Anna Weidenholzer «Hier treibt mein Kartoffelherz», Matthes & Seitz

Anna Weidenholzer repräsentiert genau das, was an der österreichischen Literaturszene bestechend ist; Vielfalt, Experimentierfreude und sprachliches Feingefühl. So poetisch die Titel ihrer Bücher sind, so tiefsinnig und tiefgründig sind ihre Geschichten in ihrem neuen Erzählband „Hier treibt mein Kartoffelherz“. Ein literarischer Leckerbissen.

2010 debütierte Anna Weidenholzer mit ihrem Erzählband „Der Platz des Hundes“, der von der Kritik einhellig gelobt wurde. Damals ein Versprechen für die Zukunft. Heute ist Anna Weidenholzer ein Eckpfeiler der deutschsprachigen Literatur. Nach ihrem Erzählband erschienen drei Romane: „Der Winter tut den Fischen gut“, „Weshalb die Herren Seesterne trugen“ und „Finde einem Schwan ein Boot“. Schon allein die Titel ihrer Bücher öffnen Türen, beschreiben programmatisch, was der Autorin wichtig ist. Anna Weidenholzer erzählt nicht einfach ein Stück Erlebtes, keine blossen Anektoten, schon gar nicht plottorientiert. Alles, was Anna Weidenholzer schreibt, sind menschliche Verschiebungen, Verwerfungen, die sich im Unscheinbaren manifestieren. Menschliche Verunsicherungen, die sich während des Lesens unweigerlich auf mich als Leser übertragen, eine Verunsicherung, die die Autorin mit ihrem sprachlichen Feingefühl auslöst, eine Mischung aus Verwunderung und Heiterkeit. Genau das, was literarische Feinkost bewirken soll.

25 Erzählungen, die einen eine halbe Seite lang, die anderen seitenlang, verteilt über die vier Jahreszeiten. Erzählungen, die alle für sich selbst stehen und doch miteinander verbunden sind, seien es Motive, Orte, aber auch in den letzten und jeweils ersten Sätzen, bei denen Anna Weidenholzer erzählerisch den Stab von einem Text zum andern weitergibt.

Anna Weidenholzer «Hier treibt mein Kartoffelherz», Matthes & Seitz, 2025, 155 Seiten, CHF ca. 25.90, ISBN 978-3-7518-1023-4

Anna Weidenholzers Erzählen ist unspektakulär. Aber es scheint, als hätte die Autorin ein Sensorium mehr als die meisten Menschen, als würde sie in Bereichen sehen, hören und fühlen, die den meisten anderen Menschen verschlossen bleiben. Wie eine Fledermaus, die in Frenquenzen hört, die uns verborgen bleiben. Anna Weidenholzer verrät, sie habe sich gar einen eigenen „Fledermausdetektor“ zuglegt, um in der Dämmerung den uns verborgenen Stimmen zu lauschen. Genau so schreibt die Autorin. Sie schreibt von dem, was knapp unter der offensichtlichen Wahrnehmung geschieht.

Zweimal habe ich der Autorin am Internationalen Literaturfestival zugehört, zweimal mit gebannter Verzückung, grossartig unterhalten und bas erstaunt über den feinen Witz und hintergründigen Humor, mit dem die Autorin nicht in erster Linie bestechen will, sondern meine für fest und stabil gehaltenen Untergründe in sanfte Schieflage bringt. Ein Blick auf Menschen und Dinge, der weit über Oberflächlichkeiten hinausgeht. Als ich mit einem Freund am Festival in einem Gasthaus zu Abend ass und auf die Perlen der Literatur anstiess, sass da Anna Weidenholzer nicht weit von uns an einem grossen Tisch, umgeben von anderen Akteur*innen des Festivals. Da ist nichts Divenhaftes, nichts Überzogenes. Es ist, als wäre Anna Weidenholzer genau das, was sie schreibt. Da schaut und hört jemand, der in Sphären wahrnimmt, die den meisten anderen verschlossen bleiben.

Und die Sprache. Das scheinbar Banale offenbart unsägliche Tiefe. Das spiegelt sich auch in der Sprache, in der Intensität ihres Erzählens, in dem, was die Texte bei sorgfältigem Lesen auslösen. Zugegeben, „Hier treibt mein Kartoffelherz“  ist weder Schnellfutter noch leicht verdaulich. Aber wer sich einlässt, wird mitten ins Herz getroffen.

© Literaturfestival Leukerbad

Anna Weidenholzer, 1984 in Linz geboren, lebt in Wien. Mit ihrem ersten Buch, «Der Platz des Hundes» (2010), war sie 2011 für das Europäische Festival des Debütromans in Kiel nominiert. Ihr zweiter Roman «Der Winter tut den Fischen gut» war für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert. 2013 wurde sie mit dem Reinhard-Priessnitz-Preis ausgezeichnet. Ihr Roman «Weshalb die Herren Seesterne tragen wurde» 2016 für den Deutschen Buchpreis nominiert. 2017 erhielt sie den Outstanding Artist Award für Literatur der Republik Österreich.

Webseite der Autorin

Beitragsbild © Erika Mayer

Gianna Lange «Und dann springen wir», FVA

Eine junge Frau springt von einer Brücke. Aber nicht, weil sie Schluss machen will, sondern weil es ein Neubeginn sein soll. Von der „Alten Brücke“ in Mostar, jener steinernen Bogenbrücke über die Neretva, über eine Brücke, die mit ihrer Zerstörung 1993 zum Symbol des Bosnienkrieges wurde. Ein Sprung, der ein Versprechen einlösen sollte.

Gianna Lange schrieb mit ihrem feinmaschigen Debüt ein Stück Literatur, dass es in sich hat. Eine vielschichtige Geschichte über eine junge Frau und ihre Familie. Eine Familie, die zerrissen ist. Über die Gewissheit, dass man sich seiner Herkunft nicht verschliessen kann, dass die Frage nach dem Woher wenigstens jenes Mass an Antworten braucht, um sich von der Enge unbeantworteter Fragen befreien zu können. „Und dann springen wir“ ist ein Roman über eine junge Frau, die sich vom Schweigen, der Verdrängung in ihrer Familie befreien muss.

Elise stirbt, die Mutter von Rosa. Es war ein Leben, dass immer wieder tauchte. Elise sprang immer wieder, ohne je unten anzukommen. Auch wenn es Phasen des Glücks gab, war das Leben mit der Mutter und die Abwesenheit des Vaters für die junge Rosa ein permanentes Minenfeld, bescherte ihr ein Leben in Ungewissheit, übertrug ihr Verantwortung, die die Kraft eines Kindes, einer Jugendlichen übersteigt. Irgendwann entfloh Rosa ihrer Mutter, zog aus, in ein Wohnheim auf der anderen Seite der Stadt. Einen Abstand, den es brauchte, um vor den Katastrophen der Mutter zu entfliehen.

Gianna Lange «Und dann springen wir», Frankfurter Verlagsanstalt, 2025, 192 Seiten, CHF ca. 32.90, ISBN 978-3-627-02337-9

Man teilt ihr mit, dass die Mutter gestorben ist, nachdem sie an Tuberkulose erkrankte und ins Spital eingeliefert wurde. Obwohl man ihr versicherte, an Tuberkulose würde heute niemand mehr sterben, kam der Anruf dann doch. Mit einem Mal war ihre Mutter weg, unwiederbringlich. Und weil Rosa für die Bestattung ihrer Mutter Geld brauchte, war sie gezwungen, mit ihrem Vater Kontakt aufzunehmen. Einem Vater, der schon lange das Weite gesucht hatte, der wieder heiratete und einen neue Familie gründete, mit dem sie eigentlich nichts mehr zu tun haben wollte.

Mutter und Vater. So sehr sie sich aber von ihrem „Vater“ distanzierte, so sehr wurde Elise in guten Phasen zu einer Freundin. Immer so lange, bis ein neuer Absturz in den Suff oder sonstige Rauschmittel wieder kappte, was Liebe hätte sein können. Wie damals, als Rosa mit ihrer Mutter nach Mostar reiste, an jenen Ort, an dem schon für die Mutter vor Jahrzehnten etwas zurückgeblieben war, einen Ort, der viel mehr war als das Ziel einer Urlaubsreise. Damals standen Elise und Rosa auf der steinernen Brücke in Mostar und wussten nicht, ob sie gemeinsam springen sollten. Irgendwann sprang die Mutter aber dann doch, wenn auch nicht von der Brücke, sondern in Prag auf einer gemeinsamen Reise, einmal mehr in ihren Suff. Sie verschwand mitten in der Nacht aus dem grossen Bett, um im Bad des Hotelzimmers in ihrem Erbrochenen zu liegen, um Rosa einmal mehr in Todesangst zu versetzen. Damals half man ihr. Damals wurde auch mehr als deutlich, dass Rosa, so sehr sie sich nach Familie sehnte, diese verlassen musste, um wieder atmen zu können.

Aber weder der plötzliche Tod ihrer Mutter noch das eigentlich so freundliche Bemühen ihres Vaters genügen für einen Neuanfang. Rosa spürt, dass sie Spuren aufnehmen muss, von denen sie nicht weiss, wohin sie sie führen werden. Unterstützt von ihrer Freundin Emma unternimmt Rosa Reisen dorthin, wo sie ahnt, dass mehr ist. Zurück nach Mostar, zurück zur Brücke, weil da ein Versprechen war – „und dann springen wir“.

Gianna Langes Roman ist ein Familienroman. Ein Wurzelbuch. In ineinnader verschränkten Zeitebenen erzählt die Autorin routiniert und gekonnt aus einem Leben, das seine Spur sucht. Ohne jede Zuordnung von Gut und Schlecht. So ruhelos das Leben von Elise war, so getrieben und anfällig auf Erschütterungen und Verunsicherungen, so gross ist Roses Sehnsucht nach einem festen Anker. Ein zarter Roman voller Wärme!

Interview

Momentan sind autobiographische oder autofiktionale Bücher angesagt. Ich kenne Leute, die die Qualität ihrer Lektüre nach der „Glaubwürdigkeit“, der „Echtheit“, nach dem „Selbst Erlebten“ messen. Gute Bücher sind jene, die davon triefen. Als ich „Und dann springen wir“ las, war es durchaus die Geschichte, die mich fesseln sollte. Aber wenn eine gute Geschichte gut erzählt ist, wenn die Sprache passt, dann relativiert sich „Echtheit“. Ist es nicht die Fähigkeit zur Empathie, die gutes Erzählen ausmacht?
Dem würde ich auf jeden Fall zustimmen. Ich bezweifle, dass sich gute Geschichten ohne eine ausreichende Portion Empathie erzählen lassen. Daher freue ich mich auch, wenn Lesende meinem Roman immer wieder unterstellen, autofiktional zu sein. Das ist er nicht, aber ich fasse es als Kompliment auf, denn die Geschichte wurde in diesen Fällen offensichtlich als authentisch empfunden. Und dafür muss man sich, meiner Meinung nach, in seine Figuren hineinversetzen können, verstehen, was sie empfinden und warum. Ich finde auch nicht, dass es unbedingt „leichter“ ist, selbst Erlebtes authentisch zu erzählen. Oft gelingt es mir ganz gut, ich habe mich aber auch bei der einen oder anderen Geschichte zu nah dran gefühlt, um sie zu entwirren. Oder ich stand mir selbst dabei im Weg, mich zurückzuversetzen. Ich denke, das kennen die meisten Menschen, man möchte nicht alles Erlebte ungefiltert noch einmal erleben.

Prag © Gianna Lange

Rosa macht sich auf eine Reise, auf eine innere und eine äussere. Einer der Anlässe, dass sich Rosa aufmacht, ist der Tod ihrer Mutter. Eine Mutter, die für sie fast immer Elise hiess, in guten Phasen mehr Freundin war und in schwierigen ein Alp. Viele Familiengeschichten sind Emanzipationsgeschichten. Und dabei ist Emanzipation viel mehr als Selbst- und Eigenständigkeit. Ist Emanzipation in Ihrem Roman nicht vielmehr das ganz umfassende Bewusstsein, woher man kommt?
Das fasst es sehr schön zusammen! Emanzipation hat ja immer auch damit zu tun, woher man kommt. Was ist das grosse Ganze eigentlich, von dem ich mich da löse? Und wo möchte ich hin? Es ist für mich das Verstehen, quasi das Aufdecken der Richtung, aus der man kommt, um so die Richtung zu bestimmen, in die man möchte. Und nicht womöglich versehentlich genau dort zu landen, wo man eigentlich gar nicht hin wollte. Vielleicht ist später das, wovon man sich unter Anstrengung gelöst hat, dann doch das, was man für sich selbst wählt. Doch ich glaube, die Wahl lässt sich befreiter und selbstbestimmter treffen, wenn ihr eine Emanzipation vorausgegangen ist.

Vieles in Ihrem Roman kann man metaphorisch verstehen. Rosa ist in Bosnien unterwegs; Abseits der Wege herrschte Minengefahr heisst es, als Rosa auf einer ihrer Reise in einem Bus gewarnt wird. Dieser Satz gilt doch auch für ihr eigenes Leben, das sie doch einfach weiterleben könnte, ohne all die Fragen, Konfrontationen, das Suchen. Waren sie sich dieser Metaphern bewusst oder geschehen sie unbewusst?
Das ist bei mir ein Mischverhältnis. Manche Metaphern habe ich beim ersten Tippen der Worte bewusst eingesetzt. Die Teflonpfanne am Anfang des Romans ist so eine, zerkratzte Teflonschichten sind giftig. Das ist die grosse Sorge einer Frau, die aber freiwillig lauter anderes Gift zu sich nimmt. Es gibt aber durchaus auch Metaphern, die mir erst später aufgefallen sind, die dann entweder noch einen Feinschliff verpasst bekommen haben oder rausgeflogen sind, weil sie doch nicht so gut funktioniert haben. Das ist sowohl in der eigenen Überarbeitung als auch später im Lektorat noch vorgekommen. Ich würde behaupten, mehr Metaphern bewusst als unbewusst ins Buch geschrieben zu haben. Ich werde aber auch immer mal wieder von Interpretationen und Eindrücken Lesender überrascht, da offenbaren sich mitunter ganz neue Deutungen. Das finde ich total spannend.

Ein Familienroman darum, weil sich Rosa aus einer schwierigen Familienkonstellation „distanzieren“ will, nicht weil sie das alles nicht mehr will, sondern weil sie einzuordnen versucht, nicht zuletzt die Gründe dafür, dass sich Elise, ihre Mutter, immer wieder in ihren Abstürzen verliert. Auf der einen Seite das hochstilisierte Idyll der Familie, auf der anderen Seite die Realität vieler Abgründe, Zerrüttungen. Warum werden wir derart beherrscht von der Sehnsucht nach Familie und Zugehörigkeit?
Eine Freundin von mir hat mal einen Satz zu mir gesagt, der hängengeblieben ist. Ich sass auf ihrem Sofa, vollkommen überfordert von einem sich anbahnenden Todesfall innerhalb der Familie, und geisselte mich dafür, mit der Situation nicht besser klarzukommen. Für mich hiess „besser“ damals, dass ich es allein verkraften können muss, weil ich ja nun mal erwachsen war. Und meine Freundin sagte: «Also Gianna, der Mensch ist ja nun mal ein soziales Wesen.“ Sie hat danach noch viel mehr kluge Worte gesagt, aber dieser Einstieg bringt es schon so gut auf den Punkt. Das sage ich mir auch heute noch, wenn ich mal wieder meine, ich müsste ganz allein mit allem zurechtkommen. Wir Menschen sind nicht dafür gemacht, vollkommen und immer allein zu sein. Ich bin eher introvertiert und wirklich gern allein, ich brauche das auch, aber genau so brauche ich meine Herzensmenschen, meine Familie, meine Freund*innen, meinen Partner. Und das ist etwas Universelles, wir alle brauchen unsere Netzwerke, in denen wir sicher sind, in denen wir Unterstützung erfahren, wenn wir darum bitten. Ich weiche den Begriff Familie im Buch bewusst etwas auf, weil ich weiss, dass Familie nicht immer die Blutsverwandtschaft ist. Familie ist für mich ein dehnbarer Begriff mit so vielen Facetten, die man zum Glück auch selbst gestalten kann.

Mostar © Gianna Lange

Im Titel des Buches steckt ein Versprechen. Die „Alte Brücke“ in Mostar ist nicht nur für Rosa ein Symbol für ein Davor und Danach. In Ihrem Buch erzählen Sie unterschwellig auch vom Bosnienkrieg und seinen Auswirkungen bis in die Gegenwart. Sie schieben Schicht um Schicht unter die Geschichte, die Sie an der „Oberfläche“ erzählen, tun das sehr gekonnt. Ist da nie die Gefahr, dass man den Bogen überspannt?
Ich würde sagen, die Gefahr ist immer da. Gerade in Bezug auf die noch immer recht junge Vergangenheit der ex-jugoslawischen Länder habe ich den Text wieder und wieder unter die Lupe genommen. Ich selbst habe die Region durch eine ähnliche Brille betrachtet wie Rosa und Elise, nämlich durch eine westeuropäische. Da waren die Schönheit der Orte und der Landschaft, die gastfreundlichen Menschen, aber auch die unübersehbaren Spuren des Krieges. All das sollte mit ins Buch, all dem wollte ich gerecht werden, ohne dabei ein weiteres, west-eurozentrisches Buch über den Osten zu schreiben. Ich bin dafür im Schreibprozess sehr nah an eigens Erlebtem und Beobachtetem geblieben, um im Text dann nah an den Figuren und ihren Erlebnissen und Beobachtungen zu bleiben. Dabei habe ich unweigerlich hier und da den Bogen auch mal überspannt, aber zum Glück wird ein Text ja noch einige Male und von mehreren Augenpaaren genauestens geprüft, bevor er gedruckt wird. So ist mir am Ende hoffentlich gelungen, was ich mir vorgenommen hatte.

Rosas „Vater“ ist nicht zuletzt eine tragische Figur. Mir hat er bei der Lektüre fast Leid getan, tut er doch viel, um Rosa eine Versöhnung anzubieten, nicht nur er, seine ganze Familie. Eines dieser unterschwelligen Themen in ihrem Roman ist die Adoption, ohne dass Sie daraus ein „Thema machen“. Beziehungen zwischen leiblichen Eltern und ihren Kindern bieten viel Angriffsfläche. Allein aus der Beziehung zwischen Rosa und ihm hätte man einen Roman schreiben können. Nähe und Distanz ist nicht nur in der Familie heikel. Gilt das nicht auch fürs Schreiben?
Auch dem würde ich zustimmen und es lässt sich auf so vieles anwenden. Die Nähe und Distanz zu sich selbst beim Schreiben, zum Text, zu den Figuren, zwischen den Figuren. In meinem Fall gehören Schreibblockaden zum Schreiballtag und die haben oft damit zu tun, dass mir die eigene Geschichte an dieser und jener Stelle nicht vertraut genug ist. Ich muss dann meistens erstmal herausfinden, woran es liegt, und dann eintauchen. Das kann eine einzelne Figur sein, dann muss ich die sozusagen besser kennenlernen, oder das Verhältnis zwischen Figuren. Meistens hilft es, in die Tiefe zu gehen und diese Feinheiten aufzuspüren, um die Blockade zu lösen und zu wissen, wohin die Geschichte als nächstes führt. Bei vollkommen fiktionalen Elementen ist es für mich oft die zu grosse Distanz, je mehr selbst Erlebtes mit einfliesst, desto eher erlebe ich wiederum den Effekt, den Wald vor lauter Bäumen nicht zu sehen. Den kenne ich aber auch im späteren Verlauf, wenn der Text fertig, mehrfach überarbeitet und schon zigmal gelesen ist. Dann stehe ich auch hin und wieder mal mitten im Wald und sehe ihn nicht. Und dann sind wir wieder beim Fazit der vorigen Antwort, es lesen ja zum Glück noch Andere mit, die das grosse Ganze im Blick haben.

Gianna Lange, geboren 1988 in Bremen, studierte Journalistik und Transnationale Literaturwissenschaft in Bremen und London. Sie ist Gründungsmitglied des ‹Lyrikkollektivs gabrieleschreibtgedichte› sowie des Kollektivs für junge Literatur ‹Kollit‹ und Redaktionsmitglied der Literaturzeitschrift ‹Koller‹. Für die ersten Seiten ihres Manuskripts »Und dann springen wir« erhielt sie das Bremer Autor:innenstipendium vom Bremer Literaturkontor. Die Autorin lebt in Bremen und arbeitet im Konzerthaus ‹Die Glocke› sowie beim ‹Musikfest Bremen›.

Beitragsbild © Franziska Evers

Didi Drobna «Ostblockherz», Piper

Wie weit das Nächste vom Jetzt entfernt sein kann und wie tief diese Entfernung bis in die Familie wirken kann, davon erzählt Didi Drobna in einem Roman, der sehr biographisch wirkt und die Geschichte vieler Familien erzählt, die ihren Kern, ihr Herz in einem anderen Land, in der Vergangenheit zurücklassen mussten.

Als erstes war es die Mutter, die eine Stelle hinter der Grenze in Wien fand, besser bezahlt als alles, was sie, selbst mit akademischer Ausbildung, in der Slowakei verdient hätte. Nach dem Zusammenbruch der DDR, der Sowjetunion, öffneten sich mit einem Mal Grenzen, die über Jahrzehnte Gegenden und Menschen hermetisch voneinander trennten. Mit einem Mal rückte der Westen in erreichbare Nähe und mit ihm der Traum, auch etwas vom grossen kapitalistischen Kuchen abschneiden zu können.
Nachdem die Mutter Fuss gefasst, eine feste Stelle gefunden hatte, zogen Vater und Tochter nach. Und nachdem auch noch ein kleiner Bruder die Familie vergrössert hatte, wenn auch mit einem Jahrzehnt Abstand zur Erzählerin, wären alle Voraussetzungen da gewesen, um ein kleines Stück Glück zu finden.

Didi Drobna «Ostblockherz», Piper, 2025, 176 Seiten, CHF ca. 32.90, ISBN 978-3-492-07280-9

Wenn das Wörtchen „wenn“ nicht wäre. Wenn der Vater in Österreich eine Stelle gefunden hätte, die seinen Fähigkeiten, seiner Ausbildung entsprochen hätte. Wenn der Vater den Zugang zur deutschen Sprache gefunden hätte. Wenn er seine Ostblock-Unterwürfigkeit, seine Ergebenheit nicht beibehalten hätte und seine Familie zum „Schlachtfeld“ seiner Kompensierungen geworden wäre. Wenn ein tief verankertes Patriarchat, ein versteinertes Familienverständnis nicht alles blockiert hätte, die an den Grenzen gefallenen Mauern unzerstörbar weiterwirkten an den Grenzen zum scheinbar Unmöglichen.

Didi Drobna erzählt in „Ostblockherz“ ihre ganz persönliche Geschichte. Ein literarischer Versuch, das zu verstehen, was sich über Jahrzehnte in ihre Seele brannte und erst viel zu spät zu einer Versöhnung wurde. Erst als ihr Vater schwer krank wird, bittet er seine Tochter, ihm zu helfen, ihm zur Seite zu stehen. Sie weiss, dass sie sich nicht um die Verpflichtungen einer Tochter drücken kann, obwohl ein Jahrzehnt vergangen war, währenddem sie sich mit gegenseitigem Schweigen straften, jeder verschanzt in seinem Schützengraben, auch wenn man sich zu Feierlichkeiten in der Wohnung der Eltern traf. Dazwischen die Mutter und der kleine Bruder.

Die Wut lebte in unserer Familie, sie war das fünfte Familienmitglied.

Der Vater gehört zu einer Sorte Mensch, die es nie gelernt hat, zu eigenen Gefühlen, eigenen Wünschen, eigenen Bedürfnissen zu stehen. Man spricht nicht, findet keine Worte. Familie hat nach einem vorgegebenen Muster zu funktionieren. Und in diesem Muster ist der Vater das Oberhaupt und alle weiblichen Mitglieder dienend, folgsam und untertänig. Und wenn die Situation unerträglich wird, dann ergreift man die Flucht, weg zur Sippe auf der anderen Seite der Grenze, weg in die innere Emigration, unerreichbar verbarrikadiert. Um dann irgendwann wieder aufzutauchen und Familie zu spielen.

Didi Drobna schildert behutsam einen schmerzlichen Kampf um Eigenständigkeit, Anerkennung und Verständnis – um nichts anderes als um Liebe und Respekt. Warum ist es so schwer, Schwäche zu zeigen? Einen Fehler zuzugeben? Den ersten Schritt zu tun. „Ostblockherz“ ist mit Nichten eine Abrechnung, sondern ein inniger Versuch zu verstehen. Als der Vater krank wird, seine Schwäche und Hilflosigkeit unübersehbar ist, wird er, der ein Leben lang den Starken zu repräsentieren hatte, der Hilfsbedürftige. „Ostblockherz“ erzählt von all den Zwängen, den Rollen, in die man eingeschlossen ist, von den stillen Kräften, die aus der Vergangenheit in die Gegenwart wirken und eine Zukunft in Freiheit zu blockieren drohen.

Mir grossem Feingefühl und viel Liebe geschrieben!

Didi Drobna wurde 1988 in Bratislava (ehem. Tschechoslowakei) geboren und lebt seit 1991 in Wien. Sie studierte Germanistik und Kommunikationswissenschaft an der Universität Wien. Für ihre literarische Arbeit wurde sie mit mehreren Stipendien und Literaturpreisen ausgezeichnet, zuletzt mit dem Förderpreis Literatur der Stadt Wien 2023. Didi Drobna arbeitet auch als Jurorin für Literaturwettbewerbe (Literaturbiennale Floriana, Literatur-Stipendium Stadt Linz, FM4 Wortlaut, Literaturwettbewerb Wartholz) und lehrt 2024/25 erneut am Institut für Sprachkunst der Universität für angewandte Kunst in Wien. Parallel zu ihrem Schreiben arbeitet Didi Drobna an einem Informatik-Forschungszentrum in Wien.

Rezension von «Was uns bleibt» auf literaturblatt.ch

Webseite der Autorin

Beitragsbild © Barbara Wirl

Victoria Kielland «Meine Männer», Klett-Cotta

Brynhild Størset kam 1859 in Norwegen zur Welt und starb 1908 in den Staaten als Belle Gunness. Die Geschichte einer enttäuschten Frau, die sich nach Übersee rettete und doch nie ihre Ruhe fand, nicht einmal im Tod.

„Meine Männer“ ist in vielerlei Hinsicht ein aussergewöhnliches Buch. Was sich auf den ersten Seiten wie eine leidenschaftliche Sprachhymne an jene erste grosse Liebe, den Akt der Liebe liest, entpuppt sich mehr und mehr als rauschhaft geschriebenes Innenleben einer Frau, die bis heute als eine der übelsten Serienmörderinnen gilt, der man erst nach ihrem Verschwinden, ihrem angeblichen Tod auf die Spur kam. Als 1908 ihr Haus in Flammen aufging, fand man in den verkohlten Ruinen die Überreste zahlreicher Leichen.

Victoria Kielland, fasziniert von einer unfassbaren Person, nicht nachvollziehbaren Motiven einer Frau, der es zeitlebens nie mehr gelang, aus einer tödlichen Zwangshandlung auszubrechen, erzählt nicht einfach die fiktive Geschichte einer Mörderin. „Meine Männer“ ist eine emotional aufgeladene Schilderung einer Innenwelt, die in einer Weise fesselt und mitreisst, die selbst „geübte“ Leser*innen gleichermassen verunsichert wie begeistert.

Dieser Roman ist weder blutrünstiger Krimi oder Thriller noch überzogenes Kunstobjekt. Victoria Kielland geht es weder um einen Erklärungsversuch einer unerklärlichen Kette nicht nachvollziehbarer Verbrechen noch um ein möglichst faktennahes literarisches Spekulieren. Victoria Kielland schreibt sich in die Seele einer Frau, die nach Liebe sucht, der das Töten zum letzten Akt des Besitzens wurde, die diesen finalen Akt immer und immer wieder brauchte, um sich selbst am Leben zu halten.

Victoria Kielland» Meine Männer», Klett-Cotta, aus dem Norwegischen von Elke Ranzinger, 2023, 192 Seiten, CHF ca. 32.90, ISBN 978-3-608-50183-4

Man reibt sich während der Lektüre die Augen, schüttelt den Kopf und wundert sich unsäglich, wie schaurig schön es der Schriftstellerin gelingt, einen Seelenzustand zu schildern. „Meine Männer“ ist vollendete Sprachkunst, Sprachmusik der Extraklasse, ohne dabei in Sphärisches, Hyperintellektuelles zu entrücken. Satzkaskaden, die den Rausch jener Frau, den Rausch der Autorin zu einem Rausch des Lesens machen.

Die Liebe reichte nicht für alle.

Als Brynhild Størset mit etwas mehr als zwanzig nach Amerika auswandert, hat sie als Magd einen Gutsbesitzersohn umgebracht, der sie mit grossen Versprechungen ins Bett an seine heisse Haut lockte und mit kalter Zurückweisung den ersten grossen Feuerbrand der enttäuschten Liebe entfachte. Sie kommt nach Chicago zu einer ihrer älteren Schwestern, die dort eine Familie gründete. Brynhild ändert ihren Namen zu Belle (oder Bella), wohl nicht so sehr um eventueller Strafverfolgung zu entgegen, sondern um sich selbst eine zweite Chance zu geben. Sie wird nach der Heirat mit dem Norweger Mads Sørensen zu Bella Sørensen, wird zweifache Mutter und zusammen mit ihrem Mann zur Geschäftsfrau. Aber es stellt sich kein Glück ein, ganz im Gegenteil; eine lange, fatale Kette tödlichen Unglücks. Das Geschäft brennt, die Kinder sterben, Mats stirbt. Mit dem Geld aus der Versicherung zieht Bella weg, nimmt neuen Anlauf, findet Mann um Mann, die alle irgendwann sterben. Bella rutscht in einen Wahn und ich als Leser werde Zeuge einer wahnhaften Verklärung, eines tödlichen Rauschs, der erst in Flammen ein Ende findet.

Was Victoria Kielland gelingt, ist aussergewöhnlich, ausserordentlich. Ich gerate in eine Leserausch, bin betört von Klang, Rhythmus und Beschreibung, die es so nur ganz selten gibt. Ein Buch, das ich nicht gelesen hätte, wäre die Autorin nicht auf der Gästeliste des Internationalen Literaturfestivals in Leukerbad gestanden. Was für ein Geschenk!

Victoria Kielland, geboren 1985 in Norwegen, studierte Theaterwissenschaft. Für die Prosasammlung «I lyngen» wurde sie für den Debütantenpreis von Tarjei Vesaas nominiert, sie erhielt das wichtigste Schriftstellerstipendium des norwegischen Buchhandels. Für «Meine Männer» wurde sie mit mehreren Preisen ausgezeichnet und erhielt hymnische Kritiken.

Elke Ranzinger, geboren 1980 in Passau, studierte Theaterwissenschaft, Nordistik und Neuere Deutsche Literatur in München und Bergen. Sie ist Übersetzerin, Moderatorin und Dramaturgin und übersetzt aus dem Norwegischen und Schwedischen u. a. Merethe Lindstrøm, Helga Flatland und Tore Renberg.

Beitragsbild © Julia Marie Nagelstad

Kristin Valla „Ein Raum zum Schreiben“, mare

Ach, wie wunderbar die norwegische Schriftstellerin Kristin Valla schreibend vom Schreiben erzählt! Man möchte ein Haus kaufen … aber erst einmal dieses Buch!

Gastbeitrag von Frank Keil

Es gibt eine Art Schlüsselszene in Kristin Vallas wunderschönem Buch „Ein Raum zum Schreiben“, da kommt einiges mit einem Mal zusammen: das Gefühl, bald etwas Schwieriges geschafft zu haben, das Wissen, sie kann sich auf sich und sie kann sich auf die Welt verlassen, und eine tiefe Ruhe, auf der sich aufbauen lässt. Sie hat den Bus genommen, der vom Bahnhof aus fährt, in das kleine Dorf, in das sie muss; also sie hofft, dass er bis dorthin fährt, der Bus und sein Fahrer, die Schrift des Fahrplans ist so klein, dass sie die einzelnen, aufeinanderfolgenden Stationen nicht zu entziffern vermag, vermutlich fährt er nicht so weit, wie er für sie fahren muss. Und nun sitzt sie in dem Bus, der sie von Ort zu Ort schaukelt, längst ist es dunkel, am Ende ist sie der einzige Fahrgast, der noch in dem Bus sitzt, einen ganzen Bus hat sie für sich allein, und der Fahrer wird an den letzten Station, die er für heute anzufahren hatte, nicht anhalten, er wird weiterfahren zu ihrem Dorf, erst dort wird er stoppen, und er wird mit einem Lächeln sagen: „Ich konnte Sie ja nicht einfach da stehen lassen.“


Kristin Valla, die norwegische Schriftstellerin, die sich ein Haus in Südfrankreich angelacht hat, hat in diesem, ihrem Buch viel zu kämpfen: Wird sie es schaffen, sich einen Raum zum Schreiben zu besorgen, ihn zu gestalten und dann in ihm zu schreiben? 

Gewiss, man denkt bei dem Buchtitel schnell an Virginia Woolf und ihr programmatisches Buch „Ein Zimmer für sich allein“, dass man als griffige Parole auch dann verwenden kann, wenn man es gar nicht gelesen hat – und natürlich werden wir noch Virginia Woolf begegnen. Erstmal aber geht es um einen Raum im umfassenden Sinne und bald um mehr als das: Es geht gleich um ein ganzes Haus, mit Küche und Badezimmer und Schlafgemach und über allem ein Dach, aus dem es leckt und tropft und rinnt, wenn es regnet, und es regnet auch in Südfrankreich oft und dann zuweilen recht ausgiebig, wie wir lesen werden, und kalt werden kann es auch, dass man sich alles anzieht, was man an Kleidung mitgebracht hat von daheim, wo man eigentlich lebt und wohnt und seine Familie hat (einen Mann, zwei Kinder, zwei Jungs).

Ein Haus lernen wir kennen, dass sich eine Schriftstellerin erst wünscht, dann sucht, dann kauft, auch wenn es Schulden-machen nach sich zieht (ihr Mann bürgt für den Kredit, aber es ist vor allem ihr Haus, ihr Risiko), und die dann nach und nach realisiert, was ein Haus zu besitzen bedeutet – um einen Ort für sich und ihr Schreiben erst zu finden und dann zu haben.

Kristin Valla „Ein Raum zum Schreiben“, aus dem Norwegischen von Gabriele Haefs, Mare, 2025, 272 Seiten, CHF ca. 34.50, ISBN 978-3-86648-737-6

Aber erst einmal sind wir noch in Oslo, Kristin Valla, die recht erfolgreich als junge Schriftstellerin gestartet ist (gleich ihr erster Roman „Muskat“ wurde in mehrere Sprachen übersetzt, darunter ins Deutsche; auch der zweite Roman lief nicht schlecht), hat seit Jahren kein Buch mehr veröffentlicht und – was wichtiger ist – sie hat sei Jahres keines mehr geschrieben. Stattdessen hatte sie beizeiten für lange Zeit einen festen Job als Redakteurin angenommen; die Sicherheit, das monatliche Gehalt Jahr für Jahr, die Lebensverlässlichkeit, die damit einher geht, das hat nicht nur Charme, das ist auch gut, wenn man Kinder hat, die auf ihre Romane folgten. Nicht nur Schriftstellerinnen bleiben in dieser Falle hängen, aber meistens sind es doch die Frauen, denen es so ergeht. 
Immerhin hat sie diese Anstellung nun gekündigt, als wir lesend dazukommen, sie arbeitet jetzt frei und selbstständig für dieses und jenes Magazin, aber wer gut ist und wer schreiben kann, und das eine ist sie und das andere kann sie, der bekommt eben Auftrag nach Auftrag nach Auftrag, und auch so vergeht die Zeit. Literarisch schreiben? Es gibt da ein paar Ideen, auch Skizzen, erste Entwürfe, doch ein Buch wird daraus noch lange nicht. Man muss es auch schreiben.

Und dann gibt es diesen einen Abend (wieder ein Schlüsselmoment, wie überhaupt Schlüsselmomente sich durch dieses Buch ziehen), ein Abend, wo sie den großen amerikanischen Romancier John Irving moderieren darf, im örtlichen Literaturhaus, große Bühne also, viel Publikum. Und hinterher gehen sie etwas essen, das macht man so, ein junger Schriftsteller-Kollege kommt hinzu. Die beiden Männer unterhalten sich schnell über das Schreiben und also über das Leben, und sie hört still zu.

Und warum erzählt sie ihrerseits nichts, warum beteiligt sie sich nicht am Gespräch? Sie hätte durchaus etwas dazu beizutragen, sie ist doch eine von ihnen! Oder nicht oder nicht mehr? Und tief verstört über ihr eigenes sich-unwichtig-machen, geht sie nach diesem Abend-zu-dritt grübelnd nach Hause, und bald wird sie sich auf die Suche nach jenem Raum zum Schreiben machen, findet ihn in diesem seltsam verwohnten Haus in Südfrankreich (das einer Schweizer Familie gehörte, die es nicht mehr haben wollte, die es Hals-über-Kopf verliess, allen möglichen Krempel, liess die Familie zurück, nur weg! Ist das ein gutes Zeichen?) und dass sie nun gekauft hat, obwohl mehr als tausend Gründe dagegensprechen. Das Haus in seinem Zustand, etwa.
Sie wird viel weinen in diesem Haus. Und sie wird immer wieder aufstehen und sich die Tränen vom Gesicht wischen und dann irgendetwas machen: aufräumen (oder es wenigstens versuchen), die Wände streichen (die Küche etwa wird knallgelb), Vorhänge aufhängen (in einem Gebrauchtwarenladen erstanden und nicht bei IKEA, wie sonst manches, Decken und Kissen für das kommende Wohlbehagen); sie wird versuchen das Haus mal ordentlich durchzuwärmen, damit man es überhaupt in ihm aushält.

Und zwischendurch geht sie auf literarische Reisen und schaut nach schreibenden Frauen, die gleichfalls ein Haus oder manchmal auch ein ganzes Gehöft erworben hatten, in dem sie glücklich oder unglücklich wurden oder beides nacheinander oder beides zugleich: Tania Blixens und Suzanne Brøggers und Sigrid Undsets Häuser lernen wir kennen; das elterliche, zuvor in Konkurs gegangene Gut von Selma Lagerlöf wird uns nahegebracht; bei Marguerite Duras schaut Valla erzählend vorbei, die zeitweise einen alten Bauernhof auf dem Lande, eine Wohnung am Meer und noch eine Wohnung in Paris besass und die zwischendurch so runter war mit dem Leben und dann mit den Nerven, dass sie das Schreiben morgens mit dem Leeren einer ersten Flasche Rotwein begann, womit sie glücklicherweise eines Tages aufhörte. Und auch bei Virginia Woolf wird vorbeigeschaut (ebenso bei Doris Lessing, bei Patricia Highsmith, die zeitweise zurückgezogenst in einem verschrobenen Dorf lebte, ohne Laden, ohne Bäcker, ohne Schlachter), und immer wieder wird sie von diesen Ausflügen zurückzukehren in ihr eigenes Haus, immer auch ein wenig mehr als erholt, manchmal geradezu gestärkt von den imaginierten wie recherchierten Besuchen in den Leben und in den Häusern der Anderen.

Und wie sie davon erzählt, wie sie zwischen den Orten und den Leben schreibender und Häuser-besitzender Frauen hin und her switcht, das ist einfach ganz wunderbar, wie es überhaupt sehr tricky ist, dass Kristin Valla gar nicht viel über ihr Schreiben schreibt. Nicht, an was sie arbeitet, was das Thema ist, erfahren wir; was die Geschichte ist, die sie entwickelt, die Handlungsstränge, die sie auslegt, die Erzähl-Perspektiven, mit denen sie experimentiert, womöglich, solche Sachen. Kaum bis wenig bis zuweilen nichts wird davon erzählt, nur dass ein Roman erscheinen wird (der erste seit sechzehn Jahren!) erzählt sie uns zum Ende hin, als sie sich eingelebt hat in ihrem Haus, auch in dem Dorf, das zum Haus gehört, zu dem sie von Norwegen aus das Flugzeug nehmen muss und dann den Mietwagen, Oslo liegt nun mal nicht gerade um die Ecke, und in den Ferien kommt die Familie mit und stört sich nicht an dem Chaos, das sie umgibt, sondern genießt das sanfte Durcheinander, dass sie selbst so oft in den Wahnsinn wirft.

Stattdessen erfahren wir viel über feuchte Wände, in denen der Schimmel steckt, wie zu riechen ist, kaum ist man durch die Tür und hat man eingeatmet. Über Steckdosen, die nicht angeschlossen sind, schreibt sie; über Deckenbalken, die ausgetauscht werden müssen, was nicht so einfach ist, wenn es um darunter stehende, tragende Wände geht, was man da macht. Aber sie beisst sich durch, Kristin Valla wird eine richtige Handwerkerin (gleich zu Anfang kauft sie sich einen Bohrer und eine Latzhose), durchsetzungsstark auch gegenüber den professionellen Handwerkern, die sie immer wieder engagieren muss, weil das Haus mit seinen Schäden und Macken schlicht eine Nummer zu gross für sie zu seien scheint.

Und wenn sie so ziemlich gen Schluss, so viel soll verraten werden, kurz davor ist, dieses Haus zu verraten, fügt sich alles auf wundersame Weise, und man liest dieses Buch mit immer wachsendem Vergnügen und immer öfter ist da dieser heimlicher Gedanke, man sollte sich auch ein Haus kaufen oder wenigstens eines mieten, manchmal, vielleicht.

Kristin Valla, aufgewachsen im norwegischen Nordland, ist Autorin, Journalistin und Lektorin und schreibt u. a. für das Dagbladet Magasinet und das Kulturmagazin K der Zeitung Aftenposten. Mit ihrem Roman «Das Haus über dem Fjord» eroberte sie 2022 die Herzen deutscher Leserinnen und Rezensentinnen.

Gabriele Haefs, geboren am Niederrhein, studierte Volkskunde, Vergleichende Sprachwissenschaft und Keltologie. Heute lebt sie in Hamburg und ist seit vielen Jahren freie Autorin und Übersetzerin u.a. aus dem Irischen und Norwegischen. Ihre Arbeit wurde vielfach prämiert, u.a. mehrmals mit dem Hamburger Förderpreis für literarische Übersetzungen.

Beitragsbild © Julie Pike

Patrick Holzapfel «Hermelin auf Bänken», Rohstoff

„Hermelin auf Bänken“ ist ein vollkommen atypischer Roman. Ohne Ausrichtung auf einen Plott, ohne spektakuläre Handlung, ein Manifest für die Langsamkeit, das Mäandern, das Nachdenken, das Spazieren – und das Sitzenbleiben. Patrick Holzapfels literarisches Debüt entzückt all jene, denen Sprache viel mehr ist als Trägerin einer Information.

Waren sie schon in Wien? Oder leben sie gar dort? Sitzen sie zuweilen auf einer Bank in dieser grossen, alten Stadt, an einem öffentlichen Ort? Tun sie es, um Zeit zu überbrücken? Einen kurzen Moment innezuhalten? Oder tatsächlich bloss sitzend? Patrick Holzapfel muss stundenlang auf Bänken in Wien gesessen haben. Aber nicht bloss, um nachzudenken, sondern um in jenen Momenten des Sitzens ein anderes Leben zu führen; das Leben eines Bankers, eines Bankiers, eines Sitzengebliebenen, eines Schauenden, eines Nachsinnenden.

Der Erzähler ist eigentlich Student. Auf seinen Gängen durch die Stadt begegnet er einem Sandler, einem Obdachlosen, einem Mann mit einem langen Hermelinmantel, sitzend auf einer Bank. Er setzt sich neben ihn und beginnt ein Gespräch. Der Mann neben ihm ist so gar nicht das, was Bettler sonst repräsentieren. Der Mann neben ihm sitzt in der Haltung eines Königs, mit Blick auf ein Schaufester eines Lampengeschäfts. Es ist die Haltung des Mannes, der Blick, der nicht nach aussen zu schauen scheint, sondern darüber hinaus, weit darüber hinaus. Aber vielleicht auch hinein. Es ist die Dauer des Sitzens, weil es nicht einfach eine Pause ist, viel mehr als ein Innehalten, vielleicht eine Haltung, eine Form des Lebens.

Der Erzähler verliert den Hermelinkönig aus den Augen, aber nicht seine Sehnsucht, die mit dem Erscheinen jener Gestalt mit einem Mal aufgeploppt ist. Dieses Gefühl, mit dem Sitzen dem dauernden Gerenne etwas entgegenzusetzen. Er macht sich mit Sitzen auf einen Weg. Er sitzt auf den Bänken Wiens und wird zum Bankier, im Wunsch nachdenken zu wollen – oder eben gerade nicht. „Hermelin auf Bänken“ ist ein Suchbuch. Er sucht nach dem Sinn seines Lebens, er sucht nach einem Weg durch das Dickicht des Lebens, nach einem Weg hinein in eine Trauer, die noch lange nicht abgeschlossen ist. Die Trauer über den Tod seiner Mutter.

Ich flaniere sitzend. Ich bin ein Müssigsitzer.

Patrick Holzapfel
«Hermelin auf Bänken»,
Rohstoff, 2024, 166 Seiten, CHF ca. 16.90, ISBN 978-3-7518-7025-2

Er spaziert in der Stadt und bleibt sitzen. Oft stundenlang, manchmal gar über Nacht, schlafend. Er sitzt und beobachtet. Er sitzt und sucht mit diesem Blick, den er beim Hermelinkönig zu erkennen glaubte. Manchmal ist es der Blick in die Szenerie. So wie bei jener Bank im Park, mit Blick auf ein Mädchen, vielleicht zehn Jahre alt. Einem Mädchen, dass über die Kante eines Buches schaut und den Raum zwischen ihr und ihm zu elektrisieren scheint. Oder hin zu einem Mann, den er reflexartig als den Schriftsteller Thomas Bernhard zu erkennen glaubt, obwohl ihn die Vernunft eines Besseren mahnt. Ein Mann, etwas kränklich und griessgrämig im Gesicht, der mit den selben Gesten des Schriftstellers auf der Bank ganz in der Nähe sitzt.

Seit ich auf Bänken sitze, fällt mir das allgemeine Treiben, das ziellose Kommen und Gehen der Masse umso stärker auf.

Manchmal noch trifft er Prince, seinen Studienfreund. Immer seltener, denn sein Freund ist eingespannt in Pflichten, seinem Studium, Beziehungen. Manchmal pilgert er an die Nische mit der Urne seiner Mutter, spricht mit ihr, erinnert sich. Manchmal hofft er auf ein Wiedersehen mit dem Hermelinkönig. Und manchmal konfrontiert ihn ein Stück fremdes Leben mit dem eigenen. So wie die Begegnung mit dem Besitzer jenes Lampengeschäfts, vor dem er den Hermelinkönig angetroffen hatte. Eine Begegnung, die ihm bewusst macht, wie schnell sich Erinnerungen, wie schnell sich ein Leben in Luft auflöst.

„Hermelin auf Bänken“ sind Erkundungen ins Zwischenreich. Sitzortbestimmungen. Unterbrochen sind die Betrachtungen, Erinnerungen, Schilderungen und Gedanken des Erzählers mit der Verortung der jeweiligen Bänke; Ort und Lage, Aussehen, Beschaffenheit und Dauer des Sitzens. Aber die Qualität dieses Romans liegt nicht in erster Linie in seiner Originalität, sondern in seiner Sprache, diesem unaufgeregten Sinnieren, Memorieren, Denken und Hineinhören. „Hermelin auf Bänken“ liest sich wie eine Meditation. „Hermelin auf Bänken“ streichelt meine gebeutelte Seele, ermuntert mich, das Müssigsitzen zurückzuerobern.

Der Spaziergänger Robert Walser hätte seine helle Freude gehabt!

Patrik Holzapfel ist mit «Hermelin auf Bänken» Gast am 29. Internationalen Literaturfestival in Leukerbad. Er spaziert zusammen mit Meral Kureishi mit an der Literarischen Wanderung am Donnerstag und liest am Freitag und Samstag aus seinem Roman.

Patrick Holzapfel, Autor, Kurator, Filmemacher und Filmkritiker wurde 1989 in Augsburg geboren und zog für sein Studium der Theater-, Film- und Medienwissenschaften nach Wien. Als selbstbezeichneter Cineast gründete er den Blog Jugend ohne Film. Doch das Schreiben über Filme reichte dem Wahlwiener bald nicht mehr. Bevor er sein Romandebüt präsentierte, trat Holzapfel mit Spoken-Word-Texten auf – für den Text Gurgelgeräusche wurde er 2022 beim open mike, dem wichtigsten deutschsprachigen Nachwuchswettbewerb für Lyrik und Prosa, zum Gewinner gekürt.

Beitragsbild © Viktor Sommerfeld

Fabio Andina, «Sechzehn Monate», Rotpunkt

1944. Giuseppe Vaglio ist dreiunddreissig, Familienvater, Schreiner in einem kleinen Dorf in Norditalien. Durch die Schrecken des Krieges wird er Fluchthelfer, denunziert, verhaftet, eingesperrt, ins KZ Mauthausen verschleppt. Sechzehn Monate später schafft er es in sein Dorf zurück. Fabio Andina, preisgekrönter Schriftsteller und Enkel jenes Mannes, zeichnet ein literarisches Denkmal.

Ob in der Türkei oder in den USA, ob in Weissrussland oder bei den Uiguren; Von Freiheit, von Meinungsfreiheit, keine Spur. Wer in seinem Handeln nicht den vom Staat vorgegebenen Weg einschlägt, muss mit Repressalien rechnen. Dabei scheinen all jene Erfahrungen, die man mit totalitären Regimen machte, wirkungslos. Man(n) lernt nicht. Ob im Stalinismus oder im Nationalsozialismus, im Maoismus oder Militärdiktaturen wie damals in Spanien. Man taucht ab in ein System der Unterdrückung, der totalen Kontrolle, einer Staatsideologie. Freiheiten werden eingeschränkt, Selbstverantwortlichkeit wird zum Risiko, Empathie und Nächstenliebe zum Verbrechen.

Als Mitte des letzten Jahrhunderts ganz Europa im faschistischen Würgegriff erstarrte und man Andersdenkende, Andersgläubige und Anderslebende systematisch verfolgte, einsperrte und wie Ungeziefer vernichtete, wurde es für Menschen, die jenen Unterdrückten halfen, lebensgefährlich, nicht nur für sie, sondern auch für ihre Familien. Es wuchs ein System der gegenseitigen Überwachung, der Denunziation. Nachbarn wurden zu stillen Informanten. Man beglich so offene Rechnungen, zahlte heimlich zurück, sonnte sich im Gefühl der scheinbaren Macht, ohne zu merken, wie sehr man sich in Abhängigkeiten verstrickte.

Fabio Andina «Sechzehn Monate», Rotpunkt, 2025, aus dem Italienischen von Karin Diemerling, 216 Seiten, CHF ca. 30.00, ISBN 978-3-03973-052-0

Der kleine italienische Ort Cremenaga liegt zwischen dem Lago di Lugano und dem Lago Maggiore, direkt an der Grenze zur Schweiz. Dort lebte Giuseppe Vaglio, der Grossvater des Schriftstellers Fabio Andina, mit seiner Drei-Generationen-Familie und lebte von seinem Schreinerhandwerk. 1943 begann er Menschen, vor allem Juden, die vor den Grausamkeiten der Faschisten fliehen mussten, über die Grenze, durch den Fluss Tresa, einen Fluchtweg in die Schweiz zu finden. Ein ebenso risikoreiches Unternehmen für Flüchtende und Fluchthelfer. Am 5. März 1944 wurde Giuseppe Vaglio, verraten durch Nachbarn aus dem Dorf, von der SS festgenommen, zuerst in verschiedene norditalienische Gefängnisse gesteckt und später ins österreichische Konzentrationslager Mauthausen überführt. Nach Monaten der Misshandlung und Zwangsarbeit wurde er anfang Mai 1945 von us-amerikanischen Truppen befreit und gelangte zu Fuss und als Passagier am 6. Juli 1945, sechzehn Monate nach seiner Verhaftung, wieder in sein Dorf.

Als Giuseppe Vaglio in sein Dorf zurückkehrte, war er ein anderer, gezeichnet von seinen Erlebnissen, in prekärem psychologischem Zustand. Man schwieg weitgehend in der Familie über jene Zeit und was damals passierte. Und als Giuseppe Vaglio im Alter von fünfundsiebzig Jahren starb, war Fabio Andina, sein Enkel, zwölf und interessierte sich wenig für das, was damals geschehen war. Erst viel später, mit Hilfe Grossvaters „Arbeitsbuch für Ausländer“ begann Fabio Andina Recherchen über jene sechzehn Monate anzustellen, Recherchen, die daraus nicht nur einen äusserst lesenswerten Roman werden liessen, sondern die Heimatgemeinde seines Grossvaters veranlasste, mit einer Skulptur im Dorf an die Taten jener zu erinnern, die Flüchtenden halfen und all jenen, die dafür mit viel Schmerz und Leid bezahlen mussten.

„Sechzehn Monate“ erzählt aus wechselnden Perspektiven von den Tagen der Verhaftung bis zu jenem Tag, an dem Giuseppe Vaglio zu seiner Familie zurückkehrte. Eine Reise ins Ungewisse, für ihn immer hart am Tod, für seine Frau und seine Familie im permanenten Strudel von Verzweiflung, Angst und drohender Hoffnungslosigkeit. Ganz offensichtlich ging es Fabio Andina nicht darum, eine möglichst detailgetreue Nacherzählung jener dunklen Monate zu evozieren. Fabio Andina empfindet nach, was in den Herzen seiner Grosseltern passiert sein musste. Er lebt mit Literatur ein Leben nach, zeichnet mögliche Spuren. Er tut dies mit aller Behutsamkeit und dem grossen Respekt an Menschen, denen man keine Wahl liess, die man auch nach 1945, nach dem Zusammenbruch des Tausendjährigen Reiches sich selber überliess, ohne ihnen zu Lebzeiten für das erduldete Leid einen Funken von eben jenem Respekt zu zollen. „Sechzehn Monate“ ist eine Liebeserklärung an die Kraft der Liebe!

2025 wird Fabio Andina für «Sechzehn Monate» («Sedici mesi») der Schweizer Literaturpreis 2025 verliehen. Aus der Begründung der Jury: Anhand von weitergegebenen Erinnerungen, Briefen aus der Familie und historischen Nachforschungen rekonstruiert der Autor die Lebenslage seiner Grosseltern mütterlicherseits, Giuseppe und Concetta, während dieser unfreiwilligen Trennung.
In knapper, verinnerlichter Sprache wirft die Erzählung einen genauen und bewegenden Blick auf den Alltag und die Gedanken des jungen Ehepaars, das zu einer langen Zeit der Trennung und des Leidens gezwungen wurde.

Fabio Andina, geboren 1972 in Lugano, studierte Filmwissenschaften und Drehbuch in San Francisco. Heute lebt er im Bleniotal. Sein «Roman Tage mit Felice» erschien 2020 auf Deutsch, wurde mehrfach ausgezeichnet und in viele Sprachen übersetzt. 2021 folgten der zweisprachige Prosaband «Tessiner Horizonte – Momenti Ticinesi» (mit Zeichnungen von Lorenzo Custer) und 2023 der Roman «Davonkommen», der die Vorgeschichte des namenlosen Erzählers von Tage mit Felice enthüllt. Auf Italienisch liegt zudem der Erzählband «Sei tu, Ticino?» vor.

Karin Diemerling hat in Mainz, Hamburg und Florenz Germanistik und Romanistik studiert und übersetzt seit rund 25 Jahren aus dem Englischen und Italienischen. Sie lebt bei Winterthur.

Webseite des Autors

Beitragsbild © Malik Andina

Hier ist immer Gewalt. Hier ist immer Kampf … über «Die Nulllinie» von Szczepan Twardoch (21)

Lieber Gallus

Du hast mir gesagt, dass du das Buch «Nulllinie» nach Beginn der Lektüre weggelegt hast, dass es dich nicht angesprochen habe. Da mich dieses Buch mit seiner Aktualität nicht loslässt und nachhaltig verfolgt, möchte ich trotzdem darauf zurückkommen. Kann man, soll man vom Krieg schreiben? In meinem Kopf klingt gleichzeitig die Klagenfurter Rede 2023 der ukrainischen Autorin Tanja Maljartschuk an: Ich betrachte mich selbst als gebrochene Autorin, eine ehemalige Autorin, eine Autorin, die ihr Vertrauen in die Literatur und – schlimmer noch – in die Sprache verloren hat. Die Sprache, die schönste Gedichte hervorbringt, kann auch dazu dienen, Befehle kundzutun, zum Abschuss von Raketen, die Zivilisten töten, oder zum Vorrücken von Panzern.

Szczepan Twardoch «Die Nulllinie», Rowohlt, 2025, aus dem Polnischen von Olaf Kühn, 256 Seiten, CHF. ca. 35.90, ISBN 978-3-7371-0209-4

Der polnische Schriftsteller Twardoch war mehrmals mit Hilfsgütern an der Front und hat die Nulllinie hautnah unter Lebensgefahr miterlebt. Bei Twardoch wird Krieg als Grenzsituation des Mensch-Seins erfahrbar durch gekonnt in Sprache umgesetzte Handlungen, Dialoge und Reflexionen der Soldaten. An der Front gelten andere Werte bei Schlamm, Kälte, ständiger Bedrohung des Lebens in Gräben und feuchten Unterständen und Isolation. Weit weg, fast nicht mehr erinnerbar, ist das Leben der Kämpfer vor dem Krieg. Die Sprache ist grob, aber sehr treffend und verstärkt die Absurdität des Geschehens. Literarisch gelingt es dem Autor einzigartig darzustellen, was ein Krieg mit uns Menschen macht.

Menschenleben sind nur in der hübschen Theorie gleich viel wert, in der Praxis hat jedes Menschenleben seinen eigenen Wert. Der Wert deines Lebens, Koń, ist sehr gesunken, noch nie in deinem fünfundvierzigjährigen Leben warst du so wenig wert wie heute.

Aber vielleicht, denkst du, bauen wir ja auf, indem wir zerstören? Kann man überhaupt etwas aufbauen, indem man tötet? Warum bin ich überhaupt hier, fragst du dich, während du das Nachtsichtgerät am Helm montierst. Was hat bewirkt, dass ich in meinem völlig ausgebrannten Ich die Energie fand, hierherzukommen und dann den Vertrag zu unterschreiben – doch nicht etwa der Wunsch zu zerstören, der Wunsch zu töten?

Mitleid hattest du nicht mit denen, die du getötet hast, aber Hass auf sie empfandest du auch selten. Wenn du jemanden verloren hast, der dir nahestand, Koń, dann empfandest du Hass, doch er war nicht gegen einen konkreten Menschen gerichtet, eher gegen ein Kollektiv, dieses Ganze, Russland, das mehr ist als die Summe aller Russländer, nur deshalb wolltest du die Letzteren töten.

Ich verstehe sehr wohl, dass der mehrjährige und intensiv andauernde Krieg die Sprache beeinträchtigt, verunmöglicht, tötet und verstummen lässt. Andererseits bin ich dankbar um «Nulllinie», dass ich nachvollziehen kann, was an der Front abgeht, wie heute mit Einsatz moderner Waffen Krieg geführt wird. Fasziniert und aufgewühlt nehme ich das Buch wieder in die Hand und versuche, das Unbegreifliche zu verstehen.

Hoffen wir, dass das Unwetter bald vorbei ist und die Blüte am Ast wirken kann, wie Tanja Maljartschuk in ihrer Rede auch sagt: Ich verdanke alles in meinem Leben der Literatur, die ich mir als Blüte am Ast eines Baumes vorstelle. Einerseits ermöglicht sie die Fortpflanzung der Ideen und doch fällt sie bei einem Unwetter als erste ab.

Kannst du mir mitteilen, was dich am Weiterlesen von «Nulllinie» gehindert hat? Warum du das Buch weggelegt hast? Ist es die rohe Sprache?

Herzlich

Bär

***

Lieber Bär

Wahrscheinlich ist die Antwort auf Deine unbequeme Frage eine ganz banale. Ich legte das Buch wohl aus Feigheit weg. Ich hatte genug von den Schilderungen all der Gewalt, des Krieges, der Ungleichheiten, der Ungerechtigkeiten, den Schimpftriaden, dem Dreck des Krieges. Ich war feige, weil nichts mehr geblieben war, von der Neugier, der Lust, immer mehr zu erfahren, einen Einblick zu gewinnen. Weil es ein Durchbeissen geworden wäre. Ich war feige, weil ich es nicht mehr ertragen konnte, an der imaginären Seite von Koń in den Krieg zu ziehen, einen Krieg, der in seiner Brutalität und Banalität alles verloren hat, was heroische Gefühle auslösen, meinen Glauben bestärken könnte, es gäbe eine gute Seite und eine schlechte Seite.

Szczepan Twardoch, der selber ukrainische Wurzeln hat, hat nichts erfunden, auch wenn er nicht wie sein Protagonist in den hoffnungslosen Schützengräben kämpfte. Twardoch war da, konnte aber im Gegensatz zu den Soldaten das Schlachtfeld jederzeit verlassen. Was er in seinem Roman schreibt, lehnt sich so nah an das wirkliche Geschehen, dass es im Kontrast zu all der geschilderten Technik schmerzhaft grotesk wirkt. Kriege sind technische Machtdemonstrationen, bei denen Soldaten zum Schmiermittel werden. Ich war zu feige, um mir das 250 Seiten lang um die Ohren schlagen zu lassen.

Ich schätze Szczepan Twardoch sehr, sowohl als Mensch wie als Schriftsteller. Ich liebe seine Romane, die wie alles, was er schreibt, weit über die Schmerzgrenze hinausgehen. Ich bewundere ihn für seinen Mut, einen Mut, bei dem es nicht um schriftstellerisches Säbelrasseln geht, sondern um das, was man als Schriftsteller*in tun kann, angesichts eines solchen Krieges; mit Sprache kämpfen.

Vor nicht allzu langer Zeit las ich von Serhij Zhadan „Himmel über Charkiw. Nachrichten vom Überleben im Krieg“. „Himmel über Charkiw“ will keine «Literatur» sein, sondern Zeugnis. Eine Stimme aus dem Innern des unverschuldeten Höllenfeuers, eine Stimme des Trotzes, eine Stimme, die um keinen Preis dieses eine verlieren will; die Hoffnung, dass dereinst der Krieg vorbeisein wird, dass die Gerechtigkeit siegen wird. Begriffe wie „Sieg“, „Helden“, die der Autor vor dem Einmarsch, selbst nach der Annexion der Krim, nie in den Mund, schon gar nicht ins Netz geschickt hätte. Ein Facebook-Tagebuch des offenen Widerstands.


Auch wenn ich «Nulllinie» weggelegt habe, sagt das nichts über die Qualität des Buches, sondern nur etwas über mich selbst. Bücher wie «Nulllinie» sind wichtig, weil die Literatur in uns Bilder erzeugt, die hängen bleiben, während wir die Bilder aus den Medien, die Bilder von brennenden Autos, zerbombten Städten, Leichen auf den Strassen und weinenden Kindern längst schlucken können wie bittere Pillen. Niemand stumpf ab, weil er/sie liest. 

In einem Interview mit rbb sagt Szczepan Twardoch: Dieser Krieg ist so nah an meinem Zuhause. Er ist so nah an der Grenze meines Landes. Er betrifft mich so sehr, dass ich ihn nicht ignorieren konnte. Ich verspürte diesen Drang zu helfen, zumindest auf diese bescheidene Art und Weise, die mir möglich ist, zum Beispiel durch Spendensammeln, den Kauf von Ausrüstung wie Autos, Drohnen, Zielfernrohren für Gewehre und so weiter. Einfach um bei diesem grossartigen und zugleich edlen Bemühen zu helfen, Menschen zu verteidigen, die so leben wollen, wie sie leben wollen, und nicht auf eine Art und Weise, die ihnen aufgezwungen werden soll.

Lieber Bär, vielleicht nehme ich «Nulllinie» doch noch einmal zur Hand.

Bis bald

Gallus

© Jacek Poremba

Szczepan Twardoch, geboren 1979, ist einer der herausragenden Autoren der Gegenwartsliteratur. Seine Romane sind in zahlreiche Sprachen übersetzt, zum Teil verfilmt. «Morphin» (2012) wurde mit dem Polityka-Passport-Preis ausgezeichnet. Für den Roman «Drach» wurden der Autor und sein Übersetzer Olaf Kühl 2016 mit dem Brücke Berlin Preis geehrt, 2019 erhielt Twardoch den Samuel-Bogumił-Linde-Preis, 2025 den Usedomer Literaturpreis. Zuletzt erschienen die hochgelobten Romane «Der Boxer» und «Kälte«. Er lebt mit seiner Familie in Pilchowice/Schlesien.

Olaf Kühl, 1955 geboren, studierte Slawistik, Osteuropäische Geschichte und Zeitgeschichte und arbeitete lange Jahre als Osteuropareferent für die Regierenden Bürgermeister von Berlin. Er ist Autor und einer der wichtigsten Übersetzer aus dem Polnischen und Russischen, u.a. wurde er mit dem Karl-Dedecius-Preis und dem Brücke Berlin-Preis ausgezeichnet. Sein zweiter Roman, «Der wahre Sohn», war 2013 für den Deutschen Buchpreis nominiert.

Ulrike Edschmid «Die letzte Patientin», Suhrkamp

Ulrike Edschmid schreibt keine epischen Romane. Ihre Texte sind eingedampfte Literaturkonzentrate, obwohl auch sie in den etwas mehr als hundert Seiten fast ein ganzes Leben erzählt; die Geschichte einer Frau, die ihre Grenzen auslotet, auch darüber hinaus.

Eine ältere Frau wird über Jahre zur Therapeutin einer jungen, traumatisierten Frau. Obwohl die Patientin jede Woche einmal in ihrer Praxis sitzt, dauert es Jahre, bis die junge Frau zaghaft zu sprechen beginnt, erst nachdem sich die beiden lange Zeit über Augenzeichen verständigten. Die junge Frau trägt ein tiefsitzendes Trauma mit sich herum, eine offene und doch unsichtbare Wunde.

Sie war nicht die Tochter, die ihre Mutter sich wünschte, und würde es auch nie sein. Sie schaffte es nicht, einen Mann an sich zu binden, sie würde keine Kinder haben, keine Familie, und sie hatte keinen Beruf. Sie war nichts, nichts als eine Enttäuschung.

Ulrike Edschmid erzählt aber in erster Line das bewegte Leben der Therapeutin. Was macht uns zu dem, was wir sind? Wir sind alle in der einen oder anderen Weise verwundet. Nur haben die einen das Glück, dass sich die Wunden schliessen und man mit den Narben leben kann. Die Erzählerin wird nach Barcelona gerufen, ans Sterbebett ihrer Freundin, die in der Stadt bis kurz vor ihrem letzten Gang ins Spital Traumatherapeutin war. Die junge Frau wird die letzte Patientin der krebskranken Therapeutin. Die Geschichte erzählt eine namenlose ehemalige Mitbewohnerin und Freundin der Kranken. Sie versucht zu verstehen, warum die Freundin schlussendlich jenen Beruf ausübte und zu der wurde, die sie war. Die letzte Patientin, die junge traumatisierte Frau, heisst im Buch, in den Therapieprotokollen nur N., N. wie Niemand. Wann ist man jemand? Was braucht es, damit wir gesehen werden?

Ulrike Edschmid «Die letzte Patientin», Suhrkamp, 2024, 111 Seiten, CHF ca. 33.90, ISBN 978-3-518-43183-2

Als die sterbenskranke Therapeutin jung war, schien alles offen, dem Leben der jungen Frau keine Grenzen gesetzt. Der Einzug damals in der WG war eine Flucht, eine Flucht vor der Enge in ihrer Familie. Die Frauen freunden sich an, obwohl sich ziemlich bald abzeichnet, dass die Lebensentwürfe der beiden Frauen unterschiedlicher nicht sein könnten. Während die Erzählerin bleibt, bricht die Freundin auf eine Jahrzehnte dauernde Reise auf. Eine Reise mit geographischen Markierungen, über Barcelona, von dort über Mexico City und Guatemala nach Costa Rica, Bolivien, Paraguay und Argentinien. Keine Suche nach Sehenswürdigkeiten, sondern eine Suche nach Liebe und Geborgenheit. Es reiht sich Verliebtheit an Verliebtheit, Mann an Mann, Leben an Leben. Aber sie findet nicht, wonach sie sucht, was sie nicht einmal zu formulieren im Stande wäre.

Sie fürchtet sich vor ihrer eigenen Rastlosigkeit, der sie einzig entgehen könne, wenn sie ständig die Orte wechsle und sich nicht mit dem nächsten Tag beschäftige.

Eine Getriebene, eine Suchende, eine Unruhige. Bis sie nach langer Zeit nach Barcelona zurückkehrt und dort eine Praxis eröffnet. Sie, die fast ein ganzes Leben brauchte, um festen Boden unter den Füssen zu finden, will jenen den Boden zurückgeben, die den ihren verloren. Sie, die Bindung und zu offensichtliche Nähe genauso schlecht ertragen konnte wie Einsamkeit und Alleinsein, sitzt Menschen gegenüber, denen es äusserst schwer fällt, einen Platz in der Gesellschaft, im Funktionieren zu finden.

Wann wird man vom Niemand zum Jemand? Wir leben in einer Gesellschaft, in der die Masse fast alles tut, um einmal an der Oberfläche zu schwimmen. Man setzt alles daran, um seiner selbst ein Zeichen zu setzen. Während die einen eingeschlossen sind in Fremdverschuldetes, finden andere den Abzweiger nicht, um aus den Hamsterrädern der Gegenwart zu springen.

Heilung beginne, sagt sie, wenn eine Sprache gefunden werde für das, was als gestaltloses Dunkel unaussprechlich und in seiner formlosen Existenz nicht zu fassen, nicht zu begreifen, nicht zu benennen und nicht zu beweisen ist.

Ulrike Edschmids Roman ist mit klarem Strich gezeichnet, fast unterkühlt und doch mit Leidenschaft. „Die letzte Patientin“ ist ein Manifest gegen die scheinbare Normalität. Es gibt sie nicht. Es geht Ulrike Edschmid aber auch nicht um Versöhnung mit biographischer Unruhe. Sie protokolliert einen Weg, Stationen des Wachsens, die lange Suche einer mutigen Frau, dass die Antworten nicht im Gegenüber liegen. Ein starkes Buch!

Ulrike Edschmid, 1940 in Berlin geboren, studierte u.a. an der Deutschen Film- und Fernsehakademie und arbeitete als Lehrerin. Für ihre autobiographisch grundierten kurzen Romane wurde sie vielfach ausgezeichnet, u.a. 2013 mit dem Preis der SWR-Bestenliste für ihr Lebenswerk.

Beitragsbild © Lukas Hemleb/Suhrkamp Verlag

Urs Faes «Sommerschatten», Suhrkamp

Urs Faes erzählt in „Sommerschatten“ von einem Paar, einer Liebe. Durch einen Unfall sieht er nicht nur das bedroht, was zwischen ihnen war, auch sein Selbstverständnis, das er mit einem Mal kippen sieht. „Sommerschatten“ ist mit derart viel Wärme erzählt, das mich die Sprache umarmt!

Der Erzähler hat sich eine Auszeit in einem kleinen Rebhäuschen im Schwarzwald genommen. Auf dem Weg mit dem Auto dorthin erreicht ihn ein Anruf, Ina, seine Liebe, sei beim Freitauchen lebensbedrohlich verunfallt, sie werde ins künstliche Koma versetzt und niemand könne voraussagen, wie sich der Zustand der Patientin entwickeln werde. Er fährt in die Klinik, darf Ina aber nicht besuchen, muss sich gedulden, weil sie Ruhe brauche. Mit einem Mal ist alles anders. Ausgerechnet sie, die die Aktive, die Fordernde, die Bewegte, die Unruhige in ihrer Liebe war, ausgerechnet sie liegt intubiert auf dem Rücken zur inneren und äusseren Bewegungslosigkeit verdammt. Ausgerechnet zwischen ihnen, denen Sprache, Sätze oder nur ein einzelnes Wort viel mehr waren als blosser Austausch, ist mit einem Mal die gläserne Glocke des Schweigens überstülpt.

„Sommerschatten“ ist der Roman einer Findung, einer Zurechtfindung, einer Sprachfindung für ein Paar, dem man die Stimme genommen hat, beide auf ihre Art zu verstummen drohen, sie durch den Unfall, das künstliche Koma, er durch die Angst, dass es nie mehr so werden würde, wie es einmal war. Und er, weil er sein Gegenüber verliert, ihre Nähe, ihren Blick, die Berührungen, das, was durch ihr Cellospiel, ihr Tanzen, ihren Bewegungsdrang, ihre Freude, ihre Liebe mehr und mehr den Mittelpunkt seines Lebens ausmachte, eines Lebens, das niemals das geworden wäre, hätte er sie damals nicht kennengelernt.

Urs Faes «Sommerschatten», Suhrkamp, 2025, 155 Seiten, CHF ca. 35.90, ISBN 978-3-518-43224-2

Freitauchen oder Apnoetauchen. Ina liebt den Sport. Diesen ganz stillen Weg in die Tiefe oder in die Distanz, in die zeitliche Distanz, dorthin, wo die Zeit aufhört, über die Grenzen des Schmerzes hinaus. Ina ging es nicht bloss um Rekorde, um ein Limit. Ina liebte dieses ganz eigene Eintauchen in ihr Leben, die Stille, das Ausloten, diesen Schmerz, der auf der anderen Seite der Grenze zu Euphorie, zu einem Rausch wird. Sie wusste um das Risiko. Aber sie brauchte diese Portion Risiko, um sich ihrer Lebensfreude zu versichern, um das Auftauchen zu einem Akt des Erwachens zu machen, einem Erwachen drohender Routine. 

Bis zu diesem einen Tag, als man sie aus dem Wasser holte, als die Rettung gerufen werden musste, als jene letzte Grenze für einen Moment zu lange überschritten wurde und es drohte, kein Auftauchen mehr zu geben. Bis Ina aus dem Leben gerissen wurde und sich der Erzähler mit dem grossen Schweigen konfrontiert. 

„Sommerschatten“ ist mehr als eine Geschichte. Wäre es Urs Faes um die „gute Geschichte“ gegangen, hätte man der Story mit Leichtigkeit mehr Pepp beifügen können. Aber Urs Faes geht es, wenn überhaupt um Dramatik, dann um die innere. Urs Faes schreibt ganz nah am Seelenzustand des Erzählers. Und doch weder in einer Nabelschau noch in einem lyrischen Erguss an Seelenbefindlichkeiten. Obwohl der Roman eine stark lyrische Komponente hat, ist es der sprachliche Pinselstrich des Autors, der mich bei der Lektüre berauscht und beeindrukt. Seine ganz eigene Kunst des sprachlichen Freitauchens, manchmal bis an die Schmerzgrenze, wenn Urs Faes formuliert, als gäbe es nur seine Sprache, wenn Klang und Rhythmus das Erzählen bestimmen. In einem Interview erzählt Urs Faes, dass er mehr als ein Dutzend Mal seinen Roman überschreibt, als würde er immer und immer wieder seinen Melodien zuhören, bis jeder Ton sitzt, jeder Rhythmus stimmt. In „Sommerschatten“ malt der Autor, spielt ein ganzes Orchester. Wer sich auf seine Sprache einlässt, wird reich beschenkt. „Sommerschatten“ macht glücklich, legt sich wie eine warme Decke um meine Schultern, ist genau das, was es in einer Zeit braucht, in der uns die Superreichen erklären, dass die Welt mit Empathie nicht zu retten sei.

Urs Faes, 1947 geboren, lebt und arbeitet in Zürich. Seine Werke wurden vielfach ausgezeichnet, u. a. mit dem Schweizerischen Schillerpreis und dem Zolliker Kunstpreis. Seine Romane «Paarbildung» und «Halt auf Verlangen» standen auf der Shortlist für den Schweizer Buchpreis.

Urs Faes liest an den Weinfelder Buchtagen.

Urs Faes auf literaturblatt.ch

Webseite des Autors

Beitragsbild © Jürgen Bauer