihrer Familie in Brooklyn, New York. Ihr gefeiertes Debüt «Das Verschwinden der Erde» (2021) war ein SPIEGEL-Bestseller. Die Autorin schreibt u.a. für die New York Times, The Atlantic und The Paris Review und unterrichtet am Randolph College.

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Pociao (Sylvia de Hollanda) übersetzte u.a. Paul Bowles, William S. Burroughs und Evelyn Waugh und gewann 2017 den Don DeLillo-Übersetzungswettbewerb.

Roberto de Hollanda übersetzte u.a. Almudena Grandes, Jack Kerouac und Eugenio Fuentes.

Beitragsbild © Nina Subin

«Stirb nicht, bitte stirb nicht.» Han Kang in «Weiß»(14)

Lieber Gallus

Nun liegt es auf dem Tisch: ein edles Buch in Weiss mit drei Wörtern in Schwarz und einer zarten weissen Feder darüber. Ich nehme es sehr sorgfältig in die Hand.

So verlassen wir den festen Grund, den unser Leben uns bis dahin geboten hat, und tun diesen letzten gefährlichen Schritt ins Leere, ohne zu zögern. Nicht weil wir besonders mutig wären, sondern weil es keine Alternative gibt. Ohne Wenn und Aber wage ich den Schritt in eine Zeit, die ich noch nicht gelebt habe, und in ein Buch, das ich noch nicht geschrieben habe.

Han Kang «Weiß», Aufbau 2020, aus dem Koreanischen von Ki-Hyang Lee, 151 Seiten, CHF ca. 27.90, ISBN 978-3-351-03722-2

Dieses 2020 auf Deutsch erschienene Werk der diesjährigen Nobelpreisträgerin erschüttert, beglückt und tröstet. In sehr persönlichen und tief bewegenden Bildern gelingt es der Autorin, die prägende Erinnerung an ihre Schwester, die in den Armen der Mutter als Neugeborenes starb, poetisch in Sprache umzusetzen. Das weisse Cover mit der schwarzen Schrift unter einer filigranen Feder und die Fotos von Han Kang und Douglas Seok bilden zusammen mit dem Text ein kostbares Schatzkästchen, dessen Reichtum durch langsame mehrmalige Lektüre jedes Mal aufs neue bewegt.

Stirb nicht, bitte stirb nicht. Diese Worte, die sie nicht verstand, waren das Einzige, was sie in ihrem Leben hören sollte.

Meine Mutter lag auf der Seite, ihr Kind an die Brust gedrückt, und fühlte, wie die Kälte in den kleinen Körper kroch. Tränen hatte sie keine mehr.

Ein Jahr nach dem Verlust ihrer ersten Tochter hatte meine Mutter eine weitere Frühgeburt. Dieses Mal war es ein Junge.

Wenn du noch lebtest, könnte folglich ich nicht sein. Da ich jetzt lebe, darfst du nicht existieren.

In allen Dingen werde ich dich spüren und für dich weiteratmen.

In kurzen Zitaten mit weissen Dingen als Titel und gegliedert in 3 Abschnitte «Ich», «Sie» und «Alles weiss» zeigt mir Han Kang ihre ergreifenden Reflexionen über Menschsein, Geworfenheit und Vergänglichkeit. Ich bin dankbar, durch den Nobelpreis auf diese wunderbare Autorin aufmerksam geworden zu sein.
Wirklich grossartig und lesenswert!

Herzlich

Bär

***

Lieber Bär

Seit ihrem Roman „Die Vegetarierin“ gehört Han Kang zu Koreas wichtigsten literarischen Stimmen. Während eines Aufenthalts in einer europäischen Stadt, konfrontiert mit der Erinnerung an ihre Schwester, die in den Armen ihrer Mutter starb, entstand „Weiß“, ein Buch, reduziert bis auf das, was sich nicht mehr wegdenken lässt. 

Die Frau, von der erzählt wird, ist in der Fremde, an einem Ort, an dem während der Hälfte des Jahres Kälte herrscht; der Nebel, die Wolken, der Schnee. In einer Stadt, in der sie die Sprache nicht versteht, in der kein Schild zu entziffern ist, in der sie sich fremd und verunsichert fühlt, tauchen im Weiss Bilder auf, die sie in die Erinnerungen zurückreissen.


An die Mutter, die noch ganz jung, ganz allein, weit weg und ohne Zugang zu medizinischer Hilfe lange vor dem Geburtstermin ein Mädchen zur Welt bringt, unvorbereitet und in stiller Verzweiflung. Aber nicht einmal zwei Stunden lang dauert das kurze Leben des Mädchens. Es stirbt. Und nachdem Stunden später der Vater nach Hause kommt, hüllt er dieses in weisse Wickeltücher und beerdigt es auf einem nahen Hügel. Eine Tragödie, von der sich die Mutter nie ganz erholt, die immer wieder im Konjunktiv aufflackert. Eine Tragödie, die auch die Erzählende begleitet, denn trotz ihres kurzen Lebens bleibt das namenlose Mädchen ihre Schwester. Noch mehr, denn es hätte sie selbst nicht gegeben, hätte die Erstgeborene weiter gelebt.

Jahrzehnte später in den kalten Wintermonaten in einer fernen Stadt, allein gelassen mit sich selbst und mit Bildern, die sonst verborgen bleiben, tauchen Erinnerungen wieder auf. Erinnerungen gekoppelt mit der Farbe Weiss. Während die Erzählerin als erstes eine Liste erstellt mit Dingen, die sie mit Weiss verbindet, tauchen weisse Fetzen aus dem Vergessen auf. Aus der Liste werden die Überschriften zu den kurzen Kapiteln, die sich wie Meditationen, Betrachtungen lesen; Wickeltuch, Babyhemdchen, Mondförmiger Reiskuchen, Nebel, Weisse Stadt, Weisse Kerze…

„Hättest du doch nicht aufgehört zu atmen.“

Die Texte reflektieren nicht nur Erinnerung, sie beschäftigen sich auch mit dem Warum, warum sich ausgerechnet in dieser fremden Stadt, diesem fremden Land längst Vergessenes an die Oberfläche drängt. Woher dieses Bedürfnis, dieses Sehnen nach Reinheit und Sauberem, Makellosigkeit und Keuschheit.

Von den Erzählungen der Mutter weiss die Erzählende, wie sehr die Mutter flehte: Stirb nicht, bitte stirb nicht. Mit dem Schreiben, dem Erzählen wandelt sich dieses Flehen an die Erinnerung: Stirb nicht, bitte stirb nicht. Selbst wenn die Augen des kleinen Mädchens nur kurz schauten, der Atem wieder versiegte und die Haut des Mädchens erkaltete – die Erinnerung darf es nicht. Stirb nicht, bitte stirb nicht, wird zum Amulett, zuerst für die Mutter, dann für die zweite Tochter.

„Weiß“ ist ein ganz zartes Buch, ein Hauch im kalten Winter. Der Beweis dafür das wir leben, nicht bloss existieren. 

Wer das Buch liest, scheut sich, es so einfach in ein Regal zu schieben.

Han Kang wurde 1970 in Gwangju, Südkorea, geboren und ist die wichtigste literarische Stimme Koreas. 1993 debütierte sie als Dichterin, ihr erster Roman erschien 1994. Für »Die Vegetarierin« erhielt sie gemeinsam mit ihrer Übersetzerin 2016 den Man Booker International Prize, »Menschenwerk« erhielt den renommierten italienischen Malaparte-Preis. »Weiß« war ebenfalls für den Booker Prize nominiert. 2024 erhielt Han Kang den Nobelpreis für Literatur. Sie lebt in Seoul. 

Ki-Hyang Lee, geboren 1967 in Seoul, studierte Germanistik in Seoul, Würzburg und München. Sie lebt in München und arbeitet als Lektorin, Übersetzerin und Verlegerin. Für ihre Übersetzungen wurde sie 2024 mit dem Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichnet.

Beitragsbild © Yeseul Jeon

Mariann Bühler «Verschiebung im Gestein», Atlantis #SchweizerBuchpreis 24/09

Mariann Bühler wurde für ihr Debüt «Verschiebung im Gestein» anlässlich der Weinfelder Buchtage der Weinfelder Buchpreis verliehen, eine Auszeichnung, die im Hinblick auf den Schweizer Buchpreis durchaus als Hinweis verstanden werden kann.

Angesichts unserer eigenen Endlichkeit erscheint das, was wir an Welt wahrnehmen, in eine Ewigkeit getaucht, unverrückbar, „in Stein gegossen“. Aber selbst das, was fest erscheint, ist einem Fliessen unterworfen. Mariann Bühler beschreibt drei Leben, die aufbrechen, zu fliessen beginnen, die sich verschieben, eine neue Richtung bekommen. Mariann Bühler tut dies derart souverän, dass das Staunen zum Schaudern wird! Tektonische Verschiebungen, die ganz langsam, kaum wahrnehmbar vonstatten gehen. Mariann Bühler beschreibt genau jene feinen Risse, die mit der Verschiebungen im Gestein einhergehen.

Ihr heute preisgekrönter Roman ist Mariann Bühlers Debüt. Debüt ja, aber bereits ein Meisterstück! Mariann Bühlers Buch besticht vielfach; zum einen die Konstruktion, das Übereinanderschichten verschiedener Leben, die Schichtungen im Buch selbst, zwischen den drei scheinbar unabhängigen Leben und den sanften, zarten Schilderungen, die die drei Leben in einen grösseren Zusammenhang, in einem grossen Bild zusammenfügen. Weiter die Sprache, die sich ganz dem Feinen zuwendet, nichts Reisserisches braucht und mit grosser Empathie maximale Nähe zum Geschehen erzeugt. Es sind die Geschichten von Suchenden, die auf ganz unterschiedliche Weise durch die Sedimente des Lebens geführt, geschoben und gezogen werden. Mariann Bühlers Roman ist Lesegenuss der Extraklasse. Ein Versprechen! Ein Versprechen, das nicht nur dieser Preis hier in Weinfalden gibt, nicht zuletzt auch die intakten Chancen, dass im November noch ein weiteres Ausrufezeichen dazukommen könnte, der Schweizer Buchpreis 2024.

Elisabeth lebt und arbeitet in einem Dorf. Der Tod ihres Mannes bringt sie gänzlich aus dem Trott, lässt sie taumeln, obwohl die Ehe mit ihm nicht das gebracht hatte, was sie sich noch zu Beginn erhofft hatte. Sie führten über Jahrzehnte die Bäckerei im Dorf, ein Geschäft, das Jakob so wie immer führen wollte und die vorsichtigen Änderungs- und Anpassungsvorschläge seiner Frau stets mit Trotz und aufbrausenden Drohungen quittierte. Drohungen, die Jakob mitunter auch mit Schlägen verdeutlichte. Elisabeth, ein halbes Leben in die Pflichten einer Familienfrau, Mutter, Ehefrau und „Angestellte“ eingebunden, muss sich nach dem Auszug ihrer Tochter und dem Tod ihres Mannes neu aufstellen. Das alte Leben soll enden, auch die Rolle, die Elisabeth im Dorf einzunehmen hatte. Nach Wochen, in denen die Notiz an der Einganzstür zur Bäckerei langsam zu vergilben begann, öffnet Elisabeth wieder die Tür zur Bäckerei. Nur mit dem Unterschied, dass sie es ist, die nun den Lauf der Dinge bestimmt.

„Anfangs erschrak Elisabeth, wenn Jakob spurlos im Bäcker verschwand. Mit den Jahren entwickelte sie ein Frühwarnsystem, wie es das für Erdbeben gibt.“

Mariann Bühler «Verschiebung im Gestein», Atlantis, 2025, 208 Seiten, CHF ca. 32.90, ISBN 978-3-7152-5040-3

Alois ist Bauer. Ob er den Hof damals hätte übernehmen wollen, stand nie zur Frage. Er wuchs über die Jahre in diese Rolle hinein. So wie seine Eltern alt und gebrechlich wurden und mit der Zeit nicht mehr die Kraft hatten, so gab er sich immer mehr in die Aufgaben des Bauern hinein. Eine Aufgabe, die mehr und mehr zur seinen wurde, eine Selbstverständlichkeit, ein Naturgesetz. Aber in Alois stiller Ergebenheit blieb stets ein Rest Zweifel. Sollte es das gewesen sein? Nur schon die dauernden Sticheleien der Eltern, weil sich keine Bäuerin finden wollte, oder die Erzählungen im Musikverein von grossen Abenteuern, stellen Alois Innenleben auf eine harte Probe. Selbst seine Schwester, die mit ihrer Familie im gleichen Dorf lebt, spürt, dass da etwas ist, was ausbrechen will. Bis sich Jakob entschliesst, den Hof zumindest für ein Jahr zu verpachten und reissaus zu nehmen, all die Pflichten hinter sich zu lassen.

„Wenn er Halt zu verlieren drohte, hielt er sich an Heugabeln, Besen, Steuerrädern fest.“

Und da ist Ruth, von der Mariann Bühler manchmal in der dritten Person, als Ruth erzählt, und manchmal in der Du-Form, als wäre die junge Frau gleich neben der Erzählstimme, würde sie sie durch das Geschehen schieben. Die junge Frau kehrt ins Dorf zurück, holt sich die Schlüssel für das schon lange unbewohnte Ferienhaus hoch über dem Dorf. Ein kleines Haus, in dem die Zeit still gestanden ist, die Luft sich über Jahre nicht bewegte. Das Haus soll verkauft werden. Ruth trägt ihr Leben hinauf in dieses Haus, die Suche nach ihrem Platz, die Bilder und Stimmen aus ihrer Vergangenheit, einer Familie, in der sich der Schmerz tief eingegraben hatte.

„Du hast dich mit deiner Schwester vom Wald verschlucken lassen, vom Tobel, vom Bach und den moosigen Steinen. Ihr habt eure Mädchenhaut mit den Gummistiefeln abgestreift und seid zu Zwergen geschrumpft, habt aus Tannennadeln und Lehm Häuser gebaut, seid als Löwen mit Mähnen aus Farn durch den Urwald geschlichen, als Hexe mit Tannenzapfennase und Astbesen.“

Jeder Ausschnitt aus diesem Buch zeigt, wie bildhaft Mariann Bühler erzählt, wie sie mit malerischer, zeichnerischer Freude mit Sprache umgeht, wie nah sie sich den Menschen und ihrer Geschichte zuwendet.
Mariann Bühler erzählt von drei Leben, die sich erst nach und nach miteinander verweben. Drei Leben, die sich über- und untereinder verschieben, aufeinanderstossen und sich aufwerfen. Erst über die Zeit wirksame Kräfte, die an ihren Rändern brechen und Abgründe sichtbar machen. 

Ein beeindruckendes Kunststück! Ein Buch, dass das Herz öffnet.

Interview

Nun ist er draussen, Dein erster Roman, an dem Du ganz offensichtlich sehr lange und intensiv gearbeitet hast. Was bis vor kurzem noch ganz Dir gehörte, liegt nun auf Tischen in Buchhandlungen zum Kauf bereit, wartet auf Nachttischchen und in Bücherstapeln auf die Lektüre und auf den Schreibtischen der Rezensenten auf Zuspruch oder Ablehnung. Wie sehr verändert die Veröffentlichung Deines Buches Dein Leben, oder zumindest die zeitliche Ausrichtung?
Diese Frage würde ich in einem Jahr vermutlich anders beantworten, jetzt, kurz nach Erscheinen des Buches beantworte ich sie so: Ich freue mich darüber, dass ich diesen Text und seine Figuren nun mit allen, die ihn lesen wollen, teilen kann. Und ich freue mich auf die Reaktionen darauf – darauf, dass ich dank den Leser*innen den Text selbst noch einmal mit neuen Augen sehen kann. Ich bin gespannt, was auf mich zukommt, welche Wege dieser Roman nehmen wird. Und wie das weitergeht mit meinem Schreiben.

© Mariann Bühler

Die Menschen, von denen Du erzählst, sind Gefangene. Sie alle versuchen auf die eine oder andere Weise auszubrechen, geschoben oder gezogen. Ich bin sicher, dass Du mit dem Thema Deines Romans eine menschliche Ursehnsucht ansprichst, seien es nun kleine oder grosse Ausbrüche, haben wir Menschen doch wie kein anderes Lebewesen die Fähigkeit, uns selbst zu fesseln, zu blockieren – bis zur vollkommenen Lähmung?
Wir alle sind Teil eines Gefüges – da sind zwischenmenschlich Beziehungen, die über Jahre wachsen und uns prägen, ein soziales, berufliches, familiäres Umfeld, das uns ebenso formt wie wir unseren Platz in der Welt mitformen. In manchen Situationen verspricht das Verharren im Bekannten mehr Sicherheit als eine Verschiebung ins Unbekannte. Gleichzeitig geschehen manche Veränderungen, ob wir wollen oder nicht. Auch wenn die Situation eng aussieht, wenn es scheint, dass alles stillsteht, gibt es einen kleinen Spielraum. Ich mag das englische Wort für Spielraum, «wiggle room», wiggle heisst wackeln oder schlängeln, ich stelle mir einen ganz kleinen Raum vor, der sich durch konstante, kleine Bewegungen verändern und erweitern lässt. Ich mag dieses Bild, darin ist eine Zuversicht.

Warum schaffen wir es nicht, Veränderungen selbst zu provozieren? Warum gelingt uns eine Veränderung meist erst dann, wenn wir sie im Windschatten anderer Ereignisse vollziehen können, wenn das Beben bereits stattgefunden hat, wenn die Risse in den Versteinerungen aufgebrochen sind?
Wir können alle nicht aus unserer Haut. Unser bisheriges Leben hat sich in uns eingeschrieben, hat unsere Möglichkeiten und Grenzen geformt. Tiefgreifende Veränderungen geschehen nicht notwendigerweise mit Pauken und Trompeten und einem einzigen umgelegten Hebel, sondern leise, über eine lange Zeit, unter der Oberfläche. 
Für meine Figuren kommt das Beben nicht plötzlich. Auf den ersten Blick vielleicht, aber bei genauerem Hinsehen wird klar, dass sich das schon lange angebahnt hat. Wie die tektonischen Verschiebungen, die lange bevor wir sie begreifen konnten, stattgefunden haben, braucht es manchmal Zeit, die Risse, die Aufbrüche als solche wahrzunehmen.

Ich bin tief beeindruckt von der Sprache und der Erzähltechnik Deines Romans. Wie weit bist Du Deiner Intuition gefolgt? Oder war da eine Strategie, ein Plan? Ich kann mir nicht vorstellen, dass dieser Roman das Resultat eines chronologischen Schreibens sein kann. Viel mehr macht er den Eindruck, als wäre es der Sud eines langen Entstehungsprozesses, ohne dass der Roman dabei seine Leichtigkeit eingebüsst hätte.
Der Entstehungsprozess war alles andere als geradlinig. Ich bin im Arbeitsleben die, die für alles eine Liste und einen Plan erstellt. Im Schreiben funktioniere ich offenbar anders. Erst ganz am Schluss gab es eine Liste, die mir den Überblick über die Kapitel erleichterte und die Struktur, die Schichtung, zeigte. 
Davor war alles in Bewegung. So viel in der Schwebe zu halten, war manchmal schwer erträglich, im Nachhinein aber wichtig: Ich konnte Szenen, die nicht funktionieren wollten, an einen anderen Ort schieben, in ein anderes Lebensalter der Figur – oder sie einer ganz anderen Figur zuordnen. So wurde manchmal ein scheinbar unwichtiges Motiv, von dem ich mich nicht recht trennen konnte, wie die Narbe an Alois’ Finger, zentral. Bei jeder Figur gab es einen – manchmal ziemlich ausgedehnten – Moment, wo es nicht weiter ging, wo sich etwas in meiner Wahrnehmung verschieben musste, damit etwas, das ich nicht geplant und manchmal nicht einmal geahnt hatte, Form annehmen konnte. Auf das Geologische bin ich per Zufall gestossen. Ich bin staunend in diese Sprache eingetaucht, die mir genau die Bilder und Prozesse geliefert hat, die mir fehlten. 
Der Text hat die lange Gärphase gebraucht, ich habe sie gebraucht, um besser zu verstehen, was ich schreibe und wie ich schreibe. Welche Möglichkeiten ich habe und wie ich sie nutzen kann. Dem Prozess zu vertrauen und nichts voreilig festzumachen.

© Mariann Bühler

Da gibt es Szenen in der Backstube oder im Stall, die unmöglich ohne persönliche Erfahrungen hätten entstehen können. Ganz offensichtlich wolltest Du nicht nur bei deinen ProtagonistInnen nah rangehen, sondern auch in dem, was sie tun. Kannst Du melken und grosse Mengen Brot backen?
Mir war es wichtig, diese Arbeitsprozesse abzubilden, weil sie viel über die Figuren erzählen und auch als Gegenstück zu den geologischen Verschiebungen. Das Backen und Melken sind auf den ersten Blick repetitive Arbeiten, die jeden Tag gleich geschehen. Gleichzeitig verändern sie sich dauernd: Wer backt oder melkt, braucht ein grosses Erfahrungswissen und ist sich einer Vielzahl von Faktoren bewusst, trifft dauernd kleinste Entscheidungen, um den Prozess an die aktuellen Gegebenheiten anzupassen, führt also dauernd die für das Gelingen nötigen Veränderungen herbei. So durch und durch gekonntes Handeln finde ich sehr schön – fast wie ein Tanz. 
Ich habe selbst zwar einmal gelernt, ein Melkmaschinenaggregat an ein Euter zu hängen, und würde von Hand etwas Milch aus einer Kuh bekommen, aber wirklich melken kann ich nicht. Beim Backen ist es ähnlich, ich backe gerne mal einen Zopf, aber in grossen Mengen Brot backen, das kann ich nicht. Da war ich beim Schreiben auf das Wissen anderer angewiesen. Ich habe zum Beispiel eine Bäuerin besucht, die jede Woche aus mehreren hundert Kilo Mehl Brot backt, konnte ihr bei der Arbeit zuschauen und Fragen stellen. Das war sehr wichtig: Den blossen Ablauf dieser Arbeit hätte ich aus Texten und Videos zusammenschustern können, aber beim Beobachten wurden die Bewegungen, Konsistenzen, Materialitäten, das ganze verkörperte Wissen, wahrnehmbar. 
Beim Melken und auch beim Holzen war es ähnlich: Die Bewegungen und Körperhaltungen kenne ich seit meiner Kindheit, meinte, mich an die Abläufe erinnern zu können – und musste dann feststellen, dass meine Erinnerung ungenau war. Zum Glück hatte ich einen Testleser für die landwirtschaftlichen Dinge, der mir Reihenfolgen und Aufgabenteilungen geradegerückt hat. Das lässt sich nicht googeln, um das zu vermitteln braucht es Menschen mit entsprechendem Wissen.

Was mich ebenfalls beeindruckte, sind beschriebene Stimmungen. Seien es Stimmungen in Szenerien oder solche in den Innenwelten deiner ProtagonistInnen. Klar ist Empathie eine Voraussetzung, um sich in solche Innenwelten hineinzubegeben. Wann merkst Du, dass das Gleichgewicht zwischen Nähe und der nötigen Erzähldistanz erreicht ist?
Da muss ich nachdenken. Die Stimmungen waren mir wichtig, vielleicht, weil sich damit manchmal die Innenwelten nach aussen übersetzen lassen, wenn den Figuren nicht nach Reden ist. Die können und wollen nicht alles in Worte fassen, was in ihnen vorgeht. Da habe ich versucht, ihre Umgebung so zu beschreiben, dass nachvollziehbar wird, was in den Figuren vorgeht. 
Ich glaube, bei den Figuren entsteht das Gleichgewicht in der Bewegung, im Wechsel zwischen Nähe und Distanz. Die richtige Erzähldistanz zu finden war nicht ganz einfach. Der Vorteil war, dass ich zwischen den Strängen hin und her wechseln konnte. Wenn ich bei Elisabeth nicht weiterkam, konnte ich beispielsweise zu Alois wechseln und schauen, ob der gerade gesprächiger ist. Das brauchte Geduld: So, wie wir anderen Menschen nicht im ersten Gespräch unsere tiefsten Geheimnisse verraten, musste ich die Figuren erst kennenlernen, langsam erarbeiten, was sie umtreibt und mich manchmal ebenso selbst überraschen lassen wie auch mal einzugreifen als Autorin, bewusst eine Weiche stellen im Text. 
Die Distanz zu den Figuren verändert sich noch immer: Anfangs war es nicht leicht, ihnen nah genug zu kommen. Kurz vor dem Ende der zweiten Fassung waren sie mir so nah, dass ich abends nicht einschlafen konnte vor Sorge um sie, ob das alles gut kommt – eigentlich absurd, schliesslich gab es sie nur in meinem Kopf und in einer Datei. Und jetzt, wo das Buch da ist, gehen sie ihre eigenen Wege.

Mariann Bühler, geboren 1982 in der Nähe von Luzern, hat in Basel und Berlin Englische Literatur­ und Sprachwissenschaft, Islamwissenschaft und Gender Studies studiert. Sie lebt als Autorin, Literaturvermittlerin und Veranstalterin in Basel. «Verschiebung im Gestein» ist ihr Romandebüt; für einen Auszug aus dem Manuskript wurde sie mit dem Zentralschweizer Literaturpreis ausgezeichnet.

Weinfelder Buchtage 2024

Webseite der Autorin

Illustration © leale.ch

André David Winter «Die Kunst, eine schwarze Katze», Edition Bücherlese

Wann ist Kunst Kunst? Kann ich es oder renne ich nur einem Traum, einer Vorstellung hinterher? Was geschieht mit einem Leben, das weder Tritt noch Richtung findet? André David Winter setzt sich in seinem neuen Roman „Die Kunst, eine schwarze Katze“ mit einem Leben auseinander, das nach Klärung sucht, mitten in Zwängen des Gegenwärtigen.

Anina ist jung und ihr zuhause so gar nicht das, was man sich unter einem warmen Nest vorstellt. Vater und Mutter zerfleischen sich gegenseitig, eine Zerrissenheit, die sich tief in das Mädchen und die junge Frau hineinfrisst. Anina spürt, dass sie etwas finden will und muss, das sie zu sich selbst zurückführt. Aber auch ihre Karriere als Schülerin verläuft alles andere als problemlos, sodass ihr Papa immer und immer wieder der wird, der ihr aus der Verzweiflung darüber hilft, dass das Begonnene nicht dem Gewünschten entspricht.

Anina spürt schon als junges Mädchen, dass ihr das Zeichnen etwas schenkt, was sich mit keinem anderen Tun vergleichen lässt. Durch das Zeichnen erfährt sie eine Welt, die sich ihr auftut und sich nicht wie ihr Elternhaus mehr und mehr verschliesst. Sie bittet ihren Vater um die Finanzierung eines Kunststudiums in Paris, an der École Nationale Supérieure des Beaus-Art, schafft es durch die Prüfungen und landet in der Klasse eines ebenso angesehenen wie angefeindeten Professors, der es versteht, ihr eine Art des Sehens zu vermitteln, die Anina immer mehr hoffen lässt, dereinst aus ihrem Talent einen Beruf zu machen. Aber ausgerechnet jener Professor entpuppt sich als Fälscher, fällt in Ungnade und reisst die junge Studentin in eine tiefe Krise. Die Rückkehr von Paris nach Zürich ist verschüttet, genauso das, was in der Fremde ganz zaghaft zu erblühen begann.

„Schwer zu fangen diese Katze, und doch versuchen wir es, manchmal ein Leben lang. Ich mit Büchern und Sie mit Malen.“

André David Winter «Die Kunst, eine schwarze Katze», Edition Bücherlese, 2024, 192 Seiten, CHF ca. 30.90, ISBN 978-3-906907-96-3

Anina nimmt ihr Leben im permanten Zweifel wieder auf, erst recht als sie ihren Jugendfreund heiratet, schwanger wird und sich in einem Leben der Kompromisse einfügt. André David Winter zeichnet eine Frau, die erst mit der Loslösung von ihrem Mann, mit der unfreiwilligen Distanz zu ihrer pubertierenden Tochter und einem erneuten Aufbruch in die Fremde, das wieder zurückerobert, was ihr Mutlosigkeit, Frustration und Ernüchterung genommen hatten. Er zeichnet den Kampf all jener, die genau spüren, dass ihnen etwas geschenkt wäre, was sich nur durch grössten Zweifel und innere Zerrissenheit an die Oberfläche wagt. Eine junge Frau, die nicht weiss, ob das, was sie tut, „nur“ Leidenschaft oder wirklich Kunst ist.

Anina trifft jene Freundin wieder, mit der sie vor Jahren in Paris an eine Zukunft als Künsterin zu träumen wagte. Eine junge Frau wie sie, die aber mit Mann und Familie schafft, was ihr verwehrt blieb, nicht nur eine eigene Handschrift, ein Leben als Künstlerin, sondern das Selbstbewusstsein, eine Künstlerin zu sein, erst recht mit einer Familie. Anina spürt, dass sie einen Kampf aufnehmen muss, nicht nur gegen die eigene Mutlosigkeit, auch gegen Dämonen aus ihrer Vergangenheit, ihre Verletzungen, ihre tiefe Angst vor Verlust. Was zaghaft aufzubrechen beginnt, wird mehr und mehr zu einer Gewissheit.

„Während sie redete, gingen ihr Bilder der letzten Stunden durch den Kopf, und plötzlich wusste sie, dass sie und was sie malen wollte. Malen musste. Das, was niemand sieht.“

André David Winter setzt sich in seinem kunstvoll konstruierten Roman auch mit der Frage auseinander, was Kunst sein muss und soll. Welchen Formen des Sehens und Spürens man folgen muss, dass aus reiner Produktion Kunst wird. Er schickt eine junge Frau auf eine Entdeckungsreise, zurück in die Vergangenheit, hinein in ihr eigenes Leben, zurück auf die für die Kunst existenziellen Fragen, wo Geschaffenes ein Eigenleben bekommt, nicht bloss Abgebildetes ist.

André David Winter leuchtet in die Tiefen einer zerrissenen Seele und offenbart, was in seiner eigenen immer und immer wieder auflodert.

André David Winter, geboren 1962 in der Schweiz, verbrachte die ersten acht Lebensjahre in Berlin. Nach Stationen auf Bauernhöfen in der Schweiz und in Italien folgten die Ausbildung in der Psychiatrie und die Arbeit als Lehrer für Gesundheits- und Krankenpflege sowie als Gerontologe. Neben seiner schriftstellerischen Tätigkeit – der erste Roman erschien 2007 – arbeitet Winter heute als Kursleiter und Erwachsenenbildner im Gesundheitswesen.
Er lebt mit seiner Familie im Kanton Luzern.

Rezension André David Winter «Die Leben des Gaston Chevalier»

Beitragsbild © Ayșe Yavaș

Michelle Steinbeck «Favorita», park x ullstein #SchweizerBuchpreis 24/09

Eine Geschichte aus Wirklichkeit und Traum, Wahn, Fantasie und Halluzination. Angeschrieben gegen die Realität nicht ernst genommener Femizide, erzählt in einer Sprache, die funkelt und blendet, in Bildern, die sich festsetzen und bleiben. „Favorita“ ist ein literarisches Schwergewicht.

Als hätte Michelle Steinbeck eine Weile an der Seite von Quentin Tarantino geschrieben. Fila, eine junge Frau, die bei ihrer italienischen Grossmutter in der Schweiz aufgewachsen ist, bekommt einen Anruf aus einem Spital in Neapel, dass ihre Mutter getötet worden sei. Sie solle der aufgetischten Diagnose „Schrumpfleber“ nur ja nicht trauen. Fila macht sich auf nach Italien auf der Suche nach Erklärungen, Spuren, Hinweisen über ihre Mutter. Eine Mutter, die nie für sie da war, von der sie und ihre Grossmutter nur hie und da Postkarten von immer wechselnden Grossstädten bekamen, von der die Grossmutter nur immer und immer wieder warnte, sie Fila solle nicht so werden wie die vom Weg abgekommene, gefallene Mutter.

Fila taucht in die Zwischenwelt Neapels, mit der Urne ihrer Mutter. Dort trifft sie im Milieu auf Frauen, die ihre Mutter nicht nur kennen, sondern in ihrem Dienst standen, die Fila ziemlich schnell klar machen, dass ihre Mutter durch die Hände ihres siebten Ehemannes starb und es nur einen Weg zur Klärung geben würde, wenn sich Fila an ihre hochhackigen Fersen kleben würde. Fila taucht in eine Welt der Abgründe. Nach einer wilden Flucht und einem Inferno in einer besetzten, ehemaligen Salamifabrik wird Fila im Auto eines fremden Mannes in ein abgelegenes Dorf gefahren, in ein grosses Haus, in eine Villa, in der sie sich verstecken soll.

Michelle Steinbeck «Favorita», park x ullstein, 2024, 464 Seiten, CHF ca. 29.90, ISBN 978-3-98816-000-3

In jenem Dorf erfährt Fila vom Schicksal einer jungen Frau, die kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs in einem Wald bei eben diesem Dorf ermordet wurde. Ein kleines, unscheinbares Mahnmal erinnert an den grausamen Tod und an die Tatsache, dass nie abschliessend ermittelt werden konnte, wer der hübschen jungen Frau unmittelbar vor ihrer Hochzeit die Kehle durchgeschnitten hatte. Fila beginnt in den Archiven zu forschen und erfährt von einem Prozess gegen den Verlobten der damals Getöteten, der wohl verurteilt, aber nicht einmal zwei Jahre nach dem Urteil bei Wiederaufnahme des Prozesses aus Mangel an Beweisen wieder freigelassen wurde. Nicht nur weil die Beweise gegen ihn nicht hieb- und stichfest gewesen wären, sondern weil der Druck der Öffentlichkeit, die nicht haben wollte, dass so ein «armer» Mann im Gefängnis schmort, weil seine Verlobte die Finger nicht von anderen Männern lassen konnte, immer grösser wurde.

Für Fila wird das Schicksal jener jungen Frau untrennbar verwoben mit dem Schicksal ihrer Mutter, denn es wird immer deutlicher, dass ein Mann, der letzte Mann ihrer Mutter, die Ursache für den Tod ihrer Mutter war und man alles daran setzte, diesen Mord zu vertuschen. Fila lässt nicht locker, erst recht nicht, als sich „ihr Vater“, jener Mann im Gefolge eines ganzen Trosses neofaschistischer Gesinnungsgenossen zu einem geheimen Treffen in jener Villa ankündigt, in die man Fila versteckt hatte. Fila wird zum Racheengel. Was sich über 450 Seiten zuspitzt, wird in den letzten Seiten zu einem Finale, an dem auch Tarantino seine Freude hätte.

Das ist die Geschichte, eine Geschichte, für die es aber nicht unbedingt 450 Seiten gebraucht hätte. Da ist auch das mit eingeschriebener Wut gegen eine Gesellschaft, die Gewalt gegen Frauen nicht ernst nimmt, die die Schuld fast reflexartig in den Opfern selbst sieht und Täter nie wirklich zur Rechenschaft zieht. Aber dafür hätte es auch nicht 450 Seiten gebraucht. Was mich diesen Roman über 450 Seiten mit Hochgenuss lesen lässt, und das ist als Mann nicht ganz einfach, ist die Sprache, dieses Mäandern zwischen den verschiedensten Ebenen der Wahrnehmung. Da sprechen Geister, da driftet das Geschehen ins Fantastische ab, da schillern Spiegelungen. Man spürt neben der Wut die Lust. Es knallen die Farben ebenso wie die Dichte überzeugt. Michelle Steinbeck will weder gefallen noch unterhalten. Sie malt ein Sittenbild der Gegenwart, auf das man sich einlassen muss – und für das es sich mehrfach lohnt, 450 Seiten zu lesen!

Michelle Steinbeck, geboren 1990, aufgewachsen in Zürich, schreibt Prosa, Lyrik, und für Theater, Magazine und Zeitungen. Ihr Debütroman «Mein Vater war ein Mann an Land und im Wasser ein Walfisch» war nominiert für den Schweizer sowie den Deutschen Buchpreis 2016; 2018 folgte der Gedichtband «Eingesperrte Vögel singen mehr«. Ihre Bücher und Reportagen wurden in mehrere Sprachen übersetzt. Sie ist Kolumnistin der WOZ – Die Wochenzeitung und Mitbegründerin des Autorinnenkollektivs RAUF in Zürich. Nach längeren Aufenthalten in Rom, Paris, Hamburg lebt sie zurzeit in Basel.

Illustrationen © leale.ch

Peter Weibel «Kaltfront», edition bücherlese

Vera beginnt nach dem Studium ihre Arbeit in ihrer eigenen Praxis. Sie freut sich. Endlich. Veras Anfang als Hausärztin in einem Dorf in der Provinz ist mehr als ein Anfang. Es ist die Erfüllung eines Traums, der Start in ein Leben, auf das bisher alles hinzielte. Wenn da nur die Realität nicht wäre. „Kaltfront“ legt sich wie eine klamme Decke über mich. Ein literarischer Leckerbissen, an dem man kauen muss.

Als Vera zum ersten Mal in den Räumen ihrer zukünftigen Praxis die Tür hinter sich schliesst, legt sie sich irgendwann auf den Boden der noch leeren Räume. Sie liegt auf dem Rücken und ist angekommen. Hier wird beginnen, was sich aus ihrem Sein kristallisierte. Hier will sie tun, wonach ihr schon so lange dürstet. Hier will sie ihre Aufgabe als Hausärztin zu ihrem Leben machen. Ein Beginn voller Enthusiasmus, ein Beginn, der sie entlöhnen soll für all das, was sie in der Vergangenheit auf sich genommen hatte.

Es dauert auch nicht lange, bis sich ihr Kalender mit Terminen füllt. Am meisten freut sie sich auf die Fahrten ins Land, wenn sie nach den Terminen in der Praxis mit Auto und Koffer Hausbesuche macht, weil sie spürt, mit wie viel Dankbarkeit und Herzlichkeit sie empfangen wird. Bei diesen Fahrten setzt sie sich zwischendurch auf einen Stein oder eine Bank, ergibt sich dem Moment, schreibt in ihr Tagebuch, um sich danach bis in späte Abendstunden weiter jenen Menschen zu widmen, die sie ganz brauchen, so wie sie es auch selbst gerne hätte, wäre sie an ihrer Stelle. 

Peter Weibel «Kaltfront», edition bücherlese, 2024, 100 Seiten, CHF ca. 24.00, ISBN 978-3-906907-99-4

Bist du glücklich?, fragt sie Luca, ihr Freund, der zwischendurch immer wieder für ein paar Tage zu ihr fährt. Luca ist Grafiker in der Stadt, lebt in einer virtuellen Welt, in einer ganz anderen als Vera. Vera stellt sich diese Frage nicht, denn sie fühlt sich einfach dort, wo sie glaubt hinzugehören. Sie misst das Glück an den Gesichtern ihrer Patienten. Selbst in jenen Tagen, wo im Wartzimmer das Getuschel beginnt. Als man in den Medien liest und hört, dass in der Ferne ein Virus zu wüten beginnt. Als man ihr Fragen stellt, ob das Virus auch bis nach Wolfach kommen werde.

Vera lässt sich nicht abschrecken, besucht weiterhin ihre Patienten im Spital, im Pflegeheim und in den Häusern weitherum. Und als sie sich von einem ehemaligen Studienkollegen als Helferin bei Impfkampagnen anheuern lässt, ist es nicht nur Luca, ihr Freund, der ihr Leichtsinn vorwirft. Als sich das Virus wie ein Heuschreckenschwarm über das Land legt und sie zusehen muss, wie Leben dahingerafft wird, das Leben jener Patienten, die ihr ans Herz wuchsen, sind jene, die mit Transparenten und Hassparolen vor dem Spitaleingang stehen, ihrem Zorn gegen die Medizin und den Staat Luft machen, mehr als nur Stiche in ihr Herz. Boris, ein Arzt im Ruhestand, ein alter Mann, der Vera mehr und mehr zu einem Vertrauten wird, sagt: Du musst nicht nur für die Gesundheit der Patienten, du musst auch gegen die bösen Geister kämpfen, die mit dem Virus gekommen sind. Sie heissen Ungewissheit, Fatalismus und Empörung.

Als der Eingang zu ihrer Praxis verwüstet wird und grosse Steine durch die Fenster geworfen werden, als man sie auf allen möglichen Kanälen anonym zu beschimpfen und diffamieren versucht, wird die Frage Wie weiter? zur Existenzfrage. Aber für Vera gibt es nur den einen Weg; sie will helfen. Sie will alles in ihrer Macht Stehende tun. Sie will weitermachen, womit sie begonnen hat. Auch wenn sich die direkte Konfrontation immer deutlicher abzeichnet.

Als ich ganz zu Beginn der Pandemie auf der Strasse mit einem befreundeten Autor darüber sprach, was da auf uns zurollt und ob das einen Einfluss auf sein Schreiben hätte, meinte dieser: „Worüber soll man den angesichts dessen, was genau jetzt passiert, noch schreiben?“ Coronaromane wollte niemand lesen, denn alles was man las und sah, war eingetaucht in die Ratlosigkeit jener Gegenwart und in den Schrecken der Nachrichten. „Kaltfront“ ist kein Coronaroman. „Kaltfront» erzählt von einer jungen Ärzten, die trotz allen guten Willens zerrieben wird zwischen Angst, Zorn und Hass. Peter Weibel begleitet eine junge Ärztin, deren Kampf zur Lebensaufgabe (Man verstehe dieses Wort zweideutig!) wird. Ein Erzählen gespickt mit Tagebuchaufzeichnungen und den Verlautbarungen von Behörden, die um Erklärungen ringen. Das Protokoll einer Katastrophe, die wie ein unabwendbarer Sturm auf Vera zurollt.

Peter Weibel wertet nicht, urteilt nicht. Aber hinter seinen Schilderungen wabbert die Frage, wie es dazu kommen konnte. Nicht medizinisch, aber menschlich. Er tut das mit dem Wissen eines Arztes und der Empathie eines Freundes, eines Menschenfreundes. Wie kann es sein, dass sich Menschen derart entzweien, so unvereinbar in verschiedenen Welten Leben, dass alles Gemeinsame nichtig wird? Schon angesichts der politischen und gesellschaftlichen Debatten ein wichtiges Buch!

Peter Weibel liest an der Hauslesung vom 26. Oktober 2024 zum ersten Mal vor Publikum aus seinem neuen Buch.

Peter Weibel (1947) schreibt, aquarelliert und zeichnet. Seit über vierzig Jahren veröffentlicht er Texte in Prosa und Lyrik, oft mit Cover und Illustrationen aus eigener Hand. In der edition bücherlese erschienen bisher fünf Prosabände, zuletzt die Erzählung «Akonos Berg» (2022). Für seine Werke wurde er verschiedentlich ausgezeichnet, unter anderem mit einem Buchpreis des Kantons Bern für den Erzählband «Die blauen Flügel» (2013) und für «Mensch Keun» (2017) mit dem ersten Kurt Marti Literaturpreis. Peter Weibel, geboren 1947, studierte Medizin und arbeitet seit vielen Jahren als Allgemeinpraktiker und in der Geriatrie. Er lebt und arbeitet in Bern.

Peter Weibel im Gespräch mit Gallus Frei

Beitragsbilder © Sandra Kottonau