Tanja Maljartschuk «Überflutet», Edition Thanhäuser

Sie lieben Bücher!? Sie lieben eine gut erzählte Geschichte, die beim Lesen Welten preisgibt!? Sie lieben das schöne Buch, Bücher, bei denen man immer wieder mit der flachen Hand über den Deckel streicht!? Sie lieben Bücher, die in der Hand, beim Lesen zum Gesamtkunstwerk werden!? Dann lieben sie «Überflutet» der Ukrainerin Tanja Maljartschuk, erschienen in der Edition Thanhäuser!

Tanja Maljartschuk erinnert sich an einen ganz besonderen Sommer in ihrem Dorf. Es regnete fast ununterbrochen, der Fluss trat über die Ufer, die Brunnen quollen über und das trübe Wasser bedeckte Felder und Strassen. Sie erinnert sich an einen Sommer, den sie nachts im Bett an der Seite ihrer Grossmutter teilt. Den Sommer ihrer ersten grossen Liebe, dem ersten Kuss, dem Sehnen nach der Leidenschaft, der grossen, wahren Liebe, dem grossen Fisch, den sie an Land ziehen würde, sich nach Zärtlichkeiten und Berührungen sehnend, dem Rausch der Gefühle.
So sehr die Grossmutter sie während des Tages in Aufgaben einspannt, so entschlossen hält sie Ausschau nach ihrem Prinzen, den sie findet, aber gar nicht will, wie ein Fisch an der Angel.

Die Landschaft, die Felder, die Keller und Häuser ertrinken im trüben Wasser des Flusses. Das Mädchen ist überflutet von Gefühlen, der Heftigkeit der Erkenntnis, dass sich nichts nach ihren Vorstellungen richtet. So sehr das Wasser das Dasein der Grossmutter, der Familie bedroht, so sehr kann das Mädchen alles ausserhalb ihrer Gedankenwelt ausblenden. Die Grossmutter suhlt sich in ihrer Angst vor dem Verhungern, in Schreckensszenarien, das Mädchen in der Angst, vom Verliebtsein allein nicht satt zu werden.

Grossmutters einstige Liebe, der Soldat, dem im Krieg ein Bein abgerissen wurde, liess sie damals alleine zurück, in einer Zeit, die für Träumereien und Schwärmereien keinen Platz hatte. Im Haus der Grossmutter steht ein Foto, das die Grossmutter jung und hübsch zeigt. Das Mädchen fragt die Grossmutter nach ihrer Liebe, dem Mann, ihrer Hochzeit. Und es prallen Welten aufeinander, obwohl das Wasser auch die Gegenwart bedroht.

Tanja Maljartschuks Erzählung lebt von Gegensätzen, vom grenzenlosen Optimismus der Enkelin und dem ebenso grenzenlosen, vorgeschobenen Pessimismus der Grossmutter. «Überflutet» ist ein schmaler Erzählband, zweisprachig deutsch und ukrainisch, über die Sehnsucht, den Verlust und die Ernüchterungen der Liebe.

So schmal das Büchlein, so gross das Vergnügen, so deutlich die Kunst, mit der sich eine junge, aber gereifte Autorin der Sprache bedient und der Verleger und Gestalter Christian Thanhäuser die Erzählung mit seinen Tintenbleizeichnungen bebildert.
Überflutet» ist weit mehr als eine gedruckte, zwischen zwei Buchdeckel gebannte Erzählung. Christian Thanhäuser, Verleger, Buchgestalter und Künstler schuf zusammen mit der Schriftstellerin und dem Übersetzer Harald Fleischmann ein Kunstwerk, das mich sprachlich, literarisch, gestalterisch und haptisch überzeugt und berührt. Ein Kleinod, dem ich in meiner Bibliothek einen besonderen Platz gebe!

Tanja Maljartschuk, geboren 1983 in Iwano-Frankiwsk/Ukraine, arbeitete einige Jahre als Fernsehjournalistin in Kiew. Seit 2011 lebt sie in Wien. 2015 war sie Ranitz-Stipendiatin in Ottensheim. Letzte Veröffentlichungen: 2009 erschien ihr erster Erzählband „Neunprozentiger Haushaltsessig“, 2013 der Roman „Biografie eines zufälligen Wunders“ (beide Residenz Verlag) und 2015 der Erzählband „Von Hasen und anderen Europäern“ (Edition Fototapeta).

Überflutet» ist eine zweisprachige Erstausgabe, aus dem Ukrainischen von Harald Fleischmann

 

Titelbild: Tintenbleizeichnung von Christian Thanhäuser

Daniel Magariel «Einer von uns», C. H. Beck

Familie kann zur Hölle werden. Aber Familie ist Familie. Vater bleibt Vater. Bruder bleibt Bruder. Und wenn der Hass auf die Mutter und Ex-Frau, die Angst vor der Polizei den Ort der vermeintlichen Sicherheit zum Gefängnis macht, werden aus Banden Fesseln, aus Verzweiflung Resignation. Trotzdem strotzt der Roman «Einer von uns» von Kraft – nicht zuletzt von der Kraft der Sprache.

«Einer von uns» ist keine leicht verdauliche Kost. Es schnürt einem während des Lesens die Kehle zu. Nicht nur wegen der über zwei Brüder hereinbrechenden Gewalt eines drogensüchtigen, vollkommen unberechenbaren Vaters, sondern weil eine ungebrochene fatale Sehnsucht nach Sicherheit, Geborgenheit und Liebe die beiden Brüder aushalten lässt, was für mich als lesenden Zeugen beinahe unerträglich ist. Genau das ist die literarische Qualität dieses Romans. Nicht der Voyeurismus, nicht der Rapport eines Martyriums, sondern die feine, exakte Beschreibung jener hellen und finsteren Zwischenräume inmitten absoluter Verzweiflung, familiärer Apokalypse und kindlicher Freude, wenn zwischen all den Ausbrüchen Momente der Entspannung, naiver Hoffnung aufblitzen.

Der eine Bruder, aus dessen Sicht die Geschichte erzählt wird, ist zwölf. Sein älterer Bruder ein paar wenige Jahre älter. Gerade so alt, dass er mit dem Geld, das er im Supermarkt verdient, die Familie über Wasser halten kann. Eine Familie, die vom Hass auf Mutter und Ex zusammengehalten wird. Von einem Hass, der immer wieder vom Vater geschürt wird. Ein Hass, der die Brüder bei der Kampfscheidung die Mutter mit Falschaussagen um das Sorgerecht brachte. Ein Hass, der alles zerstören sollte, was die beiden Brüder zurück zur Mutter bringen könnte. Hass geschürt von einem Vater, der mit seinen Jungs alles hinter sich zurücklässt, von zuhause aus zu arbeiten versucht und nicht davon zurückschreckt, seine Söhne für alles Mögliche und Unmögliche zu instrumentalisieren.

Obwohl der Vater zwischendurch alles tut, um Zweckoptimismus zu erzeugen und sich Momente scheinbarer Idylle wie Hoffnungsschimmer abzeichnen, werden die Ausbrüche und Übergriffe des Vaters immer unberechenbarer, immer einschneidender, immer zwiespältiger. Daniel Magariel zeigt, dass Familienbanden fatalistisch zusammenschweissen können, dass die Angst vor dem Verrat, die Ungewissheit einer leeren Zukunft bewegungsunfähig macht. Die Brüder sind mehr als nur Leidensgenossen. Sie sind allein, von der Welt abgeschlossen, angekettet von einem Vater, der seine Söhne zu Komplizen macht, sie bei der Scheidung zu Falschaussagen zwang, die ihm das Sorgerecht brachten, den Söhnen aber immer wieder aufbrechendes Schuldgefühl und die Unmöglichkeit einer Rückkehr.

© Foto: Lucas Flores Piran

Daniel Magariel stammt aus Kansas City. Er hat einen B.A. von der Columbia University und einen M.F.A. von der Syracuse University, wo er Cornelia Carhart Fellow war. Er hat in Kansas, Missouri, New Mexico, Florida, Colorado, und Hawaii gelebt. Derzeit lebt er zusammen mit seiner Frau in New York. «Einer von uns» ist sein erster Roman.

Der Übersetzter Sky Nonhoff ist Kulturjournalist, Autor («Die dunklen Säle», «Don’t Believe the Hype») und Kolumnist beim MDR. Er hat u. a. Romane und Erzählungen von Jonathan Coe, Gay Talese und Dennis Lehane ins Deutsche übertragen. Für C.H.Beck übersetzte er u. a. Caitlin Doughtys «Fragen Sie Ihren Bestatter» (2016) und Souad Mekhennets «Nur wenn du allein kommst».

Titelfoto: Sandra Kottonau

Gianna Molinari «Hier ist noch alles möglich», Aufbau

Eine Fabrik, deren Maschinen immer mehr stillstehen. Eine junge Frau, die sich als Nachtwächterin einstellen lässt. Ein Chef, der den Wolf auf dem Firmengelände vermutet. Ein Kantinenkoch mit einem Gewehr auf dem Rücken und Fallgruben auf dem Fabriksgelände, mit denen man hofft, den Wolf zu fangen.

«Hier ist noch alles möglich» – nicht nur Titel von Gianna Molinaris Debütroman, sondern Programm eines ganzen Buches. Die junge Frau, die sich als Nachtwächterin in einer Fabrik in der Verpackungsindustrie einstellen lässt, arbeitete zuvor in einer Bibliothek. Von dort ging sie weg, weil Arbeit nicht aus Sortieren von Büchern bestehen konnte. Aber auch die Nachtwache in der Frühschicht, zusammen mit Clemens, ist bloss Übergang, zeitlich befristet. Alles ist möglich. Die junge Frau erreicht, dass sie ihr Wohnquartier direkt über dem Überwachungsraum mit den Bildschirmen einrichten kann; ein Bett, ein Stuhl. Alles ist möglich. Man glaubt, dass sich ein Wolf an die Essensreste aus der fabrikeigenen Kantine hermacht, dass das wilde Tier damit zu nahe an den Innenbereich des Fabrikgeländes kommt und damit die Sicherheit gefährdet. Alles wartet auf Zeichen des Wolfes, auf die Sichtung des Tieres, lenkt ab von der Tatsache, dass hier eine Fabrik seine Maschinen gänzlich stilllegen wird und Menschen nach und nach ihre Arbeit verlieren. Man hofft auf den Wolf. Man hofft auf eine gute Wende in den Verhandlungen des umtriebigen Chefs. Alles ist möglich. In der Nähe des Fabrikgeländes ist ein Flughafen. Kein grosser, aber ein Tor zur Welt. Und nicht weit vom Fabriksgelände fiel ein Mann vom Himmel, wurde Tage später gefunden, ein Schwarzer, ein Flüchtling, wahrscheinlich aus dem Fahrwerkschacht eines Flugzeugs gefallen. Alles ist möglich. Ein Mann ohne Identität, erfroren oder an Sauerstoffmangel gestorben. Alles ist möglich.

«Ich zweifle daran, dass die Sicherheit, in der ich lebe, der Realität entspricht. Ich sehne mich nach Unsicherheit, nach mehr Echtheit vielleicht, nach Wirklichkeit. Ich möchte unterscheiden können, was wichtig ist und was nicht. Ich möchte Teil einer Geschichte sein oder vieler Geschichten zugleich.»

Gianna Molinaris eigenwilliger Roman liest sich wie ein Kammerstück, spärlich möbliert, mit wenig Personal. Wenig ist eindeutig, vieles ist mehrdeutig. Die L-förmige Fabrik Metapher für eine Welt im Umbruch. Die Angst vor dem Wolf als Angst vor der Ungewissheit, der Unberechenbarkeit, dem Wilden, den Träumen. Clemens und die junge Frau, die beiden Nachtwächter sitzen in ihrem Überwachungsraum mit all den Bildschirmen wie in einem Cockpit eines Raumschiffs. Man sucht nach dem Feind, dem Fremden, während nicht weit von der Fabrik ein junger Mann vom Himmel fällt, beobachtet von einem Jäger, der seiner Beobachtung aber erst dann traut, nachdem die Zeitung von dem Vorfall berichtet.
Und dann spitzt sich auch noch die Situation in der Fabrik zu, nachdem die junge Nachtwächterin von der übrig gebliebenen Belegschaft mehr als eigenartig gemustert wird, nachdem im Ort, nicht weit von der Fabrik, nach einem Banküberfall, Phantombilder der Polizei auftauchen, die dem Gesicht der jungen Frau ähneln. Alles ist möglich.

Ein Buch, das von skurrilen Ideen und Einfällen lebt. Ein Buch, das inhaltlich und stilistisch aus der Reihe tanzt. Ein Buch mit Wortschöpfungen und Szenen, die ans Theater mehr erinnern als an die Wirklichkeit. Eine irgendwie entmenschte Welt, eine posthumane Welt, nicht dystopisch, aber so als hätte sich die Masse der Menschen bereits «verabschiedet». Ein Buch, das auf erfrischende Art und Weise ratlos macht. Ein Abenteuer!

Ein kleines Interview mit Gianna Molinari:

Die junge Nachtwächterin führt ein Universal-General-Lexikon, in dem sie fortlaufend neue Einträge hineinschreibt oder solche ergänzt. Ein Lexikon, das ihre Welt erklären soll. Ein Tagebuch wäre naheliegend, ein Universal-General-Lexikon so seltsam wie vieles in ihrem Roman. Wie kamen sie auf die Idee?

Ein Lexikon ist ein Instrument, um die Welt in wenigen Worten zu fassen, mittels Sprache die Welt zu definieren. Auch die Ich-Erzählerin versucht ihre Umgebung zu fassen, zu erfassen, zu ordnen. Diesem Ordnungswunsch kann sie im Ergänzen und Weiterführen des Lexikons nachgehen. Auch ist das Lexikon, im Gegensatz zum Tagebuch, das linear verläuft, vielmehr in einer Netzstruktur gebaut. Innerhalb dieses Netzes sind Bezüge und Verweise möglich. Dies entspricht sehr der Welt in diesem Roman. Auch ist der Kontrast der Lexikonsprache zur literarischen Sprache interessant. Die Sprache des Lexikons, die Fakten zusammenführt und keine Vermutungen anstellt im Gegensatz zur literarischen Sprache, die Fragen stellen kann, die Vermutungen äussert, Möglichkeiten aufzeigt, die vor allem auch die Fiktion bedienen kann. Das ist dem Lexikon, so wie wir es kennen, fremd.

Während sich ihre Protagonistin nach Unsicherheit sehnt, wird sie zur Sicherheit in und um die Fabrik eingestellt. Nichts will der Mensch heute mehr als Sicherheit. Vor nichts fürchtet er sich mehr als vor der Unsicherheit. Dem bösen Wolf der Gegenwart. Wo stehen sie?

Mir stellt sich die Frage, wer über das Gefühl von Unsicherheit und Sicherheit entscheidet. Das Gefühl der Unsicherheit wird oft von aussen hergestellt und verinnerlicht sich zu einem Gefühl der Angst. Die Frage stellt sich: Ist der Wolf tatsächlich die Unsicherheit, oder ist er nicht vielmehr derjenige, der uns über unser Gefühl der Unsicherheit nachdenken und uns unser Sicherheitsbedürfnis hinterfragen lässt? Der Wolf an sich ist ja nicht gefährlich. Er wird zu einer Bedrohung gemacht. Der Wunsch nach Sicherheit führt dazu, dass wir Grenzen aufbauen, (Fabrik)Zäune ziehen. Sperren wir damit die Bedrohung aus, oder sperren wir uns selber ein?

Lose, ein Mann, der einst in der Fabrik arbeitete und als Jäger den Mann vom Himmel fallen sah, sammelt in einer Mappe alles über diesen jungen Mann (eine tatsächliche Geschichte, die im Mai 2010 durch die Presse ging). Ein Jäger, der zum Sammler wird! Im Nachwort zum Roman erzählen sie von der Inspiration dieser Geschichte, die vom Schriftsteller Christoph Keller zu einer Radiogeschichte wurde. Da ist eine junge Frau, eine Fabrik, ein Wolf und ein Mann, der vom Himmel fiel. Eine besondere Konstellation für einen Roman. Fügten sich diese Bausteine leicht zusammen?

Die Bausteine zusammenzubringen war zu Beginn nicht einfach. Der Text ist lange gewuchert und dann durch viele Streichungs- und Komprimierungsphasen gegangen. Der Prozess des Verdichtens führt den Text und somit auch die Bauteile zusammen. Die Konstellation mag besonders scheinen, die einzelnen Teile haben für mich aber sehr viel miteinander zu tun. Hier greift wiederum der Netzgedanke. Die Literatur vermag gegensätzlichste Dinge in einen Bezug zueinander zu stellen, vermag sie in einem einzigen Satz nebeneinander zu bringen. Das ist das Schöne an der Literatur, dass sie das kann.

So wie der Wolf eine ganze Fabrik und ihre Belegschaft vom eigentlichen ablenkt, braucht die Gesellschaft Dinge, Geschichten, um vom wirklich Wichtigen abzulenken. Lenken sie ab oder zeigen sie auf?

Ablenken und Aufzeigen sind in diesem Roman keine Gegensatzpaare. Sie gehen Hand in Hand. Einerseits sucht die Ich-Erzählerin in den Geschichten Zuflucht, sie geht ihnen nach und möchte Teil von ihnen sein. Andererseits haben Geschichten auch die Fähigkeit, Dinge sichtbar zu machen, die davor unsichtbar waren, Zusammenhänge herzustellen, aufzuzeigen. So ist es auch beim Wolf: Ich denke nicht, dass der Wolf eine Ablenkung ist. Vielmehr ist er ein Element, das, obwohl er selber fast unsichtbar bleibt, Dinge sichtbar macht und aufzeigt. 

Das Buch ist illustriert. Zeichnungen aus dem Universal-General-Lexikon der jungen Nachtwächterin. Zudem sind in den Roman zwei Fotofolgen eingefügt, ganzseitige Fotos, die nicht erklären, aber wie Kulissen das Leseerlebnis verstärken. War das schwierig, den Verlag für ein solches Experiment zu gewinnen?

Die Skizzen und Fotografien waren von Beginn weg wichtige Bestandteile des Romans. Wie der Text sind auch die Bilder durch einen Lektoratsprozess gelaufen. Im Gespräch mit meiner Lektorin Sarah Iwanowski stellten sich Fragen wie: Wo braucht es Kürzungen, was erzählen die Bilder, wo erzählen sie zu viel oder zu wenig? Der Verlag stand immer hinter dem Verwenden des Bildmaterials.

Ich danke Gianna Molinari für das spannende Interview.

Gianna Molinari wurde 1988 in Basel geboren und lebt in Zürich. Sie studierte von 2009 bis 2012 Literarisches Schreiben am Schweizerischen Literaturinstitut Biel und danach Neuere Deutsche Literatur an der Universität Lausanne. Sie war Stipendiatin der Autorenwerkstatt Prosa 2012 am Literarischen Colloquium Berlin und erhielt im selben Jahr den Preis sowie den Publikumspreis des 17. MDR-Literaturwettbewerbs. Bei den „Tagen der deutschen Literatur“ 2017 in Klagenfurt wurde sie für einen Auszug aus ihrem Debüt „Hier ist noch alles möglich“ mit dem 3sat-Preis ausgezeichnet.

Buchpremiere: Gianna Molinari liest erstmals in Zürich aus ihrem Debütroman «Hier ist noch alles möglich» am 28.08.2018, Beginn: 19.00, Sphères, Hardturmstrasse 66, 8005 Zürich. Der Eintritt ist frei!

Anna Galkina «Das neue Leben», Frankfurter Verlagsanstalt

Anna Galkina schreibt auch in ihrem zweiten Roman von der zur jungen Frau gewordenen Nastja. Einer Frau, die man bei der Ausreise von Lettland nach Deutschland nicht fragte, wo und wie sie ihre Zukunft beginnen möchte. Einer nach Leben und Ankunft dürstenden jungen Frau, der es im Land des Überflusses alles andere als leicht gemacht wird, sich wenigstens in den Menschen heimisch zu fühlen. Einem Leben, das immer wieder zu brechen droht, es aber nie tut, weil immer Kraft übrig bleibt, sich neu aufzurichten.

Nastja kommt Anfang der Neunziger als Kontingentflüchling mit ihrer Familie von Lettland nach Deutschland. Weil Nastjas Familie jüdisch ist und eine Einreise nach Deutschland im Rahmen der «Politik der Wiedergutmachung» leicht genug, verabschiedet sich die Familie aus einem unabhängig gewordenen Lettland, das alle russisch stämmigen Bürger zum kollektiven Feindbild erklärte.

«Wenn die Welt einem plötzlich fremd vorkommt, dann erkennt man alles andere auch nicht mehr wieder.»

In Deutschland angekommen, erwartet sie niemand. Man wird von einer gelangweilten Lagerleitung in ein verdrecktes Lagerzimmer mit Etagenbetten gesteckt, in Zimmer, die von allen möglichen und unmöglichen Gästen bewohnt werden. Es beginnt das lange Warten, das Anstehen bei Ämtern, der Spiessrutenlauf, das Ausgesetzt-sein.

«Ich bin LOS! StaatenLOS, arbeitsLOS, obdachLOS, sprachLOS!»

Man ist gezwungen, sich mit allerlei anderen Einwanderern mehr oder weniger zu arrangieren, auf engstem Raum, in einer Gemeinschaftsküche, Wand an Wand, immer in der Hoffnung, irgendwann einen unbegrenzten Aufenthalt zu erwirken, eine eigene Wohnung zu bekommen, permanent ernüchtert, weil von dem, was man sich erhofft oder einem in Aussicht gestellt wird, nicht viel oder gar nichts bleibt.
Aber Nastja lässt sich nicht entmutigen, schöpft Kraft, wo andere längst resignieren. Selbst in der Einsicht, dass sie letztlich nur auf sich selbst bauen kann. Da hilft niemand, weder der Stiefvater, der an fünf Tagen der Musterflüchtling ist und an den Wochenenden im Alkohol ertrinkt, noch die Mutter, die sich an ihren Traum klammert, dass Kultur die Völker verbinde. Weder die Grossmutter, die schwerhörig auf einem Stuhl das Geschehen auf dem Hof verfolgt, noch Grischa, der angebliche Arzt und Lagermitbewohner, der Teppiche sammelt und in der Gemeinschaftsküche Monologe über Weltreligionen und Ernährungswissenschaft hält und eigentlich bloss auf Nastja hofft. Dort in der Gemeinschaftsküche brodeln, dampfen und kochen nicht nur Pfannen und Töpfe. Nicht einmal von ihrem einzigen wirklichen Freund Max, mit dem sie zuerst das Lager, dann auch die Stadt erobert, irgendwann den Zwischenraum zwischen ihnen und später sogar die Liebe, erfährt sie Beständigkeit, das, was Freundschaft oder Liebe ausmachen könnte.

«Es gibt kein Entkommen, und verstecken kann ich mich auch nirgendwo. Gefangen. Ausgeliefert. Nackt.»

Der Ort, der das Ziel einer Flüchlingsfamilie war, wird selbst nach Jahren immer fremder. Hass steigt auf. Nicht nur dort, wo er Nastja in Ämtern oder bei Gelegenheitsjobs begegnet, sondern auch bei ihr selbst. Ein Hass, der sich einfrisst.
Die Flüchtlinge warten, stehen und schauen. Oder sie gehen in die Offensive, bemühen sich mit den entsprechenden Bescheinigungen um Arbeit, bei der ihnen unverblümt klar gemacht wird, was sie immer bleiben werden in einer Welt, die diametral von der entfernt scheint, in der ich auf meinem Sofa zuhause liegend den Roman lese.

«Ich will nach Hause, aber ich habe kein Zuhause mehr. Es scheint, als wäre das Dach undicht. Oder sind das etwa Tränen?»

Anna Galkina verfällt weder der Anklage noch dem Klischee. Ihr Erzählen ist erfrischend und direkt, durchdrungen von ungeheurer Kraft und nie versiegendem Humor. Kein Selbstmitleid, keine Erklärungsversuche. Anna Galkina erzählt von einer jungen Frau, die sich nich ergibt, nicht aufgibt. Über die Ernüchterung, das übermässige Erwähne aus Träumen. Sie erzählt auch von der Willkür der Ämter, der Kalte des Wartens und der Unmöglichkeit, sein Leben wirklich in eigene Hände zu nehmen. Von der Konfrontation zu Zeiten Helmut Kohls mit dem blanken Hass, dümmlichem Volksbewusstsein und der Angst, irgendwer schneide jenes Stück Glück kleiner, auf das man ein Recht zu haben scheint.

Anna Galkina, geboren und aufgewachsen in Moskau, kam nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion nach Deutschland. Sie lebt als freie Schriftstellerin und Künstlerin in Bonn. 
2016 erschien ihr Debütroman «Das kalte Licht der fernen Sterne«» in der FVA, 2017 folgte ihr zweiter Roman «Das neue Leben».

Kurzrezension von «Das kalte Licht der fernen Sterne» auf literaturblatt.ch

Titelfoto: Sandra Kottonau

Robert Seethaler «Das Feld», Hanser Berlin

Literatur muss mehr sein als eindimensionales Erzählen. Literatur soll freilegen, immer neu zeigen, dass es ein Dahinter, ein Dazwischen, ein Daneben, Darunter und Darüber gibt. Robert Seethaler macht eine Kleinstadt zu seinem Erzählkosmos, legt Schicht für Schicht frei, beweist Kühnheit, ruht sich längst nicht aus auf einem eingeschlagenen Weg. Robert Seethaler erzählt in seinem letzten Roman «Ein ganzes Leben» von einem Mann, von Andreas Egger. So sehr sich alles um diese eine Person dreht und spiegelt, so polyfon erzählt der Autor in seinem Roman «Das Feld». Ein ganz und gar ungekünsteltes Kunstwerk.

Ein Mann sitzt unter einer krumm gewachsenen Birke auf einer Bank. Vor ihm Grabsteine in einer Wiese, umgeben von einer überwucherten Friedhofsmauer. Wenn es das Wetter erlaubt, kommt der Mann jeden Tag, setzt sich auf die alte, morsche Bank und spricht mit den Toten, die er fast alle kennt, mit denen er ein Stück Leben in der Kleinstadt teilte. Er lauscht ihren Geschichten, ist sich sicher, dass sie zu ihm sprechen, auch wenn er nur schwer versteht, was an Worten und Satzfetzen an sein inneres Ohr dringt.

«Er dachte, das der Mensch vielleicht erst dann endgültig über sein Leben urteilen konnte, wenn er sein Sterben hinter sich gebracht hatte.»

Der Mann ist alt, «sein Gesicht aus der Form geraten». Der Paulstädter Friedhof ist der Ort geworden, wo ihm die Menschen aus dem Jetzt gefallen ihre Geschichten erzählen. Geschichten von einem Ort, einem ganzen Leben, einem Jahrhundert. Geschichten von Menschen, denen das Vergessen droht, die verstummen, die die Vergangenheit schluckt.

«Als junger Mann wollte er die Zeit vertreiben, später wollte er sie anhalten, und nun, da er alt war, wünschte er sich nicht sehnlicher, als sie zurückzugewinnen.»

Die Grabsteine auf der Wiese mit Jahreszahlen und Sinnsprüchen, die die meisten nicht selbst gewählt hatten, sind wie Projektionstafeln, die gelesen werden wollen, verstanden, weit über das hinaus, was ein paar Zahlen und mehr oder minder weise Worte erklären wollen.
Robert Seethaler unterteilt seinen Roman in Kapitel, jedes mit einem Namen überschrieben. Er erzählt die Geschichten hinter den Namen. Aber nicht aus der Sicht des Mannes, sondern er lässt jene erzählen, die keine Stimme mehr haben.
Gerd Ingerland, der ein Leben lang an der Distanz zu seiner Mutter zu leiden hatte. Pfarrer Hoberg, dessen fehlendes Feuer eine ganze Kirche in Flammen aufgehen lässt. Gemüsehändler David al-Bakri, dessen Laden zum Brennpunkt eines Ortes wird, den man aber trotzdem bloss den Kameltreiber heisst. Lennie Martin, der sich nur an der Lucky Deal im Wirtshaus richtig fühlt.

Robert Seethaler erzählt von Paaren, zuerst aus ihrer Sicht, dann aus seiner. Von Bildern, die kaum je übereinanderpassen, von der Unmöglichkeit, sich wirklich zu erkennen. Davon, dass Missverständnisse die Regel sind und gefundene Nähe reine Glücksache. Von ungestillten Sehnsüchten und lähmendem Überdruss, von Einsamkeit und erzwungener Nähe.
Von den Alten, die ihr Leben ins Altenheim, ins Sanatorium mitnehmen, meist nur in Erinnerungen, die einen schwächelnd, die andern sich aufbäumend. Leben, dass so gar nicht mehr ist, was es einst war. Leben, in dem Zeit belanglos wird. Vom Sterben, vom Schwinden, vom Verschwinden.

Während des Lesens wächst ein Netz durch einen Ort, verbinden sich Menschen, ihre Geschichten und Schicksale. Ein Netzwerk wie die Wurzeln eines riesigen Organismus, immer weiter und immer feiner verzweigt. Und mit jeder Verbindung wächst das Bewusstsein, dass alle Geschichten, auch jene, die weit über den sichtbaren Horizont hinausgehen, miteinander verbunden sind.

Manchmal sind es nur Nebensätze, die ein Fenster zu einem neuen Zusammenhang öffnen. Es scheint, als hätte Robert Seethaler aus einem unendlich scheinenden Reservoir aus Geschichten und Welten einen ganz kleinen Teil ausgesucht. Ich jedenfalls hätte mich gerne noch viel länger als bloss 238 Seiten durch die begrabenen Geschichten Paulstadts gelesen.
Ein Buch von überraschender Nähe, obwohl in vielen erzählten Bildern mehr als jene Liebe fehlt, die es bräuchte, um sich wirklich nahe zu kommen. Ein Buch, das von Illusionen befreit. Mit dem man zur Einsicht kommen kann, dass einem in den meisten Lebenssituation selbst die Nähe zu sich selbst abhanden kommt, dass man sich bis in Sterben allerhand vormacht.

Robert Seethaler, geboren 1966 in Wien, ist ein vielfach ausgezeichneter Schriftsteller und Drehbuchautor. Seine Romane «Der Trafikant» (2012) und «Ein Ganzes Leben» (2014) wurden zu großen internationalen Publikumserfolgen. Robert Seethaler lebt in Wien und Berlin.

Webseite des Autors

Titelfoto: Sandra Kottonau

23. Literaturfestival Leukerbad: Gipfelstürmerinnen

Esther Kinsky, Übersetzerin aus dem Polnischen, Russischen und Englischen, Lyrikerin und Erzählerin, vielfach ausgezeichnet, mit ihrem neusten Roman «Hain» 2018 mit dem Preis der Leipziger Buchmesse, ist mit ihren Büchern eine literarische Offenbarung. Sasha Maria Salzmann, geboren 1985 in Wolgograd und seit 1995 als jüdischer «Kontingentsflüchtling» in Deutschland lebend, mit ihrem Debütroman «Ausser sich» eine Entdeckung.

An einem Literaturfestival will man sich überraschen lassen. Dass man das auch von einer bekannten Autorin kann, beweist Esther Kinsky, deren Roman mich aus unerklärlichen Gründen abschreckte. Vielleicht, weil niemand kritisiert, vielleicht wegen der Beschreibung «Geländeroman». So wie mich Geländeautos abschrecken, mich schlicht nicht interessieren, vermochte es «Hain» von Esther Kinsky nicht. Welch ein Irrtum!

«Hain» erzählt aus der Sicht einer Icherzählerin von drei Reisen nach Italien, Begegnungen mit ihrem Vater und dessen Geschichte. Drei Reisen in ein Italien, das die Autorin kennt, weil es sie bei Stipendienaufenthalten an Orte in Italien verschlug, von denen sie mehr an die Rückseiten italienischer Sehenswürdigkeiten, Landschaften sah. Ein «Geländeroman»? Gelände ist Textur, Oberfläche, mit der man in Berührung kommt. «Landschaft» als Begriff bleibt viel distanzierter. Und «Hain» greift an und unter die Oberfläche, lässt sich sprachlich auf eine Gegend ein, das Licht dieser Gegend erkennend, immer neues Sehen erlernend.

In einer Phase der Trauer lernt die Protagonistin dieses neue Sehen. In einer Sprache, die mich umschmeichelt. Sprache, die sich einem Ort annähert, ihm in einer Intensität nahekommt, die nur sein kann, wenn man nicht einfach reist oder sich aufhält. Sprache, die mich in Trance versetzen kann. Durch Sprache, durchs Schreiben bilden sich Erinnerungsschichten. Esther Kinsky skizziert und malt in sprachlichen Bildern, in bestechender Feinarbeit, sie ist Teil ihrer selbst.

Esther Kinsky wurde 1956 in Engelskirchen geboren und lebt in Berlin. Für ihr umfangreiches Werk, das Übersetzungen aus dem Polnische, Russischen und Englischen ebenso umfasst wie Lyrik, Essays und Erzählprosa, wurde sie vielfach ausgezeichnet.

Sasha Maria Salzmanns Roman «Ausser sich» ist ein Zitat James Baldwins vorangestellt, aus seinem Roman «Eine Strasse und kein Name». Und James schrieb im Winter 1951 an seine Essay «Der Fremde im Dorf» in einem verschlafenen Nest im Kanton Wallis in der Schweiz, in Leukerbad. James Baldwin, so etwas wie einer der Paten für Sasha Maria Salzmanns Debütroman. Die Geschichte der Zwillinge Alissa und Anton, die Geschichte von Ali, der einst Alissa war, auf der Suche nach seiner Vergangenheit. Eine Familiensaga über vier Generationen, Geschichten ineinander verwoben, so wie man sich Geschichten erzählt, niemals geordnet, chronologisch. Vier Generationen jüdischer Geschichte an verschiedensten Schauplätzen, erzählt von einer jungen Autorin, die zu bannen versteht, die ihr Handwerk aus dem Theater mitbrachte, bei der man spürt, dass sie als Dramaturgin weiss, wie Dialoge funktionieren, die mit Witz und durchaus jüdischer Erzählweise gespickt mit unendlich vielen Kleinstgeschichten Grosses werden lässt, die weiss, wie Generationen aufeinanderprallen, Erinnerungen, die in der Zeit, in den Generationen stets neu überschrieben werden.

«Schreiben ist Kontrollverlust.»

Ein Roman, der keine Helden zeigt, von Menschen erzählt, die von Gewalt gefangen sind. Ein politisches Buch, das weder erklärt noch manifestiert, das Antisemitismus schildert, ohne jemals zu moralisieren, von postsowjetischer Geschichte ohne zu urteilen. Literatur, die von Frische strotzt!

© Heike Steinweg

Sasha Marianna Salzmann studierte Literatur/Theater/Medien an der Universität Hildesheim sowie Szenisches Schreiben an der Berliner Universität der Künste. Sie ist Theaterautorin, Essayistin und Dramaturgin und war Mitbegründerin des Kultur- und Gesellschaftsmagazins freitext. Seit der Spielzeit 2013/2014 ist sie Hausautorin am Maxim Gorki Theater Berlin und war dort bis 2015 Künstlerische Leiterin des Studio Я. Ihre Theaterstücke werden international aufgeführt und sind mehrfach ausgezeichnet.

Webseite von Sasha Maria Salzmann

Ralf Rothmann «Der Gott jenes Sommers», Suhrkamp

Was für ein Roman! Ganz am Schluss sagt Mädchen Luisa zu Mathilde: „Ich möchte auch Nonne werden.“ „Ach Kind“, sagt die Nonne, „du bist noch so jung. Willst du nicht vorher was erleben?“ „Ich hab alles erlebt“, antwortet Luisa.

Die zwölfjährige Luisa lebt mit ihrer Familie Anfang 1945 in der Nähe von Kiel auf einem ehemaligen Gutshof. Von der einstigen Herrschaftlichkeit des Guts ist nicht viel übrig geblieben. Während in der Ferne die Städte brennen, sammeln sich auf dem Hof Flüchtlinge von überall, in der Hoffnung auf ein Dach und die kommende Zeit zu überleben. Solche, die dem Fatalismus verfallen sind neben jenen, die noch immer an den Endsieg glauben, an die Wunderwaffen, mit denen der Führer den Krieg gewinnen würde. Die junge Frau mit den lackierten Fingernägeln, die im Stall die übrig gebliebenen Kühe melkt, der junge Melker, der noch nicht in den Krieg eingezogen wurde. Luisas ältere Schwester Billie putzt sich heraus und jagt männliche Beute von Fest zu Fest, will sich den trüben Zeiten nicht ergeben, lehnt sich auf gegen alles, was sich ihrer Jugend entgegenstellt. Luisas Mutter, eine Frau, die alle Zärtlichkeit, alles Muttersein in den Kriegsjahren verloren zu haben scheint, treibt ihr Kind wie ein Kalb durch die Zeit. Ihr Vater, der in der Stadt am Meer den tödlichen Bombern bisher entkam, treu einem Vaterland dient, das blind in den Abgrund rennt, ist meist nicht da. Und wenn doch, ertränkt er seinen Schmerz gern im Alkohol, überlässt seine Töchter der Zeit. Einer Zeit, in der es auch keine Schule mehr gibt, weil sie von Bomben getroffen ist, weil ein von seiner Ideologie blinder Lehrer mit der Fahne seines Führers den Fliegern entgegenrannte und erst viel zu spät merkte, dass der Feind in den Flugzeugen sass. 

Nichts ist so, wie es sein sollte. Und das, was im Schein aufrecht erhalten wird, droht einzubrechen.

Luisa liest, liest viel, alles, was ihr in die Hände gerät. Sie wird belächelt von der Schwester, missachtet von der Mutter, vom Vater mit Büchern Kofferraum für Kofferraum aus der zerbombten Stadt versorgt. Nachts brennt lange ein schwaches Licht in ihrer Kammer unter dem Dach. Ein Licht, das dem jungen Melker Walter nicht verborgen bleibt, der sie dafür aber nicht schimpft, sondern eines Tages bei der Geburt eines jungen Stierkalbs ins Vertrauen zieht. Luisa ist allein gelassen, sich selbst überlassen. Jeder ist sich selbst der Nächste.

Endgültig entgleist Luisas Leben an der Hochzeitsfeier ihrer Halbschwester Gudrun. Ein Hochzeitsfest, das aus dem Ruder läuft, an dem mehr gesoffen als gefeiert wird, als wolle man das Elend des drohenden Untergangs des Tausendjährigen Reichs im Alkoholnebel entkommen. Auch hier bleibt Luisa sich selbst überlassen, zuerst gelangweilt von der öden Hochzeitsfeier ihrer fremd gewordenen Stiefschwester, dann vom betrunkenen Ehemann mehr als nur in die Enge getrieben, von der Mutter genötigt, von Kopfschmerzen und Übelkeit geplagt. Aber niemand hört und sieht, was passiert. Am wenigsten die Mutter, die Augen und Ohren verschliesst, um die Privilegien ihres einflussreichen Schwiegersohns, eines glühenden SS-Offiziers, nicht zu verlieren.

Ein immer tiefer werdender Graben tut sich auf, mitten durch die Familie. Während die einen ein Ende mit Schrecken herbeisehnen, träumen die andern bis zuletzt vom grossdeutschen Endsieg. Ein Roman, der vor der Kulisse einer historischen Katastrophe den Leser an eine Kette menschlicher Katastrophen bindet.

Ralf Rottmann beschreibt ein fast barock anmutendes Sittengemälde aus den letzten Tagen des Krieges. Luisa, das zwölfjährige Mädchen bewegt sich durch die kaputte Landschaft, die Trümmer in Seelen und Räumen, durch ein Panorama des Schreckens, mitten hindurch, was menschliche Abgründe an Zerstörungen anrichten. Ich als Leser ganz nah mit dem Mädchen, dem „Winnetou“ und „Vom Winde verweht“ noch genau so nah und unmittelbar sind, wie eine Wirklichkeit, die sie nicht lesen kann.

Ein Buch über den Krieg. Ein Buch über die Gegenwart, die noch immer mit dem Krieg spielt. Ein Epos des Schreckens, bei dem einzig der Lauf der Sonne trösten kann. Von einem Mädchen, das erfolglos versucht, die Welt zu verstehen.

Ralf Rothmann wurde am 10. Mai 1953 in Schleswig geboren und wuchs im Ruhrgebiet auf. Nach der Volksschule (und einem kurzen Besuch der Handelsschule) machte er eine Maurerlehre, arbeitete mehrere Jahre auf dem Bau und danach in verschiedenen Berufen (unter anderem als Drucker, Krankenpfleger und Koch). Er lebt seit 1976 in Berlin.

Titelfoto: Sandra Kottonau

Joachim Zelter „Gegen die Gewissheiten“

Überlegungen zu einigen Aspekten der literarischen Moderne aus Sicht eines Schriftstellers

Warum schreibt ein Autor wie er schreibt. Oder warum schreibt er etwas nicht, das er durchaus schreiben könnte, aber trotzdem nicht schreiben kann oder partout nicht schreiben will? Warum lässt der Autor beispielsweise eine Figur nicht durch den Wald nach Hause gehen, um dort eine andere Figur zu treffen, so dass aus diesem Treffen eine Liebeshandlung entstehen könnte? Oder warum scheut sich ein Autor vor einem guten Ende? Oder vor einem eindeutigen Anfang? Oder vor einnehmenden Figuren, welche die Welt exemplarisch erleiden, durchschreiten, erleben, verbessern oder überwinden?
Oftmals sind es nur halbbewusste Triebkräfte und Maßstäbe, die einen Autor dazu bringen etwas in einer bestimmten Art zu schreiben – oder auch nicht zu schreiben. Zum Beispiel tun sich nicht wenige Autoren mit linearen Handlungen schwer. Oder mit mitreißenden Figuren, die eine Handlung vorantreiben oder aus der äußere Handlungen oder ganze Handlungswelten hervorgehen. Handlungen und Figuren – dies scheinen, zumindest heute, Selbstverständlichkeiten, ja Unabdingbarkeiten. Dennoch gibt es bei nicht wenigen Autoren ein Unbehagen, eine stumme Reserve gerade gegenüber derartigen Forderungen. Diese Reserve ist – so meine These – ein Überbleibsel der literarischen Moderne, in einer Welt, die sich zunehmend von den Er- rungenschaften der literarischen Moderne entfernt hat, die mit der Moderne auch zunehmend das Bewusstsein und Beschreibungsinstrumentarium ihrer selbst verloren hat.

Nach Mario Andreotti (Die Struktur der modernen Literatur) besteht das große Missverständnis gegenwärtiger Literaturdiskurse in der Gleichsetzung von zeitgenössisch und modern. Ein Roman sei modern, weil er soeben erschienen sei oder sich moderner Themen annimmt, zum Beispiel dem Internet, der Globalisierung, dem Grundeinkommen für alle oder einer jugendlichen Subkultur. Nach Andreotti ist diese Gleichsetzung irreführend, da moderne Themen nicht notwendigerweise gleichbedeutend sind mit der literarischen Moderne als Erzählweise in der Literatur. Ein Großteil unserer Gegenwartsliteratur, so Andreotti, ist alles andere als modern, sondern vielmehr in ihrer Struktur traditionell, konventionell, wenn nicht gar vormodern – auf dem Stand des bürgerlichen Romans des frühen 19. Jahrhunderts

Die Frage ob modern – oder nicht modern lässt sich anhand von zwei zeitgenössischen Grund- forderungen an literarische Texte demonstrieren, die gerade die literarische Moderne immer wieder in Frage gestellt hat: (1) Die Frage der Handlung und (2) die Frage von festen, eindeutigen, runden Figuren, die im Zentrum dieser Handlung stehen, ja, aus denen diese Handlungen hervorgehen. Handlung unterstellt eine Form von Kausalität. In der Poetik des Aristoteles heißt Handlung Mythos, die Zusammensetzung der Geschehnisse. Auch Edward Morgan Forster betont in seiner Definition von Handlung (plot) dessen Kausalität. „The king died and then the queen died.” Dies ist eine Geschichte. „The king died, and then the queen died of grief.” Dies ist eine kausale Ordnung, also eine Handlung. Nun ist Kausalität nichts Beliebiges, sondern beinhaltet fundamentale Anschauungen über die Wirklichkeit. Schon das Wort Kausalität impliziert eine ganze Weltanschauung: der Mechanik, der Physik, der Naturwissenschaften, der Wissenschaft allgemein. Eine Plot-Struktur geht also weit über ein einzelnes literarisches Werk hinaus. Sie beinhaltet eine Weltanschauung, und es sind gerade derartige Weltschauungen, welche die literarische Moderne immer wieder in Frage gestellt hat: sei es nun das Gebot linearer Handlungen oder der Glaube an die Erzählbarkeit der Welt oder die Vorstellung von Sprache als Abbild außesprachlicher Wirklichkeit. Hinzu kommt die Skepsis der Moderne gegenüber althergebrachten Subjektvorstellungen: zum Beispiel die Hauptfigur als Identifikationsfigur, als Sinn- und Erlebniszentrum der äußeren Welt, als Inbegriff einer bürgerlichen Charakterideologie, in der Tüchtigkeit, Selbstverantwortung und Eigenständigkeit eine Rolle spielen. Die klassische literarische Moderne demonstriert demgegenüber die Entpersönlichung ihrer Figuren, ihre psychologische Widersprüchlichkeit und Uneinheitlichkeit, ihre Fragmentarität, ihr Getrenntsein, ihre Auflösungser- scheinen, ihre gesellschaftliche Degradierung und Funktionalisierung. „Das Ich ist unrettbar“, schrieb kein Literat, sondern der Physiker Ernst Mach im ausgehenden 19. Jahrhundert. Der Satz wurde zu einem Leitsatz der Wiener Moderne. Und nicht nur das Ich, sondern auch die Vorstellung einer objektiven, linear erzählbaren Welt wird für die Moderne zu einer unrettbaren, allenfalls noch subjektiv haltbaren Größe. „Wir haben kein anderes Gesetz als die Wahrheit, wie jeder sie empfindet.“ Wie jeder sie empfindet – so der entscheidende Zusatz von Herrmann Bahr in Die Moderne. Althergebrachte Gewissheiten weichen in der Moderne einer tiefen Skepsis gegenüber dem Wirklichkeitsgehalt von Sprache und der Darstellbarkeit von Wirklichkeit (Hofmannsthal) sowie einem Unbehagen gegenüber monistischen Wirklichkeits- und Wahrheitsmodellen überhaupt. „Die Wahrheit“, schreibt der Philosoph Hans Vaihinger in seiner Philosophie des Als-Ob, „ist nur der zweckmäßigste Irrtum.“ Statt Wahrheit und Wirklichkeit tritt die fröhliche Bejahung des Fiktiven in den Vordergrund, nicht nur die Fiktionalität der Kunst, sondern die des Lebens überhaupt. In den Worten Oscar Wildes: „I treated art as the supreme reality and life as a mere mode of fiction.

Um das bisher Gesagte (aus der Erfahrung eines heutigen Autors) an einem konkreten Beispiel zu verdeutlichen. Im Jahr 2006 erschien mein Roman „Schule der Arbeitslosen“. Der Roman spielt in einer nicht allzu fernen Zukunft in einem Internierungslager für Langzeitarbeitslose. Dies wird nicht anhand fester, abgerundeter Figuren erzählt, etwa anhand einer rechtschaffenden Familie, die ein Einfamilienhaus abbezahlen muss und schulpflichtige (vielleicht sogar noch herzkranke) Kinder hat und deren Familienoberhaupt nun in die Abgründe der Arbeitslosigkeit fällt. Die Versuchung lag nahe, das Thema in dieser Art anzugehen, über ein Ensemble fester Figuren, mit denen man sich identifiziert und mit denen man mitleiden kann. Stattdessen ent- wickelt der Roman das Thema Arbeitslosigkeit weniger psychologisch denn vielmehr gestisch und soziologisch als strukturelle Gewalt (sprachliche Gewalt, diskursive Gewalt, normative Gewalt) herrschender ideologischer Systeme über entpersonalisierte Individuen, die zu fast keiner Sprache oder Gegenwehr mehr fähig sind, die sich allenfalls stammelnd oder in kleinen Gesten zur Wehr setzen können gegenüber einer allmächtigen gesellschaftlichen Grund- und Kollektivhaltung: nämlich der Obsession von Arbeit als Sinnzentrum unserer Zeit.
Man könne sich zu wenig mit den Figuren identifizieren. Man könne mit ihnen nicht warm werden. So der erste Einwand gegen den Roman. Und: Der Roman habe zu wenig Handlung. Er zeige auch keine wirklichen Lösungen. So der zweite Einwand. In diesen Einwänden vereinigen sich in nuce die gängigen Erwartungshaltungen gegenüber der zeitgenössischen Literatur: Handlung, Figuren, Botschaften und Lösungen – genau das, was von der klassischen Moderne (von Kafka bis Döblin, von Beckett bis Pinter, von Ionesco bis Camus) immer wieder in Frage gestellt wurde. Man kann die urskeptische Haltung der Moderne mit dem Satz von Camus resümieren: „Wenn die Welt klar wäre, gäbe es keine Kunst.“

In den letzten zwei Jahrzehnten ist uns die Moderne zunehmend abhanden gekommen. Sie wich in den achtziger Jahren der Postmoderne, der dann keine Nachpostmoderne oder Post- postmoderne mehr folgte als vielmehr eine diffuse Vormoderne, in der einerseits die Errungenschaften der Moderne verlorengegangen sind bzw. schlichtweg vergessen wurden, in der andererseits mit der größten Geläufigkeit sehr traditionelle, vormoderne, geradezu biedermeierliche Forderungen und Erwartungshaltungen an die Literatur herangetragen werden. Der Grundimpetus der Moderne, die allumfassende Skepsis, weicht zunehmend einer Haltung nicht mehr reflektierter Gewissheiten. Als hätte es die Moderne nie gegeben. Als wären Handlung, Figuren, Botschaften und Lösungen zu allen Zeiten gültige Konstanten der Literatur. So als gäbe es kei-nerlei Zusammenhang zwischen gegenwärtiger gesellschaftlicher Ich-Fixierung, Ich- Verantwortung, individueller Leistungs- und Erfolgsethik und der Forderung des Buchmarktes nach hinreißenden, heldenhaften oder zumindest unterhaltsamen literarischen Figuren.

Wenn ich gefragt werde, welche Autoren ich denn schätze oder welche Autoren mich literarisch beeinflussen, dann nenne ich Autoren wie Oscar Wilde, Harold Pinter, Franz Kafka und einige andere – alles übrigens Autoren der Moderne. Doch gibt es für den schreibenden Autor auch noch eine andere Kategorie von Büchern, nicht nur belletristische Einflussbücher, sondern auch literaturwissenschaftliche Bücher, die für mich eine große historische und theoretische Rückversicherung darstellen. Die Struktur der modernen Literatur von Mario Andreotti ist ein solches Buch. Es bietet gerade jenen Autoren eine Handhabe, die aus einer tiefsitzenden, stummen Reserve gegenüber den aktuellen Forderungen an die Literatur eben nicht so schreiben, wie sie sehr leicht schreiben könnten: in Kategorien eingängiger Handlungen, Figuren, Botschaften und Lösungen. Es ist ein Buch für alle Autoren, die sich darüber freuen, dass Literatur nicht ewig gültigen Gesetzen und Gewissheiten folgt, sondern dass diese Gewissheiten hinterfragbar und veränderbar sind – ein Grundprinzip der Moderne. Es ist ein Buch für alle Autoren, die sich heutzutage deplaciert und historisch überholt fühlen, die aber dennoch in einem stummen oder verstummten Wissen noch an den Errungenschaften der Moderne festhalten oder festzuhalten versuchen. Es ist ein Buch, das mir immer wieder geholfen hat, mir über eigene (oft auch nur halbbewusste) Maßstäbe des Schreibens klar zu werden. Manchmal wünschte ich, ein solches Buch würde nicht nur von Autoren, sondern vermehrt auch von Kritikern und Lektoren gelesen.

Veröffentlicht in: Literaturblatt Baden-Württemberg. Heft 6, 2010, 12-13.

Literatur:
Mario Andreotti, „Die Struktur der modernen Literatur“, vierte überarbeitete Auflage. Bern, 2009.
Joachim Zelter, „Schule der Arbeitslosen“, Tübingen, 2006.
Gotthart Wunberg, Hrsg. „Die Wiener Moderne: Literatur, Kunst und Musik zwischen 1890 und
1910“, Stuttgart, 1981.
Andreas Huyssen und Klaus R. Scherpe, Hrsg. „Postmoderne: Zeichen eines kulturellen Wan-
dels“, Hamburg, 1986.
Lothar Fietz, „Strukturalismus: Eine Einführung. Literaturwissenschaft im Grundstudium 15“, Tü-
bingen, 1982.
Lothar Fietz, „Funktionaler Strukturalismus: Grundlegung eines Modells zur Beschreibung von Text und Textfunktion“, Tübingen, 1976.

Joachim Zelter wurde in Freiburg im Breisgau geboren. Von 1990 bis 1997 arbeitete er als Dozent für englische und deutsche Literatur an den Universitäten Tübingen und Yale. Seit 1997 ist er freier Schriftsteller, Autor von Romanen, Theaterstücken und Hörspielen. Seine Romane wurden in mehrere Sprachen übersetzt und vielfach ausgezeichnet. Mit dem Roman „Der Ministerpräsident“ war er 2010 für den Deutschen Buchpreis nominiert. 2017 war er Hausacher Stadtschreiber (Gisela-Scherer-Stipendium).

Rezension auf literaturblatt.ch zu «Im Feld» von Joachim Zelter

Webauftritt des Autors

Jaroslav Rudiš «Der Besuch von Herrn Horváth», Edition Thanhäuser

Kleinstverlage wie die Edition Thanhäuser sind stille Tempel der Hingabe und Liebe zur Literatur und Kunst. Wie viele andere funktionieren sie nicht nach den sonst gültigen wirtschaftlichen Gesetzmässigkeiten. Dafür umso mehr, weil wie in den Büchern und Publikationen der Edition Thanhäuser glühende Leidenschaft und maximales Können gepaart sind.

Christian Thanhäuser: Allen Buchprojekten geht eine persönliche Begegnung voraus, in welchen Land auch immer, ich lasse es den Autorinnen und Autoren immer frei, auch Texte zu verfassen, die im normalen Verlagswesen kaum eine Möglichkeit hätten, verlegt zu werden. Je besser man sich kennt, bzw. je besser ich die Länder der Autorinnen und Autoren kenne, umso leichter fällt mir die Arbeit an den Illustrationen.

Acht Erzählungen des tschechischen Schriftstellers Jaroslav Rudiš, ergänzt und mitgetragen von zwölf Fichtenholzschnitten, sogfältig gesetzt, fadengeheftet und blau eingefasst; das, was das Herz eines Büchernarren in Wallung bringt.
Das Büchlein kostet so viel wie ein Kinoeintritt in Zürich. Das Vergnügen, die Langzeitfreude und die Begeisterung, die es zumindest bei mir auslöst, lässt einen Kinobesuch, sei der Film noch so gut, aber weit im Schatten zurück. Erst recht belohnt durch die Innigkeit, wenn ich die acht Geschichten an einem kühlen Abend meiner Frau vorgelesen habe.

Jaroslav Rudiš, der seine Romane sonst in Deutsch beim Luchterhand Literaturverlag herausgibt und bei seinen Liveauftritten zum Ereignis wird, beweist in «Der Besuch von Herrn Horváth» wie witzig, tiefgründig, bodennah und schräg er erzählen kann. Auf knapp 70 Seiten findet sich alles Können, sowohl das des Schriftstellers wie jenes des Künstlers Christian Thanhäusers.

Acht Erzählungen, die durch den Kumpel Max miteinander verbunden sind. Auch dann, wenn Max gar nicht vorkommt, dann aber, als wären sie ihm am Stammtisch erzählt. Wie jene Geschichte, die dem Buch seinen Namen gibt. Nur ein einziges Mal keucht der alte Herr Horváth das Treppenhaus hinauf zu einem Besuch beim Erzähler. Für eine Partie Schach, unablässig plaudernd. Oder auf einer Reise ins Tessin, wenn dem Erzähler, unterbrochen von den Tunnels der alten Gotthardlinie, sein Freund Max aus Prag anruft und von seinem Entschluss berichtet, seinem Leben nun endlich eine andere Richtung zu geben, mehr dem Wisent hinterher. Oder der Erzähler trifft Max in der immer gleichen Prager Kneipe «Zum ausgeschossenen Auge» (Die gibt es wirklich!) und man lamentiert über die rüde Gegenwart in der tschechischen und internationalen Politik oder die Sehnsucht nach einem dichtenden Übervater wie es Vaclav Havel einst war, einer Zeit, in der ein Dichter Staatsführer werden konnte. Oder man sitzt als Leser mit am Tisch, lauscht den Erzählungen, die die irgendwie einsamen Männer hinter ihren tschechischen Bieren mit der Runde teilen.

Jaroslav Rudiš ist ein begnadeter Erzähler. Ein Seismograph der tschechischen Gesellschaft, die sich in ihrer Unzufriedenheit durchaus grosseuropäisch gibt. «Der Besuch von Herrn Horváth» ist ein Buch, das man nach der Lektüre unmöglich so einfach in ein Regal schieben kann, denn es wächst einem ans Herz!

Jaroslav Rudiš wurde 1972 in Turnov in Böhmen geboren, Schriftsteller, Drehbuchautor und Dramatiker. Seine Bücher erscheinen im Luchterhand Literaturverlag und bei Voland&Quist. 2016/17 Ranitzstipendiat in Ottensheim, 2018 erhält er den Preis der Literaturhäuser.
Jaroslav Rudiš hat die Texte für dieses Buch in deutscher Sprache geschrieben.

Webseite des Autors

Christian Thanhäuser, geboren am 19. Juli 1956 in Linz, wuchs im Schiffsmeisterhaus zu Ottensheim an der Donau auf. Angeregt von H. C. Artmann gründete Christian Thanhäuser 1989 eine eigene, aus dem Holzschnitt heraus entwickelte Handpressenwerkstatt. Seit 1995 erscheint die Buchreihe RanitzDrucke. Die Drucklegung dieser zum Teil zweisprachig angelegten
Publikationen ist an Stipendienaufenthalte in Ottensheim gebunden. Herausgeber ist Ludwig Hartinger. Derzeit erscheinen pro Jahr zwei bis drei, meist zweisprachige Bücher, die in Zusammenarbeit mit der Druckerei Plöchl in Freistadt hergestellt werden. An Handpressendrucken mit Holzschnitten wird weiterhin in der Ottensheimer Werkstatt gearbeitet.

Webseite der Edition Thanhäuser

Während des 23. Internationalen Literaturfestivals in Leukerbad stellt Christian Thanhäuser Insektenzeichnungen und Holzschnitte aus. Die Insektenzeichnungen sind Illustrationen zu dem vielbändigen bei Matthes & Seitz erschienen Werk «Erinnerungen eines Insektenforschers» über den «Homer der Insekten» Jean Henri Fabre.

Vincenzo Todisco «Das Eidechsenkind», edition blau

1970 lebten eine Viertelmillion italienische Gastarbeiter in der Schweiz. Eine Einwanderungswelle, die damals wie heute die Schweiz spaltete. Eine Auseinandersetzung, die in der «Schwarzenbach-Initiative», die vom Schweizer Stimmvolk mit nur 54 % verworfen wurde, gipfelte. «Das Eidechsenkind» erzählt die Geschichte eines Kindes, das nicht hätte da sein dürfen.

Das Leben im Heimatland muss hart sein, dass man sich auf den Weg in den Norden macht, in ein Land, dessen Sprache und Menschen man nicht versteht, stets am Rande der Legalität, von Arbeitgebern ausgenützt, vom Heimweh geplagt, von der Familie getrennt. Vielleicht wird das Leiden ein bisschen kleiner, wenn man die Frau nachreisen lassen darf, wenn man endlich eine Wohnung gefunden hat, ein Loch, in das man sich zu zweit verkriechen kann. Aber die Not wird unsäglich, wenn man gezwungen ist, sein Kind mit in die Fremde zu nehmen, versteckt im Zug, in einem Koffer oder im Kofferraum eines Autos. Wenn niemand, schon gar nicht die Nachbarn im Haus erfahren dürfen, dass da ein Kind wohnt, weil man befürchtet, sofort ausgewiesen zu werden, die Stelle zu verlieren, alles, was man mit viel Arbeit und Verzicht herbeibeschwören, herbeizwingen wollte.

Der Vater arbeitet auf dem Bau, die Mutter putzt. Das Kind ist Stunden alleine zuhause, gewarnt von Vater und Mutter, sich nicht bemerkbar zu machen, nur auf vereinbarte Klopfzeichen die Tür zu öffnen und sich unsichtbar zu machen, wenn unverhofft Besuch kommt. Der Junge lernt sich zu verstecken, kriecht in jede Ritze, huscht weg wie eine Eidechse vor dem Haus seiner Grossmutter Assunta. Ein Eidechsenkind.

Solange Nonne Assunta noch lebt, wohnt der Junge in Ripa, rennt Bällen hinterher, jagt Wespen, ist Teil einer glücklichen Welt ohne Grenzen. Assunta liebt ihren Enkel, erzählt ihm Geschichten, singt ihm Lieder. Alles im und um das Haus hat einen Namen, alle Geheimnisse offenbaren sich.
Als die Nonna stirbt und Mutter und Vater gezwungen sind, ihren Jungen mit ins kalte, feuchte, neblige Nachbarland im Norden mitzunehmen, wird das Eidechsenkind selbst zum Geheimnis. Alleingelassen in einer Wohnung, in einer Welt, in der alles verschlossen bleibt, nichts einen Namen hat. Das Eidechsenkind bleibt allein in einer Wohnung, in der sich nicht einmal die Vorhänge bewegen dürfen.

Erst als es grösser wird, schleicht es sich aus der Wohnung, nachts im Dunkeln, zählt Schritte überall, vermisst die Welt mit Schritten, vom Keller bis unters Dach, schleicht sich in Nachbarwohnungen, hortet liegengelassene Schlüssel, bleibt bewegungslos verborgen, wenn sich jemand bemerkbar macht. Selbst abends, wenn die Eltern zuhause sind, und der Patrone zu Besuch kommt, versteckt sich das Eidechsenkind unter der Kredenz, darauf bedacht, keine Spuren in der Wohnung zu hinterlassen.

Und doch gibt es mehr und mehr Verbündete. Den dicken Nachbarjungen, der genau wie das Eidechsenkind den Zugang zur Welt nicht findet. Der Professor mit den vielen Büchern, die einsame Frau mit der Geige und Emmy, das Mädchen, das neu im dritten Stockwerk wohnt. Emmy wird zur Bannbrechern, auch wenn es Jahre dauert und unsicher bleibt, ob sich das Eidechsenkind zum Mann häutet.

Vincenzo Todisco schriebt scheinbar einfach, bewegt sich als stiller Begleiter ganz nah an seiner empfindsamen, in sich eingeschlossenen Hauptperson. Ich als Leser blicke tief in eine eingeschlossene, eingesperrte Seele. Vincenzo Todisco tut dies aber mit derart viel Vorsicht und Liebe für seine Protagonisten, ohne je eine psychologisierenden Interpretation zu verfallen, dass das Buch zu einer eigentlichen Liebeserklärung wird. Wunderschön!

Vincenzo Todisco, 1964 als Sohn italienischer Einwanderer in Stans geboren, studierte Romanistik in Zürich und lebt heute als Autor und Dozent in Rhäzüns. Für sein literarisches Schaffen wurde er 2005 mit dem Bündner Literaturpreis ausgezeichnet. Im Rotpunktverlag liegen seine Romane in deutscher Übersetzung vor. «Das Eidechsenkind» ist seine erste Buchveröffentlichung auf Deutsch.