Lucy Fricke „Töchter“, Rowohlt

Ein literarisches Roadmovie, eine Geschichte um unberechenbare Väter und Töchter, denen es schwer fällt, sich von diesen zu emanzipieren. Lucy Fricke erzählt gekonnt, webt in einzelne Szenen gleichermassen viel Leben und Theatralik ein, dass man diese noch einmal und noch einmal lesen will.

«Ich bin nicht auf die Welt gekommen, um meine Eltern zu retten.»

Marthas Vater hatte drei Jahrzehnte lang gefehlt, war nie da, als sie ihn gebraucht hätte. Und nun will er, dass Martha ihn, den Todkranken, zum Sterben in die Schweiz begleitet. Betty, ihre Freundin, glaubt, ihr Vater sei tot, irgendwo in Italien begraben. Aber vielleicht auch nicht. Betty, Martha und Marthas Vater Kurt fahren im Auto los. Zwei Freundinnen, die sich schon Jahrzehnte kennen und Kurt, der Todkranke auf der Rückbank, der sein Leben kommentiert.

«Im Notfall brauchst du keine Freunde. Im Notfall brauchst du einen guten Arzt oder einen Anwalt. Freunde brauchst du für die guten Zeiten, die schlechten schaffst du auch allein. Für das Glück brauchst du Freunde. Wer kann denn alleine feiern? Das Glück kannst du teilen, aber nicht das Leid. Das Leid wird immer nur verdoppelt.»

Aber bald wird klar, dass Kurt Sterbewunsch nur Vorschub leisten sollte für seinen eigentlichen Plan, den die beiden Frauen und schon gar nicht seine Tochter gutgeheissen hätten, für den Martha und Betty nie mit ihm in sein Auto gesessen wären. Kurt will nach Stresa in Italien. In Stresa lebt Francesca. Francesca habe sich letzthin wieder gemeldet, eine alte Liebe. «Ich lasse dich kein zweites Mal allein», habe sie gemeint.
Nach dieser Offenbarung steht das Auto irgendwo am Strassenrand stehen, Warnblinker sind an. Die Situation droht zu eskalieren. So reiten Väter ihre Töchter und Söhne in Situationen, aus denen man nicht ohne sie zurückfindet. «Zum Sterben fährst du mich, aber zum Lieben hättest du mich niemals gefahren.»

Die Reise im Auto wird zur Tortur im Faradayschen Käfig, aufgeladen mit Emotionen, die sich nicht erden können. Betty deponiert ihren wieder erstarkten Vater in Stresa. Und weil man nun schon einmal in Italien ist, geht die Fahrt weiter nach Bellegra, einem kleinen Nest nicht weit von Rom, wo auf dem Friedhof Bettys Vater Ernesto liegen soll, «eine Liebe, die keine Verbindung mehr hatte». Ernesto hatte sich in seinem Musikerleben vor langer Zeit abgesetzt. Ein Umstand, der nichts klärte und nur immer wieder Spekulationen aufkochen liess. Betty will nun endlich Klarheit, auch darüber, ob unter der Grabplatte auf dem Friedhof wirklich ihr Vater liegt.

«Ich wollte spucken auf mich, die ich zu lange geglaubt hatte, es sei nicht möglich, sich von seiner eigenen Geschichte zu befreien.»

«Töchter» ist ein Buch über Väter. Die Geschichte zweier Frauen, die sich von der emotionalen Dominanz ihrer Väter zu befreien versuchen. «Unsere Väter waren nicht verlässlich, je mehr wir von ihnen erfuhren, desto weniger wussten wir.» Ein Buch über Freundschaft, eine Frauenfreundschaft, die auszuhalten versucht, was man alleine nie durchstehen würde. Ein Roadtrip von Deutschland durch die Schweiz und Italien bis nach Griechenland. Die Suche zweier Frauen nach Gewissheit und Klarheit bis auf eine kleine Insel mitten auf dem Meer. So wie sich Betty auf dem Trip von ihrer Abhängigkeit von Antidepressiva zu befreien versucht, so ist die turbulente Reise eine Befreiung von Lügen. Und nicht zuletzt ist «Töchter» ein freches Buch über den Sehnsuchtsort Italien.

«Italien macht dich pathetisch, behauptete Martha. Womit sie recht hatte. Dieses Land kitzelte am Drama, und dafür war ich empfänglich.»

Überzeugend am Roman aber ist viel mehr als bloss die Story, die immer wieder Haken schlägt. Es ist das Ausbleiben plumper Psychologie, das Aufblitzen von Groteske und Witz, die Tatsache, dass Lucy Friede die Geschichte nie nur in die Nähe von Sentimentalität abrutschen lässt. Es sind die sprachliche «Schamlosigkeit», entlarvende Ehrlichkeit, erfrischende Frechheit und die überraschende Tiefe, die mich überzeugen. Nach der Lektüre ist Lucy Frickes Buch voll mit Bleistiftmarkierungen und Stellen, die ich noch einmal lesen möchte. Als wolle man den Teller blank lecken!

Ein Interview mit Lucy Fricke:

Viele werden irgendwann Mutter oder Vater. Und so wie jedes Mutter- oder Vaterwerden eine Emanzipation vom Tochter- und Sohnsein ist, gelingt dieses Werden ganz offensichtlich oft nicht ohne Kampf. Ihr Roman bietet ganz viele Lesarten, aber die Emanzipationsgeschichte von Vätern scheint zentral. Für alles braucht man einen Fähigkeitsausweis, für jede Verantwortung eine Prüfung. Nur nicht als Vater oder Mutter. Sind wir als Töchter und Söhne verurteilt?
Ich finde es spannend, wie sich dieses Verhältnis verändern kann, wie sich Abhängigkeiten und Bedürfnisse ändern, manchmal auch umkehren. 
Nichtsdestotrotz ist eine Befreiung notwendig. Wir bleiben immer die Kinder unserer Eltern und es ist erstaunlich, wie schwer es fallen kann, sich damit abzufinden. Man lernt das Mutter- und Vatersein, indem man es ist. Je älter ich werde, desto besser verstehe ich meine Eltern. Es erscheint mir unmöglich, ein Kind zu erziehen, ohne dabei Fehler zu machen. Wir alle verbocken so viel, haben schon so vieles erlebt, was uns vielleicht zu schwierigen Charakteren macht. Das verändert sich eben mit dem Alter, man sieht seine Mutter als Frau, den Vater als Mann, man kann seine eigenen Eltern endlich aus verschiedenen Perspektiven wahrnehmen und erkennen. Und damit auch nahezu alles verzeihen. 

Es gibt in ihrem Roman so viele Textstellen, die in vielerlei Hinsicht aufblitzen. Sei es Weisheit, Frechheit, Groteske, Humor, Überraschung. Ganz offensichtlich liegt Ihnen weit mehr daran, als bloss eine spannende Geschichte zu erzählen. Was treibt Sie beim Schreiben?
Das klingt pathetisch, aber mich treibt die Suche nach einer Wahrhaftigkeit. Keine Klischees, keine Filter, kein Schönreden. Der Humor ist bei der Suche nach Wahrheit äußerst hilfreich. Wenn ich, wie jetzt, wochenlang nicht schreibe, dann merke ich zudem, wie sehr das Schreiben mir Halt gibt, mich regelrecht zusammen und aufrecht hält. 

„Töchter“ ist eine Geschichte über Freundschaft. Martha und Betty erleben gemeinsam eine Berg- und Talfahrt weit weg vom Alltag. Betty muss vom Schicksal gezwungen werden, Martha wühlt schon ein Leben lang. Zwei Archetypen im Umgang mit der Vergangenheit. Wer „Frieden“ finden will, muss sich stellen. Ganz offensichtlich eine Eigenschaft, die unserer Gesellschaft im breiter abzugehen scheint. „Töchter“ ist auch ein Sehnsuchtsroman; Sehnsucht nach Klarheit, Sehnsucht nach Liebe und Freundschaft, Sehnsucht nach „Italien“. Spiegeln sich darin Ihre Sehnsüchte?

Das sind universelle Sehnsüchte, denke ich. Italien jetzt mal ausgenommen. Freundschaft ist definitiv das Beste im Leben, nach der Klarheit, nach der Liebe.
Eine weitere Sehnsucht im Roman ist die nach dem Unterwegs-Sein. Dieses Immer-weiter-fahren, immer-weiter-suchen. Ich habe seltsamerweise noch nie eine Sehnsucht nach dem Ankommen verspürt. 

Michael Köhlmeier prügelte mit seiner Rede zum Holocaust-Gedenken in Wien den Umgang mit Geschichte, die Politik gegenüber Flüchtlingen. Wir leben nicht in einer Gesellschaft, die sich der Geschichte, der Wirklichkeit stellt. Je näher wir uns an den Rändern der Katastrophen bewegen, desto deutlicher verschliessen wir Augen, Ohren und Münder. Martha und Betty stellen sich, mehr oder weniger gezwungen. Wir treten ja nicht einmal am Ort, wenn wir uns der Vergangenheit entziehen. Warum verlangt man von den SchriftstellerInnen mehr, als dass sie nur unterhalten?

Gute Frage. Die stelle ich mir auch oft. Ich halte es für ein Missverständnis, dass SchriftstellerInnen mehr vom Leben und der Welt wissen als andere. Wir sind genauso ahnungslos wie der Rest. Wir denken bloß mehr nach, das ist unser Job, wir ringen härter um eine Haltung. Wir geben unser Bestes, aber klüger sind wir nicht.

Verraten Sie mir, was sie lesen und warum Sie es lesen?

Ich hatte jetzt endlich Zeit für“ 2666″ von Roberto Bolaño. Das gehört wohl zum Besten, was ich je gelesen habe. Wild, frei und überbordend. Auf ungemein kunstvolle Art scheint er außer Kontrolle zu sein. Eine Phantasie zum Niederknien. Das ist ein grenzenloser Roman, der in so einem deutschen Schriftstellerinnen-Hirn einiges umwälzt und freisetzt, besonders was das eigene Schreiben betrifft. 
Ansonsten lese ich immer wieder Richard Ford. Den Mann finde ich nun wirklich klug.
Vielen Dank!

Lucy Fricke, 1974 in Hamburg geboren, wurde für ihre Arbeiten mehrfach ausgezeichnet; zuletzt war sie Stipendiatin der Deutschen Akademie Rom und im Ledig House, New York. Nach «Durst ist schlimmer als Heimweh», «Ich habe Freunde mitgebracht «und «Takeshis Haut» ist dies ihr vierter Roman. Seit 2010 veranstaltet Lucy Fricke HAM.LIT, das erste Hamburger Festival für junge Literatur und Musik. Sie lebt in Berlin.

Titelfoto: Sandra Kottonau

Bianca Bellová „Am See“, Kein und Aber

Was sich auf dem Büchertisch in der Buchhandlung wie eine Geschichte um Leidenschaft, mit dem Titel «Am See» wie eine liebliche Geschichte gibt, ist alles andere. Nami wächst dort auf. Der Wasserspiegel ist viel tiefer wie einst, die ehemaligen Fischerdörfer hoch an den Hängen über dem stinkenden See. Die Sonne brennt, ausser der Polizei fahren keine Autos mehr auf den aufgerissenen Strassen. Die Vergangenheit ist verloren gegangen, die Welt heute nicht einmal mehr Erinnerung.

Der See liegt irgendwo dort, wo einst Russland lag. Eine stinkende, giftige Kloake, salzig und tot. Die Dörfer und Städte an diesem See sind entweder abgeschottet für die Reichen und Mächtigen oder dem Zerfall, der Anarchie, der Willkür überlassen. Regen ist mehr Erinnerung, die Haut juckt, wer Kinder auf die Welt setzt, nimmt Missbildungen wie Schicksal entgegen. Nicht nur das, was an Infrastruktur und Natur dem Zerfall preisgegeben ist, zerfällt, auch das was das Menschsein in vergessener Vergangenheit ausmacht; Freundschaft, Liebe, Verbundenheit.

Hier wächst Nami auf, in Boris, einem kaputten Dorf, ein Junge mit blauen Augen. Zuerst bei den Grosseltern, bis diese sterben und in einer düstern Zeremonie den Seegeistern übergeben werden. Der Kolchosevorsteher übernimmt das Haus der Grosseltern, sperrt Nami in einen Verschlag, aus dem ihm der Weg in die Schule unmöglich gemacht wird. Er bricht nachts aus, streift durchs Dorf, lernt Zaza, ein Mädchen aus der Nachbarschaft kennen. Aber als Zaza von Soldaten vor den Augen Namis vergewaltigt wird, flieht dieser, macht sich auf den Weg in die Stadt, auf der Suche nach seiner Mutter, die er nur aus seinen Träumen kennt.

Namis Odyssee durch die Reste einer sterbenden Zivilisation, seine Suche nach seiner Herkunft, nach Freundschaft, einem Zuhause, bringt ihn zusammen mit allerlei Gestalten. Mit Nikititsch, mit dem er Schwefel schürt, den er in einer Schreddermaschine sterben sieht. Mit Johnny, der ihn mitnimmt in seine Wohnung in einem Hochhaus, dem er dienen soll, der ihm ausgetragene Kleider gibt und ihn aus dem Kühlschrank Dinge essen lässt, von denen er nicht wusste, dass es sie noch gab, der Nami hält wie einen Hund, bis dieser zu beissen beginnt, Haken schlägt und den Gewehrkugeln entkommt. Mit der Alten Dame, die ihn aufnimmt, deren Garten er zurückgewinnt und die ihn belohnt mit einem Weg zu seiner Mutter.

«Der See» ist eine Dystopie. Ein Endzeitroman. Ein Bild dessen, was sein könnte, wenn das Schiff ungebremst über den Abgrund hinausfährt. Kein Science fiction mit Superhelden, dafür umso mehr Verlierern. Eine Geschichte, die eine apokalyptische Welt in aller Selbstverständlichkeit zur Kulisse nimmt, den Weg Namis auf der Suche nach seiner Mutter, den Willen, sein Leben selbst in die Hand zu nehmen, nicht zu akzeptieren, was unveränderlich scheint, so knochentrocken beschreibt, dass der Speichel im Mund während des Lesens wegbleibt.

Bianca Bellová gliedert ihren Roman in vier Teile: Ei – Larve – Puppe – Imago. Wer mit dieser Unterteilung, dem Werden Namis auf die Metamorphose zu einem Helden hofft, kommt nur strichweise auf seine Rechnung. «Am See» ist ein düsterer Entwicklungsroman. Die Geschichte eines Mannes, der nicht nur auf der Suchen nach einer Mutter ist, sondern auf der Suche nach seiner Bestimmung, jenem Ort, jenen Menschen, zu denen er wirklich gehört. Ein Buch mit ungeheuren Bildern, suggestiv erzählt, in seiner Düsternis von bezaubernder Schönheit.

Bianca Bellová wurde 1970 in Prag geboren und ist Schriftstellerin, Übersetzerin und Dolmetscherin. Sie ist die Autorin mehrerer in ihrem Heimatland gefeierter Romane und Novellen. Für ihren neusten Roman «Am See» wurde sie mit dem tschechischen Buchpreis «Magnesia Litera» sowie mit dem European Union Prize for Literature ausgezeichnet.

Titelfoto: Sandra Kottonau

«Wo die Musik spielt», ein Rückblick von Yaël Inokai

«Mein Roman wird aus drei verschiedenen Perspektiven erzählt. Stimmen. Jede hat ihren eigenen Klang, ihre eigene Melodie. Nora, Adam und Yann werden von der Gegenwart in die Vergangenheit geworfen, hin und zurück. Jeder Absatz hat sein eigenes Tempo. „Mahlstrom“ ist ein Geflecht; die größte Herausforderung war es stets, die Stimmen miteinander zu verweben, so, dass es stimmt. Ich saß oft abends alleine vor dem Text und habe ihn laut gelesen. Nur wenn er stimmte, jedes Wort und jedes Satzzeichen, klang er auch.
Ob das Schreiben von Texten dem Schreiben von Musikstücken gleicht, kann ich nur vermuten. Musik schreibe ich nicht. Ich glaube aber, dass beides Komponieren ist. Vielleicht ist Musik nicht unbedingt Wort. Aber Wörter sind ganz bestimmt Musik.

Am 9. Juni traf ich im Theater 111 ein, ein ehemaliges Kino, ein Kleinod mit roten Sesseln, in das man sich sofort verliebt. Man hat Erinnerungen an diesen Ort, obwohl man noch nie da war, denkt an die vielen Hände, die sich im Dunkel gegenseitig gesucht und gehalten haben müssen.
Christian Berger, Dominic Doppler und ich bespielten an diesem Abend den Saal. Wir machten Musik: Sie auf ihren Instrumenten, ich aus meinem Roman.

Wie fühlt es sich an, nicht in die Stille hinein zu lesen? Erst ist es erstaunlich. Und dann, ganz schnell, hat man sich an den Klang der anderen gewöhnt. Man geht in seinem Text spazieren. Manchmal spüre ich intuitiv, dass ich loslassen könnte, schweigen, nur für einen Moment – aber ich traue mich nicht. Warum? Ist man es sich gewohnt, an seinem Buch zu kleben, auch wenn man die Erzählstimmen eigentlich schon auswendig kann? Hat man Angst davor, ohne nichts auf dieser Bühne zu stehen? Einmal wage ich es, und schließe die Augen. Und als wäre ich ein Kind, verschwindet tatsächlich für einen Moment die ganze Welt.

Das Buch wurde nicht vorgestellt. Mit keinem Wort gesagt, um was es geht. Anfangs vergaß ich sogar, meinen Passagen ihren jeweiligen Erzähler voranzusetzen. Ich grübelte nicht einen Moment, ob man versteht, was ich hier lese. Ich konnte diesem Text blind vertrauen. Christian und Dominic boten Begleitschutz.

Ein Wehmutstropfen bleibt: Es ist vorbei. Aber vielleicht, so hoffe ich, kann ich dereinst wieder per Mittagsflug in Zürich eintreffen, mich mit dem Zug nach St. Gallen bringen lassen, den Bus besteigen, der mich hoch zu den Weihern fährt, wo ich mich rücklings und ohne nachzudenken ins Wasser fallen lasse. Von dort aus werde ich erst den Blick zum Bodensee bestaunen, dann die klassische Badiverpflegung begehen – Pommes Frites, Cola und Eis – und gut genährt da hin aufbrechen, wo die Zeit stehen bleibt, wo man sagen kann: Ich hab zwei Stunden hier gesessen oder ein ganzes Filmuniversum durchschritten, ich hab einen Abend hier verbracht oder ein komplettes Romanleben: ins Theater 111.» Yaël Inokai

Yaël Inokai, (vormals Pieren) geboren 1989, arbeitete als Fremdenführerin. Sie veröffentlichte in verschiedenen Literaturzeitschriften und war Hildesheimer Stadtschreiberin. Nach ihrem viel beachteten Debüt „Storchenbiss“ (2012) legte sie 2017 mit „Mahlstrom“ ihren zweiten Roman vor. Barbara, die sich mit zweiundzwanzig im Fluss ertränkt. Ihr Tod, der im ganzen Dorf die Telefone schellen lässt, bringt die anderen zum Reden. Mahlstrom erzählt die Geschichte sechs junger Menschen, die in einer dicht verwobenen Dorfgemeinschaft herangewachsen sind. Zugleich geschützt und bedroht von den engen Banden, sind sie im Erwachsenenleben angekommen und stecken doch noch knietief in ihrer Kindheit. Erst Barbaras Selbstmord bringt den Stein ins Rollen und zwingt die Übriggebliebenen, sich mehr als zehn Jahre nach dem Verbrechen dem Geschehenen zu stellen.

Infos zu den folgenden Lesungen im Theater 111

Karsten Redmann „Der Korpus“

Es war einer dieser Sonntage, ein verregneter zudem, an dem sie allein in ihrem geräumigen und mit schweren Teppichen ausgelegten Esszimmer sass, die Tageszeitung mit den Todesanzeigen vor sich auf dem Tisch ausgebreitet, als plötzlich das Telefon klingelte. Im ersten Moment zuckte sie zusammen, denn wenige Tage zuvor hatte ein Tross von Elektrikern eine neue Telefonanlage in ihrer Villa eingebaut; ein Gerät auf jeder Etage – so, wie sie es wollte. Und nein, ein Mobiltelefon kam nicht in Frage … Die Elektriker hatten sie belustigt angesehen, wissende Blicke ausgetauscht und sich an ihre Arbeit gemacht. Umständlich klappte sie die Zeitung zusammen, und stand, sich auf ihren schwarzen Gehstock stützend, langsam auf. Am Telefon verabredete sie eine Zeit: 15 Uhr. «Vorher», sagte sie der Frau am Telefon, müsse sie sich ein wenig hinlegen, sie brauche ihren Mittagsschlaf. «Und kommen Sie bitte pünktlich», ergänzte sie, «nicht, dass ich den ganzen Tag auf sie warten muss – ich bin zwar alt, aber nicht so alt, als dass ich Unmengen von Zeit zu vergeuden hätte.» Die Frau am Telefon zeigte Verständnis für das Gesagte, und versprach, auf alle Fälle pünktlich zu sein, schliesslich wolle sie ja unbedingt dieses Regal haben, es gefalle ihr ausserordentlich gut und sie wisse schon genau, wo es in ihrer Wohnung Platz fände. «Ach, wissen Sie», sagte die Alte, «das ist ja allein ihre Sache und geht mich überhaupt nichts an. Ausserdem ist es mir einerlei, ob Sie das Regal für sich nutzen oder weiterverkaufen. Ich selbst kann es nicht mehr brauchen … und noch eins: Hätten Sie vielleicht Interesse an alten Büchern? Mein verstorbener Mann hat früher sehr viel Zeit mit diesen alten Dingern verbracht, vielleicht sogar mehr als mit mir … In der Garage habe ich kistenweise Bücher stehen. Die können Sie gerne alle mitnehmen. Sofern Sie Interesse an Literatur haben?» «Aber ja doch», sagte die Frau, «grosses Interesse sogar. Ich studiere im fünften Semester Germanistik, Kunstgeschichte und …» «Ja, ja», kürzte die Alte ab, «Punkt drei also!», legte auf, schleppte sich die Treppe nach oben und schlief bis kurz vor zwei, denn vor dem verabredeten Termin wollte sie sich noch ein wenig frisch machen. Die verbleibende Zeit nutzte sie unter anderem, um den Namen eines alten Schulfreundes – Willi Sebald, ja, sie erinnerte sich noch gut an ihn, sass immer in der ersten Reihe rechts, ein Einser-Schüler, später dann Zahnarzt mit gut gehender Praxis – mit einem schwarzen Filzstift aus ihrem Adressbuch zu streichen. Bei ihrer morgendlichen Zeitungslektüre hatte sie die kostspielige Todesanzeige mit vorangestelltem Rilke-Gedicht entdeckt, oben rechts in der Ecke. Nicht zu übersehen. Fünf Minuten nach drei klingelte es an der Tür. Die alte Frau öffnete, grüsste, und wies die junge Frau umgehend an, ihr zu folgen. «Da vorne», sagte sie und zeigte im Hof auf zwei Tore einer Doppelgarage. Sie betätigte eine Fernbedienung und eines der Garagentore öffnete sich. Der jungen Frau war deutlich anzusehen, dass die Grösse der Garage sie schier sprachlos machte – aber auch die vielen teuren Gegenständen, die sich in ihr befanden: ein Aston Martin neben einem Bentley, eine kleine aufgebockte Yacht neben einer chromblitzenden Harley Davidson, viele alte Kunstgegenstände, unzählige Vitrinen voller Vasen und teurem Geschirr; vor allem aber erstaunte sie der Anblick eines ganz besonderen Gegenstandes, der, von einer durchsichtigen Plastikfolie bedeckt, längsseits an der weiss gestrichenen Wand stand. «Entschuldigung», sagte sie stockend, «aber ist das hier wirklich das, für das ich es halte?» Die Alte lächelte, hob ein Stück der Folie nach oben und sagte: «Ja, ja. Das ist meiner. Den habe ich mir vor zwei Jahren von einem Tischler anfertigen lassen. Ein schönes Stück! Finden sie nicht auch?» … Die junge Frau betrachtete peinlich berührt den hölzernen Korpus, der annähernd die gleiche Farbe hatte wie das noch zu erstehende Bücherregal, drückte der Alten das abgezählte Geldbündel in die Hand und schleppte das Regal in grosser Eile und ohne sich umzuschauen zu ihrem Wagen, einem alten Kastenwagen mit viel Stauraum. An die alten Bücher dachte sie da schon nicht mehr und auch später nicht. Das alte Regal fand in ihrem Keller Platz, denn in der Wohnung wollte sie es nicht mehr haben: zu sehr erinnerte es sie an die gebrechliche Frau in ihrem schwarzen Kostüm und an die strahlend weiss gestrichene Garage mit dem darin wartenden Sarg.

Karsten Redmann, geboren 1973 in Neunkirchen (Saar), lebt und arbeitet als freier Schriftsteller in St. Gallen (CH). Zahlreiche Veröffentlichungen in Literaturzeitschriften, Anthologien und Zeitungen. Stipendium Bremer Romanwerkstatt 2010. Stipendium Bremer Prosawerkstatt 2012. Text des Monats beim Schreibwettbewerb des Literaturhauses Zürich, Juli 2015. Shortlist zum erostepost-Literaturpreis 2016. Nominierung für den storyapp-Preis 2017.

Webseite des Autors

Johann Bargum „Nachsommer“, mare

Ein grosses Haus in den finnischen Schären. Eine Mutter liegt im Sterben und der eine ihrer beiden Söhne, Olof, ruft den andern, Carl, aus Amerika zurück ins Haus der Familie. Es könnte die letzte Gelegenheit sein, ihr zu begegnen. Eine letzte Gelegenheit, um Clara zu treffen, die für Olof mehr als bloss seine Schwägerin ist. Und eine letzte Gelegenheit, um endlich aus dem Schatten eines übermächtigen Bruders zu treten.

Olof sitzt auf der Veranda der Villa, die leer geworden ist und schreibt. Von Onkel Tom, der nicht wirklich sein Onkel ist, aber schon seit Jahrzehnten, seit dem Tod seines Vaters, mit seiner Mutter in den Schären lebt, abgeschieden, wie Geschwister. Von Carl, seinem wenig jüngeren Bruder, der in der Familie aber stets den Vorzug genoss, grösser und stärker, verwegener und bestimmter, ehrgeiziger und erfolgreicher. Von Clara, Carls Frau, mit der er nach Amerika zog und damit als Liebling der Familie in Ungnade fiel. Von den beiden Söhnen Claras, die nicht nur Unruhe in die Villa bringen, in der die alte Mutter im Sterben liegt. Und von ihm selbst, dem Verwundeten, dem Zurückgebliebenen, Zurückgelassenen.

“Weiss man eigentlich jemals, was vor sich geht?“

Olof geht durchs Haus wie durch sein Leben, das durch das Sterben, den Tod seiner Mutter leer geworden ist. Durch ein Haus, auf dem kein Stein auf dem anderen bleiben wird, wenn sein Bruder Carl die  Villa übernehmen wird. Olof nimmt die Dinge in die Hand, auch im übertragenen Sinn. Dinge, die einst in anderen Händen unentbehrlich waren und nun, in einem anderen Leben, unter anderen Umständen, dem Nachfolgenden mehr als entbehrlich werden; Überbleibsel, Müll, Ballast, der unweigerlich in einer Grube landet.

“Was habe ich eigentlich schon alles glücklich vergessen?“

Olof ist ein Verwundeter, eigentlich der grosse Bruder, aber durch körperliche und „intellektuelle“ Übermacht und Unberechenbarkeit seines Bruders weg- und abgedrängt, nie zu dem geworden, was möglich gewesen wäre. Allein Carls zurückgekehrte Stimme reicht, dass Bilder wieder auftauchen, Narben zu brennen und zu eitern beginnen.

“Manchmal frage ich mich, was der grössere Segen ist, sich zu erinnern oder zu vergessen.“

Und nun, mit dem Tod seiner Mutter und der Gewissheit, dass es nicht noch einmal eine Gelegenheit geben würde, Klarheit zu schaffen, stellt sich Olof seinem Bruder genauso wie der Geschichte mit Clara. Und Tom, der vom Haus- und Familienarzt zum „Onkel“ wurde, reisst mit auf und bringt festgefahrenes Gefüge ins Wanken.

“Selbst wenn man den Mond nicht vom Himmel holen kann, ist es schön, sein Glitzern auf den Wellen zu bewundern.“

Johan Bargum beschreibt in seinem schmalen Roman das, was überall passiert, wenn in einer Familie die Gravitation durch den Tod eines Fixsterns durcheinandergerät. Und ganz beiläufig stellt er die wichtigen Fragen, die das Leben nur dann beantworten kann, wenn man sich diesen Fragen stellt. Ein Roman mit grosser Kraft, geschrieben von einem Mann, der weiss.

Johan Bargum, geboren 1943 in Helsinki, gilt als einer der prominentesten finnlandschwedischen Autoren. Er veröffentlichte Romane, Erzählungen, Drehbücher, Hörspiele und zahlreiche Theaterstücke, welche weltweit aufgeführt werden. Sein schriftstellerisches Werk wurde bereits mehrfach ausgezeichnet. Johan Bargum lebt in Espoo. Der Übersetzer Karl-Ludwig Wetzig, Jahrgang 1956, war Lektor an der Universität Reykjavík und arbeitet heute als Autor und Übersetzer aus den nordischen Sprachen. Er hat u. a. Jón Kalman Stefánsson, Gunnar Gunnarsson und Hallgrimur Helgason ins Deutsche übertragen. Karl-Ludwig Wetzig lebt in Den Haag.

Titelfoto: Sandra Kottonau

Angelika Klüssendorf «Jahre später», Kiepenheuer & Witsch

April ist eine Frau, die sucht. Irgendwann findet sie Ludwig. Einen Mann, den sie anfangs aufgeblasen findet, der alles Unmögliche für sie erfindet, um Eindruck zu schinden, dessen Hartnäckigkeit ihr aber schmeichelt. Sie heiraten und bekommen ein Kind. Und April findet sich in einem Gefängnis wieder, aus dem sie sich nur unter Aufbietung aller Kräfte befreien kann, auch mit dem Risiko, fast alles zu verlieren.

Sowohl April wie Ludwig sind Menschen, die kaum Rücksicht nehmen. Alles, was sie beginnen, ist von Kompromisslosigkeit und Härte geprägt. Kein Wunder, wenn man die Geschichte von Aprils Kindheit kennt. Wenn man liest, mit welchen Dämonen die junge Frau zu kämpfen hat. Aber April spürt, dass sie eine andere ist, wenn sie liebt, wenn sie geliebt wird. Ludwig mit seinem Schalk, seinem Witz und seiner Unberechenbarkeit scheint genau der Richtige zu sein, um Aprils Leben zu entsprechen. Aber mit dem Kind, den Mutterpflichten wird alles anders.

«Er scheint sich selbst ganz und gar unvertraut. Auch sie ist sich unvertraut.»

Was wächst, ist nicht Vertrauen, sondern Misstrauen. Ludwig wittert überall einen Plan. April ist sich nicht sicher, mit wem sie sich verheiratet hat. Ist der ehrgeizige Chirurg, der sich abends in seinem Zimmer verkriecht und zum Ausgleich stundenlang zockt, der Mann, von dem sie glaubte, sie hätte ihn einmal geliebt? Ist ihr Mann der Mann, der sich auf Reisen gerne klotzig gibt und in der Marilyn-Monroe-Honeymoon-Suite bucht und bei seinen Eltern wieder zum kleinen Jungen wird?

Es dauert nicht lange, bis sich in Aprils Leben Geister einstellen, Filmfiguren, die sich einmischen; Riff Raff, Faye Dunaway und Rosemarie aus «Rosemaries Baby», die unaufhörlich Fragen stellen, die ihr Leben nicht beantwortet.
Mit dem Sohn, mit Samuel, entfernen sich die grossen Themen, über die sie so gerne schreiben will, immer mehr, werden unerreichbar. April dümpelt, während Aprils Geister sich in ihrem Leben einnisten.

«Ihr Herz klopft da, wo es nicht hingehört.»

Ludwig verstrickt sich in den Intrigen der Ärzteschaft, giert nach einem Chefarztposten, bekommt ihn, was die Familie zwingt, von Hamburg nach Berlin zu ziehen. Weg aus dem für April gewohnten Umfeld, weg aus ihrem Leben, weg aus dem Vertrauten, das in Wirklichkeit nie auf festem Untergrund gebaut war. April beginnt Tabletten zu schlucken, verschrieben von ihrem Therapeuten, begrüsst von ihrem Mann. Und als sie sich in einem afrikanischen Laden wiederfindet, wo man ihr während Stunden ein Haarteil auf dem Kopf näht, schiesst es ihr in den Kopf, begreift sie, «dass sie immer schon den Atem angehalten hat, ihr ganzes Leben lang.» April trennt sich von Ludwig, zumindest vordergründig, zieht zurück nach Berlin, nimmt weiter Tabletten.

«Ludwig kann Feuer entfachen, aber nicht am Brennen halten.»

Es beginnt der Kampf um Sam. Ludwig schickt ihn in ein Internat. April stürzt sich in die Arbeit als Redaktorin, während Ludwigs Leben aus den Fugen gerät. Ein Fall, der April mitzureissen droht.

Angelika Klüssendorfs Roman «Jahre später» ist eine ganz besondere Mischung. Da liest man vom Schrecken, der Achterbahn einer Beziehung, die zwischen akutem Schmerz und ungewollter Abhängigkeit pendelt und gleichsam vom Humor und Witz, der im fatalistischen Gefüge dieser Beziehung aufblitzt. Aus diesem Roman steigt derart viel Kraft und Poesie, dass man den Schluss des Buches möglichst lange herauszögern möchte. Ein Buch, aus dem einem Sätze förmlich anspringen. Sätze, die wie Blitze aufleuchten, hinter denen sich Welten aufschliessen. Sätze, die ganze Geschichten erzählen, Bilder die sich so tief einprägen, als hätten sie sich in die Netzhaut des Erinnern gebrannt.

«Glück ist die Abwesenheit von Angst.»

Angelika Klüssendorf ist auf Lesereise. Unbedingt hingehen, zuhören, staunen, lachen und geniessen!

Angelika Klüssendorf, geboren 1958 in Ahrensburg, lebte von 1961 bis zu ihrer Übersiedlung 1985 in Leipzig; heute lebt sie in der Nähe von Berlin. Sie veröffentlichte unter anderem die Erzählungen «Sehnsüchte» und «Anfall von Glück», den Roman «Alle leben so», die Erzählungsbände «Aus allen Himmeln» und «Amateure». Mit den beiden Romanen «Das Mädchen» und «April» schliesst «Jahre später eine Trilogie ab. Alle drei Romane sind unbedingt lesenswert!

Titelfoto: Sandra Kottonau

Yaël Inokai liest, Christian Berger und Dominic Doppler im musikalischen Austausch

Am Samstag, den 9. Juni 2018 liest die aus Berlin angereisende Schriftstellerin Yaël Inokai (Schweizer Literaturpreis) zusammen mit dem Musikerduo STORIES aus ihrem preisgekrönten Roman „Mahlstrom“. Die Lesung im Theater 111 in St. Gallen beginnt um 20 Uhr. Türöffnung ist um 19 Uhr.

Die Lesung mit Yaël Inokai ist die erste einer ganz speziellen Reihe, die Literatur mit improvisierte Musik verbinden will. Auch in den folgenden Lesungen agiert STORIES mit Aria Lobsiger (Jakob bleibt), Dana Grigorcea (Die Dame mit dem maghrebinischen Hündchen), Julia Weber (Immer ist alles schön) und Noëmi Lerch (Grit) über Herbst und Winter fortgesetzt (weitere Informationen hier).

Christian Berger (Saiteninstrumente) und Dominic Doppler (Percussion) sind zwei Klangforscher, die nicht bloss den literarischen Text musikalisch illustrieren. Musikimprovisation soll in einen Dialog mit dem gelesenen, vorgetragenen Text treten. Die Musik reagiert auf den Text, entgegnet ihm, Zwiespache haltend. Im Idealfall sogar soll die Musik auf das Auftreten der Autorin reagieren. Christian Berger und Dominic Doppler beschäftigen sich dabei im Vorfeld intensiv mit den gemeinsam vereinbarten Textstellen aus den jeweiligen literarischen Texten. Trotzdem bleibt viel Freiheit, viel Risiko, viel Abenteuer, sowohl für die Akteure im kleinen Theater 111, wie die Zuschauerinnen und Zuschauer, die sich dem Wagnis aussetzen werden. (Wie klingt die Musik? Hören Sie hier.)

Yaël Inokai, (vormals Pieren) geboren 1989, arbeitete als Fremdenführerin. Sie veröffentlichte in verschiedenen Literaturzeitschriften und war Hildesheimer Stadtschreiberin. Nach ihrem viel beachteten Debüt „Storchenbiss“ (2012) legte sie 2017 mit „Mahlstrom“ ihren zweiten Roman vor. Barbara, die sich mit zweiundzwanzig im Fluss ertränkt. Ihr Tod, der im ganzen Dorf die Telefone schellen lässt, bringt die anderen zum Reden. Mahlstrom erzählt die Geschichte sechs junger Menschen, die in einer dicht verwobenen Dorfgemeinschaft herangewachsen sind. Zugleich geschützt und bedroht von den engen Banden, sind sie im Erwachsenenleben angekommen und stecken doch noch knietief in ihrer Kindheit. Erst Barbaras Selbstmord bringt den Stein ins Rollen und zwingt die Übriggebliebenen, sich mehr als zehn Jahre nach dem Verbrechen dem Geschehenen zu stellen.

Beginn der Lesereihe (Lesereise) im Theater 111, St. Gallen

Am Samstag, den 9. Juni ist es soweit. Yaël Inokai liest im Theater 111 in St. Gallen aus ihrem preisgekrönten Roman «Mahlstrom». Eine Lesung, in der sich Literatur und Musik begegnen. Christian Berger (Saiteninstrumente) und Dominic Doppler (Percussion) garantieren zusammen mit der Autorin für ein besonderes Hörvergnügen!

aus der aktuellen Nummer des Ostschweizer Kulturmagazins «Saiten»

Friedrich Christian Delius «Die Zukunft der Schönheit», Rowohlt

Der Georg-Büchner-Preisträger Friedrich Christian Delius war mit 23 für ein paar Wochen als ganz junger Autor nach New York eingeladen. Mit Freunden besuchte er dort einen Jazzclub in der verrufenen Lower East Side, ein Konzert des Saxophonisten Albert Ayler und seiner Band. Ein Gig, der Jahrzehnte nachhallt.

Friedrich Christian Delius erinnert sich 75 geworden an den einen Abend am 1. Mai 1966 in Slugs› Saloon in New York. Es war ein Ausflug mit Freunden in der Fremde, zum ersten Mal im «Land der Sieger», auf einer eben erst begonnenen, langen Reise als Schriftsteller

Es gibt sie, jene Momente, jene Schalt-, Wende-, Angel- und Kulminationspunkte im Leben. Ob dieser 1. Mai 1966 einer in Friedrich Christian Delius Leben war, ist vielleicht zum Teil Fiktion – aber in Buchform perfekt konstruiert und komponiert. Ganz anders wie der Freejazz damals in New Yorks Downtown, der alles andere sein wollte, als in Konstruktion und Komposition eingezwängt.

«Die Zukunft der Schönheit» ist das Porträt eines Mannes am Scheidepunkt, ein Abend in Echtzeit. Der Sound ist ohrenbetäubend, pulverisiert mit Synkopen und schrillen Tönen alles, brennt wie ein Feuersturm alles nieder. Eingemauertes im Nachkriegskopf des jungen Schriftstellers beginnt einzustürzen.

Schreiben war und ist Delius Stimme, sein Instrument, sein Sound. Nach dem Tod seines Vaters auf dessen Schreibmaschine getaktet. Er, der damals verschreckte Musiklaie, das Dorfkind, der Provinzler, der Predigersohn, Spätzünder sass mit einem Mal dort, wo sich die amerikanische Seele mit aller Radikalität und Intensität von den Verkrustungen und Verunsicherungen befreien wollte. Sei es der nie zu gewinnende Vietnamkrieg, das Attentat auf Kennedy. Alle Grenzen und Mauern sollten mit den Hörnern von Jericho niedergerissen werden, auch die Grenzen und Barrieren zwischen Schwarz und Weiss, dem zementierten Establishment und unüberwindbarer Armut.

Die Musik an jenem Abend provozierte und riss auf. Genau das, was Friedrich Christian Delius in den Jahren nach Kriegsende in seiner kleinbürgerlichen Heimat mit seinem Schreiben einreissen wollte. Im Kampf gegen den freundlichen Drogisten im Ort, der Jahre zuvor Stellvertreter Adolf Eichmanns war, der als Musterbürokrat den Tod Hunderttausender organisierte.

«Die vulkanische Gewalt der Musik» soll aufbrechen, erst recht die eben erst erkalteten Krusten in einem Deutschland, in dem sich Altnazis hinter Biederkeit verschanzten.
Delius schreibt, wie jedes Freejazz-Musikstück Fenster und Türen aufreisst, auch jene zu seinem Vater, den ihm der Tod unversöht durch Krankheit entreisst. Kurze Kapitel, nie mit einem Punkt endend, jedes am Schluss mit einem Gedankenstrich ins Leere. Als würde Delius immer wieder den Weg zurück in den Sound der Musik suchen, um sich gedanklich erneut wegtragen zu lassen.
Musik als Flammenmeer, in das alles versinken soll, was sich als Nazibodensatz in seiner Jugendstadt unter die Normalität abgesetzt hatte.

Ein musikalischer Einstieg in den vielfältigen Kosmos eines grossen Deutschen!

Friedrich Christian Delius, geboren 1943 in Rom, in Hessen aufgewachsen, lebt seit 1963 in Berlin. Seine Werkausgabe im Rowohlt Taschenbuch Verlag umfasst derzeit achtzehn Bände. Friedrich Christian Delius wurde unter anderem mit dem Fontane- Preis, dem Joseph-Breitbach Preis und 2011 mit dem Georg-Büchner-Preis geehrt.

Titelfoto: Sandra Kottonau

Gaël Faye „Kleines Land“, Piper

Wir, eine Gruppe Lese- und Literaturinteressierter, treffen sich monatlich und diskutieren über ein Buch, eine Schriftstellerin, ein ganzes Werk, die Gegenwartsliteratur eines Landes, eine Literaturverfilmung… So wie es viele tun im Wissen darum, dass man einem Buch eigentlich nicht gerecht wird, wenn man es nach der Lektüre bloss in ein Regal schiebt. Dass ich dabei auch Bücher lese, die sonst an mir vorbeigehen würden, versteht sich von selbst.

So wie der Autor selbst kehrt Gabriel nach vielen Jahren im unfreiwilligen Exil in Frankreich zurück in das Land seiner Kindheit. Ein Entschluss, der nicht zu reifen brauchte, sondern einer, der Mut brauchte, um in ein Land zurückzukehren, dass ihm mit Macheten und Gewehren, die Mutter, die Familie, die Heimat nahm. Zurück in ein Land, das nicht mehr das sein würde, was es einst war.

Gabriels Kindheit in Burundi war die eines privilegierten Jungen. Zusammen mit seiner Schwester, einem erfolgreichen Vater und einer schönen Mutter wächst der junge Gabriel unter einer paradiesischen Glaskuppel auf, weit weg von Armut und dem schwelenden Konflikt zwischen Tutsis und Hutus.

1994 kostete der Stammeskrieg, der zu einem Völkermord ausartete eine Million Todesopfer. In hundert Tagen massakrierten Angehörige der Hutu-Mehrheit ca. 75% der Tutsi Minderheit und moderate Hutus, die sich dem Morden entgegenstellten. Ein Konflikt, der nicht erst in jenem Jahr entgleiste, sondern in den Ländern dieser beiden Volksgruppen immer wieder zu grossen Auseinandersetzungen führten.

Gabriel spürt diesen Konflikt. Aber Vater und Mutter versuchen den Jungen aus der Politik und den gegenwärtigen Konflikten und Problemen herauszuhalten. Gabriel zieht nach der Schule mit seiner Clique durchs Quartier. Sie klauen Mangos von den Bäumen der Nachbarn, baden im Fluss und treffen sich in einem ausgeweideten Autobus. Aber nicht nur die politische Situation im Land spitzt sich zu. «Nachts liess Mamas Zorn die Wände unseres Hauses wackeln.» Gabriel muss zusehen, wie die Ehe der Eltern immer mehr zu Maskerade wird, bis sie auseinanderbricht und Gabriels Mutter das Haus verlässt. Das Paradies beginnt zu bröckeln. Aber auch im Land rumort es. Obwohl die ersten freien Präsidentschaftswahlen Grund zur Hoffnung wären, stirbt diese, durch Morde und Attentate. Das empfindliche Ungleichgewicht im Land beginnt zu kippen. Gabriel und seine Freunde hören in der Ferne Schüsse. Das Personal in Gabriels Elternhaus erscheint nicht zur Arbeit und die Schule bleibt geschlossen. Angst schleicht sich ein. Ein Gefühl, das Gabriel so nicht kannte. «Da kann ich in meinem Gedächtnis wühlen, wie ich will, ich komme nicht mehr auf den Moment, ab dem es uns nicht mehr reichte, das bisschen zu teilen, was wir besassen, und wir keinem mehr trauten, jeden als Gefahr ansahen, eine unsichtbare Grenze zogen gegen die Aussenwelt, unser Viertel zur Festung erklärten und unsere Sackgasse zum Sperrgebiet.»

So beschaulich sich der erste Teil des Romans liest, so schrecklich, beissend und unwirklich wird das Geschehen im zweiten Teil von «Kleines Land». Gabriels Welt bricht auseinander. Aus lauter Angst kehrt die Mutter zurück ins Haus. Doch der Krieg im Land frisst sich in die Herzen aller. Die Reise zur Hochzeit von Verwandten wird zum Spiessrutenlauf und ein verzweifelter Anruf zum letzten Lebenszeichen. Gabriels Vater schafft zusammen mit seinen beiden Kindern die Flucht ins ehemalige Mutterland Frankreich. Die Mutter bleibt zurück. Mit ihr die für immer verlorene Sehnsucht nach Geborgenheit, Liebe und Sicherheit.

Ich gebe zu, das Buch hat seine Schwächen. Vieles von dem, was der Autor «verspricht», von dem er zu erzählen beginnt, lässt er fallen. So poetisch die Sprache in manchen Passagen ist, so hölzern an anderen. Und doch schafft es Gaël Faye mit seinem Buch, dass eine Tür aufgerissen wird. «Vielleicht ist das Krieg: wenn man nichts versteht.» Gaël Fayes Roman zwingt einem, nachzudenken. «Kleines Land» ist ein Buch über unheilbaren Verlust. Über den Irrtum, dass man sich durch Flucht zu retten vermag.

Gaël Faye, 1982 in Burundi geboren, wuchs als Kind einer ruandischen Mutter und eines französischen Vaters auf, bevor er 1995 als Folge des Bürgerkriegs nach Frankreich flüchten musste. Nach dem Ende seines Wirtschaftsstudiums arbeitete er zwei Jahre als Investmentbanker in London, bevor er nach Frankreich zurückkehrte, um dort als Autor, Musiker und Sänger zu arbeiten. Sein erster Roman »Kleines Land« war nominiert für den Prix Goncourt und erhielt unter anderem den Prix Goncourt des Lycéens.
Übersetzer: Andrea Alvermann und Brigitte Grosse

Ein Buch zur Vertiefung: «Hundert Tage» (2008, Wallstein Verlag) von Lukas Bärfuss!
Ein sehenswerter Film: «Hotel Ruanda» von Terry George, 2004

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