Christoph Ransmayr «Arznei gegen die Sterblichkeit», S. Fischer

«Ein Schriftsteller? Ein Dichter? Nein, ich erhebe keinen Anspruch auf solche Titel. Ein Erzähler? Nennen Sie mich, wie Sie wollen», meint Christoph Ransmayr über sein Selbstverständnis als Autor. Mit «Arznei gegen die Sterblichkeit» macht Christoph Ransmayr ein Geschenk.

Drei Geschichten, ein schmales Büchlein. Damit macht man eine Zugfahrt durch eine regenverhangene Landschaft zu einem Ereignis, das unerwartet lange Warten beim Arzt zur Reise bis in die Steinzeit, man besänftigt den unruhigen Geist, der sich nachts gegen den Schlaf wehrt.

In seiner Vorgeschichte unter dem Titel «Arznei gegen die Sterblichkeit» macht sich der Schriftsteller Gedanken zu seinem Tun, seinem Schreiben, vergleicht sich mit dem alten, vernarbten Mann, der vor mehr als einer Million Jahren unter einer überhängenden Felswand an einer Feuerstelle sitzt und Geschichten erzählt. «Das einzige Tauschmittel, mit dem er … für menschliche Gesellschaft bezahlen kann, ist der Brückenschlag von den Dingen und Gestalten des Lebens über den Abgrund der Sprachlosigkeit hinweg in das Reich der Laute, des Flüsterns, des Schreiens und der Worte.» Christoph Ransmayr sieht sein Tun wie jenes des Geschichtenerzählers, der sich damit seine Existenzberechtigung gibt. Leicht nachvollziehbar in einer Zeit, in der Optimierung und Leistung zählen, in der einem eine Aufgabe zugesprochen wird, in der man zu funktionieren hat. Etwas, was mit der Kunst alles andere als harmoniert. Etwas, was immer und immer wieder Rechtfertigung fordert, dass allzu schnell und leicht als Beigemüse abgeurteilt wird, wo vergessen wird, dass das Erzählen, die Sprache, die Kunst überhaupt Identität schafft, Selbstbewusstsein. Kunst erinnert, mahnt, konfrontiert, provoziert, hinterfragt. Was wäre eine Gesellschaft, die sich all das nicht leisten würde?

In der ersten Geschichte «Mädchen mit gelbem Kleid» erzählt Christoph Ransmayr vordergründig von einer Reise nach, der Begegnung mit einem Kind, das sich mit dem Schleppen eines Wasserkanisters abmüht, denn die einzigen Rohre, die je verlegt wurden, gehören Konzernen zur Bewässerung ihrer Plantagen, von der Begegnung mit Berggorillas, dort wo Forscherin Dian Fossey hinterrücks erschlagen wurde. Ransmayr offenbart, wie sehr sich Europa über Jahrzehnte an der Welt bediente, sie sich zu Untertan machte, schamlos ausbeutete, Mensch, Tier, Natur, Bodenschätze. Dass der Reichtum Europas bis in die Gegenwart vom Blut der Jahrhunderte getränkt ist. Ransmayr reist nicht als Tourist. Schon sein Buch «Atlas eines ängstlichen Mannes» macht klar, dass Christoph Ransmayr keine Reiseziele sammelt. Es sind Begegnungen, zu denen mich der Autor mitnimmt, Begegnungen mit Menschen, mit der Menschlichkeit, auch dort, wo sie vergessen scheint.

In der dritten Geschichte «An der Bahre eines freien Mannes» erzählt er die Geschichte von Kohlhaas. Nicht jene mit der sich Kleist in den Kanon der deutschen Literatur schrieb und doch von jenem Kohlhaas, jenem aufrechten, guten Menschen, der sich mit der Justiz anlegt und an der «Gerechtigkeit» zugrunde geht. Ransmayr erzählt von seinem Vater, einem unehelichen Kind, mit vielen Talenten gesegnet und gefördert, der sich während des Krieges erfolgreich um eine Nazikarriere «drückte», Lehrer wurde, engagiertes Mitglied einer kleinen Landgemeinde, bis man ihm den Strick um den Hals legte und ihn in einem dorfinternen Machtkampf unlauterer Geschäfte beschuldigte. Sein Vater verstrickte sich mit der Justiz und dem Dorf und als er endlich freigesprochen in sein altes Leben zurückkehren wollte, starb seine von Sorgen gequälte Frau. Eine Geschichte darüber, dass es manchmal nicht reicht, Gutes zu tun, ein guter Mensch sein zu wollen. Vielleicht auch eine Geschichte darüber, dass sich Ransmayr selbst nicht traut, von sich selbst als Dichter und Schriftsteller zu sprechen.

«Arznei gegen die Sterblichkeit» ist Anstoss für vieles. Ein literarisches Kleinod, ein wunderbarer Beweis für die Kunst eines grossen Schriftstellers. Und für all jene, die Ransmayr schon lange kennen eine Ode an die Erinnerung.

© Magdalena Weyrer

Christoph Ransmayr wurde 1954 in Wels/Oberösterreich geboren und lebt nach Jahren in Irland und auf Reisen wieder in Wien. Neben seinen Romanen «Die Schrecken des Eises und der Finsternis», «Die letzte Welt», «Morbus Kitahara», «Der fliegende Berg» und dem «Atlas eines ängstlichen Mannes» erschienen bisher zehn Spielformen des Erzählens, darunter «Damen & Herren unter Wasser», «Geständnisse eines Touristen», «Der Wolfsjäger» und «Gerede». Für seine Bücher, die in mehr als dreissig Sprachen übersetzt wurden, erhielt er zahlreiche literarische Auszeichnungen. Zuletzt erschien der Roman «Cox oder Der Lauf der Zeit».

Autorenwebseite

Rezension von «Cox oder Der Lauf der Zeit» auf literaturblatt.ch

Beitragsbild © Sandra Kottonau

Susanne Gregor «Das letzte rote Jahr», FVA

Das Jahr, in dem die Mauern fallen, sich Grenzen unerwartet öffnen, eine Zeitenwende über Europa hereinbricht; 1989. In Žilina, in der tschechoslowakischen Provinz, erleben drei Freundinnen, die in einem Plattenbau seit «Ewigkeiten» übereinander wohnen, wie sich nicht nur im Land, sondern bei der Arbeit, in den Familien, in der Schule, den Köpfen und den Herzen mit dem letzten roten Jahr alles ändert.

Die Ich-Erzählerin Miša und ihre beiden Freundinnen Rita, sie wohnt über ihr und Slavka unten, alle 14 und irgendwo zwischen Kindheit und noch nicht Erwachsensein verloren, erleben, was erst nur gerüchteweise, dann durch ausländische Radiosender und schlussendlich im Fernsehen wie ein langsamer Tsunami über die Länder am eisernen Vorhang hereinbricht. Die Vertrautheit der drei Mädchen, die unverrückbar und uneinnehmbar schien, zerbricht an den Geschehnissen, die nichts so zurücklassen, wie es einst für eine Ewigkeit eingestanzt war. Susanne Gregor schrieb einen Wenderoman aus der Sicht eines Mädchens, das sich mit dem Untergang der sozialistischen Tschechoslowakei aus Freundschaft, Familie, Sicherheit und Kindheit herausgerissen fühlt.

Susanne Gregor beginnt ihren Roman, als Miša in der Gegenwart von der Arbeit in einem Wiener Café und dem anschliessenden Besuch in der Bibliothek mit einem Stapel Bücher nach Hause kommt und den Fernseher einschaltet. In einer Vorabendseifenoper sieht sie im Hintergrund ein Gesicht, das sie kennt. Das Gesicht von Rita. Das Gesicht einer der beiden Freundinnen, die sie nach den Turbulenzen im Spätherbst 1989 aus den Augen verlor. Miša erinnert sich. Erinnert sich an einen Frühling, in dem alles in gewohntem Trott begann; die Streitereien der Eltern, die Besuche der sauberkeitsversessenen Grossmutter, die ewig mittelmässigen Leistungen in der Schule und die Beschwerden der entsprechenden Lehrer.

Aber was wie ein Rumpeln in den Tiefen der Sedimente schon vernehmbar ist, rüttelt auch an der Selbstverständlichkeit einer gewachsenen Freundschaft. Mišas Freundin Rita, die über ihr wohnt, verrennt sich immer mehr als überzeugte sozialistische Pionierin, schwänzt die Schule, weil ihre schichtarbeitenden Eltern fehlende Kontrolle zur Erziehungsmaxime erklären. Und Slavka unter ihr versteigt sich in ihrer schwärmerischen Liebe für den jungen Geschichtslehrer und ihrer Bestimmung als Gymnastiktänzerin. Momente des vertrauten Zusammenseins werden immer seltener, Selbstverständlichkeiten bröckeln.

Miša findet weder in der Schule noch zuhause jene Antworten, die die Gegenwart an Fragen stellt. Allerhöchstens Bücher tun es. Sie erzählen vom Leben, von der Liebe, von den grossen Geheimnissen. Miša weiss, dass hinter der Verstocktheit ihres grossen Bruders, hinter den Streitereien ihrer Eltern und den Andeutungen ihrer Grossmutter Wahrheiten verborgen sind, die nicht aufzuschlüsseln sind. Noch viel weniger, weil sich bis in die Familien mit den Geschehnissen des Jahres 1989 alles zu wandeln beginnt.

Es sind nicht so sehr die Geschehnisse aus der Sicht eines halbwüchsigen Mädchens, die mich an diesem Roman überzeugen, sondern wie Susanne Gregor es schafft, jene Risse in Politik und Gesellschaft, die Umwälzungen jenes Jahres aus der Sicht eines Mädchens zu schildern. Frühling, Sommer, Herbst und Winter in der Provinz, im Schatten des Weltgeschehens. Eine Welt zwischen Kindheit und Erwachsensein, Lichtjahre von beidem entfernt, dem naiven Glück eines Kindes und der geschlossenen Welt der selbst erklärten Erwachsenen. Alles bewegt sich, nichts ist mehr so, wie es einmal war. Die mit Stacheldraht und Schiessbefehl gesicherten Grenzen brechen auf, die Berliner Mauer fällt. Aber die Mauern und Grenzen fallen auch in den Menschen, die sich nicht mehr hinhalten lassen. Susanne Gregor erfühlt den Schmerz zerbrechender Freundschaft, einer Desillusionierung, die in ein ganzes Leben einbricht.

«Das letzte rote Jahr» ist ein Roman des grossen Aufbruchs, solide erzählt mit dem sicheren Gespür für die Feinheiten im Kleinen wie im Grossen. Die fast nüchterne Erzählweise kontrastiert mit den umwälzenden Geschehnissen des letzten roten Jahres, wie immer dünner werdendes Eis zerbricht, Geschehnisse auf der grossen Bühne Familien zerreissen, bis Vaclav Havel, damals eben mit dem Friedenspreis des deutschen Buchhandels ausgezeichnet und eben noch Monate wegen «Rowdytums» im Gefängnis, zum ersten Präsidenten eines neuen Landes wurde.

Susanne Gregor, 1981 in Žilina (Tschechoslowakei) geboren, zog 1990 mit ihrer Familie nach Oberösterreich. Nach dem Studium der Germanistik und Publizistik in Salzburg lehrte sie ein Jahr lang an der University of New Orleans. Seit 2005 wohnt Gregor in Wien, wo sie Deutsch als Fremdsprache unterrichtet. 2009 gewann sie den Förderpreis des Hohenemser Literaturpreises und 2010 den ersten Preis der exil-literaturpreise. 2011 erschien ihr Debütroman «Kein eigener Ort», 2015 der zweite Roman «Territorien», 2018 folgte der Erzählband «Unter Wasser».

Webseite der Autorin

Zum Beitragsbild: Nach der Lektüre von Vaclav Havels Buch «Angst vor der Freiheit» (Rowohlt) schrieb ist damals in aller Naivität einen Brief an der Adresse der Prager Burg. Zurück kamen zwei von Sachbearbeitern geschriebene Sätze und ein Foto mit der Signatur Vaclav Havels. Seither steht steht die Fotographie auf einem Regal in meiner Bibliothek.

Christian Uetz «Von mir ist nur der Gedanke», Plattform Gegenzauber

Ich habe kein Recht,
nicht Nietzsche zu sein, nicht
Kierkegaard, nicht Rilke. Auch ohne
Werke. Ich habe kein Recht, nicht wahnsinnig
zu sein, nicht zerspringend, nicht zerrissen. Auch
ohne Erfolg. Kein anderer ist schuld
am mich vom Anderen vom
Anderen abbringen lassen, wo
auch immer.

Von mir
ist nur der Gedanke, und der
ist nicht. Nicht da, nicht ich. Also bin ich nicht.
Nur du, und auch du nur mit allen gebrochen,
alle Zeit auf den toten Punkt gebracht, den schwarzloch
gerochenen. So sterngenau strahlt deines maßlos
ermordeten Morgens unvermoderbare
Mittagsverzückung aus den Lichtporen der
augenübersäten Nacht.

Ich trinke dich in mich
zurück. Ich sauf dich Tag und Nacht.
Und wiederum seufzst du mich in dich
hinaus. Du bist ja draußen in mir drin. Ich bin ja völlig
außer mir aus dir. Das macht ja den ununterscheidbaren
Unterschied zu meiner unverlassbaren Unentscheidbarkeit,
dass ich dich Lichttrunkene noch nicht, nicht und nicht mehr hell
sehe. Doch Himmel unserer höllischen Gottgleichheit, du uns in Funken
Getunkte, die du nicht bist, bist das
Werde, der du bist. Ich bin nicht
so. Du allein gibst mir das Unrecht, so
zu sein, wie ich bin. Und
so bin ich nicht.
Wenn es ist,
ist es immer, und es ist
nicht. Wenn du bist, bist du überall, und
du bist nicht. In dem Ich bin bist du, indem
ich bin nicht da. Und immer schlägst du unser
Du Nichtsein nieder. Da bin ich wieder, und kann mich
zum Büßen noch einmal entblößen. Bringt es das?
Nicht wirklich. Wirklich nichts als das ist
wirklich, worin wir allein uns begegnen,
im Unwirklichen von allem. Bringt
dich das näher?
Vollkommen.

Wo ich nicht
bin, bist du, wenn
ich weg will. Womit zeigst
du dich nicht? Mit der Zeit,
mit der abständigsten, durch
die abgestrittenste Lust, die
allmählich abseitigste, ab
schaumgeborenste.

 

secession Verlag

Der 1963 in Egnach am Bodensee geborene Christian Uetzist studierter Philosoph, und er glaubt an keine Wahrheit ausserhalb der Sprache. Ob im Gedicht oder in der Prosa: Sein Tanz an ihren Rändern ist immer auch ein Seiltanz über den Abgründen der Existenz. Und er gilt als Virtuose, wenn es um die Intensität der Sprache geht. Auswendig und in einem rasenden Tempo rezitiert er seine Texte bei Auftritten, dass einem Hören und Verstehen vergeht. Das ist gewollt. Einzig die Wortkraft zählt und die Suggestivkraft der Sätze,ckaum deren Inhalt. In seinem Gedichtband «Engel der Illusion» formuliert Uetz spielerisch und doch souverän Gedichte um gewichtige Themen: um die Präsenz des Anderen im Selbst, um Anwesenheit und Abwesenheit, um Negativität und Transzendenz. Mit seinen bildgewaltigen, selbstverlorenen und dabei tief nachdenklichen Gedichten sucht Christian Uetz in der Sprache nach der verborgenen Präsenz dieser Engel der Illusion, um ihr Scheinen erfahrbar zu machen. Was seine Texte so hervorbringen, sind Ekstasen der Begierde und die Trunkenheit der Vernunft. Es ist der Wahnsinn des Tages. Ihr Fluchtpunkt bleibt dabei stets eine mitreissende Affirmation des Lebens und der Sinnlichkeit, ein Lob der Sprache als derjenigen Kraft, welche die Illusion als Wahrheit, das Jenseits als Teil des Diesseits erkennbar macht.

Beitragsfoto © Internationales Literaturfestival Leukerbad

Pascale Kramer «Eine Familie», Edition Blau

In zwei Wochen feiert man Weihnachten, ob Christ oder nicht, mit Weihnachtsbaum, Keksen, Geschenken und dem scheuen Blick auf die «heilige Familie», jene von Erwartung und Idealisierung zugestellte Gemeinschaft, die in den letzten 2000 Jahren nicht nur in der Kirche, sondern auch in manchen politischen und gesellschaftlichen Ideologien auf einen marmornen Sockel gehoben wurde.

Pascale Kramers neustes Meisterstück «Eine Familie» nimmt sich nicht zum ersten Mal der Keimzelle allen Glücks und aller Katastrophen an. Es ist das eigentliche Thema der grossen Autorin, der im deutschen Sprachraum nicht jene Bedeutung zugesprochen wird, die sie verdienen würde. Aber wer einmal an den Kramer’schen Kosmos angedockt hat, der weiss, wie feinsinnig, treffend und sprachlich gekonnt die Schriftstellerin der Leserin und dem Leser zeigt, was in den unendlich vielen Verschiebungen im Biotop Familie angerichtet werden kann.

Zur Geburt eines weiteren Kindes «findet» sich die Familie im Haus der Grosseltern zusammen. Vielleicht ist «finden» dabei nicht der richtige Ausdruck, denn obwohl vieles in der Familie stimmt, öffnen sich mit der Geburt jene Abgründe, über die man lange Zeit erfolgreich hinwegzuschauen versuchte.
Lou, die eben erst ihr Kind im Spital zur Welt brachte, hat die ältere Marie bei ihren Eltern zuhause, bei Danielle, ihrer Mutter und Oliver, ihrem Vater, der erst vor kurzem sein neues Leben als Rentner aufgenommen hat. Lous Schwester Mathilde ist von Barcelona hergefahren, auch der Bruder Edouard ist da. Nur einer fehlt. Einer fehlt immer. Romain, der älteste, den Danielle aus ihrer ersten Ehe in die wachsende Familie gebracht hatte. Romain, der schon als Jugendlicher nicht den Weg eingeschlagen hatte, den man ihm gewünscht hätte, der sich immer mehr verselbstständigte, sich immer mehr dem Einfluss seiner Eltern entzog. Ein junger Mann, der sich durch seinen exzessiven Alkoholkonsum bis ins Koma saufen, von dem man über Monate und Jahre nichts hören konnte, der verschwand, den Edouard irgendwann in Paris in der Gosse wiederfinden musste, weit weg von jeglicher Bereitschaft, in ein normales Leben zurückzukehren.

Romain ist der übergrosse Alp der Familie, jenes labile Terrain, auf dem die ganze Familie wegzurutschen droht. Pascale Kramer beschreibt aber nicht das aus den Fugen geratene Leben des grossen Bruders, sondern was dieses im Leben der anderen anrichtet. Ein Leben wie es in vielen Familien gibt, ein Leben, das man früher als das eines «schwarzen Schafs» bezeichnete, ein Leben, das sich aller Erklärungs- und Rettungsversuche entzieht, ein Leben, das das Glück einer ganzen Familie in permanente Relation stellt. Pascale Kramer erzählt aus der Perspektive verschiedener Familienmitglieder, fokussiert sich dabei aber nicht bloss auf die Sicht des abtrünnigen Sohnes, sondern mit hellwacher Empathie auf das feinmaschige Beziehungssystem einer ganzen Familie über drei Generationen. Pascale Kramer macht lesenden Vätern bewusst, wie unsäglich gross der Kraftaufwand ist, eine Familie aufrecht zu erhalten. Pascale Kramer macht allen lesenden Müttern bewusst, dass die Sonnen im System Familie weiblich sind und allen Lesenden sonst, dass es Dinge gibt, die weder durch Organisation noch Kraftaufwand zu lösen sind.

Pascale Kramer leuchtet in die Schatten einer Familie. Sie tut das mit derart viel Sympathie für ihre eigenen Figuren, dass man sich wünscht, ihr Verständnis wäre das eigene. Pascale Kramer zieht mich in einen literarischen Strudel, dessen Zug sowohl sprachlich wie von innenfamiliärer Dramatik beschleunigt wird.
Wer den Kosmos Kramer noch nicht betreten hat, wer die grosse Schriftstellerin noch nicht entdeckt hat – «Eine Familie» ist alle Familien!

Pascale Kramer, 1961 in Genf geboren, hat eine Anzahl Romane veröffentlicht, für die sie mehrfach ausgezeichnet wurde. Aufgewachsen in Lausanne, verbrachte sie einige Jahre in Zürich und ging 1987 nach Paris, wo sie auch heute lebt und arbeitet. Mit ihrem vierten Roman «Die Lebenden» (Prix Lipp Suisse), 2000 in Frankreich und 2003 erstmals auf Deutsch in der Übersetzung von Andrea Spingler erschienen, kam der literarische Durchbruch. Für «Die unerbittliche Brutalität des Erwachens» wurde sie mit dem Schillerpreis, dem Prix Rambert und dem Grand Prix du roman de la SGDL ausgezeichnet. Mit dem Schweizer Grand Prix Literatur 2017 konnte Pascale Kramer erstmals eine Auszeichnung für ihr Gesamtwerk entgegennehmen.

Rezension von «Autopsie des Vaters» von Pascale Kramer auf literaturblatt.ch

Pascale Kramer erhält den Schweizer Grand Prix Literatur

Beitragsbild © Sandra Kottonau

Miriam Toews «Die Aussprache», Hoffmann und Campe

«Die Aussprache» ist das fiktive Protokoll einer Auseinandersetzung. Auf dem Dachboden einer Scheune entscheidet sich die unmittelbare Zukunft von Frauen und Kindern, die sich der Willkür der Männer und des von ihnen geschaffenen Systems entgegenstellen wollen. Miriam Toews hat etwas Einmaliges geschaffen!

In einer abgeschotteten Mennonitengemeinde in Bolivien, der Manitoba-Kolonie, werden zwischen 2005 und 2009 Frauen und Mädchen regelmässig nachts «von Teufeln heimgesucht». Sie wachen morgens blutend und mit Schmerzen auf, werden in der Folge oft krank und schwanger. Man beschuldigt sie des Ehebruchs, bezichtigt sie der Lüge, erklärt die Beteuerungen der Frauen als ungezügelte weibliche Fantasie. Bis eine der Frauen einen der Männer auf frischer Tat ertappt, dieser in der Folge sieben weitere Männer aus der Gemeinde verrät, die acht Männer festgenommen werden, Haftentlassung auf Kaution aber deren Rückkehr droht.

«Ich sehe, wie die Welt sich überschlägt, wie Wellen, aber ohne dass da ein Meer wäre oder ein Ufer.»

Miriam Toews hat aus diesen Tatsachen ein Buch geschrieben, das fast ausschliesslich von jenen Tagen berichtet, in denen sich die Frauen der Gemeinde, auch die Opfer, in einer Scheune treffen und beraten, wie zu reagieren ist, bevor die zurückkehrenden, schuldigen Männer sie vor vollendete Tatsachen stellen. Da alle Frauen Analphabeten sind, schreibt der in Ungnade gefallene Lehrer des kleinen Ortes ein Protokoll dieser «Aussprache».

«Die Aussprache» ist kein wirklicher Roman. Miriam Toews wollte weder die Geschichte der Frauen nacherzählen, noch Leser oder die Leserin zu nahe an die ProtagonistInnen heranlassen. Ich lese mit der Spannung, was geschehen wird, wenn die Männer zurückkehren, aber das ist den Gesprächen nur als tickende Uhr unterlegt. Auch die miteinander redenden Frauen in der Scheune bleiben Stimmen, bleiben eindimensional, selbst mit Namen und Status innerhalb der Frauengemeinschaft. Der einzige, der mir nahekommt, ist der Lehrer, August Epp, der sich einst traute, die Sekte zu verlassen, in der Stadt zu studieren und zu leben, der aus Naivität mit dem Gesetz in Konflikt kam, im Gefängnis sass, zurück nach Molotschna kam, aber nie mehr vollwertiges Mitglied der Gemeinde werden konnte – höchstens Lehrer (für die Knaben!).

Als Roman scheitert «Die Aussprache» grandios. Aber eigentlich nur darum, weil es für ein Buch wie dieses keine Nische gibt. «Die Aussprache» liest sich wie ein Theaterstück, ein Kammerspiel für ein Dutzend Frauen und einen Mann. Der Dachboden einer Scheune wird zur grossen Bühne der grossen Fragen und grossen Entscheidungen.

«Wo ist das Böse? In der Welt da draussen oder in der Welt hier drinnen?»

Trotzdem ist «Die Aussprache» ein wichtiges Buch. Eines der Bücher, die sich mit abgeschotteten, isolierten, patriarchalisch dominierter Gemeinschaften auseinandersetzt, die alles daran setzen, «gottgewollte» Machtstrukturen aufrecht zu erhalten. Frauen sind still gehaltene Gebär- und Bedienmaschinen. Strukturen, die sich auf der ganzen Welt hartnäckig halten, Strukturen, die als Pulverfass bei einer Eskalation ein ganzes System in den Abgrund reissen (Sonnentempler).
Aber «Die Aussprache» ist vor allem ein hoch philosophisches und gesellschaftskritisches Buch, das sich mit Fragen auseinandersetzt, von denen man leicht glaubt, die wären allgemeingültig beantwortet. Mitnichten! «Die Aussprache» ist die Geschichte darüber wie leicht aus Opfern Täter werden, wie leicht sich Opfer der Willkür der Täter selbst nach einer Verurteilung aussetzen müssen. Wie man Täter «schützt», man sperrt sie vorübergehend ein, und Opfer sich selbst überlässt.

Die Runde der Frauen muss entscheiden; bleiben, schweigen, «vergeben» und akzeptieren – bleiben und kämpfen gegen zementierte Strukturen – oder fliehen, in eine Welt, die die Frauen in der Abgeschiedenheit ihrer Gemeinschaft nicht kennen. Wie auch immer sich die Frauen entscheiden, sie bleiben weiterhin Opfer.

© Carol Loewen

Miriam Toews, geboren 1964 in Steinbach/Manitoba, ist eine der wichtigsten kanadischen Gegenwartsautorinnen. Mit «Ein komplizierter Akt der Liebe» wurde sie international bekannt. Für «Die fliegenden Trautmans» und «Das gläserne Klavier» erhielt sie den Rogers Writers› Trust Fiction Prize. Sie lebt und arbeitet in Toronto.

Monika Baark, die Übersetzerin, geboren 1968 in Tel Aviv, wuchs in Toronto, New York, Moskau, Bonn und Antwerpen auf. Sie studierte Anglistik und Kunstgeschichte in Heidelberg und lebt seit 1998 als freie Übersetzerin in Berlin. Zu den von ihr übersetzten Autorinnen gehören u. a. Jeanette Winterson, Margaret Atwood und Claire Messud.

Beitragsbild © Sandra Kottonau

Nina Jäckle «Setzkastentexte», Plattform Gegenzauber

1
Man geht das Zimmer ab, man geht es mit
den Augen ab, im Bett liegend, und es ist
sehr früh am Morgen, und man sucht nach
ersten Schatten, nach ersten Umrissen,
nach ersten Farben. Man wartet auf
Geräusche, auf die Rufe der Kinder
vielleicht oder auf den Schlag der
Glocken. Man wartet auf Stimmen im
Treppenhaus, es ist noch früh, denkt man,
einer ist zu hören, der sich räuspert, um
die ersten Worte zu sprechen an diesem
Tag. Man verlässt das Bett und man kennt
die Ecken des Zimmers, die Kanten der
Möbel, man findet sich zurecht in dem
Halbdunkel, man findet in das Bad, man
findet sich zurecht, auch ohne Licht, auch
ohne Blick in den Spiegel.

2
Oft sind die Alten auf dem Platz. Sie
sitzen auf den Bänken und beobachten sich
gegenseitig. Manchmal flucht eine,
manchmal erzählt einer, manchmal lacht
eine, und obwohl dies miteinander
geschieht, gibt es keinen Zusammenhang
zwischen ihnen. Man kann sich nicht
vorstellen, dass sie es gut miteinander
meinen, man weiß nicht, weshalb man es
sich nicht vorstellen kann. Vielleicht, so
denkt man, weil sich die Menschen ähnlich
werden im Alter, weil sie sich gegenseitig
zu sehr an sich selbst erinnern, ist
Wohlwollen nicht möglich. Sie bewohnen
dasselbe Haus, sie gehen durch dieselben
Gänge, sie essen gleichzeitig, sie leben
in gleichen Zimmern, mit jeweils einem
Fenster. Manchmal sitzt ein alter Mann auf
der Bank und sieht zu, wie ein anderer
alter Mann über den Platz geht. Man kann
beobachten, wie sich der eine über den
anderen wundert, sich ärgert oder
ängstigt. Sie haben eine gemeinsame
Geschwindigkeit, in der sie gehen, in der
sie sprechen. Sie verstehen die Welt
außerhalb des Hauses auf eine gemeinsame
Weise. Man kann sich jedoch nicht
vorstellen, dass sie darüber sprechen, wie
sie nun und im Vergleich zu früher in
einer anderen Geschwindigkeit leben, die
sich nicht mehr an die Geschwindigkeit
außerhalb des Hauses anpassen lässt. Kaum
eine der alten Damen verlässt ohne
Handtasche das Haus. Die Handtaschen, so
denkt man es sich, sind fast leer. Ein
zusammengelegtes Stofftaschentuch, eine
Geldbörse, ein Kamm. Abends sehen die
alten Damen aus den Fenstern ihrer Zimmer.
Das tun sie nicht, um nach draußen zu
sehen, das tun sie, um sich zu
vergewissern, im Haus zu sein.

3
In einem Wagen sieht man ein Kind liegen.
Das Kind sieht seine Hand, es sieht seinen
Fuß, es sieht seine Mutter an. Es lacht,
sein Blick erstarrt, es sieht in die
Ferne. Man zählt einige der Dinge auf, die
das Kind lernen wird. Das gezielte
Einsetzen der Hände, das Sehen von Farben,
das Halten des Kopfes, das Erinnern.

4
In der Wohnung ist es still, nichts als
die Fliege ist zu hören. Es ist still,
weil sich niemand bewegt, weil niemand
sonst in den Räumen ist und etwas sagt.
Man kann sich nicht vorstellen, die Fliege
zu erschlagen, sie ist zu groß, als dass
man sie einfach erschlagen könnte. Man
lässt die Fliege also gegen die
Fensterscheibe fliegen. Immer wieder hört
man den Aufprall, man öffnet das Fenster
nicht. Diese Geräusche, der Flügelschlag,
der Aufprall, das Summen in der Ecke des
Fensters, all diese von der Fliege
ausgehenden Geräusche sind in dieser
Stille der einzige Beweis dafür, dass
wirklich Zeit vergeht.

5
Nachmittags spielen die Kinder im Hof. Sie
rufen sich Namen zu, sie jubeln und
kreischen, der Hof vervielfacht ihre Rufe,
ihren Streit, ihr Lachen. Auf dem Boden
des Hofes sind Kreidezeichnungen zu sehen.
Autos, Monster, Bäume oder aber Helden,
die man nicht kennt. Nachts ist der Hof
nichts weiter als der Abstand zwischen den
sich gegenüberstehenden Häusern.

6
Man geht das Zimmer ab, man geht es mit
den Augen ab, im Bett liegend und es ist
spät am Abend und man hört Schritte im
Treppenhaus, eine Begrüßung hört man, kurz
bevor die Tür zu einer anderen Wohnung ins
Schloss fällt. Man geht das Zimmer ab, man
geht es mit den Augen ab und man sucht
nach letzten Schatten, nach letzten
Umrissen, nach letzten Farben des Tages.

(Zeichnung Renata Jäckle)

Nina Jäckle 1966 in Schwenningen geboren, wuchs in Stuttgart auf, besuchte Sprachschulen in der französischen Schweiz und in Paris, wollte eigentlich Übersetzerin werden, beschloss aber mit 25 Jahren lieber selbst zu schreiben, erst Hörspiele, dann Erzählungen, dann Romane. Ihre ersten Bücher erschienen im Berlin Verlag: «Es gibt solche», «Noll», «Gleich nebenan» und «Sevilla». Bei Klöpfer & Meyer erschienen 2010 mit großem Erfolg ihre Erzählung «Nai oder was wie so ist», 2011 ihr Roman «Zielinski» und 2014 der Roman «Der lange Atem». Nina Jäckle erhielt zahlreiche literarische Auszeichnungen, beispielsweise den Karlsruher Hörspielpreis, das große Stipendium des Landes Baden-Württemberg, das Heinrich-Heine-Stipendium, das Arbeitsstipendium des Deutschen Literaturfonds. Sie erhielt im Dezember 2014 den Tukan-Preis der Stadt München, 2015 den Italo-Svevo-Preis für ihr Gesamtwerk und den Evangelischen Buchpreis für ihren Roman «Der lange Atem». Nina Jäckle war Stipendiatin der Villa Massimo in Rom 2016/17.

Rezension von «Stillhalten» auf literaturblatt.ch

Rezension von «Warten» auf literaturblatt.ch

Rezension von «Der lange Atem» auf literaturblatt.ch

Beitragsbild © Michael Schroeder

Christoph Hein «Gegenlauschangriff», Suhrkamp

2006 kam das Melodram «Das Leben der Anderen» in die Kinos und wurde weit über den Kontinent hinaus ein cineastischer Grosserfolg. Nach zwei Stunden Kino wusste man, wie die DDR 1984 tickte. Dass sich dabei der Regisseur ebenso viele Freiheiten nahm, als hätte er den DDR-Staat verniedlicht, wusste der unbedarfte Kinobesucher gar nicht. Der Schreibende eingeschlossen.

Christoph Hein hat sich zu seinem 75. Geburtstag selbst ein Geschenk geschrieben: «Gegenlauschangriff, Anekdoten aus dem letzten deutsch-deutschen Kriege. «Eine Autobiographie wollte und will ich nicht schreiben, das hat etwas Eitles«, antwortete Christoph Hein in einem Interview auf die Frage, ob es denn nicht Zeit für eine solche gewesen wäre. Er habe vieles aus seiner eigenen Biographie in seine Romane eingeflochten. «Gegenlauschangriff» sind Meilensteine in seiner schriftstellerischen Biographie, Erlebnisse, die entlarven, was ein System bis zum Zusammenbruch 1989 mit Vehemenz aufrecht zu halten versuchte. Bekannt wurde Christoph Hein nach der Veröffentlichung seiner Novelle «Der fremde Freund», die ein Jahr später in Westdeutschland unter dem Titel «Drachenblut» für Aufsehen sorgte.

Der Regisseur des Streifens «Das Leben der Anderen» traf sich in der Vorbereitung zu einem neuen Film mit dem Schriftsteller Christoph Hein und liess sich lange erzählen, wie das «typische Leben eines typischen Dramatikers in der DDR» ausgesehen habe. Und vier Jahre später dankte der Regisseur Christoph Hein im Abspann des Filmes. Hein schrieb dem Regisseur und bat ihn, seinen Namen aus dem Abspann zu nehmen, eine Bitte, die dieser nur schwer verstehen konnte, für Christoph Hein aber mehr als ein Zeichen zu viel war.
Christoph Hein war einer der «Aufrechten» im Land des «realen Sozialismus», sauber geblieben auch dann, als man nach der Wende die Stasiakten des Autors nach Ungereimtheiten untersuchte. Das Leben eines freien Schriftstellers in der DDR, der sich weder Mund noch Augen binden liess, war ein mühsames, sich zuweilen in skurrilen «Bürokratiesatire» verwickelnde Leidensgeschichte. Was aber ein Regisseur zu Gunsten filmischer Effekte aus dem Leben Christophs Heins machte, ist reine Fiktion und hat mit dem Leben 1984 in der DDR nur sehr, sehr oberflächlich zu tun. Einmal mehr «alternative Fakten»!

Christoph Hein erzählt vom letzten deutsch-deutschen Krieg, einem langen, kalten Krieg, dessen Opferbilanz eine ganz andere ist als die der heissen Kriege. Aber wie immer färbt die Gegenwart die Vergangenheit. Neben dem Vergessen und Verdrängen spielen Nostalgie, Schönfärberei und Naivität der Verfälschung in die Hand. «Gegenlauschangriff» präzisiert, sensibilisiert und mahnt. Erinnerungen, Anekdoten, die bewusst machen, wie viel Zeit vergangen ist, wie weit weg die Geschehnisse damals weggerutscht sind, wie leicht man vergisst und wie sehr uns das Bewusstsein von Geschichte fehlt. «Gegenlauschangriff» ist nie belehrend, höchst unterhaltsam, lehrreich und für jeden Leser des Kosmos Hein erhellend!

© Heike Steinweg/Suhrkamp

Christoph Hein wurde am 8. April 1944 in Heinzendorf/Schlesien geboren. Nach Kriegsende zog die Familie nach Bad Düben bei Leipzig, wo Hein aufwuchs. Ab 1967 studierte er an der Universität Leipzig Philosophie und Logik und schloss sein Studium 1971 an der Humboldt Universität Berlin ab. Von 1974 bis 1979 arbeitete Hein als Hausautor an der Volksbühne Berlin. Der Durchbruch gelang ihm 1982/83 mit seiner Novelle «Der fremde Freund / Drachenblut».
Hein wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, u.a. mit dem Uwe-Johnson-Preis und Stefan-Heym-Preis.

Rezension von «Verwirrnis» auf literaturblatt.ch

Rezension von «Trutz» auf literaturblatt.ch

Beitragsbild © Sandra Kottonau

Raphaela Edelbauer «Das flüssige Land», Klett-Cotta

Einer nicht mehr ganz jungen Physikerin wird telefonisch mitgeteilt, ihre Eltern seien bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Zwar nicht durch den Unfall selbst, wie der Beamte mitteilt, aber gleichzeitig und im Moment des Unfalls. Ein Telefonat, das Ruth aus ihrem Leben kippt. Raphaela Edelbauer beschreibt aber in der Folge nicht einfach die Suche nach Ursachen, ihrer Herkunft, sondern das Absinken aus der Zeit, die Reise dorthin, wo die Wunde klafft.

Ruth lebt in Wien und unterrichtet. Die Mitteilung, dass ihre Eltern, zu denen der Kontakt in den letzten Jahren gelitten hatte, ums Leben kamen, reisst sie aus ihrer diffusen, von Medikamenten zusammengehaltenen Mitte. Unter dem Vorwand, am Herkunftsort Gross-Einland, dem Ort der Kindheit ihrer Eltern, das Begräbnis zu organisieren, entflieht Ruth und gerät abseits aller Strassen und Verbindungen zur Welt in eine Stadt, die auf keiner Karte und in keinem Register verzeichnet ist. 

In Gross-Einland, einem mittelalterlich erscheinenden Städtchen, von einem Schloss und deren Gräfin überragt und kontrolliert, abgeschnitten von Verkehrswegen nach aussen, ohne Internet, bewohnt von Menschen, die ganz eigenen Gesetzmässigkeiten zu folgen scheinen, bleibt Ruth hängen. Viel länger, als die paar Tage, die sie rechnete, um eine Überführung ihrer Eltern zu organisieren. Sie, die sich im Ausnahmezustand befindet, trifft auf ein ganzes Städtchen, das sich im Ausnahmezustand befindet. Denn im Untergrund, direkt unter den Häusern der Stadt, befindet sich ein unüberschaubares System aus Höhlen und Stollen, über die Jahrhunderte vergrössert und erweitert, vom Erzabbau bis zur unterirdischen Fabrikationsanlage im 2. Weltkrieg genutzt, als Tor zu Sagen und Mythen gleichsam verwendet wie zum stillen Ort der Entsorgung. Aber die Stadt über dem „Loch“ droht durch Auswaschungen und Einbrüche ein- und abzusinken. Der Kirchturm neigt sich, Strassen brechen auf, Plätze werden unpassierbar und Menschen verschwinden in den Öffnungen.

Ruth, die durch Schäden an ihrem Auto, gezwungen ist, den Aufenthalt auszuweiten, bleibt, mietet sich im „Kürbis“ ein und erfährt mehr und mehr, dass nicht nur die Uhren in der Ortschaft anders ticken. Man verschliesst sich der drohenden Gefahr, zeigt sich wenig kooperativ bei Ruths Nachforschungen über ihre Eltern und huldigt gehorsam der Frau im Schloss, die sich Gräfin nennt, die alles und jede(n) in der Stadt kontrolliert und über alles Bescheid weiss, auch sehr bald von Dingen, die Ruth selbst betreffen. Aus Tagen werden Wochen, aus Wochen werden Monate.

Auch die Gräfin merkt, dass Ruth nur dann zu kontrollieren ist, wenn sie sie zu ihrer Vertrauten macht, sie mit der Rettung des Städtchens beauftragt, der Entwicklung eines Füllstoffes, der das Absinken der Ortschaft aufhalten soll, der Mithilfe eines touristischen Grossanlasses, bei dem diese Rettung gross aufgezogen gefeiert werden soll. Ruth, die zu den Innereien des Städtchens Zugang erhält, einen Sonderstatus geniesst und sich immer mehr in den unsichtbaren Schichten des Städtchens verliert, nicht zuletzt in das Verschwinden mehr als tausend KZ-Häftlingen, die in den letzten Wirrungen der NS-Zeit beseitigt werden sollten und unerklärbar verschwanden, sackt immer tiefer ab. Ins Loch in ihr, ins Loch der Geschichte, ins Loch unter dem Städtchen, ins Loch der Zeit.

„Das flüssige Land“ ist durchsetzt mit wissenschaftlichen Passagen zum Phänomen „Zeit“, Legenden von jenen, die im Loch verschwanden und Wochen später wieder auftauchten, Archivtexten aus den unendlichen Regalen in den Tiefen des Schlosses. Was sich zu Beginn des Romans wie die Fluchtgeschichte einer Frau, die mit einem Mal ihre Eltern verliert, liest, fächert sich zu einem Panorama auf mit ganz eigenwilliger Perspektive. Es ist die Stadt, eine Stadt im Off der Zeit, aus der Zeit gefallen, mit einem Panoptikum an Archetypen, die sie bewohnen. Ruth, die Frau, die nach Erklärungen sucht, eine Frau, die nicht weiss, wie ihr geschieht.

Aber „Das flüssige Land“ liest sich wie eine einzig grosse Metapher über eine Gesellschaft, die sich allen Rissen, Abgründen und schwarzen Löchern verschliesst, nicht wissen will, sich sogar vor der Ahnung abwendet und statt dessen lieber eine grosse, letzte Party feiert, bei der die Stadt paralysiert und erblindet auf ihre Errettung hofft, eine Gesellschaft in einem Loop, einem immerwährenden Karussell.

Virtuos geschrieben, auch wenn viele Fragen unbeantwortet bleiben. So wie im Leben selbst. Ein Buch für die Shortlist des Österreichischen Buchpreises 2019!

Ein Interview mit Raphaela Edelbauer:

Zwischen 2013 und 2015 gab es eine amerikanische TV-Serie mit dem Titel „Under the Dome“. Eine Kleinstadt, die unter einer riesigen, unsichtbaren Kuppel vom Rest der Welt abgeschlossen ist. „Gross-Einland“ ist es auch, nur ist die Abschottung gewachsen, die Stadt ein Eiland im Fluss der Zeit. Ruth rutscht in diesen geschlossenen Kosmos und findet eine scheinbar glückliche Gesellschaft, die direkt über dem Abgrund lebt. Geben diese Bilder nicht genau das wider, was momentan geschieht? Sei es politisch, gesellschaftlich oder in Sachen Klima?

Ich habe bewusst nach einer Metapher gesucht, die mehrere dieser Aspekte vereinigt: Eine bedrohliche Leerstelle – etwas, das dadurch gefährlich wird, dass es nichts ist, also eine Aussparung des Wissens, das Schwarz der Geschichte. Zweitens natürlich eine Wiederspiegelung des fast komödiantischen Wegsehens der ganzen Gesellschaft, obwohl dieses Loch in der eigenen Existenz immer dominanter wird – obwohl es mit unendlich viel Mühe behaftet ist, es zu ignorieren. Das ist natürlich eine Metapher für Österreich: Links und rechts quellen die Verbrechen, die Nazivergangenheiten, die Wehrsportübungen und Ibizaskandale hervor, und man wirft einfach immer weiter frohen Mutes geklöppelte Tischdeckerln, Punschkrapfenglasuren oder Lippizanerquadrillen drüber. 

Was sich in ihrem Roman zu Beginn ganz konventionell wie die Geschichte einer aus dem Alltag katapultierten Frau gebärdet, entpuppt sich schnell als Reise aus der Zeit, hinein in eine fast puppenstubenartige Welt einer allmächtigen Gräfin in einem Schloss hoch über der Stadt. Wie kam es zu dieser Kulisse?
Unter allem droht das Loch, auch unter der Geschichte, von der niemand mehr Konsequenzen ziehen will, die man lieber im Verborgenen belassen will. Scheut sich der Mensch der logischen Konsequenz? Spielen in ihrem Roman Erfahrungen mit eigener Heimat? 

Zunächst einmal zum Loch: Tatsächlich gibt es unter meiner Heimatgemeinde, der Hinterbrühl (einer Vorstadt von Wien) eine solche Aushöhlung, in die die ganze Stadt abrutscht. Tatsächlich haben sich in zugehörigem Bergwerk, heute als „Seegrotte“ (http://www.seegrotte.at) touristenbekannt, war im Jahre 44/45 von 2000 in Schichten arbeitenden Zwangsarbeitern einer KZ-Außenstelle für das Zusammenschrauben von Flugzeugen verwendet worden. Tatsächlich starben sie nahezu alle – die meisten auf einem Todesmarsch nach Mauthausen, andere durch die im Buch geschilderten Benzininjektionen. Es gibt also für diesen Part der Geschichte ein recht eindeutiges Vorbild.

Ich habe aber einen Wolpertinger aus mehreren österreichischen Städten zusammengebaut, um den stellvertretenden Charakter herzustellen, der ein literarisches Werk meines Erachtens nach auszeichnet. So flossen Attnang Puchheim, Melk und natürlich die berüchtigte Lassnitz-Grube mit ein, deren Bilder um die Welt gingen. Zuletzt wollte ich eine Commedia-dell-arte der österreichischen Gesellschaft in diese mumifizierte Gemeinde setzen, in der sich die letzten 300 Jahre in den Menschen ebenso sedimentiert haben, wie die Gesteine des Bergwerks – und beides muss am Ende natürlich in sich zusammenfallen. 

Aus der Frau, die nach Antworten sucht und sich entschlossen auf den Weg macht, wird eine Sesshafte, eine, die ausgerechnet im zeitlosen Raum glaubt, endlich angekommen zu sein. Aber es ist auch der Ort, in dem sie sich derart mit Zeug zudeckt, dass sie aus den Augen verliert, was sie einst wollte, seien es die Antworten zu Fragen, die den rätselhaften Tod ihrer Eltern betreffen oder den Endspurt ihrer Habilitation. Wovor fürchten Sie sich?

Auf der einen Seite natürlich vor der Identitätslosigkeit, die mit dem Riss in ihrer Familiengeschichte beginnt: beide Eltern sterben, der Anschluss zur Frage, woher sie kommt, ist jäh abgeschnitten. Es wäre aber keine literarische Herangehensweise an das Thema, wenn sich dieser Riss nicht bald als Gesellschaftsphänomen artikulieren würde. Bald entdeckt sie in sich – was ich übrigens immer häufiger auch bei jungen Menschen sehe – eine geradezu konservative Hinwendung zum ländlichen Zugehörigkeitsgedanken. Natürlich ist das die Sehnsucht der in Deutschland und Österreich lebenden Midtwens: Einen unschuldigen, naiven Zugang zum verlorenen Paradies der heimatlichen Landschaft. Nur leider geht das nicht: Unsere Großeltern haben nämlich sechs Millionen Menschen vergast, gefoltert und erschossen und sie dann in dieser wunderschönen Alpenlandschaft unterirdisch verstaut. Das zu realisieren und es mit der eigenen Herkunft gewissermaßen zu synchronisieren ist eine in der Geschichte unitäre Situation, die furchteinflößend ist, das stimmt. 

Die Rettung der Stadt liegt in einer Mischung, einer von Ruth entwickelten Flüssigkeit, die sich verfestigt, die glauben macht, den Ort retten zu können. Die Rettung wird aber auch alles Leben vernichten. Welche Mischung rettet uns vor den Abgründen der Löcher, auf denen unsre Existenz ruht?

Eben keine. Es gibt Unversöhnliches in der Geschichte, das man eben nicht mit einem „es wird schon wieder“ hinbekommt. Die Landschaft und Natur – wobei das natürlich auch als irgendeine ursprüngliche Konfiguration des Kosmos bezeichnet werden kann – wurde unendlich oft vergewaltigt, missbraucht und gleichzeitig hypostasiert als idyllische Urheimat. Und wenn diese Landschaft das Grauen wieder herausbricht wie unter einem gewaltigen Ermetikum, oder einen verschlingt, dann vertraut man eben mit der gleichen Naivität, mit der man gerade noch die grünen Wiesen angebetet hat, auf die Heilsversprechen der Technik. Das ist ja ebenso kein Widerspruch in Österreich: dass man jeden Tannenzapfen verehrt und sich in seiner regionalen Verbundenheit mit Zirbenöl einschmiert und gleichzeitig in riesige Skipisten investiert, die die Natur ganzer Bergmassive auslöscht. 

Ihr Roman ist ein Roman über die Zeit, dieses menschliche Konstrukt, das helfen soll, aber eigentlich nur blendet. Gab der Roman Ihnen selbst Antworten?

Natürlich nicht. Ich habe jetzt allenfalls eine Menge mehr Fragen und Gründe zu verzweifeln, mit denen ich klar kommen muss. Die nächsten Jahrzehnte werden ein paar mehr geschichtliche Erdlöcher freilegen, daran zweifle ich keine Sekunde. 

Vielen Dank!

Raphaela Edelbauer, geboren 1990 in Wien, wuchs im niederösterreichischen Hinterbrühl auf. Sie studierte Sprachkunst an der Universität für Angewandte Kunst, war Jahresstipendiatin des Deutschen Literaturfonds und wurde für ihr Werk »Entdecker. Eine Poetik« mit dem Hauptpreis der Rauriser Literaturtage 2018 ausgezeichnet. Beim Bachmannpreis in Klagenfurt gewann sie 2018 den Publikumspreis. 2019 wurde ihr der Theodor-Körner-Preis verliehen.

Webseite der Autorin

Ana Marwan «Der Kreis des Weberknechts», Otto Müller

Karl Lipitsch vergleicht sich in seiner Vorstellung gerne mit einem einsamen Wolf, aber eigentlich ist der selbsterklärte Misanthrop eher ein Einsiedlerkrebs, eingeschlossen in seiner auserwählten Muschel. Wenn da nur die Wirkungen der Gefühle, die Frau in der Wohnung auf der gegenüberliegenden Strassenseite nicht wäre.

Die ungefähre Handlung Ana Marwans ersten Romans ist schnell erzählt: Ein zurückgezogener Mann im gesetzten Alter, der in seiner Wiener Wohnung an einem sich ewig dahinziehenden Buch arbeitet, manchmal im Garten vor seinem Haus sitzt und liest, lernt mehr oder weniger zufällig die Frau vom Haus gegenüber kennen. Sein Entschluss, mit den Menschen eigentlich nichts mehr zu tun haben zu wollen, beginnt zu wanken. Und während er mit Bedacht versucht, die Kontrolle über sein fest installiertes Dasein nicht zu verlieren, droht sich die Muschel des Krebses aufzulösen.

«Zweifel sind die schwerste Last, die man einem auferlegen kann und unverzeihlich, wenn sie leicht zerstreut werden.»

Weberknechte gehören zu den Spinnen, werden in der Schweiz auch Zimmermänner genannt, in anderen Gegenden Schuster oder Schneider. Das passt für den Einsiedler Karl Lipitsch, denn er schustert und schneidert sich seine Welt ebenfalls zusammen. Und wer in seinen Kreis gerät, der wird schonungslos abgeurteilt, ausser eben wenn die eine Mathilde heisst und mit der genau richtigen Mischung von Abweisung und Hartnäckigkeit den Eremit aus seinem Turm lockt.

Karl Lipitsch hat sich von allen und allem losgesagt, eigentlich auch von den Frauen. Er schreibt an einer ontologischen Theorie, schon seit Jahren, ein Ästhet, ein urbaner Poet, kritzelt in sein Notizheft und wenn es sein muss, schreibt er auch einmal einen Brief.
Auf einer Fahrt mit dem Zug lernt er Mathilde kennen, die ihn gekonnt in ihr Leben hineinzieht und Karl damit aus seinem gewohnten Trott. Er, der mit Bedacht bei sich zu kontrollieren versucht, was bei der Menschheit an sich schon längst aus dem Ruder gelaufen ist, der seinen Artgenossen wenn immer möglich aus dem Weg geht, verstrickt und verheddert sich in den feinen Fangfäden einer Frau, wankt im Hin-und-her zwischen Abstossung und Anziehung, zwischen Selbstdisziplin und aufkeimender Leidenschaft.

«Schweigen ist die hinterhältigste Strafe, die man einem Freund erteilen kann.»

Ana Marwan schlüpft meisterlich in die Rolle eines Sonderlings, ins Innenleben eines In-sich-Gekehrten, der es zumindest tapfer versucht, auf alles «zu pfeifen» was andere von ihm erwarten, sich in der «warmen Umarmung der Einsamkeit» zu suhlen. Er glaubt, dass die Welt in ihrer Banalität ihn nur von seinem Denken ablenke. Selbst die überbordende Üppigkeit eines im Frühling blühenden Apfelbaumes kann bei Lipitsch Missbehagen auslösen.
Doch was in den Wochen und Monaten nach dem ersten Aufeinandertreffen mit Mathilde passiert, bringt den Mann restlos aus dem Lot, auch weg von seiner eigentlichen Aufgabe, seinem Buch.

«Es liegt in der Natur der Frau, sich allen Wünschen zu widersetzen.»

Ana Marwan beschreibt den Kampf in der Seele eines Verkrampften, spürt dem nach, was passiert, wenn sich zwei Gravitationsfelder zwischen Anziehung und Abstossung aufreiben, darüber, in welcher Komplexität und Kompliziertheit nur der Mensch, der Kopfmensch den Gefühlen im Bauch mit aller Skepsis begegnet. «Der Kreis des Weberknechts» ist voller Komik und Witz, aber auch mit Momenten, in denen man den Protagonisten am liebsten schütteln würde!

«Herr»liche Literatur!

Ana Marwan, 1980 in Murska Sobota (Slowenien) geboren, aufgewachsen in Ljubljana. Studium der Vergleichenden Literaturwissenschaft in Ljubljana und Romanistik in Wien. Preisträgerin des exil-literaturpreises schreiben zwischen den kulturen 2008. «Der Kreis des Weberknechts» ist ihr erster Roman.

Arno Camenisch «Herr Anselm», Engeler

Vielleicht ist der wichtigste auf dem Schiff nicht der Kapitän, vielleicht nicht einmal der Arzt oder die Ärztin im Krankenhaus. Es gibt sie, die Menschen innerhalb eines Systems, ohne die nicht viel geht, die den Puls oder die Richtung geben. Die es mehr als nur braucht, ohne die das Schiff zu schlingern beginnt, dem grossen Haus die Seele genommen wird.

So wie mit Herrn Anselm in der Schule weit hinten in einem Tal in den Bündner Bergen. Man hat nicht ihm gekündigt, sondern der ganzen Schule. Die Oberen wollen sie nicht mehr, lösen den Schulstandort auf, aus was für Gründen auch immer. Zu kostspielig gemessen an der Anzahl Kinder, nicht wirtschaftlich angesichts der Investitionen, die getätigt werden müssten, sinkende Kinderzahlen, was auch immer.

Was Herrn Anselm wurmt, dass man ihn nicht tun lässt, was er seit Jahrzehnten zu aller Zufriedenheit macht. Wenigstens bis zu seiner Pensionierung. Vor allem jetzt, seit dem Tod seiner Frau, der all die Kraft nichts nützte und von einer Krankheit dahingerafft wurde, viel zu früh, trotz all der Gegenwehr.
Herr Anselm besucht sie nach der Arbeit auf dem Friedhof bei der Kirche im Dorf, besucht das Grab. Redet mit ihr, wie er es immer tat, tränkt die frischen Blumen vor dem Stein, bleibt stehen und lässt in seinem stillen Monolog den Blick über Dorf und Tal schweifen.

Herr Anselm ist nicht der Lehrer, sondern der Hauswart. Mehr als nur Putzdienst, denn wenn eine der Lehrpersonen krank ist und sich auf die Schnelle kein Ersatz auftreiben lässt, übernimmt Herr Anselm auch einmal im Schulzimmer das Szepter, wenn auch auf seine Art. Dann kann es sein, dass ein Penaltyschiessen darüber entscheidet, ob es Hausaufgaben gibt oder nicht. Herr Anselm kann den Kindern die Welt genauso gut erklären wie die Studierten, aber eben mit seinem Dirigentenstab, auch wenn dieser ein langer ist, sein Besen.

Er erzählt seiner Frau von den Kindern in der Schule; den Aufgeweckten, den Schlingeln, den Faulen und denen, die vor den Prüfungen Angst haben. Aber auch von den Oberen, den Politikern, den Beamten, denen er nicht viel Vertrauen schenkt, denen es ja nur durch Schläue und Ränke gelingen konnte, so weit hinauf in der Hierarchie zu klettern. Darüber, dass die Kinder in der Schule vor allem das eine lernen müssen, das Scheitern. Um nachher wieder aufstehen zu können, sich nicht durch Misserfolg entmutigen zu lassen. So wie das Lernen eine Kunst sei, sei dies auch das Scheitern. Dass der grosse Bschiss wie ein Bumerang eines Tages zurückkomme, sich Fleiss und Rechtschaffenheit lohne. Dass man sich seiner Schwächen bewusst sein müsse, um zu wissen, wo die Stärken sind.

Arno Camenisch erfindet seine Welt nicht neu. Im Gegenteil. Er fügt ihr mit jedem Buch nach seiner Kunst ein Zimmer hinzu, fing beim Bahnhof an, beim letzten Buch war es der Skilift und nun das Schulhaus und der Friedhof. Arno Camenisch hat mit seinem Erzählsound eine Nische gefunden, die ihm keine(r) streitig machen kann, kultiviert eine Art des Erzählens, die ganz allein die seine ist. Es ist wohl auch kein Zufall, dass auf dem Cover des neuen Büchleins der Begriff Erzählung oder Roman fehlt. „Herr Anselm“ ist wohl mehr so etwas wie das Textbuch seiner neuen Performance. Wer den Sound seiner Stimme kennt, dem klingt beim Lesen dies mit. Man sieht ihn auf der Bühne oder wo auch immer und weiss, dass es funktionieren wird, diese Mischung aus Schnoddrigkeit, Witz und Freude an den kleinen Menschen und Dingen. Sein Erzählen ist ein durchorchestrierter Auftritt, der in seiner Erscheinung als urchiger Bergler in den Kleidern eines Städters, bis in den atemlosen Sprechfluss seines Erzählers passt. Das gefällt oder gefällt gar nicht. Ich gönne Arno Camenisch seinen Erfolg, seine Spezialität, dass es, wo auch immer, in der Schweiz die Säle füllt. Vielleicht steckt hinter seinem Erfolg genau diese Bewunderung für die kleine Nische, die er hell zu Leuchten bringt.

Ich freue mich vor allem für den Verlag und seinen Verleger Urs Engeler, der unermüdlich fast im Alleingang Bücher macht und mit seinem Flaggschiff Arno Camenisch nicht gänzlich in den Untiefen des immer schwieriger werdenden Verlagsgeschäft untergeht.

© Janosch Abel

Arno Camenisch, 1978 in Tavanasa im Kanton Graubünden geboren und aufgewachsen, studierte am Schweizerischen Literaturinstitut in Biel, wo er heute auch lebt. 2009 erschien im Engeler-Verlag der Roman Sez Ner, 2010 Hinter dem Bahnhof, 2012 Ustrinkata, 2013 Fred und Franz, 2013 Las flurs dil di, 2014 Nächster Halt Verlangen, 2015 Die Kur, 2016 Die Launen des Tages, 2018 Der letzte Schnee, 2019 Herr Anselm. Publikationen im “Harper’s Magazine” (New York) und in “Best European Fiction” (USA). Seine Texte wurden in über 20 Sprachen übersetzt und seine Lesungen führten ihn quer durch die Welt, von Hongkong über Moskau und Buenos Aires bis nach New York.

Webseite des Autors

Beitragsbild © Sandra Kottonau