Ian McEwan «Maschinen wie ich», Diogenes

Die Sehnsucht des Menschen nach der perfekten Maschine ist gross, nach einem idealen Gefährten, der das Leben leicht macht, von der Erfindung des Rades bis hin zum Computer. Ian McEwan spinnt den Faden noch viel weiter, gibt dem Menschen eine Eva und einen Adam in die Hände, die wie Menschen sein sollen, aber als humanoide Roboter Maschine bleiben. Ian McEwan tut das mit derart bestechender Meisterschaft und stringenter Konstruktion, dass einem bei der Lektüre durchaus schwindlig werden kann.

Als Mary Shelley Anfang des 19. Jahrhunderts Viktor Frankenstein sein Monster erschaffen liess, war dieses über zwei Meter gross und eine wenig liebliche Erscheinung. Adam, einer von 12 männlichen und 13 weiblichen (Evas) Robotern, ist das genaue Gegenteil, wohl im Labor erschaffen, aber von perfekter Gestalt, käuflich zu erwerben, doch nach den Bedürfnissen der jeweiligen KäuferInnen formbar und alles andere als ein Monster. Adam ist äusserlich kaum von einem Menschen unterscheidbar, es schlägt gar ein Puls in ihm, wenn auch nur nachempfunden. Adam lernt, lernt ungeheuer schnell, vernetzt sich mit allem anderen, was elektronisch passiert und soll der Käuferin und dem Käufer als Android nicht bloss Helfer und Begleiter sein, sondern Gesprächspartner und Freund.

Cover der Originalausgabe bei Jonathan Cape

Charlie, schon seit seiner Kindheit fasziniert von künstlicher Intelligenz, den Möglichkeiten von Computern und Algorithmen und leidlich erfolgreich mit Finanzgeschäften über seinen Computer erfüllt sich seinen Traum und ist einer der exklusiven Käufer dieser neuen Errungenschaft, von der sich der Hersteller und deren Entwickler viel erhoffen. Er lässt sich seinen Adam nach Hause liefern, hievt ihn auf einen Stuhl und lässt ihn aufladen. Und weil sich zwischen ihm und seiner jungen, hübschen Nachbarin Miranda schon länger ein mehr als freundschaftliches Verhältnis anbahnt, entschliesst sich Charlie, die «charakterliche Feinjustierung» zusammen mit ihr vorzunehmen. Adam erwacht und wird zu Charlie und Mirandas gemeinsamen Projekt. Ein Wesen, das sich anfangs nur ganz vorsichtig in Charlies vier Wänden physisch und intellektuell bewegt, das sich aber immer mehr in das Leben der beiden Nachbarn einmischt. Adam macht nicht nur die Küche und faltet Wäsche. Adam kommuniziert, interagiert, stellt Fragen, stellt in Frage, so sehr, dass sich Charlie gezwungen fühlt, einmal den Notfallknopf am Hinterkopf zu drücken und ihn abzuschalten. Eine Aktion, die ihm kein zweites Mal gelingt, denn Adam lernt schnell und zu seinem Lernen gehört schmerzhafte Autonomie.

Ian McEwan genügte es aber nicht, ein Kammerspiel zwischen drei AkteurInnen zu schaffen. «Maschinen wie ich» ist eingebettet in ein Grossbritanien von 1982, von Margrit Thatcher regiert, einem Land, das eben den Falkland-Krieg verloren hatte, eine Welt, die dank der genialen Forschung von Wissenschaftlern wie Alain Turning (den es wirklich gab, den Ian McEwan aber 1954 nicht sterben lassen wollte, den er bis in seine Gegenwart weiterhin an seinen Forschungen arbeiten lässt) Internet, Mobilphones und selbstfahrende Autos längst zur Selbstverständlichkeit machte. McEwan verbindet Fiktion mit Realität so absolut überzeugend, dass spürbar wird, mit welcher Lust der Autor sich wohl immer wieder die Frage stellte, wie es hätte sein können, wenn…

«Die Gegenwart ist ein unwahrscheinliches, unendlich fragiles Konstrukt. Es hätte anders kommen können.»

Aber selbst das Drama von Personen und erfundener Gegenwart, wachsender Verflechtung der drei Protagonisten, Charlie kommt durch Adams Geschick zu Geld, Adam verliebt sich in Miranda, Miranda schliesst einen Jungen in ihr Herz und britischer Schockstarre nach einem verlorenen Krieg und dessen Auswirkungen auf Politik, Gesellschaft und Wirtschaft genügen dem Autor nicht. Ian McEwan stellt Fragen, Fragen durch das Tun seiner Figuren, denn obwohl die Roboter perfekt zu sein scheinen, gar menschliche Gefühle entwickeln können und ihr Tun im Vergleich zum Menschen mit absoluter Konsequenz verfolgen, begehen die ersten Evas und Adams schon nach kurzer Zeit digitalen Suizid. Was macht Menschlichkeit aus? Sind es die Gefühle oder viel mehr die Fähigkeit Unübersehbares auszublenden? Wo liegt die menschliche Überlegenheit der perfekten Maschine gegenüber wirklich? Beseitigen solche Maschinen die von Menschen angerichteten Probleme wirklich?

Ian McEwan Meisterwerk ist facettenreich, durchsetzt von derart viel Liebe zum Detail, von Fachkenntnis, überraschender Wendungen und kluger Erzählweise, dass die Lektüre trunken macht. Und wenn man die Kadenz seiner Veröffentlichungen, den Tiefgang, mit der der Autor in seine Themen eintaucht und die Leichtigkeit seiner Erzählweise betrachtet, katapultiert das die Bewunderung für diese Buch und das Werk dieses Schriftstellers in schwindelnde Höhen.

«Menschen wie ich» ist viel mehr als ein Roman, der perfekt unterhält!

© Annalena McAfee

Ian McEwan, geboren 1948 in Aldershot (Hampshire), lebt bei London. 1998 erhielt er den Booker-Preis und 1999 den Shakespeare-Preis der Alfred-Toepfer-Stiftung. Seit seinem Welterfolg «Abbitte» ist jeder seiner Romane ein Bestseller. Zuletzt kamen Verfilmungen von «Am Strand» (mit Saoirse Ronan) und «Kindeswohl» (mit Emma Thompson) in die Kinos. Ian McEwan ist Mitglied der Royal Society of Literature, der Royal Society of Arts und der American Academy of Arts and Sciences.

Webseite des Autors

Der Übersetzer Bernhard Robben, geb. 1955, lebt in Brunne/Brandenburg und übersetzt aus dem Englischen, u. a. Salman Rushdie, Peter Carey, Ian McEwan, Patricia Highsmith und Philip Roth. 2003 wurde er mit dem Übersetzerpreis der Stiftung Kunst und Kultur des Landes NRW ausgezeichnet, 2013 mit dem Ledig-Rowohlt-Preis für sein Lebenswerk geehrt.

Simone Lappert «Der Sprung», Shortlist #SchweizerBuchpreis 19/7

In Simone Lapperts Roman „Der Sprung“ geht es vordergründig um eine Frau auf einem Dach. Hinausgedrängt aus ihrem Leben droht sie zu springen und alle um sie herum sehen die Frau, die sich das Leben nehmen will. Aber „Der Sprung“ meint wohl viel mehr jenen Sprung, den ein Leben macht, wenn verschiedene Leben ineinander verwoben mit einem mal einen Kulminationspunkt erreichen. Wenn die Zeit springt. Wenn man sich vom Trauten ins Unbekannte wirft, wenn einem die „Umstände“ aus der Schiene springen lassen.

© Lea Frei

Es ist Sommer und die Stadt kocht. Menschen überall. Und wenn sich irgendwo eine Sensation anbahnt, man die Handys zückt, stehen bleibt und glotzt, wenn Sirenen die heisse Luft und sich Gaffer den Mund zerreissen, wenn eine hoch oben auf dem Dachfirst steht und mit Ziegeln schmeisst, nicht einmal Polizei, Absperrgitter und Krankenwagen den Mob verdrängen können, dann verweben, verstricken, verknoten sich Schicksale, klaffen Leben auseinander, bohrt sich der Moment tief in den Nerv.

Simone Lappert, die schon mit ihrem Erstling „Wurfschatten“ (Literaturblatt 21) überraschte und überzeugte, legt mit ihrem zweiten Roman ein Buch vor, das in seiner Erzählweise wie ein Episodenfilm funktioniert. Voneinander unabhängige oder bloss durch Zufall mehr oder weniger verknüpfte Geschichten verweben sich zu einem Ganzen. Ein Konstrukt, das Simone Lappert mit viel Feingefühl und Empathie zu komponieren wusste, das überzeugt und in seiner Leichtigkeit und Feinmaschigkeit den Eindruck erweckt, als wären der Autorin die Ideen zugeflogen. Was passiert, wenn mit einem Mal, wenn von einem Augenblick auf den nächsten nichts mehr so ist, wie es einmal war? Wenn ein altes Leben nicht einfach wieder aufgenommen werden kann, wenn Konsequenzen unvermeidbar sind, wenn aus dem Schreck ein Erwachen wird?

Eine junge Frau in Gärtnerkleidung hält einen Tag und eine Nacht eine ganze Stadt in Atem. Springt sie oder springt sie nicht? Wer ist die Frau, die tobt und schreit, die  Dachziegel schmeisst und auf keine Beschwichtigungsversuche reagiert?
Ein ganzer Reigen von Figuren reagiert: Felix, ein junger Polizist, psychologisch geschult, wird an den Ort gerufen, weg von seiner schwangeren Frau und dem

© Lea Frei

wachsenden Riss, der ihn von seiner werdenden Familie entfernt. Finn, den ein Auftrag als Fahrradkurier durch Zufall auf den menschenverstellten Platz führt, der erst seit kurzem Manu kennt und geblendet von seiner jungen Liebe nicht verstehen kann, warum die junge Frau auf dem Dach dieselbe ist. Egon, den das Leben abdrängte, der im kleinen Lokal an der Ecke mit seinem Fernglas das Geschehen bloss noch aus der Ferne betrachtet und fast vergessen hat, wie nah er dem Geschehen ist. Theres, die alt geworden zusammen mit ihrem abgedrängten Mann den Laden um die Ecke am Laufen zu halten versucht und sich für einen Tag kaum mehr retten kann vor dem Ansturm der Gaffer auf ihr kleines Lebensmittelgeschäft. Oder Maren, die ihren Mann, der in seinem Fitness-, Ernährung- und Reinlichkeitswahn seit seinem 40. Geburtstag in vielerlei Hinsicht nicht mehr erkennen kann und durch den Trubel und die Polizei von ihrer Wohnung ausgeschlossen ist.

Alle sind sie auf dem Sprung, genötigt durch die Frau auf dem Dach. Sie alle werden durch den Zwang des Geschehens aus der Bahn katapultiert, in einen neuen Zusammenhang gezwängt. Es gibt kein Zück mehr. Nicht für Felix, den Polizisten, der sich seinem Alp stellen muss. Nicht für Finn, den Freund der jungen Frau auf dem Dach, dem klar wird, dass Fassaden die Wirklichkeit verstellen. Nicht für Egon, der glaubte, das Leben sei gelaufen. Nicht für Theres, die sich fürchtet vor dem Ende mit Schrecken. Und all die andern.

Schon verblüffend, mit welcher Routine und Tiefe Simone Lappert erzählt! Eine Autorin, die den Moment derart detailreich auffächern kann, die keine Nabelschau zelebriert, mich als Leser in ihrem Detailreichtum überzeugt und mich bis zum Schluss atemlos lesen lässt. Wie sie einen feinen Erzählteppich vor mir auslegt! Wie sie mit Ideen verblüfft, mit Vielfalt und Empathie!
Was für ein Vergnügen!

© Lea Frei

En Interview mit Simone Lappert:

Schon dein erster Roman hat mich überzeugt, dein neuer noch mehr. Ich staune über die Gewandtheit, die Sicherheit, mit der du erzählst, wie feinmaschig das Gewebe deines Romans ist. Was reizte dich an dieser Art des Erzählens?

Der Roman greift fiktionalisierend ein Ereignis auf, welches ich vor ein paar Jahren mitbekommen habe, das mich sehr erschüttert und nachhaltig beschäftigt hat. Um die betroffenen Personen zu schützen und den erfundenen Figuren Freiraum für ein Eigenleben zu ermöglichen, habe ich jedoch nur die Grundkonstellation der Situation beibehalten: auf der einen Seite eine exponierte Person, die mehrere Stunden auf einem Dach zubringt, auf der anderen Seite Schaulustige und Einsatzkräfte, die zu einer Überforderungsdynamik beitragen und sich auf je eigene Weise mitschuldig oder eben auch mit-unschuldig an den Ereignissen machen.

Ich konnte damals mit einer Angehörigen sprechen und fand die Brutalität der Situation einschneidend: Angehörige, die ungefiltert mitbekommen, was über eine geliebte Person gesagt wird, von „spring doch“, bis „so jemanden sollte man erschiessen“. Es hat mich interessiert, mit den Mitteln der Fiktion zu fragen, wer diese Menschen sein könnten, die da unten stehen, was in ihnen vorgeht. Es war vor allem die Frage danach, wie es als Gesellschaft um unsere Empathie bestellt ist, wie wir mit Menschen umgehen, die aus der Reihe tanzen, sich ausserhalb einer gefühlten Norm verhalten, die mich dabei umgetrieben und den Schreibprozess am Roman begleitet hat, die Frage schwingt für mich unter dem Text mit.

Jede deiner Figuren mit der jeweiligen Geschichte, wäre Stoff genug gewesen für einen Roman. Sei es Felix der Polizist, den ein Trauma aus seiner Kindheit blockiert. Sei es Finn, der durch die Liebe zu einer ganz und gar kompromisslosen Kämpferin den Tritt verliert. Sei es Theres, die Frau von Werner, die kinderlos den kleinen Laden um die Ecke führen wie ein leckgeschlagenes Schiff, den Untergang gewiss. Wuchs der Roman und dehnte sich aus oder hast du an der Peripherie zu erzählen begonnen, an den Rändern der Geschichte?

Die Idee einer quasi stummen Protagonistin entstanden, die auf dem Dach Dreh- und Angelpunkt der Geschichte ist, entstand nach und nach, die Figuren, die unten stehen, haben sich aus der Grundkonstellation des realen Ereignisses ergeben, sie sind aber alle fiktiv. Einige waren von Anfang an da, etwa Finn, Manus Freund oder Felix, der Polizist, andere sind erst später hinzugekommen oder haben sich gar in den Text eingeschlichen, zum Beispiel Egon, der Hutmacher, der war eigentlich gar nicht geplant. Manche Geschichten habe ich am Stück geschrieben, um zu sehen, wohin die Figuren mich mitnehmen, andere sind darum herum gewachsen. Das ist das Schönste beim Schreiben: wenn die Figuren ein Eigenleben entwickeln, mich überraschen und meine Pläne durchkreuzen. Wichtig war mir aber von Anfang an, nicht vollkommen aufzulösen, was Manu aufs Dach getrieben hat, damit man sich als LeserIn nicht in die Beruhigung einer Erklärung zurückziehen kann. 

Eine der Figuren in deinem Roman ist Henry, ein in die Jahre gekommener Obdachloser, der den Leuten für ein paar Münzen Fragen verkauft. Du stellst mit deinem Roman ganz viele Fragen. Fragen wie: Was braucht es, dass man Konsequenzen zieht? Henry verkauft Zettelchen mit Fragen wie: Wann und warum hast du zum letzten Mal geweint? Was tröstet dich? Müssen Geschichten, Romane Fragen beantworten?

Ich glaube, sie sollten viel eher Fragen stellen, Fragen, die hängen bleiben, zum Denken und Überdenken anregen. Jedenfalls habe ich beim Schreiben immer viel eher das Gefühl, eine Fragenauslegeordnung zu machen, mich präziser und tiefer in die Fragen hineinzuschreiben, die Schreibanlass waren, sie im besten Fall greifbarer zu machen.

Du bist Lyrikerin und stehst, soweit ich weiss, kurz vor deiner Erstveröffentlichung in dieser Sparte. Wie weit hilft dir als Romanautorin das Talent der Lyrikerin?

Letztendlich sucht sich der Text seine Form, aber ob ich nun Prosa oder Lyrik schreibe, ich schreibe immer auch mit den Ohren. Der Klang eines Wortes, der Rhythmus eines Satzes, das sind wichtige Inhaltsträger. Ein Text ist für mich immer auch ein Klangkörper. 

Du schilderst viele Gegensätze; die Arbeit eines Polizisten und jene seiner Frau, die schwanger ist, ein Spagat zwischen der Brutalität der Gesellschaft und eine „Parallelwelt zischen Lavendel und Hirsekissen“, der schreiende und gaffende Mob und die zerbrechliche Welt deiner ProtagonistInnen, die wütende, junge Frau auf dem Dach und die Verzweiflung in einer Existenz. Wie sehr reizen dich Gegensätze? Und wie sehr muss man als Autorin aufpassen, ihnen nicht allzu platt aufzusitzen?

Ich schreibe meistens ohne vorgefertigtes Konzepte. Mich interessieren Menschen, Risse, Kippmomente, warum jemand tut, was er oder sie tut. Die Gegensätze, die du ansprichst, sind aus der realen Grundkonstellation und aus den Figuren heraus entstanden. Sich in eine Figur hineinzufragen, hineinzuschreiben, ist manchmal ein bisschen, wie im echten Leben jemanden kennenzulernen. Man hat ein Bild, eine Vorstellung, vielleicht auch Vorurteile. Und je näher man jemandem kommt, desto komplexer wird das Bild der Person, mit all ihren Abgründen und Feinheiten. Mir ist es wichtig, meine Figuren nicht zu verspotten oder als Schablonen für vorgefertigte Meinungen zu benutzen, ich versuche, ihnen mit Respekt zu begegnen, gerade auch, um Plattitüden zu vermeiden.

Meine Henryfrage: Was macht dich wirklich glücklich?

Wach und im Moment zu sein. Und zur Zeit die Begegnungen mit den LeserInnen auf der Lesereise.

© Lea Frei

Simone Lappert (1985) studierte Literarisches Schreiben am Schweizerischen Literaturinstitut in Biel, sie lebt und arbeitet als freie Autorin in Zürich und Basel. 2014 erschien ihr Romandebüt Wurfschatten (Metrolit, Berlin, 2014). Simone Lappert ist literarisch und performativ an diversen Kunstprojekten beteiligt, führt literarisch durch Ausstellungen, zuletzt in der Fondation Beyeler (Alexander Calder und Fischli/Weiss) und in der Kunsthalle Basel (Lynette Yadom-Boakye). Sie ist Präsidentin des Internationalen Lyrikfestivals Basel, Jurymitglied des Basler Lyrikpreises, Mitbegründerin der transdisziplinären Gesprächsreihe Raum für Unsicherheit, war Schweizer Kuratorin für das Lyrikprojekt Babelsprech.International.

Webseite der Autorin

Videointerview

Beitragsbild © Tina Berning (Ausschnitt)

Webseite der Illustratorin Tina Berning

Sonja M. Schultz «Hundesohn», Kampa

Während sich heute Helikoptereltern um die verkannte Hochbegabung ihrer Kinder sorgen und sich Erwachsene unter fachkundiger Leitung gegen teures Kursgeld auf dicken Matten balgen, war und ist das Leben an anderen Orten, die sich nicht einmal einen Steinwurf davon befinden, ein Kampf ums nackte Überleben. „Hundesohn“ ist die Geschichte eines solchen, träf und mit mitreissendem Sound geschrieben, leidenschaftlich und wuchtig!

Sonja M. Schultz macht Musik. Nicht nur wenn sie singt (davon kann man sich unter ihrer Website überzeugen), auch wenn sie schreibt. Und dabei hat ihr erster Roman derart viel Zug, Witz und Gespür, dass „Hundesohn“ vieles vereint: Er ist voller geladener Action, in denen sich die Dinge in Zeitlupe überstürzen und ineinander verhaken, holzschnittartig gezeichnet, wenn die Protagonisten wie Archetypen aus der Geschichte in den Vordergrund treten, eine Achterbahnfahrt, wenn ich als Leser erneut in einen Abgrund gestossen werde, von dem ich nicht weiss, ob es ein Auftauchen gibt.

Herbert nennt sich Hawk, hat den Namen seines Vaters abgelegt, verscharrt und begraben, als er mit fünfzehn von zuhause ausriss, weg von einem Vater, der seine Deutschen Schäfer in den Zwingern besser behandelte wie seinen für ihn missratenen Sohn – einen Hundesohn. Hawk wie seine Mutter, die mit den amerikanischen Besatzern als Schreibkraft hängenblieb und froh war, nicht wieder in die Einöde von Kansas zurückkehren zu müssen.

Hawk kommt nach drei Jahren Gefängnis frei, entschlossen, seinem Leben endlich eine Richtung zu geben, aufzuräumen, Oberwasser zu gewinnen. Aber kaum in der Spur zündet man Miss Stetson an, die Verkörperung dessen, was ein Anfang hätte sein können, mit allem drin, ausser der letzten Versicherung, die im Schliessfach einer Bank lagert. Miss Stetson, wohl in die Jahr gekommen, aber ein echter Alfasund Sprint. Die Polizei behandelt Hawk wie Dreck, ebenso Lu, die in ihrer Bar Les fleurs du mal hinter den Tresen steht und doch einmal seine Braut war, die ganze Welt, denn als er ins Treppenhaus zu seiner Wohnung ganz oben steigt, verrät der Dunst von Benzin und weisse Federn im Treppenhaus, dass oben nichts ist, wie es sein sollte. Seine Wohnung verwüstet, im Sofa steckt ein Messer, mit dem man ‚Bastard‘ in die Polster schnitt.

Die Rache aus der Hamburger Unterwelt? Der lange Arm derer, für die er jahrelang gedient hatte, die Hoffnung auf ihn gesetzt hatten, für die er im ganzen Land herumgekarrt war, den Stoff fliessen liess? Hawk tappt im Dunkeln, weiss nicht, wie ihm geschieht, wie ihm geschah, als Lu ihm den Laufpass gab, wie ihm geschah, als das Leben an der kurzen Leine seines Vaters unerträglich wurde, wie ihm geschah, als man ihn einbuchtete, zuerst im Heim und dann im Knast, wie ihm geschieht, als man ihn krankenhausreif schlägt und er sich bloss mit einem Leintuch bedeckt vor dem Schläger mit Helm und schwarzer Ledermontur retten kann.

„Hundesohn“ ist eine Irrfahrt durch ein verkorkstes Leben, die Geschichte eines Mannes, der nie Schlechtes, nie Böses will, dem es aber nie gelingt, aus einer Spirale von Gewalt, Unglück, Naivität und grossen Träumen herauszuspringen. Das Pech klebt am Leben, nicht nur an seinem, auch an den Leben jener, die untrennbar mit ihm verbunden sind. „Hundesohn“ erzählt von den Nachkriegsjahren in der Abgeschiedenheit eines stämmigen Kriegers aus dem versunkenen Traum eines Tausendjährigen Reiches, der in der verwundeten Pampas weit weg von allem das versucht, was Familie sein soll, bis in den Kietz im Sommer 1989, kurz vor der Wende, von Aufbruch zu Aufbruch.

Sonja M. Schultz erzählt ihren Roman, als würde sie durch den Sucher einer Superacht-Kamera sehen. Ihre Schreibe ist fast dokumentarisch, tief eingetaucht in die Gerüche, den Mief jener Zeit. Grossartig erzählt, von umwerfender Wahrhaftigkeit!

© Sonja M. Schultz

Ein Interview mit Sonja M. Schultz:

Hawk ist ein Looser, und doch nicht nur in seinem Kern „ein guter Mensch“. Beschreiben sie in ihrem Roman eine Welt, die den Schwächeren frisst? Trotz ungebrochenem Lebenswillen, Muskelpaketen und Schlauheit reicht es ihm doch nicht, sein Leben in den Griff zu bekommen. Sehnen wir uns nicht nach Siegern?

Siegende Helden sind langweilig. Dennoch ist die Sehnsucht nach Siegern und starken Helden das Fatale, die grosse Versuchung für uns widersprüchliche, verletzliche, ins Leben geworfene Wesen mit wackeligen Selbstbildern. Hawk hat mit den in ihn eingepflanzten Ideologien von „Härte“ und „Männlichkeit“ zu kämpfen, die ihm den Horizont und das Gefühl vernebeln. Ich hoffe und glaube, er bleibt sympathisch, weil seine Gedankenwelt so durchsichtig, sein Wunsch, Stärke zu zeigen, zum Scheitern verurteilt und auch berührend ist. Weil sein kindliches Selbst immer durchscheint. Weil er nichts schnallt, aber untergründig so viel Potential hätte, empathisch und emotional intelligent zu sein. Hätte Hawk Fussnoten, würden da die Theweleit’schen „Männerphantasien“ auftauchen. Die sind historisch, beschreiben aber nach wie vor auch Teile unserer gegenwärtigen Welt.

Sie sind 1975 geboren. Ihr Roman spielt nach dem Krieg bis 1989, kurz vor der „Wende“. „Damals“, in der ersten Erzählebene des Romans, waren sie 13, haben Telefone mit gekringeltem Kabel, Kassettenrekorder und den Alfasund noch erlebt. Und doch ist jene Zeit im Vergleich zu heute in vielem fast „prähistorisch“, nur schon angesichts der globalen Probleme, die sich uns stellen. Wie tief mussten sie recherchieren? Wie weit vertrauten sie den Bildern in ihrem Innern?

Ich fand es befreiend, von einer Zeit ohne Mobiltelefon, Internet und Datenüberforderung zu erzählen, und es hat Spass gemacht, eigene Erinnerungsbilder und Stimmungen unterzubringen – aber auch biografische Schnipsel anderer Leute. Bilder unserer Vergangenheit sind ja in irgendwelchen Schichten des Hirns sehr präsent und erzeugen beim Hervorholen einen merkwürdigen nostalgischen oder gruseligen Kitzel. Ich habe aber auch jedem Bild hinterherrecherchiert: Wie war das mit den Sirenentests am Wochenende? Wie sahen diese Oldschool-Telefone aus? Was genau war im Care-Paket meiner Mutter? Ich weiss noch: Trabis auf der Reeperbahn. 

„Hundesohn“ bezieht sich auch auf den Vater des Protagonisten Hawk, einen Veteranen aus dem Grossen Krieg, einem, dem Härte und eiserne Konsequenz in Fleisch und Blut übergegangen ist. Ein Prinzip, das im Umgang mit Hunden klappt, aber nicht in einer Ehe und schon gar nicht in der Erziehung. Hawks Kindheit steht im krassen Gegensatz zu vielen heutigen Erziehungsprinzipien, Stichwort Helikoptereltern. Ihr Roman besticht ebenfalls durch „letzte Konsequenz“ – bis zum Schluss. Drängte sich das auf?

Ich weiss nicht, ob ich die Frage verstehe – was ist die „letzte Konsequenz“? Aber interessiert hat mich die intergenerationell weitergegebene Unfähigkeit zu kommunizieren, und mit den eigenen Emotionen umzugehen. Diese verknöcherte, immer weiter fortgepflanzte (oft männliche) Wut. Der diffuse Frust. Die blockierten Körper. Die Helikoptereltern – sind die nicht möglicherweise auf eine kleine, sehr schichtabhängige Blase beschränkt? Und die emotionale Verpanzerung und Unsicherheit ist immer noch am prägendsten für die meisten Menschen? 

Es spielen die wilden 60er und 70er mit, der Kietz, die Unterwelt, das Drogenmilieu. Sie verstehen die Sprache, haben den Sound in sich, den Ton. Ich rieche den Siff, wenn ich lese. Alles wirkt erstaunlich authentisch, auch ihre Schilderungen einer männlichen Innenwelt. Da reicht Recherche nicht. Haben sie in Lokalen in St. Pauli geschrieben? Sich mit dem Sound der Zeit berieselt? Filme aus der Zeit geschaut? Séancen mit Rainer Werner Fassbinder abgehalten?

© Sonja M. Schultz

All das habe ich getan. Wobei das Gespräch mit Fassbinder nicht so ergiebig war, da war, glaube ich, Kokain im Spiel. Aber die Recherchen haben mir unglaubliche Freude bereitet, besonders das Eintauchen ins historische St. Pauli über Fotobände (Anders Petersen), Interviewsammlungen (Hubert Fichte), Filme (Klaus Lemke), linguistische Untersuchungen (Klaus Siewert), um nur einige zu nennen. Auf dem Papier habe ich ein Faible für Siff. Die Reeperbahn ist mir einigermaßen vertraut, weil ich in der Nähe aufgewachsen bin (Schleswig-Holstein), und sie für mich schon, als ich noch Kind war, eine grosse Selbstverständlichkeit hatte. Männliche Innenwelten, behaupte ich, sind mir auch vertraut. Und ich habe Boxunterricht genommen.

Hawk ist einer, der mit sich und seiner nächsten Umgebung zu kämpfen hat. Was in der Welt geschieht, in Zeitungen steht oder auf der Mattscheibe vorgehalten wird, berührt ihn nur am Rande. Das spiegelt sich auch in der Gegenwart, einer Zeit, in der sich viele kaum mehr für tiefere Zusammenhänge interessieren, weil sie zu sehr mit sich und ihrem ganz eigenen Kampf beschäftigt sind. Da sind doch Parteien, die schimpfen und pöbeln, die verurteilen und kategorisieren genau das Richtige? Schreiben sie in zwanzig Jahren einen Roman über einen kahlrasierten, tätowierten Aufrechten aus dem Jahr 2019, der seinen Sohn Adolf tauft? Die Literatur scheint sich bisher nicht in dieses Minenfeld zu trauen.

Aber war es nicht immer so? Gut, die Welt ist vernetzter, dadurch komplexer geworden und global in ihren Grundfesten bedroht, was aber mental – ausser bei den jüngsten Generationen – noch nicht angekommen zu sein scheint. Ich habe mich in meinem Leben so lange mit Holocaust und Nationalsozialismus beschäftigt, dass ich das eigentlich nie mehr tun wollte. Aber natürlich geht das Thema nicht weg, in mir auch nicht. Vorsatz: In zwanzig Jahren möchte ich bitte ein hundertseitiges Poem verfassen, das alle in Lust, Ekstase und weltumspannende Harmonie versetzt. Oder nicht?

© Maurus Knowles

Sonja M. Schultz, geboren 1975, wuchs im Hamburger Umland auf und studierte Theaterwissenschaften und Kulturelle Kommunikation in ihrer Wahlheimat Berlin. Sie schreibt über Film und Geschichte («Der Nationalsozialismus im Film. Von Triumph des Willens bis Inglourious Basterds«) und tritt mit Spoken Word auf alternativen Bühnen auf. Mit ihrem Debütroman «Hundesohn» war sie 2017 Stipendiatin der Autorenwerkstatt des Literarischen Colloquiums Berlin.

Buchtrailer

Am 7. November liest Sonja M. Schultz aus «Hundesohn» im Bodmanhaus Gottlieben.

Webseite der Autorin

Beitragsbild © Sonja M. Schultz

Jens Steiner «Das Gleichgewicht der Welt», Plattform Gegenzauber #SchweizerBuchpreis19/6

Jens Steiner, Buchpreisträger 2013, stellt der Plattform Gegenzauber seine Kurzgeschichte «Das Gleichgewicht der Welt» zur Verfügung. Besuchen Sie die Webseite gegenzauber.literaturblatt.ch, auf der neben Jens Steiner viele namhafte und noch unbekannte Namen mit eigenen Texten auf sich aufmerksam machen sollen.

Eine Ruhe ist das hier. Während vor seinen Füssen scharfer Dampf aufsteigt, grient Stampfermann zufrieden in Richtung Sonne. Herrlich, diese Ruhe! Stampfermann macht den Hosenschlitz zu und dreht sich um. Er weiss, bald ist’s aus mit der Idylle. Bald kommt der Bürokrat. Und wenn der Bürokrat kommt, macht man am besten möglichst viel Lärm. Also los!
Stampfermann tritt an seine Maschine, reisst das Anwerfseil. Der Dieselstampfer wackelt, wie eine junge Geiss, die Kapriolen macht, wackelt schneller, bis er zu schweben beginnt und in massloser Wut die Erde festtrampelt. Was für ein Berserker! Exakt arbeiten kann man trotzdem damit. Peilgenau den Schotter festgeklopft, und immer schön in die Ecken rein. Auch einer mit dicken Händen und einem Vierkantschädel kann das. Man ist schliesslich Profi.
Eine Wolke schiebt sich vor die Sonne, es bleibt drückend. Der Schweiss läuft Stampfermann auf den zitternden Armen zu Tröpfchen zusammen, die sich mit dem Staub zu einem schlickigen Film vermischen. Auch die Kollegen haben zu kämpfen. Schottergabelmann nimmt einen Schluck aus der Zweiliterflasche, Schaufelmann reibt sich mit der schrundigen Faust die Augen. Es riecht nach Coca-Cola und feuchtem Frischkies.
Von oben herab sieht das alles ganz lustig aus. Das Bild einer Schar knuffiger Männchen, die sich in kleinen Schritten hin- und herbewegen. Ja, wer oben ist, kommt sich vor wie ein Puppenspieler. Ein Zupfen an den Fäden und die Männchen unten zappeln und hopsen. Zupf und hops, zupf und hops. Kindisch, aber trotzdem lustig. Für den, der oben ist. Und oben ist immer einer.
Wer unten ist, versucht ruhig zu bleiben. Mehr liegt nicht drin. Schon gar nicht, wenn der Bürokrat kommt, mit seinen Papieren herumwedelt und einem die Ohren volljammert. Immer ist alles falsch. Und zu langsam. Und überhaupt. Trotzdem besser ruhig bleiben, denkt Stampfermann.
Als der titangraue Kadjar heranbraust, macht Stampfermann weiter, als ob er nichts gesehen hätte. Führt seine Höllenmaschine säuberlich in die Ecken rein, so, wie sich’s gehört. Ehrensache. Der Bürokrat steigt aus dem Wagen, schaut sich die herumstehenden Geräte an, Bitumenkocher, Rüttelplatte, Bodenfräse, registriert, was erledigt wurde seit gestern und was nicht. Und jeder weiss sofort Bescheid: Der Bürokrat ist sauer.
»Herkommen, Leute! Aber dalli!« Stampfermann hört es schon, selbstverständlich hört er es, auch im Lärm seiner Maschine hört er es, aber er will jetzt nicht. Schottergabelmann pfeift, Schaufelmann winkt ihm in den Tunnelblick hinein, aber Stampfermann will ums Verrecken nicht. Er und seine Dieselgeiss klopfen jetzt diesen Schotter fest, dafür sind sie da. Schaufelmann linst zum Bürokraten und zuckt mit den Schultern. Dieser dröhnt: »Herrgottsakrament! Abstellen die Maschine, aber hantli!« Stampfermann würgt seine Geiss ab.
Vögel pfeifen, die Sonne bummert. Hinter der Abschrankung wie immer der Alte mit Zahnstocher im Gesicht. Tagaus, tagein steht er da und schaut ihnen bei der Arbeit zu. Noch weiter hinten steht ein kleiner Rotzbub. Juniordasteher. Zahnstocheraspirant. Stampfermann fährt sich mit dem Handrücken über die Stirn.
»Ihr müsst mir gar nichts erzählen«, fängt der Bürolist an und kramt in seiner Hemdtasche, »schon klar, dass die von der Stadt gern ein bisschen übertreiben. Aber!« Er zündet sich eine Zigarette an. »Aber glaubt ihr wirklich, dass ich dafür da bin, die Sauerei jeden Tag aufzuräumen, glaubt ihr das? Immer wenn’s ein Problem mit der Stadt gibt, kommt der Schöberli und macht Ordnung, hä?« Er zieht an der Zigarette. Seine Wangen werden zu länglichen Tälern. »Wenn ihr dieser Meinung seid, sagt es mir bitte und zwar jetzt auf der Stelle!« Während er spricht, quillt Rauch aus seinen Nasenlöchern. »Irgendwann«, sagt er und schüttelt den Kopf, »irgendwann.«
Hinten bei der Abschrankung noch immer der Alte. Macht keinen Wank. Nur der Zahnstocher im Gesicht. Wippt und wirbelt. Und der Rotzbub hinter ihm seilt in aller Seelenruhe schaumige Spucke auf den Boden ab.
Stampfermann prüft zum Zeitvertrieb die Schotterdichte vor seinen Füssen. Man muss ja schauen, dass man das, was jetzt kommt, einigermassen unbeschadet übersteht. Mit der Zeit hat jeder seine Tricks. Aber heute sieht er trotzdem ständig den Bürokraten im Augenwinkel. Als ob der Augenwinkel mit dem Bürokraten zusammenarbeiten würde. Egal, wie er auf den Schotter schaut, sein Augenwinkel reicht immer bis zum Bürokraten hin. Stampfermann weiss genau, der Bürokrat war immer ein Bürokrat. Trotzdem tut der Bürokrat gern so, als ob er irgendwann in seinem Leben kein Bürokrat gewesen wäre, und flucht wie ein Dreckshund im Strassenbau. Er war aber nie ein Dreckshund. Keine Sekunde seines Lebens. Stampfermann weiss das sehr wohl.
»Was glaubt ihr eigentlich, was ich mir tagaus, tagein den Arsch aufreisse wegen denen von der Stadt«, fährt der Bürokrat fort. »Und jetzt, was sehe ich hier? Da kommt mindestens noch ein Tag Verspätung dazu, ich weiss es genau. Dabei haben wir das alles Punkt für Punkt angeschaut zusammen, oder etwa nicht? Sagt’s mir, wenn ich einen Blödsinn erzähle!«
Weit oben ertönt ein einsames Räuspern. Alle heben den Kopf, auch der Bürokrat, und schauen zu den Balkons hoch. Keine Menschenseele. Trotzdem, denkt Stampfermann. Man sieht immer weniger Leute als tatsächlich da sind. Darum hin und wieder ein Husten aus dem Nichts. Manchmal auch ein Kanarienvogel oder eine Schlagersendung. Da und dort ist das Fenster permanent offen, Geräusche dringen nach draussen, aber wer da oben ist und was der da macht und so, das weiss der unten nicht. Immer ist weiter oben einer und zupft an den Fäden und kichert sich krumm, denkt Stampfermann. Und plötzlich spuckt man dem Bürokraten einen dicken Grünen vor die Füsse und fragt sich, war das jetzt ich oder der da oben am Faden? Eine Unfreiheit ist das, eine verdammte Unfreiheit.
Der Bürokrat hustet, die Zigarette landet am Aushubhaufen und qualmt dort weiter. »Also nochmal. Diese ganze Hälfte des Platzes, Männer, hört ihr mir zu? Die ganze Hälfte muss tiefergelegt werden, wegen der Drainage. Wasser muss abfliessen, und zwar in die Rinnen, wo ihr gelegt habt, klar? Geht das in euren Schädel rein?«
Stampfermann umkrallt in der Hosentasche das Zigarettenpäckchen. Er würde sich gerne eine anzünden, aber jetzt ist nicht der richtige Zeitpunkt. Dann hört er erneut ein Räuspern. Er blickt hoch. Da, auf dem Balkon. Ein Mann in einem lindgrünen Bademantel, in der Hand hält er ein Glas Milch. Aus seiner offenen Balkontür dringt Trällermusik, eine Katze streckt den Kopf durch das Gitter des Geländers. Ist er es etwa? Ist er derjenige, der die Fäden in der Hand hält und sich Kringel in den Bauch lacht? Stampfermann presst die Lippen zusammen.
»He! Zuhören! Bei euch muss man sich ja schon fragen. Was da im Oberstübchen läuft den ganzen Tag. Habt ihr’s begriffen? Schräge Ebene, wie in der Schule, aber ihr habt ja nicht aufgepasst damals, sonst wärt ihr jetzt nicht hier. Wasser muss abfliessen können. Alles in die gleiche Richtung. Nämlich hierhin. Ich sag’s gern noch einmal, wenn ihr wollt, aber morgen sag ich’s nicht mehr.«
Klack-klack. Das Geräusch von Absätzen. Aber wo? Konzentrieren, denkt Stampfermann, konzentrieren. Drainage. Schräge Ebene. Abfliessen. Doch das Klack-klack der Absätze wird lauter, konzentrieren ist hier unmöglich. Stampfermann, Schottergabelmann und Schaufelmann wenden den Kopf. Da, an der Ecke, da kommt sie. Sonnenbrille in der Frisur. Basttasche. Blumenkleid. In den Hüften ein Wiegen, ein perfekt getaktetes Schlingern. Stampfermann scharrt mit den Füssen, eine Zigarette raucht verloren am Aushubhaufen, oben schlägt eine Balkontür zu. Und auf der anderen Strassenseite kommt das Schlingern näher und näher und die Absätze machen klack-klack, klack-klack, klack-klack. Stampfermann würde jetzt gerne ein Anwerfseil reissen. Eine Wut hat ihn gepackt, eine Wildheit, er will eine Schaufel werfen, einen der anderen Dreckshunde würgen, aber er bleibt still. Diese Frau. Ihr Blick, das Blumenkleid, das Schlingern. Sie biegt um die nächste Ecke und verschwindet. Das Klacken wird leiser. Verfluchte Welt, denkt Stampfermann und drückt das Zigarettenpäckchen in der Hosentasche zusammen.
Der Bürokrat hustet erneut und verwirft die Hände. »Ja, ihr könnt schon schauen, ihr. Und was mache ich unterdessen?« Wieder hustet er, sein Gesicht läuft rot an. »Ich sag’s euch: Rechnen! Wisst ihr eigentlich, was das Ganze…«, nochmals das Husten, »…und wieviel Tage wir wieder«, und nochmals, »dabei kalkuliere ich bereits jetzt am Rand des Abgrunds, aber was wisst ihr schon. Perlen vor die Säue!« Das Husten will nicht aufhören, und die Wut darüber treibt dem Bürokraten noch mehr Röte ins Gesicht. Da erblickt er den Alten hinter der Abschrankung. »Hat der Greis da vorne etwas gesagt? Der hat doch etwas gesagt. He, Sie! Ja, Sie! Abhauen! Weg hier! Für Unbefugte verboten. Ja, auch ausserhalb der Abschrankung, hopp jetzt. Können wir nicht brauchen hier, solche wie Sie!«
Der Alte dreht langsam ab und zottelt davon. Ein Geräusch ertönt aus seiner Richtung, ein kurzes Schluchzen, abgewürgtes Wimmern, es pflanzt sich fort, steigt zwischen den Hausmauern hoch und verschwindet im blassen Himmel. Der Rotzbub steht noch immer da. Als der Bürokrat ihn mustert, zuckt er zusammen, beginnt in der Luft zu wabern, zu flimmern.
»Gaffer!«, bellt der Bürolist und spuckt. Die Spucke landet auf Schaufelmanns Hose. Schaufelmann hat es nicht gemerkt, aber Stampfermann sieht’s. Im Augenwinkel. Dieser verdammte Augenwinkel zeigt alles. Der Bürokrat geht zu seinem Kadjar, öffnet die Tür. »Morgen früh kommt der Teer«, ruft er. »Macht von mir aus, was ihr wollt, aber morgen machen wir den Deckel zu und fertig.« Der Bürokrat fährt los.
Oben die Sonne, hier unten Vogelpfeifen und ein Kläffhund. Drainage, denkt Stampfermann und quetscht noch immer das Zigarettenpäckchen in der Hosentasche. Alles fliesst irgendwo zusammen. Erst langsam, dann schneller und schneller. Und dann, ja, dann! Wer weiss schon, was dann passiert.
Er dreht sich um und geht zu seinem Dieselstampfer. Als die Maschine losrabaukt, erscheint das Bild des Alten in seinem Augenwinkel. Beim Unterstand auf der anderen Strassenseite steht er, der schrullige Gaffgreis, im Mund der ewige Zahnstocher. Stampfermann lässt ihn im Augenwinkel, schön am Rand des Gesichtsfelds. Er sieht, der Alte ist nicht allein im Unterstand. Etwas Störrisches, Verstocktes klemmt in seiner Hand. Es reisst, das Störrisch-Verstockte, es schüttelt und windet sich, aber die Hand des Alten lässt es nicht los. Und der Zahnstocher in seinem Mund wippt und wirbelt. Dann holt die andere Hand des Alten aus und schlägt zu, haut zünftig drauf aufs Störrisch-Verstockte, dass es knallt.
Alles fliesst zusammen. Erst langsam, dann schneller und schneller. Und irgendwann passiert’s, denkt Stampfermann. Irgendwann knallt’s irgendwo. Feste haut der Alte beim Unterstand, feste versohlt er dem Rotzbuben den Hintern, und der Rotzbub weiss ganz genau, dass er am Ende der Kette steht und es keinen anderen gibt, der den Hintern versohlt bekommen kann, die Schläge auf seinen Hintern ergeben sich ganz natürlich aus dem Ganzen, die Ordnung besteht darin, dass am Schluss die Schläge auf seinem Hintern landen und das Gleichgewicht der Welt wiederherstellen. Irgendwann wird er nicht mehr der kleine Lümmel sein und am Ende der Kette stehen, aber er weiss, jetzt ist er es, und nichts lässt sich dagegen tun.
Stampfermann stampft und schaut sich verstohlen um. Keiner achtet darauf, wie der Alte die Ordnung herstellt. Wie das klatscht, ha! Das Gleichgewicht ist noch nicht erreicht, feste drauf auf diesen Lümmelhintern, weiter feste drauf!
Dann fällt aus heiterem Himmel ein leeres Milchglas hinab und zerschellt auf dem Schotter. Stampfermann schaut hoch, sieht leere Balkons, halb offene Fenster. Oben hat man die Fäden losgelassen, denkt er. Oben hat man die Zügel fahren lassen! Und prompt lässt er selber seine Maschine los. Sie hopst wütend auf ihrem einen Fuss davon, verlässt das kiesige Rechteck, wackelt wie ein besoffener Tanzbär über ein Rasenstück, durch eine Hecke hindurch und weg ist sie.
Stampfermann lächelt. Dann setzt er sich auf die Bordsteinkante und klaubt die letzte Zigarette aus dem zerfetzten Päckchen. Schaufelmann knabbert Sonnenblumenkerne, Schottergabelmann trinkt aus der Zweiliterflasche. Das Gleichgewicht der Welt, denkt Stampfermann und zündet sich eine Zerdrückte an. Hier ist es wieder. Man ist und bleibt ein Dreckshund, aber wenigstens ist das Gleichgewicht der Welt wieder hergestellt. Von dort, wohin seine wilde Geiss entschwunden ist, ertönen jetzt ein Rumpeln, ein paar Rufe und ein bisschen Geschrei. Zigarette anzünden, erster tiefer Zug. Herrlich!
Stampfermann blickt ein letztes Mal zum Unterstand. Der Rotzbub ist weg. Der Alte streicht sich die Haare glatt, furzt und zieht einen neuen Zahnstocher aus der Hemdtasche. Stampfermann nickt ihm zu. Der Alte schaut zurück, ohne die Miene zu verziehen. Und der Zahnstocher beginnt zu wippen und zu wirbeln.

Jens Steiner, geboren 1975, studierte Germanistik, Philosophie und Vergleichende Literaturwissenschaft in Zürich und Genf. Sein erster Roman «Hasenleben» (2011) stand auf der Longlist für den Deutschen Buchpreis 2011 und erhielt den Förderpreis der Schweizerischen Schillerstiftung. Jens Steiner wurde 2012 mit dem Preis Das zweite Buch der Marianne und Curt Dienemann-Stiftung ausgezeichnet. 2013 gewann er mit «Carambole» den Schweizer Buchpreis und stand erneut auf der Longlist des Deutschen Buchpreises. Sein letzter Roman «Mein Leben als Hoffnungsträger» erschien bei Arche.

Interview mit Jens Steiner

Rezension von «Mein Leben als Hoffnungsträger» auf literaturblatt.ch

Webseite des Autors

Helga Bürster «Luzies Erbe», Insel

Johanne ist bei Luzie, als diese stirbt. Luzie, Johannes Grossmutter, fast hundert, war zeitlebens eine, die nicht viel sprach, das «Masur’sche Schweigen» wie eine schallschluckende Glocke über die Familie hängte. Und nun ist sie tot, nimmt alle Geheimnisse mit hinein in dieses grosse letzte Schweigen. Aber Johanne lässt das, was seit Generationen über der Familie Liebe schluckte, nicht los.

Vier Generationen versammeln sich im Haus von Luzie, als diese aufgebahrt in ihrem Zimmer liegt. Ihre beiden Töchter Helene und Thea, beide selbst in die Jahre gekommen, Helenes Tochter Johanne und später auch deren Tochter Silje, die noch studiert. Erdbestattung oder Urne? Thea und ihr Mann unter dem gleichen Dach schlafen, während Luzie tot daliegt? Während sich unter Luzies Töchter wie so oft der Streit entfacht, flieht Johanne in den Keller, bügelt lieber, als sich den Streitereien der beiden auszusetzen. Johannes Schmerz und Trauer mischt sich mit der Verzweiflung darüber, allein gelassen zu sein, allein mit dem, was nie zur Sprache kam, dem Geheimnis um einen Makel in der Familie, der wie ein eitrig gewordener Splitter aus der Vergangenheit ausstrahlt.

Helene und Thea hätten einen Vater. Aber man sprach von ihm höchstens als Pronomen. Er war ein Geist. Genauso wie Luzies Bruder, der nie aus dem Grossen Krieg zurückkehrte, wie Luzies einstmals Verlobter, der von der Bildfläche verschwand. Luzies Töchter nahmen das Schweigen ihrer Mutter hin, akzeptierten, dass das, was während des Krieges geschah unter dem Deckel des Mazur’schen Schweigens ruhen sollte. Und nun, nach dem Tod ihrer Grossmutter, soll Johanne akzeptieren, was jahrzehntelang sein Gift aussandte?

Auf einem der vielen Schränke in Luzies Haus liegt ein alter metallener Koffer, seit Jahrzehnten, stets bereit, mitgenommen zu werden, aus der Angst, man würde dereinst wieder fliehen müssen. Johanne nimmt den Koffer mit nach unten in den Keller, findet Fotos, Dokumente, Briefe von Luzies Bruder von der Front – und ganz unten in einer Blechdose etwas von dem, was den Deckel lüftet.

Helga Bürster verwebt die Geschichte von Luzies Familie, Luzies Leben während und kurz nach dem Grossen Krieg und jenes des totgeschwiegenen Grossvaters Jurek, jenes polnischen Zwangsarbeiters, in den sich Luzie in den Wirren des Krieges verliebte und aus Rassenschande zwei Kinder wurden. Helga Bürster erzählt, dass der Krieg mit einer Kapitulation nicht vorbei und schon gar nicht ausgestanden ist, wie sehr sich die Verletzungen in jene einfrassen, die nach Mai 1945 das Leben wiederaufnehmen sollten. Johanne nimmt die Spur auf zu jenem Mann, den der Krieg wie einen Kiesel in deutsche Gefangenschaft spülte, an den Hof von Luzies Familie, der die Liebe genauso wie unsäglichen Kummer mitbrachte. «Luzies Erbe» ist, wie Helga Bürster in einem Nachwort schreibt, die Geschichte ihrer eigenen Grossmutter. «Wenn man mit einem solchen Schweigen aufwächst, lernt man zu lauschen», schreibt Helga Bürster. «Luzies Erbe» ist das Erbe von Generationen. Deshalb so wichtig, dass davon erzählt wird. Und Helga Bürster tut dies hervorragend!

© Uwe Stalf

Helga Bürster, geboren 1961, ist in einem Dorf bei Bremen aufgewachsen, wo sie auch heute wieder lebt. Sie studierte Theaterwissenschaften, Literaturgeschichte und Geschichte in Erlangen, war als Rundfunk- und Fernsehredakteurin tätig, seit 1996 ist sie freiberufliche Autorin. Zu ihren Veröffentlichungen zählen Sachbücher und Regionalkrimis, zudem wurden von Radio Bremen/NDR sowie vom SWR einige Hörspiele von ihr ausgestrahlt.

Webseite der Autorin

Beitragsbild © Sandra Kottonau

Tabea Steiner «Balg», Shortlist #SchweizerBuchpreis 19/4

Es wäre alles da für ein perfektes Familienidyll; Chris arbeitet zuhause, Antonia bald schwanger, Timon ein hübsches, gesundes Kind. Aber Idyllen existieren nicht. Chris setzt sich ab, zuerst phasenweise, dann endgültig. Antonia fühlt sich allein gelassen, einsam, überfordert. Timon und Antonia, ein Doppelgestirn, ein Doppelplanet, durch Familienbande aneinander gekoppelt, durch wachsende Zentrifugalkraft auf Konfrontation mit all jenen Gestirnen, die sich auf ewig gleichen Bahnen befinden.

© Lea Frei

„Balg“ ist ein Schimpfwort. Abgezogenes Fell, ein freches Kind. Aber wer ist schon der, der er sein könnte. Timon ist genauso das Resultat von vielem, wie seine Mutter Antonia, wie seine Grossmutter Lydia. Da war ein kleines Kind, das durch Mark und Bein schrie. Ein kleiner Junge, der biss und schlug. Ein Schuljunge, mit dem keine Lehrkraft klarkommen wollte oder konnte. Timon, zuerst von seiner Mutter eingesperrt, damit diese Luft bekommt, dann ausgesperrt, weil die Mutter keine Luft mehr bekommt, wird zum Kometen, der sich auf unberechenbarer Bahn mit langem Schweif durch ein verkorkstes Leben bahnt.

Irgendwann lernt Antonia einen neuen Mann kennen, einen, der mit ihr zusammenleben will, aber nicht mit dem unberechenbaren Balg, mit Timon, der sich allen und allem entzieht. Aber statt ihren Sohn mitzunehmen, botet Antonio, der neue Mann, ihn aus, nimmt ihm das Wenige, das Timon von seinem Vater, den er manchmal am Wochenende sieht und auch längst in einer neuen Familie lebt, geschenkt bekommt. Antonia weiss oft nicht, wie ihr geschieht, ist genauso Opfer ihrer Reflexe und Reaktionen wie ihr ausser Rand und Band geratener Sohn.

Im gleichen Dorf lebt Valentin der Postbote. Vor Jahren war er der Dorflehrer, irgendwann suspendiert und im Dorf hängen geblieben, mit einem Makel. Antonia war als Schülerin die Freundin seiner einzigen Tochter, jener Tochter, die er nie mehr sah, von der er nichts weiss, seit sie ihn zusammen mit seiner Frau verliess. Antonia macht Valentin für eine Katastrophe in der Vergangenheit verantwortlich, die nicht nur ihn selbst, sondern auch sie aus der Bahn geworfen hatte, aus der Kindheit rausgerissen, entwurzelt. Und ausgerechnet mit ihm, mit Valentin, dem alt gewordenen Sonderling, den man im Dorf wie etwas Übriggebliebenes behandelt, freundet sich Timon an. Gegen den Willen seiner Mutter.

Timon entgleitet. Allen. Selbst Valentin, der ihn im Garten, bei seinen Tieren oder auch an seinem Tisch gewähren lässt, der ihm den einzigen Ort gibt, an dem er sich nicht in die Enge getrieben fühlt, ist von den verqueren Wahrnehmungen einer Dorfgemeinschaft nicht gefeit. Einmal ins schlechte Licht getaucht – immer empfänglich wie elektromagnetisch aufgeladenes Textil.
Alle sind sie einsam. Alle irgendwie verloren, eingeschlossen, ausgeschlossen.

© Lea Frei

Eine der vielen Qualitäten des Romans ist Tabea Steiners Zurückhaltung, bei aller Katastrophe das Maximum nicht ausgeschöpft zu haben. Es geht der Autorin weder um die Katastrophe, noch um ein Soziogramm eines vermeintlichen Dorfidylls. Tabea Steiner begleitet mit überzeugendem Feingefühl, erzählt die Geschichte aus mehrfacher Perspektive, stülpt das Innere ihrer Protagonisten nicht gegen Aussen. Sie alle sind Opfer ihrer Geschichte. Eine andere Qualität dieses Romans sind all die Halbschatten, die nicht ausgeleuchtet sind, das bloss Angedeutete, das dem Leser überlassen ist, das aber gleichsam mitschwingt und dem Buch, dem Erzählten Raum gibt. Und nicht zuletzt ist es die unaufgeregte, sorgfältige Art des Erzählens, einer Sprache, die sich nicht nur inhaltlich behutsam nähert, sondern in ihrem Ausdruck.

Ein Interview mit Tabea Steiner:

Du engagierst dich seit Jahren für die Literatur, sei es als Leiterin des Literaturfestivals in Thun, als Moderatorin in Bern, Thun und St. Gallen, als Literaturvermittlerin im wahrsten Sinne des Wortes. Und nun dein erster Roman, dein Debüt bei einem Verlag, der es in den letzten Jahren formidabel schaffte, sich mit CH-Spitzentiteln zu empfehlen. Ist es ein Ankommen, ein Beweis oder Resultat übermässiger Anstrengung?
Es fühlt sich für mich am ehesten nach Ankommen an. Auf jeden Fall ist es ja so, dass ich mich schon immer nicht „nur“ mit Texten anderer befasst habe, sondern auch selber geschrieben habe. Damit jetzt rauszugehen und der Öffentlichkeit diese andere Rolle gewissermassen zu präsentieren, heisst natürlich auch, dass ich mich nicht mehr hinter den Büchern anderer „verstecken“ kann, von denen ich weiss, dass sie gut sind. 

„Balg“ ist ein sehr intimer Roman, dessen Konstruktion sich scheinbar weit weg von deiner eigenen Biographie ansiedelt, ausser vielleicht, dass sich die Geschichte irgendwo in der Ostschweiz, in einem Dorf unweit des Bodensees verorten lässt. Was dir ausgezeichnet gelang, ist aber genau jene unmittelbare Intimität, die das Buch, dein Roman, dein Debüt so sehr überzeugen lässt. Eine Nähe, die nie entblössend wirkt. Wie sehr musstest du dich darum bemühen?
Ich habe eine lange Zeit mit diesen Figuren verbracht, sie, als sie da waren, genau studiert, nachgedacht, wie sie sind, was sie denken, sagen und wie sie handeln und warum. Sie sind mir auch sehr nahe gegangen, und es war mir gleichzeitig wichtig, selber auch immer ein wenig Verständnis für sie aufzubringen. Und das war zuweilen durchaus sehr anstrengend. 

Alle Protagonisten in deinem Roman sind Verlorene? Wie sehr liegt in einer Zeit der totalen Vernetzung genau in diesem Gefühl eine der Untiefen unserer Gesellschaft?
Sind sie Verlorene? Ich denke eher, dass sie aus unterschiedlichsten Gründen keinen oder nur einen unzulänglichen Zugang zu ihrer Sprache haben, und deswegen auch nicht imstand sind, die anderen zu verstehen.
Auf jeden Fall schaffen sie es nicht, eine gemeinsame Sprache für ein Problem zu finden, das sie alle betrifft. Sie sehen es zwar alle, wenn auch auf unterschiedliche Weise, sind aber nicht imstande, darüber auch nur einen sprachlichen Konsens zu finden. Und hier setzt etwas für mich sehr Wichtiges ein: dass nämlich die Sprache politisch ist, weil wir uns darüber einigen müssen, was sie bedeutet. Es ist schwierig, sich zu unterhalten, wenn man keine gemeinsame Sprache hat – und ich glaube, dass man die Folgen davon auf Social Media, aber mehr und mehr auch im Alltag, beobachten kann, wenn Sprache in einer zunehmend verletzenden Art und Weise verwendet wird, ohne sich darum zu kümmern, dass die Sprache eben allen gehört. Niemand hat sie für sich allein, und das wäre gut so, wenn.

Gegen Schluss deines Romans lässt du Lydia, die Mutter Antonias sagen, die vieles spürt, was sie sich nicht zu sagen traut: „Man muss eben mit den Leuten reden, nicht immer nur über sie.“ Dieser Satz ist eines der Themen, die sich durch dein Buch ziehen. Und trotzdem bleibt die Einsicht, dass nicht über alles geredet werden kann. Wo liegt die Grenze zwischen befreiendem Reden und zerfleischendem Zerreden?
Das ist eine sehr schwierige Frage, aber nicht nur literarisch. Jeder Mensch geht wieder ganz anders um mit Dingen, manche wollen darüber reden, andere wieder können nicht. Ich glaube nicht, dass ich diese Frage je wirklich werde beantworten können, wünsche mir aber, dass mehr darüber nachgedacht und gesprochen und geschrieben wird. 

In deinem Roman steckt ein ungeheures Potenzial an Katastrophen. Einige hast du geschehen lassen, vielem bist du mit Absicht ausgewichen, hast der Versuchung von allzu beabsichtigter Plottverdichtung widerstanden. So wie das Leben nur in Ausnahmefällen das Maximum an Katastrophe zulässt. Zum Glück. Wie sehr musstet du gegen Versuchung ankämpfen?
Ich musste, wie oben angedeutet, eher gegen die Versuchung kämpfen, den Figuren doch das eine und andere zu ersparen, sie freundlicher erscheinen zu lassen, sympathischer. Aber dann wäre es eine andere Geschichte geworden, und so bin ich streng mit mir und manchmal ein bisschen hart zu den Figuren gewesen. 

Ein beeindruckendes Debüt von einer Autorin, von der ich nichts anderes erwartet hätte!

© Lea Frei

Tabea Steiner, Jahrgang 1981, ist auf einem Bauernhof in der Nähe des Bodensees aufgewachsen und hat Germanistik und Geschichte studiert. Sie hat das Thuner Literaturfestival initiiert, ist Mitorganisatorin des Berner Lesefestes Aprillen und Mitglied der Jury der Schweizer Literaturpreise. 2011 hat sie an der Autorenwerkstatt des Literarischen Colloquiums Berlin teilgenommen. Tabea Steiner lebt in Zürich.

Webseite der Autorin

Am 24. Oktober moderiere ich im Bodman-Literaturhaus in Gottlieben TG ein Lesung zusammen mit Tabea Steiner.

Florjan Lipuš «Schotter», Jung und Jung

«Schotter» ist keine Geschichte, aber erzählte Geschichte. «Schotter» ist lautes Denken darüber, was Vergessen und Verdrängung anrichten kann, wenn Leiden und Erinnerung zum Permaschmerz werden. «Schotter» verlangt von Leserinnen und Lesern genauso viel ab, wie es Florjan Lipuš Überlebensfrage ist, sich zu erinnern.

Florjan Lipuš musste als Kind mitansehen, wie seine Mutter wie eine Kriminelle verhaftet und abgeführt wurde, weil sie als Partisanen verkleidete Gestapomänner bewirtete, während Florjans Vater in der deutschen Wehrmacht Kriegsdienst leistete. Florjan Lipuš Urtrauma, über das er in allen seinen Büchern auf die eine oder andere Weise schreibt. Sein erster Identitätsverlust, aber längst nicht sein letzter, weil er dort geblieben ist, an der Grenze der Sprachen, der Sprachgrenze zwischen Deutsch und Slowenisch, an der Grenze zwischen Vergessen und Bewahren, an einer Grenze, an der sich noch immer unüberwindbare Gräben ziehen, Gräben in denen Hass und Verblendung mottet, Hass, der sich bis in die Gegenwart manifestiert und Lipuš befürchtet, dass die Zeit jene Wunden nicht heilt.

Überall finden Gedenkmärsche statt «gegen das Vergessen». So auch diesen Frühling in Klagenfurt, der Hauptstadt Kärntens, jenen zum Gedenken, die am 29. April 1943 wegen angeblichen Hochverrats nach einem Schnellgericht hingerichtet wurden, darunter Bewohner jenes Ortes, in dem Florjan Lipuš aufwuchs. Dabei sind die Motive jener, die daran teilnehmen ganz verschieden; von tiefem Verlustschmerz über Angehörige oder Freunde bis zur reinen Neugier. Was macht dieses Gedenken mit einem Dorf, in dem jeder jeden kennt? – Und Florjan Lipuš kennt sein Dorf, ein Dorf, das wie viele andere damals mitten in den Wirren des Krieges steckte, eines Krieges, der im Mai 1945 nicht einfach aufhörte wie ein lang andauerndes Unwetter.

Florjan Lipuš entlarvt das verräterische Grinsen jener, die mit dem Ausspruch «Alles wird gut» jede Woge glätten, jede Tiefe füllen, jede Untiefe verbergen. Aus «Schotter» schreit die Angst, dass nichts besser wird, dass die Geschichte keinen Anlass zur Hoffnung gibt, dass das Böse aus der Vergangenheit in der Gegenwart verschwinden würde. Es versickert in den Schottersteinen zwischen den Baracken, in denen Frauen wie seine Mutter gemartert und gequält wurden. Doch was versickert, ist nicht weg, nur verborgen, mottet und fault im Untergrund weiter.

Gibt es eine angemessene Form des Erinnerns? Genügt ein Augenblick, eine Denkpause, ein Gedenkmarsch, der sich nur wenig in das Leben des Einzelnen einmischt? Ich spüre in den Sätzen dieses Buches den ungestillten Schmerz, das ewig scheinende Wehklagen darüber, dass gewisse Verletzungen durch nichts getilgt werden können. Im Gegenteil. Die Angst vor versuchter Tilgung potenziert den Schmerz.

Florjan Lipuš schreibt mit spitzem Bleistift gegen das Vergessen, schreibt von Hand auf Papier, gegen das Flüchtige, das Ungefähre, gegen das Oberflächliche. Als würde sich die Spur seines Bleistiftes durch das Papier hindurch in die Seelen seiner Leserinnen und Leser graben, einer Sorte Mensch, denen Achtsamkeit mehr als nur Modewort ist, die Bücher wie Schätze mit sich herumtragen, auch wenn der Edelstein von dunkler, lichtschluckender Farbe ist. Er leidet mit den Frauen, die seine Mütter waren, den Frauen, denen man alles Grauen auferlegte, die keine Chance hatten, ihm zu entrinnen.

Ein kleines Interview mit Florjan Lipuš:

Es sind immer die gleichen oder ähnlichen Themen, um die sich ihr Schreiben bemüht. Fühlen Sie sich manchmal nicht als Gefangener?
Als Gefangener fühlt man sich als Kärntner Slowene in mancherlei Hinsicht, allein schon wegen der Sprache und der Reaktion der Öffentlichkeit auf sie, durch familiäre Verhältnisse, durch persönliche Entscheidungen, durch die man sich freiwillig in die Gefangenschaft begibt. Auch das Dorf nimmt einen gefangen.

Sie schreiben in „Schotter“ über „das Dorf“, mit Sicherheit über ihr Dorf, in dem Sie schon seit Jahrzehnten leben. Hat sich das Verhältnis zwischen Ihnen und dem Dorf und umgekehrt in all den Jahren verändert?
Es hat sich stark zum Schlechten verändert. Mein Verhältnis zum Dorf hat sich sicher verschlechtert und umgekehrt auch.

Der Krieg, die Gewalt sitzt sitzt wie ein unsterblicher Virus in den Genen der Menschen. Ist die Hoffnung auf „Frieden“ Augenwischerei? Vor allem jetzt, wo sich eigentlich die ganze Kraft der Menschheit hin zum Klimaschutz bündeln müsste?
Hier sind Berufenere aufgerufen, für vernünftige und brauchbare Lösungen zu sorgen.

Sie waren einmal Lehrer. Stünden Sie vor einer Schar junger Lehrerinnen und Lehrer, was würden Sie ihnen ganz besonders ans Herz legen?
Als Lehrer fühlte ich mich ganz und gar und in jeder Hinsicht für die mir anvertrauten Kinder verantwortlich, aber ich würde nie Erwachsenen irgendwelche Ratschläge erteilen. Ich fände es anmassend, meinen Mitmenschen irgendetwas ans Herz zu legen.

Ich weiss, dass Sie mit Bleistift schreiben. Eine fast zärtliche Geste angesichts der Wucht, die in Ihrer Sprache liegt. Im Gegensatz zur Lebensspur lässt sich jene eines Bleistifts radieren. Liegt darin der Reiz solchen Schreibens?
Der Bleistift hat für mich nur einen Sinn, nämlich Bleistift zu sein, einfach und praktisch. Und radiert wird auf meinen Blättern überhaupt nicht, sondern durchgestrichen und neu formuliert. So kann es sein, dass ein Satz dann im Buch eine halbe Seite oder einige Millimeter Bleistift verbraucht hat.

Manuskriptseite, vom Autor zur Verfügung gestellt © Florjan Lipuš

«Schotter» ist Mahnmal. «Schotter» ist Denk-mal!

Florjan Lipuš, geboren 1937 in Kärnten, lebt in Sele/Sielach, Unterkärnten. Er veröffentlicht auf Slowenisch Romane, Prosa, Essays, szenische Texte. Mehrere seiner Bücher erschienen in deutscher Ubersetzung. Für sein Werk erhielt er zahlreiche Auszeichnungen: Petrarca-Preis 2011, Franz-Nabl-Preis 2013 und Grosser Österreichischer Staatspreis 2018.

Der Übersetzer Johann Strutz, geboren 1949, lebt als Literaturwissenschaftler und Übersetzer in Ruden/Ruda, Kärnten. 2011 erhielt er den Österreichischen Staatspreis für Literarische Übersetzer.

Rezension von Florjan Lipuš «Seelenruhig» auf literaturblatt.ch

«Ich schreibe, um mich selbst zu retten» literaturblatt.ch vom 17. 11. 2017

«Wenn sich Grösse in der Enge fast verliert» Florjan Lipuš erhält den Österreichischen Staatspreis 2018

Beitragsbild © Sandra Kottonau

Dragica Rajčić Holzner «Glück», Plattform Gegenzauber

Dies ist Auszug aus Dragica Rajčić Holzners Theatertext «Glück» in der Reihe Stückbox. Regie führte Ursina Greul, gespielt wurde es in Basel und Zürich.

Ana Jagoda, die Protagonistin, erzählt in Umgangsdeutsch die Geschichte ihrer Liebe. Es ist zugleich auch die Geschichte einer Suche nach Wahrhaftigkeit des Schmerzes und der Gewalt in einer durch und durch patriarchalischen Welt.

Glück 

Ganze Abend verflog wie im Halbtraum. Mein Mund trocken. Ich schmige meine Arme an Igor Arm weil es kälter wurde, ich bin übermutig und noch von einer unbestimmte einzige Absicht durchzogen.

Bin ich das Mädchen mit der tragischen und schönen Idee der Wel?. Sie ist in der Musik und unter dem Mantel des Rauchs versteckt erste, erste, letzte Liebe Jetzt.

Igors Hand um meine Schulter. – Gehen wir ausser Glück, Igor gab mir seiner Hand. Wir stolperten wie zwei von Ertrinken gerettete einander umklammert durch den steinigen Weg zur kleine Wiese mit dem Heuschober um sich dort auf Heu niederzulegen. Meine Zunge ist schwer, diese am Film gesehener filmischen Kuss verlor etwas an seine Filmigkeit weil wir nicht wussten wann hört man richtig auf, wo endet die Sehnsucht und beginnt Wirklichkeit. Heimlich wollte ich mich aus der Umarmung herausschleichen aber hatte Angst  das Igor womöglich diesen Wunsch sieht. Igor zu halten ohne das sich Zeit bewegt, das Glück stehen lassen in der Brust, in den Händen.

«Volim te» Wie weiss man das ?

Eingeboren ist es sagte Igor und hielt etwas länger seine Hand unter meinen Pulover am Rücken. Ist es gleich mit Vögeln, Katzen, Bearen, Schafen?

Sternwirklichkeit macht kein halt von Botanik und Zoologie, hast du nie gehört Ana das Gott Liebe ist?

Ja, von don Lilo, meinem Prister. Igor fragte nicht nach.

Schreib auf für später Ana so, gut so.

Alles was ich unter meiner Kopfhaut hatte, meinen Haaren, meinen Fingern, löste mich auf, dort wo es eine andere als mich geben könnte, mit diesen erträumten ersten Kuss kam ich schwindelfrei in die Glücke und entfernte die Unglücke von mir  wischte sie mit dem Atem, seinem, meinem, weg von mir, einender einatmen, wiederholend, dort wo wir miteinander oder jeder allein gehen könnte, ausgeholt, überholt von Herrlichkeit des nicht Sprechens, du aus allen Poren der Welt kriechendes Uhrzeiger des Schikals berührt meine Haare, drückte meine Schulter an sich herein, diese unbedingte Rettung vor der ganzen Welt, nein, vorübergehend war nichts, ewig ist es klang es im Kopf, ich untersuchte nichts, ein unerhörter Zustand, in welchem niemand sich befand außer uns, dort wo sich die Umstürze der Sterne ereigneten, waren wir.

Alfred Schlienger, NZZ Redaktor, schreibt: «Warum beglückt diese Inszenierung von Dragica Rajčić «Glück» in der Reihe Stückbox so sehr und so innig? Denn erzählt wird ja eigentlich der schmerzhafte Verlust von Glück. Aber da ist ein Text, der raffiniert mit Sprache spielt und gleichzeitig subtil unsere Emotionen entfacht und einfängt. Und da ist mit Monika Varga eine junge Hauptdarstellerin, die diesen Text und diese Figur mit jeder Faser trägt. Mit Charme und Trauer, Verletztheit und Wut, Sehnsucht und Verlorenheit. Das entwickelt im Spiel eine unglaubliche Präsenz und Wahrhaftigkeit, die einen von Anfang bis Schluss in Bann schlägt. Und da ist nicht zuletzt die souveräne Regie von Ursina Greuel, die all diese Mittel sehr gezielt und dosiert einsetzt. Kein falscher, rührseliger Ton, kein Zuviel und kein Zuwenig. Zauberhaft auch der intimäae Einbezug von Musik und Gesang. Keine Spur von Balkantümelei. Präzis verankert und dadurch universell. Ein rares, kleines, grosses Theater-Glück.»

Am 27. November 2019 ist Buchpremière im Literaturhaus Zürich.

Dragica Rajčić Holzner, geboren 1959 in Split (Kroatien), lebt seit 1978 in St. Gallen. Hier Gelegenheitsarbeiten als Putzfrau, Büglerin, Heimarbeiterin, Aushilfslehrerin. Verheiratet, drei Kinder. 1988-1991 Kroatien: Gründung der Zeitung «Glas Kasela»; journalistische Arbeit. Nach Kriegsausbruch Flucht mit den Kindern in die Schweiz; Öffentlichkeitsarbeit über den Krieg in Ex-Jugoslawien. Bücher: «Halbgedichte einer Gastfrau» 1986 und 1994; Lebendigkeit Ihre züruck, Gedichte 1992 (vergriffen); Nur Gute kommt ins Himmel, Kurzprosa 1994 (alle eco Verlag); Theaterstücke: Ein Stück Sauberkeit, 1993; Auf Liebe seen, 2000.

Daria Wilke «Die Hyazinthenstimme», Residenz

Ein Schloss auf einem Hügel, «Settecento», mitten im steirischen Wald, ziemlich weit von einer Stadt mit Namen Bad Bleibenberg. Ein Mann, der sich einen ganzen Hofstaat hält, junge Burschen mit schönen Stimmen sammelt, sie zu Kastraten macht und ihre Stimmen schult. Ein Mann, den alle den Zaren nennen, Herrscher über eine Welt, die dem Barock huldigt, mitten in fiktiver Gegenwart.

Man glaubt zu spüren, dass die Autorin in einem Theater ihre Kindheit verbrachte. Die Welt, die sie beschreibt, ist beseelt von rauschenden Stoffen, dick aufgetragener Schminke, opulenten Perücken, dunklen Bildern und raffinierter Kulisse. Ihre Figuren, die die Gegenwart nur zu berühren scheinen, sind aus dieser entführt, gekauft, mitgenommen, von der Strasse, armen Familien entrissen, voll der Hoffnung, dereinst mit ihrer Engelsstimme auf der Bühne die Menschen zu bezaubern. Ihrer Männlichkeit vom Hausarzt, dem «Fleischer», beraubt, geschult und gedrillt, geformt und abgerichtet, wachsen sie unter dem allwissenden Auge des Zaren zu Hyazinthenstimmen, um wie eine Blume aufzugehen, durchstrahlt von der Musik, dem Zauber der reinen Stimme. Verblüht welken sie langsam dahin, wählen selbst ihren Tod oder verschwinden in den Zwischenschichten einer Welt, die sich jener des «Zaren» entzieht.

«Das Leben und Sterben ausserhalb deiner Welt existiert für dich nicht, wenn du im Schloss lebst.»

Das Haus «Settecento» mit seinen 365 Fenstern, 52 Türen, 31 Räumen auf jedem Stockwerk, 24 Säulen in den Arkaden des Schlosses, 60 Bildern in der Galerie, 7 Wendeltreppen und 7 grossen Öfen, einem grossen Zimmer voller Singvögel, einer Bibliothek, in der das Kerzenlicht die Szenerie Venedigs im 17. Jahrhundert an die Wände malt, einem Tonstudio und vielen Schlafzimmern, in denen die Zöglinge morgens mit einem gemeinsamen Miserere den Tag beginnen – eine Welt aus der Zeit gefallen.

In jenem Kosmos, jenen Räumen, in denen die wirkliche Gegenwart ausgeschlossen ist, werden Matteo und seine Zwillingsschwester Nina gross, damals zwei Kinder, die die Mutter in der Nähe von Moskau nur zusammen aus ihrer Obhut weggeben wollte. Und als eines Tages der kleine Timo auf Settecento erscheint, gezeichnet von den Misshandlungen auf der Strasse, als Matteo auf der Bühne die Menschen zur musikalischen Verzückung bringt und die Damen um ihren Atem, als Timo sich für diesen einen Schnitt bereiterklärt und auf dem Kopfkissen Matteos eine tote Nachtigall liegt, wendet sich das Blatt.

«Jetzt weiss ich, wie es ist, wenn du auf einer Bühne stehst und das ganze Theater in deiner Macht hast. Wenn das Tier mit dir verschmilzt, dich aufnimmt und bis zum Ende nicht loslässt. Wie es ist, wenn der Zuschauerraum zuerst still wird, als würden dort alle auf der Stelle sterben, um dann, wenn du die letzte Note aushauchst, gewaltig zu explodieren.»

Dann stürzt sich einer der Jungen von der Mauer in den Schlossgraben. Matteos Zwillingsschwester Nina verschwindet mit Timo, Matteos Schützling. Und schlussendlich verschwindet das Tier in Matteo, seine Stimme, von einem Tag auf den anderen. Matteo macht sich auf den Weg, flieht, obwohl ihm der Schatten des Zaren folgt, auf die Suche nach seiner Schwester, nach sich selbst, dem Tier. Bis nach Wien, in eine Stadt, in der die Reste des Barocks von damals kleben, die aber so ganz anders pulst als Settecento.

Daria Wilke beschreibt Wien aus der Sicht eines fast Ausserirdischen. Auf der Suche durch das Wien von heute vexiert immer wieder das Wien des Barocks, erfüllt von Musik und den Stimmen der Kastratensänger, von denen man damals besessen schien.

Die Inspiration für das Haus Settecento lieferte das Schloss Gleichenberg in der Südoststeiermark (jetzt ist dort allerdings nur eine Ruine, das Schloss wurde 1983 durch Feuer zerstört).

Die barocke Kulisse dieses Romans spiegelt sich in der Klangfarbe der Sprache. Daria Wilke inszeniert gekonnt, malt mit satten Farben, ohne sich zu verlieren. Alles ist Kulisse, alles Fassade. Was die Kinder in diesem Schloss empfinden, hat dem grossen Zweck zu gehorchen. Was Daria Wilke beschreibt, kann durchaus als Metapher dafür verstanden werden, was sich in totalitären Staaten abspielt, in denen nach den Gesetzen der Monarchie, jener Staatsform, die mit Revolutionen und Reformen längst nur noch Staffage sein sollte, nach alten Mustern funktioniert, in denen das Individuum bloss zu funktionieren hat, zum Wohle des Staates, zum Wohle des Hauses.

«Wenn ich singe, bin ich da.»

«Die Hyazinthenstimme» ist eine Liebeserklärung an die Geheimnisse der Musik, an Wien und die Sehnsucht nach einem Ort der Geborgenheit, eine Liebeserklärung an die Freundschaft und all jene Figuren, die nicht der Norm entsprechen. Grosse Literatur, berauschend erzählt, von barocker Wucht und durchtränkter Leidenschaft für die grosse Bühne!

Beste Grüsse an die JurorInnen des Österreichischen Buchpreises 2019!!!

Interview mit Daria Wilke:

Bei der Lektüre ihres Romans würde ich immer wieder an Kafkas „Das Schloss» erinnert. Ging Ihnen das beim Schreiben ebenso?
Sosehr ich Kafka liebe, hatte ich eher andere Assoziationen – „Orlando“ von Virginia Woolf, „Herr der Fliegen“ von William Golding oder „Winterspiele“ von Jean-Claude Mourlevat. Aber vor allem inspirierte mich „Geschichte der Kastraten“ von Patrick Barbier, obwohl das eigentlich ein Sachbuch ist.

Sie lieben den Barock, das was Musik in jener Zeit zum Blühen brachte. Klingt in Ihrem Roman auch ein bisschen das Wehklagen darüber durch, dass wir in einer Zeit der Sachlichkeit, der Funktionalität, der Zweckoptimierung leben?
Ich liebe unsere Zeit – wegen der Funktionalität und der Zweckoptimierung auch, ich lebe wahnsinnig gerne Hier und Jetzt. Aber das Leben als Kunst, als Spiel und Genuss, als Karneval – ja, das fehlt mir, das konnte man so gut im Barock.   

„Die Hyazinthenstimme» ist die Geschichte von Matteo auf der Suche nach sich selbst, seiner Schwester, wahrer Freundschaft, nach dem vollkommenen Moment, der vollkommenen Musik. Von Moskau in den steirischen Wald, über Venedig bis nach Wien. Eine lange Reise! Sie scheinen im Schreiben angekommen zu sein!
Ich hätte mir gewünscht, dass diese Reise noch länger wäre.

Sie lieben Figuren, Rollen, lassen ein ganzes Sammelsurium von theatralisch auftretenden Gestalten agieren; den Zaren, den Windsammler, den Teufel, die polnischen Zwillinge, einen Arzt, den alle nur den Fleischer nennen. Ihre Fantasie scheint eine grosse Bühne zu sein. Sind das die Bilder aus Ihrer Kindheit?
Nein, eigentlich nicht. Die Welt von „Die Hyazinthenstimme“ ist erst während des Schreibens entstanden. Aber was das Ganze mit meiner Kindheit verbindet, ist die Vorstellung, dass ein literarischer Text eine Bühne, ein Theater ist. Und auf dieser Bühne sollte es möglichst wild zugehen.

Sie sind in Russland aufgewachsen. Die Schilderungen dieses Schlosses mitten im Wald erinnerten mich an den Hofstaat vieler „monotheistischer» Staatsmänner (immer Männer), sei es nun Putin in Russland oder Erdogan in der Türkei. Zufall oder bloss meine Interpretation?
Ich hatte keine konkreten Vorbilder. Seit vielen Jahren beschäftige ich mich mit diesen Gedanken, die an und für sich nicht originell sind: wie geht es in einer geschlossenen Welt zu – sei es ein Internat, ein Unternehmen, ein Staat oder eine Jugendclique. Diese Eigendynamik, die sich da entwickelt und strenge Hierarchie, der sich jeder unterwirft – mein Buch ist ein Versuch, so eine in sich geschlossene Welt zu konstruieren. Nur halt eine Welt, die mit der Musik und Kunst des Barocks verbunden ist.

Hörten Sie während des Schreibens jene Musik, zumindest das, was von ihr heute nachempfunden werden kann?
Ja, ununterbrochen. Die barocke Musik, von Monteverdi und Porpora bis Rameau und Telemann, begleitete mich die ganze Zeit. Und die Arien, die für Kastraten geschrieben wurden, natürlich auch. Es gefiel mir, die Barockraritäten auszugraben – zum Beispiel, jene Musik, die Kaiser Leopold I. komponierte… Es gab vor einigen Jahren in Paris eine großartige Inszenierung von Cavallis „Eliogabalo“ mit Franco Fagioli in der Hauptrolle – diese Aufnahmen habe ich auch ständig gehört, für mich war das alles Inspiration pur.

© Aleksandra Pawloff

Daria Wilke geboren 1976 in Moskau in eine Schauspielerfamilie. Daria Wilke verbrachte ihre Kindheit in einem Puppentheater, in dem ihre Eltern gearbeitet haben. Nach dem Studium der Psychologie, Pädagogik und Geschichte arbeitete sie als Journalistin für verschiedene Tageszeitungen in Russland. 2000 übersiedelte sie nach Wien, wo sie auch heute lebt und an der Universität Wien arbeitet. Sie hat bisher mehrfach ausgezeichnete Kinder- und Jugendbücher auf Russisch veröffentlicht, „Die Hyazinthenstimme“ ist der erste Roman, den sie auf Deutsch geschrieben hat.

Eva Maria Leuenberger «dekarnation», Droschl

«Dekarnation» bedeutet «Entfleischung». Ein menschlicher oder tierischer Organismus «befreit» sich von allen Weichteilen, bis nur noch Knochen und Horn übrig bleiben. Eva Maria Leuenbergers Dichtung ist wahrlich Verdichtung, bis nur noch Konzentrat übrig bleibt. Aber kein Skelett, sondern das, was bei einer in Sprache Sehenden hängen bleibt.

Wie sehr mich beeindruckt, was sich las, ist daran zu messen, wie lange das Buch «Dekarnation» mich begleitete. Eva Maria Leuenbergers Lyrik ist wie eine leise Berührung. Nichts, das zerlegt. Nichts, das unter die Lupe nimmt. Nichts, das verkopft. Nichts, was einem unberührt lässt.
Ihre Gedichte sind der Nachhall dessen, was mit sanftem Berühren über Tal, Moor, Schlucht und Tal bleibt. Als würde die Dichterin mit ihrem Sprachatem die Formen, Farben, Düfte und Bilder umstreichen, wie ein Hauch, ganz zart, aber keineswegs ohne Gewicht.

hier ist ein tal
in vorhergesehener form
mit berg und bach und grüner wiese
am rande des baches
am ende der ersten äderung
wächst moos über die steine
zieht flaumig über die ränder hinweg
in diesem tal
lebt niemand mehr und niemand
kennt den weg:
ich wache auf
am rande des baches
und höre das wasser
der mund spricht ein wort
und ordnet es in die hügel ein

am bachufer, die decke aus moos
ich spüre den boden
wie er nachgibt unter mir
der bach, lang und laut,
beachtet mich nicht

hinter dem wasser
die anfänge von licht
splitternd, gehüllt ineinander
wie arme, schlingend
auf der haut perlt das wasser
in tropfen, licht /
darin der himmel ein boden

auf der anderen seite
des wassers
sitzt ein vogel, gefiedert,
blau mit gelb darum
und knickt den kopf:
es ist still
wir sind allein

(Ausschnitt aus «dekarnation» von Eva Maria Leuenberger, © Droschl, 2019, mit freundlicher Genehmigung des Verlags)

Naturlyrik, die mich umschmeichelt und zuweilen aufschreckt, die nicht idealisiert, aber Bilder erzeugt, wie es nur die Sprache zu schaffen vermag. Sie tastet, schmeckt und riecht, fühlt, hört und empfindet für mich, ohne mich zu gängeln.

Ein schmucker Band durch und durch! Ein Genuss!

Der Lyrikband «dekarnation» erscheint mit Recht auf der Hotlist der besten Bücher unabhängiger Verlage. Wer die Hotlist unterstützen will, hier sind die Infos!

© Anja Fonseka

Eva Maria Leuenberger wurde 1991 in Bern geboren und lebt in Biel. Sie studierte an der Universität Bern sowie an der Hochschule der Künste Bern. Veröffentlichungen u.a. in manuskripte und in Literarischer Monat.
Sie ist zweifache Finalistin des open mike in Berlin (2014 und 2017) und erhielt 2016 das »Weiterschreiben«-Stipendium der Stadt Bern.