«In stillen Räumen» literaturblatt.ch fragt, Regula Wenger antwortet.

2015 sagte Verena Stössinger, Kulturjournalistin: «Zu den besonders überzeugenden Erstlings-Werken gehört dieses Jahr zweifellos Regula Wengers Roman «Leo war mein erster». Lakonisch und witzig, voller Leben. Das ist souverän gemacht, überraschend und berührend. Es ist ein reifes Buch, das Regula Wenger vorlegt, eins, das mit leichten Füssen daherkommt und keinen literarischen Kunstnebel braucht.» Nun liegt ein neues Manuskript auf dem Tisch und ich bin gespannt!

Ein Interview mit Regula Wenger, das die Lust und Vorfreude auf ihr neues Buch schüren soll:

Es gibt Schreibende, die Geschichten erzählen wollen, mit Spannung fesseln. Andere, die politische und gesellschaftskritische Inhalte und Meinungen in literarisches Schreiben verpacken. Was wollen Sie mit Ihrem Schreiben? Ganz ehrlich!
Ich möchte beglücken, amüsieren, irritieren und zum Nachdenken anregen. Wenn mir die Leser sagen, dass sie beim Lesen des Buches laut herauslachen mussten, finde ich das fantastisch. Ich werfe in meinem Schreiben einen kritischen Blick auf Zwischenmenschliches und auf die Gesellschaft. Es gibt einiges zwischen den Zeilen zu entdecken – wenn man denn möchte. Wenn ich wählen müsste, ob ich die Leute zum Lachen oder zum Weinen bringen möchte, würde ich mich wohl fürs Lachen entscheiden. Gut ist, dass ich mich nicht zwischen dem einen oder anderen entscheiden muss, denn eine gute Pointe hat meist einen ernsten Ausgangspunkt.

Wo und wann liegen in Ihrem Schreibprozess der schönste oder/und der schwierigste Moment? Gibt es gar Momente, vor denen Sie sich fürchten?
Beglückende Phasen sind wohl jene, in denen ich nachts über ein Kapitel oder eine Szene nachdenke und ich die Idee über die Nacht hinaus retten und zu Papier bringen kann. Es ist fabelhaft, wenn ich diese Gedanken aus dem Halbschlaf auch sprachlich zufriedenstellend aufs Blatt bekomme – was mir nicht immer gelingt. Schwierig ist es auch, wenn ich mir keine Zeit zum Schreiben nehmen kann, weil mich noch so viel anderes im Leben auf Trab hält, oder wenn ich eigentlich Zeit hätte, aber es nicht schaffe, mich von einem Moment auf den anderen in meinen Stoff zu vertiefen.
Während das Drauflosschreiben viel Spass macht, kann der Überarbeitungsprozess manchmal harzig sein. Das Loslassen von unnötigen Protagonisten oder überflüssigen Szenen ist natürlich auch nicht so einfach. Wunderbar ist es hingegen, wenn ich beim Überarbeiten meiner Texte selber noch einmal lächeln oder wenn ich bei einer ernsteren Passage leer schlucken muss – obwohl ich das Ganze doch selber erschaffen habe. Dann spüre ich eine unbändige Vorfreude darauf, dass sich irgendwann irgendjemand anderes auch durch meine Worte und meine Geschichten berühren lassen könnte.

Lassen Sie sich während des Schreibens beeinflussen, verleiten, verführen? Spielen andere Autorinnen und Autoren, Bücher (nicht jene, die es zur Recherche braucht), Musik, besondere Aktivitäten eine entscheidende Rolle?
Einmal habe ich ein Buch einer Bekannten angefangen zu lesen: Es waren wunderbare, ausführliche Beschreibungen darin, die mich berührt haben, doch ich habe das Buch schnell wieder weggelegt. Ich wollte vermeiden, dass ich mich von dieser Art zu schreiben beeinflussen lasse. Ich bevorzuge einen kürzeren, knapperen Stil, wobei ich ausschliesslich kurze Sätze auch schnell langweilig finde – Rhythmus und Abwechslung sind mir wichtig.
Verführen lasse ich mich ansonsten von allem, was um mich herum geschieht, sehr gern sogar, von Erlebnissen, Gesprächen und Beobachtungen, die während des Schreibprozesses oft direkt in mein Buch fliessen können. Das macht für mich ein Buch dann auch frisch: Wenn ich nicht von Anfang an alles bereits fix geplant und durchstrukturiert habe und ich mich zwischendurch selber überraschen kann. Ich bin aber noch auf der Suche nach der richtigen Mischung zwischen «Das Buch durchdenken und durchstrukturieren, bevor ich mit den ersten Zeilen beginne» und «Einfach mal wild drauflosschreiben und meinen Protagonisten aufmerksam und amüsiert hinterhertraben».

Hat Literatur im Gegensatz zu allen anderen Künsten eine spezielle Verantwortung? Warum sind es vielfach die Schreibenden, von denen man in Krisen eine Stimme fordert?
Die Welt ist komplex und wir sehnen uns nach unabhängigen klugen Köpfen, die Licht ins Dunkel bringen können. Es ist wohl nicht so wichtig, ob das Autorinnen oder Soziologen, Journalistinnen, Philosophen, Bäcker oder Elektromonteure sind. Autoren haben natürlich die Möglichkeit, ihre Meinung und ihre Sicht auf die Welt gut formuliert in der Öffentlichkeit zu platzieren, auch durch Essays oder politische Kommentare. Was ich als Mensch meine, verstanden zu haben, und was mir wichtig ist, möchte ich als Autorin natürlich vor allem in mein literarisches Schreiben verpacken.

Inwiefern schärft Ihr Schreiben Sichtweisen, Bewusstsein und Einstellung?
Im Alltag ziehen täglich unzählige Themen an uns vorbei und wir haben nicht unbedingt die Möglichkeit, vertieft darüber nachzudenken. Deshalb ist es für mich bereichernd, mich in einem Schreibprozess über längere Zeit intensiver mit einem Thema zu befassen und allenfalls auch neue Erkenntnisse zu gewinnen.

Gibt es die viel zitierte Einsamkeit des Schreibens, jenen Ort, wo man ganz alleine ist mit sich und dem entstehenden Text? Muss man diese Einsamkeit als Schreibende mögen oder tun Sie aktiv etwas dafür oder dagegen?
Die Einsamkeit des Schreibens ermöglicht mir die nötige Konzentration: In diesem stillen Raum entsteht neues Leben. Ich schätze und brauche ihn und habe davon viel zu wenig. Diese Einsamkeit steht übrigens in krassem Gegensatz zu den Zeiten, in denen man mit seinem Buch an die Öffentlichkeit tritt. Es sind komplett unterschiedliche Aggregatszustände, in denen man sich befindet – zwischen einsamer Schreibarbeit und der Präsentation seiner Arbeit vor Publikum. Der Schreibprozess ist entspannter, Lesungen sind dafür aufregender.

Gibt es für Sie Grenzen des Schreibens? Grenzen in Inhalten, Sprache, Textformen, ohne damit von Selbstzensur sprechen zu wollen?
Wenn ich weiss, was ich sagen möchte, es jedoch nicht schaffe, die passenden Worte für ein Gefühl, eine alltägliche Handlung oder einen Vorgang zu finden, stosse ich an eine Grenze – und bin empört. Manchmal lässt sie sich zum Glück doch noch überwinden oder es findet sich ein akzeptabler Umweg oder eine brauchbare Alternative.

Erzählen Sie kurz von einem literarischen Geheimtipp, den es zu entdecken lohnt und den Sie vor noch nicht allzu langer Zeit gelesen haben?
Ich habe «Baba Dunjas letzte Liebe» von Alina Bronsky lange auf meinem Nachttisch verstauben lassen, weil ich skeptisch wegen des Themas war. Kritisiert wurde, dass sie das verstrahlte Tschernobyl in ihrem Buch verniedliche, ich habe das jedoch nicht so empfunden. Mich hat das Buch berührt.

Zählen Sie Bücher auf, die Sie prägten, die Sie vielleicht mehr als einmal gelesen haben und in Ihren Regalen einen besonderen Platz haben?
Mich hat «Die Wand» von Marlen Haushofer tief beeindruckt. Was für eine Idee! Was für eine Atmosphäre! Ich habe auch dieses Buch lange auf meinem Nachttisch hin und her geschoben, bevor ich überhaupt mit Lesen begonnen habe. Ich konnte mir einfach nicht vorstellen, dass mich diese Geschichte wirklich fesseln würde. Das tat sie aber – und wie!

Frisch hätte wohl auch als Architekt sein Auskommen gefunden und Dürrenmatt kippte eine ganze Weile zwischen Malerei und dem Schreiben. Wären Sie nicht Schriftstellerin oder Schriftsteller, hätten sich die Bücher trotz vieler Versuche nicht verlegen lassen, hätte es eine Alternative gegeben?
Ich kam über meine journalistische Arbeit zum literarischen Schreiben und bin nach wie vor auch als freie Journalistin und Texterin tätig. Ich habe also bereits eine Alternative zum literarischen Schreiben. In einem anderen Leben würde ich vielleicht alte Möbel restaurieren.

Was tun Sie mit gekauften oder geschenkten Büchern, die Ihnen nicht gefallen?
Ich stopfe sie in eine Tasche und stapfe in Vollmondnächten wutentbrannt in den Wald. Dort verbrenne ich diese Elaborate und verfluche lautstark die verlorene Zeit, die ich mit ihnen verbracht habe. Natürlich schneide ich vorher jedes noch brauchbare Wort aus den Büchern, weil ja nicht alles schlecht sein kann – vielleicht gibt es ein «unerquicklich» oder ein «Wonneproppen», das ich irgendwann noch gebrauchen kann. Wirklich jetzt im Ernst? Bücher in den Müll werfen, das bringe ich nicht übers Herz. Ich lege sie manchmal vor meiner Haustür auf eine Bank, dort verschwindet alles – ein fabelhaftes Bermuda-Dreieck. Ich habe allerdings auch ein schlechtes Gewissen dabei, weil ich das Buch ja nicht gut finde und sich nun vielleicht jemand anderes darüber ärgern muss …

Schicken Sie mir ein Foto von Ihrem (unaufgeräumten) Arbeitsplatz?
Gerne. Kommen Sie dann bei mir vorbei und räumen ihn endlich auf? Auf meinem Schreibtisch zuhause stapelt sich alles Mögliche und Unmögliche, weshalb ich mit meinem Laptop immer an den Wohnzimmertisch ausweiche. Ich habe aber auch herausgefunden, dass sich das Chaos bei Besuch bestens in irgendwelche Schubladen stopfen lässt, die ich dann nie mehr öffne. Im Gemeinschaftsbüro, in dem ich mit anderen freien Journalistinnen und Journalisten eingemietet bin, teile ich meinen Arbeitsplatz mit einer Kollegin. Den Tisch lasse ich deshalb immer aufgeräumt zurück: Siehe Bild. Wenn ich im Schwung bin, wische ich den Tisch noch feucht ab, bevor ich von dannen ziehe. Das Foto, das ich Ihnen sende, stammt also von diesem Bürotisch, an dem ich oft nur noch so tue, als wäre ich Journalistin, aber eigentlich versuche Bücher zu schreiben …

Regula Wenger (1970), Autorin, Kolumnistin und Journalistin in Basel. Ausbildung unter anderem an der Schweizer Journalistenschule in Luzern sowie an der Schule für Angewandte Linguistik in Zürich (Literarisches Schreiben). Arbeitete als Journalistin auf mehreren Zeitungsredaktionen, als Redaktorin und Moderatorin bei einem Lokalradio sowie als Texterin bei einem Kommunikationsunternehmen. Heute ist sie freie Journalistin, Autorin und Kolumnistin in einem Basler Pressebüro. Mitgewinnerin des Schreibwettbewerbs «Geschichten aus der Vorstadt» von Szenart, der Gruppe für aktuelles Theaterschaffen in Aarau (2013). Ihr Roman «Leo war mein erster» ist im Waldgut Verlag (Frauenfeld 2014) erschienen.

Ruth Loosli «Hungrige Tastatur», Waldgut

Ruth Loosli ist eine Streiterin für das Wort, oft unterwegs, viel im Gespräch, immer mit spitzem Stift und kleinem Büchlein. Vor ein paar Jahren lud ich sie einmal ganz spontan zu einer Krimilesung in einer Buchhandlung in Winterthur ein. Ich sah sie am Schaufenster vorbeigehen, kurz stehen bleiben. Aber weil das Buch sie dann doch nicht zu fesseln vermochte, sass sie vor mir mit Stift und Büchlein und begann zu schreiben. Als wäre es hilfreich im Kampf gegen etwas, was ihr nicht gefällt. Als wäre Sprache, Schrift und Schreiben Schild und Speer, mit denen sie sich gegen das zur Wehr setzt, womit die Welt sie attackiert.

Gespräch mit Dichtung:

In einem ihrer Gedichte steht am Anfang:
Die Gedichte ruhen.
Sie sind Handläufe
die unserer Melancholie
schmeicheln und sie
hinunter auf die Strasse
begleiten.

Gibt dir das Schreiben Halt, eine Richtung? Braucht es das Schreiben und ganz besonders Gedichte, um eine immer schwerer zu lesende Gegenwart verständlicher zu machen? Gedichte als Kontrapunkt zu Fakten, denen man dann doch nicht trauen kann?

Das Dichten an sich, dem oft eine innere Aufmerksamkeit vorangeht, ein absolut konzentrierter Moment (wie der Moment, wenn ein Bogen gespannt wird) gibt mir Halt. Es ist meine Art, der Welt zu begegnen. Und auch meiner eigenen Alchemie, die immer wieder für Überraschungen sorgt, für Unsicherheit, für ein Ausbrechen ausgetretener Denkpfade. Überhaupt scheint der Verstand der heutigen Menschen ein Verzerrer zu sein und jeder will für sich in Anspruch nehmen, die Art, wie er die Welt sieht, sei die richtige. 

Das erscheint mir lächerlich. Wir sehen täglich, in welche Sackgassen uns dieses Denken führt. Natürlich muss man die Dinge ordnen können, aber sie auf schwarz-weiss hinunter brechen zerstört uns als Menschengemeinschaft und unsere Umwelt. 

Wenn dann noch ein Gedicht entsteht in meinem Alltag, ist das Glück. Das Glück, einer Wahrnehmung, einem Moment Gestalt zu geben. In Form von Worten. Andere machen es mit einem Bild, einer Melodie. Und ich habe mich dem Dichten anvertraut als Handlauf meiner Gegenwart. 

Gerne weniger

an Gier
an Verlust an
Land an
Hunger an
Ohnmacht an
Rattengift an
Rampenlicht an
enger Sicht an
Hass an
Blindheit und
geschundener
Kindheit
(denn dort werden
die Weichen gestellt)

Man spürt die Leidenschaft, als nähmst du ein Messer in die Hand. Wenn dein Schreiben filetiert, aufschneidet, zusticht. Und doch ist da auch der grosse Hang zur Versöhnung, Umarmung, der Wunsch, den unlauteren Leidenschaften die Macht zu nehmen. Manchmal drückt Wut und Verzweiflung, manchmal das Wissen, dass nur das Kleine, Feine in eignen Händen liegt. Und wenn ich in meiner Lesart der Flüchtigkeit von Momenten bewusst werde, dann in Sätzen wie: «Sag es, ich halt dagegen an: die Luft!» Hat das Schreiben von Gedichten dein Sehen verändert?

Es war und ist ein Prozess und läuft immer auch parallel: ich schaue genau, weil ich Gedichte schreibe. Weil ich verstehen will. Weil ich mein Sehen und genaues Erfassen erweitern will. Das Gedicht ist dann eine logische Folge davon. Funktioniert aber auch umgekehrt, es beeinflusst und bedingt sich wechselseitig. 

Zweifel

Die mongolische Hochzeit
findet in der Bretagne statt

das Brautpaar wechselt dreimal
die Kleidung von weiss zu blau zu rot.

Der Abend schreitet fort
und mit ihm das Paar.

Sie trauen der Zeit nicht
obwohl sie einander einen Ring

an den Finger gesteckt haben.

Es liegt ein grosses Staunen in den Gedichten, gepaart mit der Bescheidenheit, die mit dem Mut kämpft, mit der Bescheidenheit, die sich im Hintergrund lässt. Die weiss, dass nur zu gewinnen ist, was man sich mit Sprache verinnerlicht.
Du bist viel unterwegs, im Zug, zu Fuss, mit den Augen, mit deinem Herz – aber auch in den sozialen Medien. Wo stolpert Ruth Loosli?

Welche Frage! Ruth Loosli stolpert immer wieder. Unbedarft. Ungeschützt und manchmal über sich selber. Über minimale Erhebungen, die ich zu spät erkannte, weil zu schnell unterwegs. Ja, manchmal will ich zu schnell an einem anderen Ort sein. Weil genau dort ein Gedicht auf mich warten könnte. Ein Gespräch, eine Idee, ein offener Himmel. Die Bewegung ist zentral für mich. Durch Bewegung und Unterwegs-Sein fühle ich mich lebendig. Und manchmal stolpere ich in ein Fettnäpfchen, weil es mir schwer fällt, Konventionen einzuhalten. Öfter noch stolpere ich in mein Schweigen, das sich als Fallgrube erweisen kann. Da hilft dann nur noch ein Gedicht. Fremd oder eigen unwichtig. 

Ertrinken

Ich könnte ertrinken
in meiner Zeit
sie schwappt über wie kochende
Milch über den Pfannenrand
beginnt zu zischen und
gleich danach zu stinken wie es
übergekochter Mich eigen ist
wenn sie die heiße Fläche berührt.

Auch ein bisschen die Angst darüber, was man mit dem «Sehen durch Schreiben» bei sich selber anrichten könnte? Schreiben ist ja nicht nur ein selig machender Prozess, ein nur glückliches Tun. Manchmal droht die Büchse der Pandora.

Ja, die Büchse der Pandora. Das Stinken von übergekochter Milch, wenn sie eine heisse Fläche berührt. Sie hat mit dem Schreiben selbst wenig zu tun (aber auch und gerade das kann man wiederum ganz anders sehen und begründen). Das Schreiben scheint mir eine der wenigen Möglichkeiten, das Stinken zu beschreiben, damit wir es wenigstens als Solches erkennen. Den schlechten Träumen die Stirn zu bieten. Die luftigen, leichten willkommen zu heissen. Die Träume sind mir wichtige Hinweise. Und manchmal scheint mir das ganze Leben mit Wort und Zahl ein einzig listiger Traum. 

© Anne Bürgisser

Ruth Loosli, geboren 1959 in Aarberg (Seeland), wo sie aufgewachsen ist. Sie hat drei erwachsene Kinder und ist ausgebildete Primarlehrerin. Seit einigen Jahren lebt und arbeitet sie in Winterthur. Sie veröffentlicht in Anthologien und Literaturzeitschriften. Ein erster Gedichtband «Aber die Häuser stehen noch» erschien 2009. Es folgte im Wolfbach Verlag (DIE REIHE, Band 5) 2011 «Wila, Geschichten»; dieser Band wurde mittlerweile auf Französisch übersetzt. In derselben Reihe erschien 2016 der Lyrikband «Berge falten». «Hungrige Tastatur» ist ihre erste Publikation im Waldgut Verlag.

Webseite der Autorin

Beitragsbild © Ruth Loosli (Schreibbilder)

Christof Gasser «Blutlauenen», Urs Heinz Aerni stellt dem Autor Fragen dazu.

„Klischees und Stereotypen sind zu vermeiden.“
Mit „Blutlauenen“ legt Christof Gasser einen neuen Fall mit der ermittelnden Journalistin Cora Johannis vor. Urs Heinz Aerni stellte dem Autor Fragen dazu.

Urs Heinz Aerni: Nun erschien aus Ihrer Feder ein weiterer Fall der ermittelnden Journalistin Cora Johannis. Wieso wählten Sie diesen Beruf für Ihre Hauptfigur?

Christof Gasser: Ich wollte eine Ermittlerin mit einem Solothurner Hintergrund, die aber örtlich nicht gebunden ist wie ein Polizeiteam. Ich hatte die Wahl zwischen Privatdetektiv, (Krimi-)Schriftstellerin oder Wissenschaftlerin…

Aerni: Nun ist es eine Journalistin…

Gasser: Journalisten setzen sich mit unterschiedlichen Themen aus Gesellschaft, Politik und Wirtschaft auseinander. Ich habe mich dafür entschieden, weil diese Berufsgattung für mich das breiteste Spektrum bietet.

Aerni: Auf welche Herausforderungen stößt ein männlicher Autor, wenn er aus einer weiblichen Perspektive erzählt?

Gasser: Ob ein Mann aus der Perspektive einer Frau schreibt oder umgekehrt, die Herausforderungen sind dieselben: Als Autor muss ich mich in die Person hineinversetzen können, aus deren Warte ich schreibe. Wenn es bedrohlich wird oder wenn Aktion vonnöten ist, was im Krimi öfters vorkommt, ist es nicht eine Frage des Geschlechts, sondern des Charakters, wie man sich in einer bestimmten Situation verhält. Cora Johannis packt zu, wenn es sein muss. Das entspricht ihrer Persönlichkeit und geschieht unabhängig davon, dass sie eine Frau ist. Wenn sie sich um ihre Kinder Sorgen macht, oder wenn sie sich einem Mann zugetan fühlt, versuche ich zu beschreiben, wie sie sich als Mutter und liebende Frau verhält. Das erfordert Einfühlungsvermögen und Beobachtungen im täglichen Umgang mit beiden Geschlechtern. Die Herausforderung dabei ist es, Klischees und Stereotypen möglichst zu vermeiden.

Aerni: Auffallend sind nicht nur die Platzierungen Ihrer Romane, an ganz verschiedenen Orten der Schweiz, sondern auch Ihre Lust an Dialogen, die den Lese-Sog fördern. Wie sehen Sie als Autor das Verhältnis zwischen Beschreibungen von Szenen oder Menschen und dem Gespräch zwischen Ihren Protagonisten?

Gasser: Die Beschreibung setzt die Atmosphäre. Diese wird je nachdem vom Dialog unterstrichen oder aufgelockert. Dabei ist, wie so oft, die richtige Dosierung entscheidend. Verbale Schlagabtausche und Humor sind wertvoll. Jedoch macht ein Dialog mit seitenlangem Geplänkel oder nichtssagenden Phrasen die beschriebene Atmosphäre zunichte. Umgekehrt bergen exzessive Beschreibungen das Risiko, den Spannungsbogen zum Einbrechen zu bringen, wenn sie sich allzu weit vom Kontext entfernen.

Aerni: Sie beschäftigten sich früher mit dem Kreativen Schreiben, bevor schon die ersten Romane von Ihnen zu Bestsellern wurden. Was raten Sie Kolleginnen und Kollegen, die das Schreiben für sich entdeckt haben?

Gasser: Hingehen und schauen, wie es diejenigen machen, deren Bücher man gerne liest. Die Gelegenheit benutzen, erfahrenen Autoren über die Schulter zu schauen, ihre Ratschläge zu akzeptieren und ihre Kritik einzustecken. Eine Methode lernen, wie man aus Ideen einen Plot zu entwickelt und einfach anfangen zu schreiben. Und schließlich: Dranbleiben, bis das Buch beim Händler im Regal steht.

Aerni: Hinten im Roman „Blutlauenen“ findet sich ein Glossar, das eidgenössische Begriffe für Lesende nicht aus dem Lande, erklärt. Wie nehmen Sie die Unterschiede zwischen den Krimis aus Ländern wie Österreich und Deutschland wahr? Oder gibt es Merkmale, die einen typischen Krimi je nach regionaler Herkunft ausmacht?

Gasser: Ein Verbrechen im Tirol unterscheidet sich nicht groß von der gleichen Tat an der Ostsee oder im Schwarzbubenland. Sprachliche Eigenheiten, lokale Gegebenheiten und Bräuche sowie die daraus entstehenden Protagonisten verleihen dem Krimi einen unverkennbaren Charakter.

Aerni: Welche Rolle beim Schreiben Ihrer Romane nimmt Ihre kritische Haltung gegenüber Politik und Gesellschaft ein?

Gasser: Es ist nicht mein Ziel, gesellschaftskritische Literatur zu schreiben. In erster Linie will ich spannende Geschichten erzählen, die in einem aktuellen gesellschaftlichen, politischen und kulturellen Umfeld eingebettet sind, welches uns prägt. Wir Menschen sind duale Wesen mit hellen und dunklen Seiten. Das widerspiegelt sich in unserer Interaktion als Gesellschaft und in der Politik. Diesen Aspekt versuche ich im Kontext meiner Handlungen zu beleuchten.

Aerni: Ihre Bücher werden geliebt. Was versprechen Sie einer Leserin oder einem Leser, die oder der jetzt nicht gerade ein Krimifan ist aber es doch mit Ihrem Buch mal aufnehmen möchte?

Gasser: Ich kann nichts versprechen, aber etwas anbieten: Meine Protagonisten sind keine Superhelden. Es sind Menschen, die versuchen ihr Leben zu meistern. Die Leserin oder der Leser kann sich mit Ihnen identifizieren, auch wenn sie Situationen meistern müssen, mit denen sich keiner von uns im richtigen Leben konfrontiert sehen will. Die Leserin oder der Leser erhält zudem einen unterhaltsamen und spannenden Einblick in eine moderne, vielfältige und offene Schweiz, mit, vielleicht für Viele überraschenden, Schattenseiten, die aber auch reich an Kultur und Geschichte ist.

Christof Gasser, geboren 1960 in Zuchwil bei Solothurn, war lange in leitender Funktion in einem Industriekonzern tätig. Heute arbeitet er als freier Autor und nebenamtlich als Dozent an der Fachhochschule Nordwestschweiz. Seine Romane belegen regelmäßig Spitzenplätze auf der Schweizer Bestsellerliste. „Blutlauenen“ ist im Emons Verlag erschienen.

Christina Ammann «kartentraum.ch»

In St. Gallen treibt Christina Ammann das Schreiben auf die Spitze. In der Kloster-, Bibliothek und Buchstadt. Ihre Arbeiten sind es wert, in einem Interview vorgestellt zu werden. 

Christina, du schreibst. Das tun viele. Und alle taten es zuerst als Kinder, spätestens in der Schule. Fast alle schreiben auch als Erwachsene, müssen es, aber immer weniger von Hand. Handschriftliches ist selten geworden, bringt Menschen zum Staunen. Was bedeutet dir dein handwerkliches Schreiben, deine „Kunstschrift“ und wann wurde klar, dass du daraus eine Meisterschaft machen willst?

Die Kunst des Schön-Schreibens hat mich als Kind schon fasziniert. Aber Schreiben gehörte damals nicht zu meinen Hobbys.
Vor 14 Jahren habe ich angefangen, Karten zu gestalten, zuerst noch mit Motivstempel.
Während ich 2012 viel Zeit brauchte, um mich von einem Unfall zu erholen, spürte ich, wie in mir das Bedürfnis wuchs, kreative Grenzen zu überschreiten und mein eigenes «Ding» zu machen. Da kamen erstmals Tinte und Feder ins Spiel. Ich besuchte verschiedene kalligraphische Kurse. Ab diesem Zeitpunkt war mir klar, handschriftlich – ob analog oder digital – ist mein Weg. Es vergeht kein Tag, an dem ich nicht einen Stift oder Pinsel in der Hand halte. 

Wie arbeitest du? Sitzt oder stehst du wie in einem mittelalterlichen Kloster an einem hölzernen Schreibpult mit Tintenfass und Feder?

Ich bevorzuge das Sitzen. Ich habe es noch nie ausprobiert, im Stehen zu schreiben. Aber vielleicht sollte ich es einmal versuchen. Da ich mich seit über einem Jahr intensiv mit dem digitalen Handlettering befasse, ist mein Arbeitsplatz flexibler geworden. Mit dem iPad kann ich auf dem Sofa, im Zug oder im Sommer im Liegestuhl arbeiten.
Arbeite ich mit Tinte und Feder, so ist ein solider Tisch klar das Nonplusultra. Mein Kreativzimmer ist noch nicht bezugsbereit, deshalb muss ich die kalligraphischen Arbeiten noch am Esstisch ausführen.
Der Vorteil des iPads (digitales Handlettering) gegenüber Tinte und Feder ist, dass ich das Tablet überall mitnehmen kann und dazu nur noch einen (digitalen) Stift benötige.

Was sind das für Anlässe und Anfragen, für die du dein Handwerk zur Verfügung stellst? Könnte man dich auch bitten, einen Liebesbrief an jemanden zu schreiben? Oder ist das schon passiert?

Die Aufträge und Anfragen sind sehr vielfältig. Von der Hochzeitspapeterie, über einzelne Karten zu speziellen Anlässen, Visitenkarten, Couverts bis hin zu personalisierten Christbaumkugeln ist alles gefragt. Auch Vorlagen für Tattoos, Logos und Buchzeichen habe ich schon gestaltet. Das macht das Ganze so spannend und einzigartig.
Ich könnte durchaus einen Liebesbrief schön schreiben, texten würde ich allerdings nicht. Tatsächlich hatte ich schon einmal einen Auftrag für eine Karte mit einer Liebesbotschaft. Das war sehr berührend und speziell, da ich auf diese Weise an einem wunderbaren Moment teilhaben durfte. 

Du hast deine Handschrift zur Kunstschrift veredelt. Und doch unterscheidet sich deine Handschrift, dein Schreiben von „klassischer „Kalligraphie“. Wohin soll es gehen, wenn du deinen begonnenen Weg weiterträumst?

Es gibt bei jedem Tun, ob das malen, schreiben oder eine andere kreative Tätigkeit ist, gewisse Vorgaben, die man beachten sollte, um ein stimmiges Ergebnis zu erhalten.
Bei mir selbst habe ich festgestellt, dass es mich blockiert, wenn ich mich zu eng an «Vorgaben» halte. Ich war mit dem Ergebnis erst zufrieden, wenn ich etwas gefunden hatte, das eben nicht nur der Regel entsprach. Dadurch bin ich entspannter geworden und habe meinen eigenen Stil gefunden.
Vieles habe ich mir inzwischen auch selbst beigebracht. Im Vordergrund sollen die Freude und der Spass am Tun stehen.
Wo mich das hinführt? Mir ist wichtig, in diesem Schreiben mir selbst zu begegnen, mich auf den Moment einzulassen, Gefühle, die das Kreative auslöst, anzunehmen und ins Werk mit einfliessen zu lassen. Auf sich vertrauen und sich selber bleiben gehört zum kreativen Prozess. Und wenn ich mit meinen Werken andere Menschen berühren kann, ist das umso schöner. 

So wie meine handschriftlichen Literaturblätter sind deine Arbeiten ein eigentliches Gegengewicht zu all dem Digitalen, Gedruckten, Wegwerfpapierigen. Auch wenn dieses Gegengewicht noch leichtgewichtig ist, spürt man bei jenen, denen es gefällten Zauber, der von diesen Arbeiten ausgeht. Vielleicht berührst du eine Sehnsucht, ein bisschen Heimweh nach dem Echten, dem Greifbaren. Ein Wort, ein Sattsein Text wird zum Unikat. Steckt in deinem Tun auch ein Funke Widerstand?

Ich spüre in meinem Tun keinen Widerstand. Vielmehr öffnet mir die Verschmelzung von digital und analog neue Türen. So kann ich digital etwas gestalten, das ich mit Tinte und Feder vollende oder auch umgekehrt.
Mit handschriftlichen Arbeiten, sei das Kalligraphie/Handlettering, ob digital oder analog, möchte ich den Menschen zeigen, dass eine Karte schreiben etwas sehr Schönes ist.
Während des Schreibens ist man mit seinen Gedanken bei dieser Person, schenkt ihr Zeit, und das ist ein unbezahlbarer Moment.

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23. Literaturfestival Leukerbad: «Naturkunden» mit Judith Schalansky, ein Interview

In diesem Frühling feierte die Reihe «Naturkunden» vom Verlag Mattes und Seitz ihren 5. Geburtstag. Ein Jubiläum, das gefeiert werden musste, denn dass die bald 50 Bände aus dieser exklusiven Bände derart erfolgreich, nachhaltig und wegweisen sein würden, wie sie es tun. Judith Schalansky, Herausgeberin und Mitinitiantin dieser Reihe, brachte die Buchreihe mit nach Leukerbad und mit ihr Cord Riechelmann, der mit «Krähen» die Reihe begann und Jutta Person, die mit «Korallen» das halbe Hundert komplett machen wird.

In einem Hotelpark traf ich mich mit Judith Schalansky zu einem Interview:

Sie stellen zusammen mit Autoren die „Naturkunden“ – Reihe aus dem Verlag Matthes & Seitz beim 23. Literaturfestival Leukerbad vor. Etwas, was eigentlich gar nicht nötig ist, denn jeder, der Bücher liebt, kennt die von Ihnen herausgegeben Reihe ›Naturkunden‹. War da jemals die Hoffnung, dass aus einem mannigfaltigen Abenteuer eine „Institution“ werden würde?
Ach, als wir uns die Reihe ausgedacht haben, da haben wir keinen Gedanken an die ferne Zukunft verschwendet, sondern immer nur an das nächste Programm. Damals, vor fünf Jahren, waren Bücher über die Intelligenz der Pflanzen oder das Seelenleben von Bäumen in den Bestsellerlisten unvorstellbar. Was damals langsam anfing, war die Lust am sogenannten ›Landleben‹, die vage Sehnsucht nach Naturerlebnissen. Es ist schön, wenn die Naturkunden ihren Teil dazu beigetragen haben, dass das, was wir ›Natur‹ nennen, nicht mehr als Nischenthema wahrgenommen wird.

Bücher aus ihrer Reihe wie „Krähen“ von Cord Riechelmann oder „Äpfel und Birnen“ von Korbian Aigner besitzen Kultstatus, erreichen ein Publikum, dass sich sowohl für Sachthemen, wie für Kunst und Literatur interessiert. Es sind Bücher, die nicht einfach gelesen in ein Bücherregal verschwinden wollen, aber auch weit davon entfernt, Bestimmungshilfen sein zu wollen. Bücher, die von Innen und Aussen überzeugen. Bücher, denen man die Liebe zum Inhalt genauso ansieht wie die Liebe zum Objekt Buch. Sind das die Gründe für den Erfolg?
Natürlich. Es sind Bücher, in denen wir für den jeweiligen Inhalt eine angemessene Form zu finden versuchen. Wenn das gelingt – und das muss gar keine aufwendige oder sehr teure Gestaltung sein –, dann wird das Buch erst wirklich schön, auf eine ehrliche, zwingende, manchmal sogar ganz hintergründige Weise.

Bald steht mit dem 50. Band über Korallen, den die Journalistin und Kulturwissenschaftlerin Jutta Person, die schon über den Esel ein engagiertes Porträt in den Naturkunden verfasste, erscheinen. Zum 50. Mal erscheint dabei ihr Name als Herausgeberin. Was macht das mit ihnen?
Es versetzt mich in Erstaunen – sind es wirklich schon so viele ? –, vor allem aber löst es Freude in mir aus: die Freude darüber, dass etwas funktioniert hat und und noch funktioniert, Bücher ermöglicht zu haben, die es sonst nicht in dieser Form gegeben hätte, und die Vorfreude auf kommenden Bücher: Zeitgleich mit mit Jutta Persons ›Korallen‹ erscheint zum Beispiel das Portrait der ›Algen‹ der niederländischen Autorin Miek Zwamborn. Das sind zwei absolute Lieblingsprojekte. Wir begegnen der Unterwasserwelt in Fauna und Flora zugleich.

Gibt es unter all den Titeln der „Naturkunden“ solche, die ihnen ganz besonders ans Herz gewachsen sind oder solche, denen sie gerne mehr Aufmerksamkeit im Buchmarkt gegönnt hätten?
Annie Dillards ›Pilger am Tinker Creek‹ von 1974 ist einer meiner Lieblingstexte des Nature Writings geworden. Es geht darin um nichts geringeres als die Schöpfung, und das Ringen um eine Sprache für ihre ungeheuerliche Schönheit. Ein Buch des Lebens, ein Lebensbuch, in dem die Gesetze der Physik und die Fragen der Metaphysik mit den Mitteln der Poesie verhandelt werden. Ich habe nicht aufgehört, darin zu lesen.
Zdenek Burians so fantastische wie empathische Bilderwelten, die meine Vorstellung der sogenannten Urzeit stark geprägt haben, hätte ich mehr Beachtung gewünscht. Wir mussten lernen, dass großformatige, aufwendig hergestellte Bildbände sehr viel schwieriger zu kalkulieren sind als kleinere, textlastige Formate. Heute bespielen wir nur noch unregelmäßig dieses Format.

Ich weiss von einer Lesung in Zürich, als sie aus ihrem letzten bei Suhrkamp erschienen Roman „Der Hals der Giraffe“ lasen, wie sie noch ganz wage von einem kommenden Abenteuer erzählten, von Plänen einer Sachbuchreihe. Schon damals, als sie vom Werdegang ihres eigenen Romans, von den Schwierigkeiten rund um die äussere Erscheinung desselbigen erzählten, wie wichtig ihnen die Form, das Erscheinungsbild eines Buches ist, wie viel ihnen am „schönen Buch“ liegt. Hat die „Naturkunden“ – Reihe nicht ganz offensichtlich den ganzen Buchmarkt beeinflusst?
Es ist ja kein geringeres Kompliment, nachgeahmt zu werden. So lange es dem Buch und dem Thema ›Natur‹ hilft, ist dagegen gar nichts einzuwenden.

Sehr bald wurden Medien aufmerksam auf die „Naturkunden“ – Reihe. Ich erinnere mich an einen Auftritt in „Druckfrisch“ mit dem Literaturpapst Denis Scheck. Eigentlich war die Lancierung zusammen mit ihnen, einer viel beachteten Schriftstellerin, die mit dem Buch „Atlas der abgelegenen Inseln“ einen Bestseller landete der perfekte Coup. Wie viel Zufall, wie viel Kalkül lag in der Zusammenarbeit zwischen Verlagsleiter Andreas Rötzer und ihnen?
Das müssen sie Andreas Rötzer fragen. Mir erschein es als schöner Zufall: Ich traf Andreas Rötzer zum ersten Mal in Taipeh auf der Buchmesse 2012, wo er mir von seinen Plänen zu einer Reihe zum Thema ›Natur‹ erzählte. Aus einem zwanglosen Geplauder an der fesigen Küste Nordtaiwans, ergab sich dann ganz organisch die Zusammenarbeit. Ich war froh, nach Jahren einsamer Schreib- und Gestaltungsarbeit etwas Gemeinsames machen zu können und genoß die Möglichkeit, Programme zu gestalten, Themen zu setzen und Formate auszuprobieren.

Warum liegt ihnen so viel an der Form?
Weil die Form nichts Nachgeordnetes, sondern etwas Gestaltgebendes ist. Ich habe noch nie einen Inhalt ohne Form gesehen. 

Sie sind Herausgeberin, Schriftstellerin und Buchgestalterin. Gibt es eine Reihenfolge in ihrem Herzen?
Die Schriftstellerin und Buchgestalterin gehören untrennbar zusammen. Die Herausgeberin ergibt sich aus beiden. Es ist wunderbar, in Manuskripten Bücher zu entdecken und diese zum Leben zu erwecken.

Im kommenden Herbst erscheint wieder bei Suhrkamp der Erzählband „Verzeichnis einiger Verluste“. Wie viel Kampf zwischen all den Aufgaben und Projekten liegt in diesem neuen Buch?
Es ist ein Ringen verschiedener Daseinszustände. Das eigene Schreiben ähnlich über langen Zeitraum einer ziellosen Tiefenbohrung. Die Herausgeberschaft verlangt eher, das Ziel schon fest im Blick zu haben, die Dinge vom Ende her zu denken. Ich bin Andreas Rötzer und Pauline Altmann, die die Gestaltung der Naturkunden hauptsächlich besorgt, sehr dankbar für ihre Unterstützung, vor allem in den letzten beiden Jahren.

Welche Zukunft geben sie dem Medium Buch?
Ach, eine große! Nennen Sie mir ein Medium, das so sensationell und so tröstlich ist?

Frau Schalansky, vielen, vielen Dank!

Ganz neu ist Judith Schalanskys Roman «Verzeichnis einiger Verluste» bei Suhrkamp. Beim Verlag ist zu lesen: Die Weltgeschichte ist voller Dinge, die verloren sind – mutwillig zerstört oder im Lauf der Zeit abhandengekommen. In ihrem neuen Buch widmet sich Judith Schalansky dem, was das Verlorene hinterlässt: verhallte Echos und verwischte Spuren, Gerüchte und Legenden, Auslassungszeichen und Phantomschmerzen. Ausgehend von verlorengegangenen Natur- und Kunstgegenständen wie den Liedern der Sappho, dem abgerissenen Palast der Republik, einer ausgestorbenen Tigerart oder einer im Pazifik versunkenen Insel, entwirft sie ein naturgemäß unvollständiges Verzeichnis des Verschollenen und Verschwundenen, das seine erzählerische Kraft dort entfaltet, wo die herkömmliche Überlieferung versagt. Die Protagonisten dieser Geschichten sind Figuren im Abseits, die gegen die Vergänglichkeit ankämpfen: ein alter Mann, der das Wissen der Menschheit in seinem Tessiner Garten hortet, ein Ruinenmaler, der die Vergangenheit erschafft, wie sie niemals war, die gealterte Greta Garbo, die durch Manhattan streift und sich fragt, wann genau sie wohl gestorben sein mag, und die Schriftstellerin Schalansky, die in den Leerstellen ihrer eigenen Kindheit die Geschichtslosigkeit der DDR aufspürt.

So handelt dieses Buch gleichermaßen vom Suchen wie vom Finden, vom Verlieren wie vom Gewinnen und zeigt, dass der Unterschied zwischen An- und Abwesenheit womöglich marginal ist, solange es die Erinnerung gibt – und eine Literatur, die erfahrbar macht, wie nah Bewahren und Zerstören, Verlust und Schöpfung beieinanderliegen. (Eine Rezenzension auf literaturblatt.chfolgt!)

Juthith Schalansky gezeichnet von Falk Nordmann

Judith Schalansky, geboren 1980 in Greifswald, studierte Kunstgeschichte und Kommunikationsdesign und lebt als freie Schriftstellerin und Buchgestalterin in Berlin. Sowohl ihr »Atlas der abgelegenen Inseln« (mare, 2009) als auch ihr Bildungsroman »Der Hals der Giraffe« (Suhrkamp, 2011) wurden von der Stiftung Buchkunst zum »Schönsten deutschen Buch« gekürt. Seit dem Frühjahr 2013 gibt sie die Reihe Naturkunden heraus.

Das 24. Internationale Literaturfestival in Leukerbad findet vom 28. – 30. Juni statt.

literaturblatt.ch fragt, Teil 10, Rolf Lappert antwortet

Rolf Lappert schrieb sich mit der ersten Szene seines Romans „Über den Winter“ tief in meine „literarische Erinnerung“. Lenard Salm, die Hauptperson, findet weit weg von seiner Heimat am Strand ein angeschwemmtes, totes Kind. Eine Szene, die er beschrieb, bevor das beinahe entsprechende Pressebild um die Welt ging. Rolf Lappert schreibt an einem neuen Roman, den ich mit viel Neugier erwarte.

Es gibt Schreibende, die Geschichten erzählen wollen, mit Spannung fesseln. Andere, die politische und gesellschaftskritische Inhalte und Meinungen in literarisches Schreiben verpacken. Was wollen Sie mit Ihrem Schreiben? Ganz ehrlich!
Ich erzähle tatsächlich gerne Geschichten, denke sie mir gerne aus, fasse sie gerne in Worte. Die Stoffe und Figuren trage ich oft jahrelang mit mir herum, und wenn sie nicht irgendwann weg sind, verschwunden, dann befasse ich mich ernsthaft mit ihnen, das heißt, ich überlege, wie ich aus all dem Angesammelten eine Geschichte, einen Roman machen kann. Schriftsteller erfinden Welten, was nicht zwangsläufig bedeutet, dass diese Welten fremd sein müssen wie in einem Fantasy- oder Science Fiction-Buch. Dieses Erschaffen von Räumen, Atmosphären, Charakteren, Gefühlen etc. mithilfe von Wörtern ist ein anstrengender und anspruchsvolles Unterfangen, aber auch ein spannendes und – wenn es gelingt – ein erfüllendes.

Wo und wann liegen in ihrem Schreibprozess der schönste oder/und der schwierigste Moment? Gibt es gar Momente vor denen sie sich fürchten?
Anzufangen ist immer schön, vor allem, wenn man die ersten Seiten schreibt und merkt, dass man den Ton gefunden hat, den man erzeugen will. Es gibt in jedem Buch Abschnitte, vor denen ich mich lieber drücken würde, die aber in die Geschichte müssen, weil sie etwas Wichtiges erzählen. Das kann eine einzelne Szene aber auch ein ganzes Kapitel sein. Ein schöner, vielleicht der schönste Moment im Arbeitsprozess ist natürlich der Schluss. Wenn man merkt: Jetzt müssen noch fünf Sätze geschrieben werden, dann ist das Werk abgeschlossen – ein erhebender Augenblick. (Kurz danach kann man in ein tiefes Loch fallen – aber das ist eine andere Geschichte…)

Lassen Sie sich während des Schreibens beeinflussen, verleiten, verführen? Spielen andere Autorinnen und Autoren, Bücher (nicht jene, die es zur Recherche braucht), Musik, besondere Aktivitäten eine entscheidende Rolle?
Ich brauche beim Schreiben Ruhe. Musikhören geht gar nicht. Jede Ablenkung und Störung bedeutet Ungemach. Je nach Stimmung lese ich abends oder nachts in einem Buch. Das kann auch ein Roman sein, denn ich bin immun gegen unbewusstes Übernehmen von Ideen, Formulierungen, Stilmitteln. Trifft ein Roman die Atmosphäre, die Melodie, den Rhythmus meines eigenen, in Arbeit befindlichen Buches, dann finde ich das schön. Ein Film kann den gleichen Effekt haben. Es kommt vor, dass ich, während ich an einem neuen Roman arbeite, vor dem Bücherregal stehe und Romane in die Hand nehme, nur um darin zu blättern, einzelne Sätze oder Abschnitte zu lesen und sie dann zurück in die Reihen zu stellen. Dabei handelt es sich vermutlich um ein Sichvergewissern, dass es noch viele andere vom Schreibzwang Befallene gibt, dass es tatsächlich Wortfolgen, schriftlich festgehaltene Szenen gibt, die in der Lage sind, einen zu bewegen, zu rühren, oder die so genial geschrieben sind, dass man sie voller Bewunderung (und ein wenig Neid) immer wieder lesen muss. Auch das Gewicht eines Buches in der Hand zu wiegen, hilft beim Schreiben, nachzusehen, wie der Roman aufgebaut, unterteilt ist. Gibt es Kapitelüberschriften? Wie lautet der erste Satz? Wie der letzte? Gibt es ein Motto, eine Widmung, eine Danksagung? Wahrscheinlich geht es bei diesem Stöbern schlicht und ergreifend darum, den Beweis dafür zu haben, dass man nicht alleine ist mit der Literatur, dass es Bücher und Autoren und Verlage und Leser gibt und die Welt noch nicht völlig den Bach runter ist.

Hat Literatur im Gegensatz zu allen anderen Künsten eine spezielle Verantwortung? Oder werden Schriftstellerinnen und Schriftsteller gegenüber andern Künsten anders gemessen? Warum sind es vielfach die Schreibenden, von denen man in Krisen eine Stimme fordert?
Hilft ein Buch, auf soziale Missstände aufmerksam zu machen – gut. Tut es das nicht – auch gut. Romane sind keine Transparente mit Parolen, die der Autor vor sich her trägt. Eine gute und gut geschriebene Geschichte hat die Berechtigung, genau das zu sein und nicht mehr und nicht weniger als das. Leistet die Geschichte mehr, ist das großartig, aber es soll nicht das Ziel – und schon gar nicht der Sinn – des Schreibens sein, Politik zu betreiben. Das tue ich im Privaten, indem ich mich engagiere, äußere, wähle. Warum sollte ich als Schriftsteller politischer sein als, sagen wir, ein Bäcker oder Versicherungsvertreter? Ist mir ein Anliegen wichtig und ich werde angefragt, dann tue ich mein Bestes, um der Sache zu dienen – eine Sonderstellung nehme ich dabei nicht ein.

Inwiefern schärft Ihr Schreiben Sichtweisen, Bewusstsein und Einstellung
Man lernt beim Schreiben, empathisch zu sein, sich in Menschen hineinzufühlen und -denken. Beim Lesen auch – wenn der Roman etwas taugt. Ein Roman ohne Empathie ist für mich wertlos.

Es gibt die viel zitierte Einsamkeit des Schreibens, jenen Ort, wo man ganz alleine ist mit sich und dem entstehenden Text. Muss man diese Einsamkeit als Schreibende(r) mögen oder tun Sie aktiv etwas dafür/dagegen?
Es gibt sie und es muss sie geben. Jede Minute Schreiben ist eine Minute Einsamkeit, zumindest vermittelt sich dieser Eindruck dem Außenstehenden. Denn man sitzt zwar alleine an seinem Tisch in seinem Arbeitszimmer, aber man ist in Begleitung seiner Figuren, die vom ersten Satz an ein Leben führen und bald zu Menschen werden, Weggefährten. Aber natürlich: Es ist ein einsamer Job, Familienmitglieder und Freunde werden oft vernachlässigt, soziale Kontakte abgebrochen oder zumindest für eine Weile auf Sparflamme gehalten. Würde ich lieber in einem Großraumbüro arbeiten? Nein.

Gibt es für Sie Grenzen des Schreibens? Grenzen in Inhalten, Sprache, Textformen, ohne damit von Selbstzensur sprechen zu wollen?
Es gibt Themen und Formen, die mich nicht interessieren. Ich befasse mich mit ihnen weder als Autor noch als Leser. Thriller, Fantasy, Science Fiction, Horror, Romantic Comedy, Historienschinken: Alles nicht meins.

Erzählen Sie kurz von einem literarischen Geheimtipp, den es zu entdecken lohnt und den sie vor noch nicht allzu langer Zeit gelesen haben?
Geheimtipp? Da muss ich passen. Obwohl ich kein Mainstream-Leser bin, kann ich mich auch nicht gerade als Entdecker bezeichnen… Joseph Conrads „Herz der Finsternis“, das ich vor nicht allzu langer Zeit gelesen habe, kann ich ja wohl nicht unbedingt als meine literarische Entdeckung präsentieren, oder?

Zählen Sie 3 Bücher auf, die Sie prägten, die Sie vielleicht mehr als einmal gelesen haben und in Ihren Regalen einen besonderen Platz haben?
Philip Roth „Der menschliche Makel“. Michael Chabon „Wonder Boys“. David Mitchell „Der dreizehnte Monat“.

Frisch hätte wohl auch als Architekt sein Auskommen gefunden und Dürrenmatt kippte eine ganze Weile zwischen Malerei und dem Schreiben. Wären Sie nicht Schriftstellerin oder Schriftsteller, hätten sich die Bücher trotz vieler Versuche nicht verlegen lassen, hätte es eine Alternative gegeben? Gab es diesen Moment, der darüber entschied, ob Sie weiter schreiben wollen?
Ich habe Grafiker gelernt und hätte als solcher arbeiten können, Mitte der Achtzigerjahre war die Werbebranche noch attraktiv für alle, die mit einem coolen Job sehr schnell sehr viel Geld verdienen wollten. Aber ich wollte schreiben, unbedingt. Hätte das nicht funktioniert, wären da durchaus Alternativen gewesen, Tierfilmer zum Beispiel, oder überhaupt Dokumentarfilmer, oder Tauchlehrer, oder Betreiber eines Öko-Hotels (doch woher das Geld nehmen?), oder Drehbuchautor – was ich ja sieben Jahre lang tatsächlich war. Und natürlich gibt es -zig andere Berufe, die ich hätte ausüben können, um Geld zu verdienen, Schreiner etwa oder Gärtner. Glücklicherweise hat es mit dem Schreiben geklappt.

Was tun Sie mit gekauften oder geschenkten Büchern, die Ihnen nicht gefallen?
Wenn sie mir überhaupt nicht gefallen, lese ich sie nach den ersten Seiten auch nicht zu Ende und verschenke sie weiter oder bringe sie ins Brockenhaus. Bücher wegzuwerfen fällt mir schwer. Sehr selten zerfleddere ich ein besonders missratenes und schmeiße es voller Abscheu und Genugtuung in die Altpapiertonne.

Lieber Herr Lappert, vielen, vielen Dank!

Rolf Lappert wurde 1958 in Zürich geboren und lebt in der Schweiz. Er absolvierte eine Ausbildung zum Grafiker, war später Mitbegründer eines Jazz-Clubs und arbeitete zwischen 1996 und 2004 als Drehbuchautor. Bei Hanser erschien 2008 der Roman «Nach Hause schwimmen», der im selben Jahr mit dem Schweizer Buchpreis ausgezeichnet wurde, 2010 «Auf den Inseln des letzten Lichts», 2012 «Pampa Blues» und und zuletzt «Über den Winter». Rolf Lappert war auch schon Gast hier in Amriswil an einer Hauslesung.

literaturblatt.ch fragt, Teil 9, Reinhard Kaiser-Mühlecker antwortet

Ihr neuster Roman „Fremde Seele, dunkler Wald“ erzählt die Geschichte zweier Brüder, deren Biographie sich immer weiter voneinander trennt. Gleichzeitig ist es die Geschichte über den Schmerz des Verlustes; das Zerbrechen der Familie, das Verschwinden eines Ortes, an den man heimkehren kann. Leiden Sie mit, wenn Sie schreiben?
Leiden würde ich nicht sagen, aber so nah an den Dingen, wie man es beim Schreiben ist, ist man sonst kaum je einmal; und zugleich, seltsam, so fern auch den Worten.
     Da ist ein Hof, auf dem drei Generationen leben und leiden. Allen drei Generationen ist es nicht möglich, sich selbst zu retten; nicht dem Jüngsten Jakob, der den Hof sterben sieht, nicht dem Vater, der mit allen unmöglichsten Geschäftsideen Geld machen will und nicht der Grossvater, der wohl  einiges aus seiner Zeit vor Ende des Weltkrieges hinüberretten konnte. Die Familie als Urbühne aller Konflikte?
Als eine zentrale Bühne, ja; aber meine wichtigste bleibt doch der Einzelne («the human heart in conflict with itself», nannte W. Faulkner es) – ob es für das, was ich zeigen will, dann einen Familienzusammenhang braucht oder nicht, entscheidet das Schreiben. 
     Es gibt Schreibende, die Geschichten erzählen wollen, mit Spannung fesseln. Andere, die politische und gesellschaftskritische Inhalte und Meinungen in literarisches Schreiben verpacken. Was wollen Sie mit Ihrem Schreiben? Ganz ehrlich!
Etwas beschreiben, was außer mir keiner beschreiben kann; eine Wahrheit sagen, die außer mir keiner kennt. Aber ich will doch auch spannende Geschichten erzählen, und wenn mir einer sagt, was oft geschieht, er oder sie habe mein Buch wie einen Krimi verschlungen, ist mir das schon ein Lob. 
     Wo und wann liegen in ihrem Schreibprozess der schönste oder/und der schwierigste Moment? Gibt es gar Momente vor denen sie sich fürchten?
Das Schreiben selbst ist das Schönste. Quälendes, das einen Stunden oder Tage oder Wochen beschäftigen kann, gibt es zuhauf, aber Furcht kenne ich keine, höchstens die, keine oder zuwenig Zeit zu haben. 
     Lassen Sie sich während des Schreibens beeinflussen, verleiten, verführen? Spielen andere Autorinnen und Autoren, Bücher (nicht jene, die es zur Recherche braucht), Musik, besondere Aktivitäten eine entscheidende Rolle?
Im Grunde lese ich eher vorsichtig, wenn ich schreibe; aber ich lese immer. In  Zeiten der Schwermut oder der Ausweglosigkeit gehe ich dann zu gewissen Autoren, nicht immer zu den gleichen, wie eine kranke Kuh auf der Suche nach dem heilenden Kraut. 
     Inwiefern schärft Ihr Schreiben Sichtweisen, Bewusstsein und Einstellung?
Das Schreiben ist mir gemäß. Auch das Briefschreiben übrigens, das ich vernachlässige. Ich habe schon sehr schöne Briefe geschrieben in meinem Leben, bin oft Tage an einem Brief (= fast immer Mail) gesessen. Im Gespräch ist mit mir nicht viel anzufangen, immer weniger eigentlich, oder immer mehr fällt es mir auf; sehr oft will ich gar nicht sprechen. 
     Es gibt die viel zitierte Einsamkeit des Schreibens, jenen Ort, wo man ganz alleine ist mit sich und dem entstehenden Text. Muss man diese Einsamkeit als Schreibende(r) mögen oder tun Sie aktiv etwas dafür/dagegen?
Ohne Möglichkeit zum Rückzug kann ich nicht schreiben. Ich suche ihn, den Rückzug, und wenn ich ihn nicht finde, schreibe ich immer bloß Wetternotizen. – Ich gehöre aber nicht zu denen, die gerade sehr viel dagegen haben, Zeit alleine zu verbringen. 

  Erzählen Sie kurz von einem literarischen Geheimtipp, den es zu entdecken lohnt und den sie vor noch nicht allzu langer Zeit gelesen haben?

Im Augenblick lese ich Franz Tumler, den ich hoch schätze und der wegen seiner NS-Sympathisiererei – und wohl noch mehr, weil er sich hinterher nie so recht distanzieren oder rausreden wollte – ziemlich in der Versenkung verschwunden ist. Zum Glück macht der Innsbrucker Haymon Verlag seit einigen Jahren seine wichtigsten Bücher wieder zugänglich.  
     Frisch hätte wohl auch als Architekt sein Auskommen gefunden und Dürrenmatt kippte eine ganze Weile zwischen Malerei und dem Schreiben. Wären Sie nicht Schriftstellerin oder Schriftsteller, hätten sich die Bücher trotz vieler Versuche nicht verlegen lassen, hätte es eine Alternative gegeben? Gab es diesen Moment, der darüber entschied, ob Sie weiter schreiben wollen?
Ich hätte mir irgendetwas gesucht, wo man keinen Vorgesetzten hat. 
     Was tun Sie mit gekauften oder geschenkten Büchern, die Ihnen nicht gefallen?
Manchmal lasse ich eines auf einer Parkbank liegen.

 

Reinhard Kaiser-Mühlecker wurde 1982 in Kirchdorf an der Krems geboren und wuchs in Eberstalzell, Oberösterreich, auf. Er studierte Landwirtschaft, Geschichte und Internationale Entwicklung in Wien.
Sein Debütroman ›Der lange Gang über die Stationen‹ erschien 2008, es folgten die Romane ›Magdalenaberg‹ (2009), ›Wiedersehen in Fiumicino‹ (2011), ›Roter Flieder‹ (2012) und ›Schwarzer Flieder‹ (2014) sowie ›Zeichnungen. Drei Erzählungen‹ (2015). Für sein Werk wurde er mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, darunter dem Preis der Jürgen-Ponto-Stiftung, dem Kunstpreis Berlin, dem Österreichischen Staatspreis und dem Literaturpreis des Kulturkreises der deutschen Wirtschaft. Zuletzt erschien der Roman ›Fremde Seele, dunkler Wald‹ (2016), der für die Shortlist des Deutschen Buchpreises nominiert wurde.

literaturblatt.ch fragt, Teil 8, Joachim B. Schmidt antwortet

Joachim B. Schmidt, 1981 im Bündnerland geboren, lebt seit Jahren zusammen mit seiner Familie auf Island. Ein junger Autor, der sich auf zwei Inseln weiss. Ein Talent, das bereits zwei Romane veröffentlichte; 2013 «Küstennähe» und ein Jahr später «Am Tisch sitzt ein Soldat». Im April erscheint sein 3. Roman «Moosflüstern», dem ich von Herzen viele LeserInnen wünsche. Beste Unterhaltung!

Es gibt Schreibende, die Geschichten erzählen wollen, mit Spannung fesseln. Andere, die politische und gesellschaftskritische Inhalte und Meinungen in literarisches Schreiben verpacken. Was wollen Sie mit Ihrem Schreiben? Ganz ehrlich! Ich möchte unterhalten. Ich möchte beim Leser Gefühle auslösen. Ich schreibe Bücher, die ich selber gerne lesen möchte. Ich mag es zum Beispiel sehr, wenn mich ein Buch (oder ein Film oder ein Lied) zu Tränen rührt. Beim Schreiben von Moosflüstern habe ich oft geheult. Ich finde das befreiend. Weinen wird leider noch immer mit Schwäche assoziiert. Dabei sind Weinen und Lachen fast dasselbe.

Wo und wann liegen in ihrem Schreibprozess der schönste oder/und der schwierigste Moment? Gibt es gar Momente vor denen sie sich fürchten?
Ich fürchte mich vor dem ungeschriebenen Werk. Ich habe ein Buch im Kopf, habe vielleicht ein paar Seiten geschrieben, entschliesse mich dann, das Buch zu schreiben, und das macht Angst. Der schiere Zeitaufwand, die brotlose Arbeit, das ist hart und braucht Überwindung. Obwohl alles dagegenspricht, schreibe ich dann trotzdem, denn die Geschichte muss raus. Die schönsten Momente sind die, wenn sich das Buch plötzlich selber zu schreiben beginnt. Manchmal geraten mir die Zügel aus den Händen, ich schreibe Dialoge, wo ich keine Kontrolle mehr habe, ein Stunde geht vorbei wie zehn Minuten, meine Hand schmerzt beim Schreiben, die Protagonisten erwachen zum Leben, ich halte den Atem an, lache manchmal, oder weine. Das sind die allerschönsten Momente, die aber selten sind. Doch ich jage ihnen nach, so oft ich kann.

Lassen Sie sich während des Schreibens beeinflussen, verleiten, verführen? Spielen andere Autorinnen und Autoren, Bücher (nicht jene, die es zur Recherche braucht), Musik, besondere Aktivitäten eine entscheidende Rolle?
Wenn ich nicht mehr weiter weiss, lese ich. Das ist die beste Möglichkeit, einen Schreibstau zu lösen. Wichtig dabei: Das Buch oder den Text, den ich lese, muss gut geschrieben sein. Manchmal genügt eine Seite, dann lege ich das Buch weg und weiss plötzlich genau, wie es in meinem Buch weitergeht. Nicht weil ich abschreibe, sondern weil ein gutes Buch die kreativen Kanäle öffnen kann. Musik hilft auch, um die passende Stimmung im Text zu schaffen. Beim Schreiben höre ich meistens Musik.

Hat Literatur im Gegensatz zu allen anderen Künsten eine spezielle Verantwortung? Oder werden Schriftstellerinnen und Schriftsteller gegenüber andern Künsten anders gemessen? Warum sind es vielfach die Schreibenden, von denen man in Krisen eine Stimme fordert?
Ich glaube nicht, dass Literatur eine Verantwortung hat, politisch sein oder die Welt verändern soll. Aber sie darf das von mir aus. Wenn sich Schriftsteller in Krisenzeiten äussern, sozusagen das Gewissen der Nation in Worte fassen, finde ich das bewundernd. Ich selber würde mir das nicht zutrauen – zumindest noch nicht, dafür fühle ich mich zu jung und zu unerfahren. Fakt ist, dass ein Buch oder ein Schriftsteller in der heutigen Zeit kaum noch Einfluss nehmen kann. Die Bücher werden von Gleichgesinnten gelesen – wie übrigens die Zeitungsartikel auch: Man liest nur die Kommentare, welche die eigene Meinung bestätigen. Deshalb lesen die Linken die Weltwoche nicht mehr, weil sie ihrem eigenen Meinungsbild nicht entspricht. Deshalb rümpfen Rechte die Nasen über linke Kunst ect. Ein schönes Beispiel ist Trump. Durchs Band haben sich Schauspieler, Schriftsteller ect gegen ihn gewehrt. Eigentlich die ganze intellektuelle Breite Amerikas. Gebracht hats nichts. Die Zeiten haben sich geändert. Dank dem Internet erhält jeder eine Plattform: Der US-Veteran, der die Kriege im Nahen Osten kritisiert, der Parkinson-Kranke, der dank Marihuana ein besseres Leben führt, ect. Ich denke, der Schriftsteller wird nicht mehr gebraucht, um Meinungen zu verbreiten. Die Leute an der Front haben heute eine Stimme.

Inwiefern schärft ihr Schreiben Sichtweisen, Bewusstsein und Einstellung?
Durch mein Schreiben spitze ich vermehrt die Ohren. Ich bin ein guter Zuhörer.

Es gibt die viel zitierte Einsamkeit des Schreibens, jenen Ort, wo man ganz alleine ist mit sich und dem entstehenden Text. Muss man diese Einsamkeit als Schreibende(r) mögen oder tun Sie aktiv etwas dafür/dagegen?
Die Einsamkeit des Schreibens stört mich nicht, aber die physische Bewegungslosigkeit ist ein Problem. Ich vernachlässige meinen Körper. Eigentlich habe ich einen Körper zur Verfügung, mit dem ich über alle sieben Berge wandern könnte, Trockenmauern bauen oder Möbel zimmern könnte. Aber ich brauche nur meinen Kopf und mein Herz. Der Rest wird vernachlässigt. Das ist schade. Die Einsamkeit bleibt mir erspart, da ich Kinder habe und gelegentlich als Tourguide arbeite, also viel schwatzen und erklären muss – das pure Gegenteil zum Schreiben. Wenn die Tage 50 Stunden hätten, wäre ich Schriftsteller, Familienvater, Schreiner, Trockenmaurer, Musiker, Denker …

Gibt es für Sie Grenzen des Schreibens? Grenzen in Inhalten, Sprache, Textformen, ohne damit von Selbstzensur sprechen zu wollen?
Momentan lote ich noch immer meine Grenzen aus. Zum Beispiel in Sexszenen. Wie weit kann man gehen, ohne dem Leser den Lesespass zu verderben? Ohne vulgär zu werden? Doch mit dem eigenen Erwachsenwerden weitet sich glücklicherweise mein Horizont.

Zählen Sie 3 Bücher auf, die Sie prägten, die Sie vielleicht mehr als einmal gelesen haben und in Ihren Regalen einen besonderen Platz haben?

«Bis bald», Markus Werner
«Die kalte Schulter», Markus Werner
«Froschnacht», Markus Werner
«Pferde stehlen», Per Pettersen

Frisch hätte wohl auch als Architekt sein Auskommen gefunden und Dürrenmatt kippte eine ganze Weile zwischen Malerei und dem Schreiben. Wären Sie nicht Schriftstellerin oder Schriftsteller, hätten sich die Bücher trotz vieler Versuche nicht verlegen lassen, hätte es eine Alternative gegeben? Gab es diesen Moment, der darüber entschied, ob Sie weiter schreiben wollen?
Ich bin noch immer auf der Kippe. Wenn ich nicht bald mal meinen Lebensunterhalt als Schriftsteller bestreiten kann, muss ich eine andere Tätigkeit suchen. Momentan verdiene ich mein Brot als Reiseleiter und Filmkritiker.

Was tun Sie mit gekauften oder geschenkten Büchern, die Ihnen nicht gefallen? Es fällt mir schwer, ein Buch fortzuschmeissen, selbst wenn es schlecht ist. Solange der Umschlag schön ist, bleibt es im Regal. In der Regel lese ich ein schlechtes Buch gar nicht zu Ende. Das wäre Zeitverschwendung.

Vielen Dank für das Interview!

Im kleinen Emmentaler Landverlag erscheint im kommenden April «Moosflüstern», ein Roman über einen Mann, der auf Island nach seiner Mutter sucht. Ein Roman, den es unbedingt zu lesen lohnt! Tun Sie es! Ich verspreche Lesevergnügen!

Webseite des Autors

Webseite des Verlags

literaturblatt.ch fragt, Teil 7, Michèle Minelli antwortet.

Hoch über dem Thurtal mit weitem Blick auf die Alpenkette leben die Schriftsteller Michèle Minelli und Peter Höner in einem alten Bauernhaus, dass sie nicht nur für sich als Wohn- und Arbeitshaus benutzen, sondern dieses mit einem Coachingangebot für Schreibende zu einem Schreibhaus werden lassen. Michèle Minelli war bereits einmal Gast in Amriswil zu einer Hauslesung aus ihrem neusten Roman «Die Verlorene».

Peter Höner und Michèle Minelli
Peter Höner und Michèle Minelli

Es gibt Schreibende, die Geschichten erzählen wollen, mit Spannung fesseln. Andere, die politische und gesellschaftskritische Inhalte und Meinungen in literarisches Schreiben verpacken. Was willst du mit deinem Schreiben? Ganz ehrlich!
Mich treibt die Dringlichkeit der Geschichte. Aber wenn ich genauer hinschaue, ist da in jeder Geschichte die Geschichte eines Bruchs, und wenn ich den Bruch anschaue, dann sehe ich, dass es das ist, was ich erzählen will. Wie Menschen mit Brüchen umgehen. Mag sein, dass eine Tiefenpsychologin darin etwas Spannendes sieht, über das sie schreiben würde mit der ihr eigenen Dringlichkeit. Mir reicht es, die Geschichte, angetrieben durch den Bruch, schreibend zu erfahren und erfahrbar zu machen.

Die authentische Geschichte der Frieda Keller. Ein Justizskandal. Als Friedas Dienstherr die Tür verriegelt und sich an sie drängt, ist sie verloren. Hinter ihr liegt eine unbeschwerte Kindheit im thurgauischen Bischofszell, vor ihr die jahrelange Schmach einer unerlaubten Mutterschaft. Im aufstrebenden St. Gallen kann sie in der Anonymität der Stadt untertauchen, das Kind hält sie vor allen in einer Kinderbewahranstalt versteckt. Weil der Junge dort aber nicht bleiben darf und sie nicht für ihn sorgen kann, ergreift allmählich ein düsterer Plan von ihr Besitz …
Die authentische Geschichte der Frieda Keller.
Ein Justizskandal:
Als Friedas Dienstherr die Tür verriegelt und sich an sie drängt, ist sie verloren. Hinter ihr liegt eine unbeschwerte Kindheit im thurgauischen Bischofszell, vor ihr die jahrelange Schmach einer unerlaubten Mutterschaft. Im aufstrebenden St. Gallen kann sie in der Anonymität der Stadt untertauchen, das Kind hält sie vor allen in einer Kinderbewahranstalt versteckt. Weil der Junge dort aber nicht bleiben darf und sie nicht für ihn sorgen kann, ergreift allmählich ein düsterer Plan von ihr Besitz …

Wo und wann liegen in deinem Schreibprozess der schönste oder/und der schwierigste Moment? Gibt es gar Momente vor denen du dich fürchtest?
Für mich ist der schönste Moment, wenn ich die Schlussszene in einem Manuskript schreibe. Ich spare sie mir auf. Ich spare mir diesen Moment auf und will ihn mit viel Zeit geniessen. Den Schluss sehe ich wie auf einer Leinwand vor mir, auf den Schluss schreibe ich zu, und wenn er dann vor mir steht, ist da immer auch ein Moment voll Ehrfurcht, Atemlosigkeit.

Lässt du dich während des Schreibens beeinflussen, verleiten, verführen? Spielen andere Autorinnen und Autoren, Bücher (nicht jene, die es zur Recherche braucht), Musik, besondere Aktivitäten eine entscheidende Rolle?
Ja, ich höre Musik. Jedes Buch, das ich geschrieben habe, jede Geschichte, hat ein besonderes Lied. Ich lasse mir jeweils Zeit, es zu finden, bevor ich mit dem Schreiben beginne. Und wenn ich es habe, höre ich es in Endlosschlaufe im Hintergrund. Sobald ich also in mein Schreibzimmer gehe, mich hinsetze, den Tee neben mir, und diese Musik einschalte, weiss mein Gehirn: Aha, es geht wieder los! Und dann geht es los.

Inwiefern schärft dein Schreiben Sichtweisen, Bewusstsein und Einstellung?
Ich glaube, ich denke klarer, wenn ich schreibe. Scharf genug?

Das Wohn- und Schreibhaus auf dem Iselisberg TG
Das Wohn- und Schreibhaus auf dem Iselisberg TG

Es gibt die viel zitierte Einsamkeit des Schreibens, jenen Ort, wo man ganz alleine ist mit sich und dem entstehenden Text. Muss man diese Einsamkeit als Schreibende mögen oder tust du aktiv etwas dafür/dagegen?
Wenn damit der Ort in meinem Inneren gemeint ist, an dem ich an mein entstehendes Werk glaube und nicht zweifle, dann ist dieser Ort tatsächlich keine Festhalle. Und doch gibt es Menschen, mit denen ich mich über das Schreiben austauschen kann, die an diesem Ort zugelassen sind, auch wenn die Dinge noch im Prozess sind; das sind dann eben gute Freunde, die wissen, wie man sich an einem solchen Ort benimmt. Das sind, wie ich: Schreibende, die das Schreiben als eine Mischung aus Zauber und Arbeit verstehen und genau wissen, dass Schreiben Bewegung ist, Prozess.
Das wäre eine erste Antwort.
Eine zweite lautet: Ja, diese Einsamkeit gibt es, es ist aber viel mehr ein Alleinsein mit sich und dem Text, denn eine Einsamkeit. Da ist keine Trauer, da ist nur Konzentration.

Zähl bitte drei Bücher auf, die dich prägten, die du vielleicht mehr als einmal gelesen hast und in deinen Regalen einen besonderen Platz haben?
Geprägt haben mich in meiner Jugend die Bücher von Jakob Wassermann («Christian Wahnschaffe» oder «Caspar Hauser» oder die Trilogie «Der Fall Mauritzius», «Etzel Andergast» und «Joseph Kerkovens dritte Existenz»; Joyce Carol Oates (einfach alles, was ich auf Deutsch oder Englisch in die Hände bekam)) und Philippe Djian mit seiner „Betty Blue“. Hin und wieder blättere ich in diesen Büchern auch heute noch und entdecke darin die Michèle von 15, von 17, von 20 Jahren.

headerMichèle Minelli, 1968 in Zürich geboren, ist dort Dozentin für kreatives Schreiben. Sie hat Dokumentarfilme gedreht, Sachbücher, eine Reisereportage und einen Roman veröffentlicht, bevor 2012 ihre grandiose Familiensaga «Die Ruhelosen» erschien. 2013 folgte der Kriminalroman «Wassergrab» Sie erhielt verschiedene Preise und Stipendien. Ihr neuer Roman «Die Verlorene» (2015) erzählt die authentische Geschichte der Frieda Keller, die 1904 in St. Gallen in einem aufsehenerregenden Justizskandal verurteilt wurde. Ebenfalls im Jahr 2015 veröffentlichte Michèle Minelli zusammen mit der Fotografin Anne Bürgisser beim Verlag Hier und Jetzt den Foto- und Textband «Kleine Freiheit» zu den Jenischen in der Schweiz.

Homepage von Michèle Minelli

literaturblatt.ch fragt, Teil 6, Daniela Danz antwortet.

Nachdem ich voller Begeisterung Daniela Danz letzten Roman «Lange Fluchten» gelesen hatte, schrieb ich ihr auf ihrer Webseite einen kurzen Kommentar, etwas das ich gerne tue, in der Hoffnung auf eine Reaktion. Prompt schrieb sie zurück. Und ein paar Tage später begleitete ich sei ein Stück auf ihrer Reise im Zug nach Bern an das dortige Lyrikfestival. Als ich am Romanshorner Hafen wartete, sah ich Sie zusammen mit Peter Stamm oben auf der Brücke über den Autos auf der Fähre. So bestiegen wir zu dritt den Zug und ich genoss ein interessantes Gespräch über Schule, Beruf und das Handwerk des Schreibens.

Es gibt Schreibende, die Geschichten erzählen wollen, mit Spannung fesseln. Andere, die politische und gesellschaftskritische Inhalte und Meinungen in literarisches Schreiben verpacken. Was wollen Sie mit Ihrem Schreiben? Ganz ehrlich!
In erster Linie möchte ich wahrscheinlich Textgebilde schaffen, die mich beglücken. Beglücken deshalb, weil ich eine Sache nach meinen Vorstellungen formen konnte, etwas geschaffen habe. In zweiter Linie möchte ich auf diese Weise ein paar Fragen klären, die ich an die Welt habe und hoffe, dass die Antworten, die ich finde, auch anderen nützlich sein können. In dritter Linie brauche ich immer mal Geld für die nicht kleine Familie.

Hat Literatur im Gegensatz zu allen anderen Künsten eine spezielle Verantwortung? Oder werden Schriftstellerinnen und Schriftsteller gegenüber andern Künsten anders gemessen? Warum sind es vielfach die Schreibenden, von denen man in Krisen eine Stimme fordert?
Das ist eine Frage, über die ich schon sehr oft nachgedacht habe. Also nicht in Bezug auf die anderen Künste; da hat die Konzentration auf die Schriftsteller wohl einfach den praktischen Grund, dass sie zwangsläufig ganz gut mit Worten umgehen können und sich auch gerne von sich aus zu Wort melden. Ich würde jetzt nicht unbedingt einen Schriftsteller aufsuchen, wenn ich Aufschluss über die Weltlage wünschte. Ich frage mich diese Frage aber in der Form: Ist der Autor verantwortlich für die Vereinnahmung und den Missbrauch seiner Werke. Die einfache Antwort ist natürlich: Nein, warum – wenn das Werk nach seinen ihm innewohnenden Maßstäben wahr ist. Und etliche Texte eignen sich ja auch gar nicht zum Missverständnis. Es gibt aber andere, die gerade in Grenzbereiche dieser in der Frage angesprochenen Verantwortung gehen und deren Anliegen es ist, den Leser zu irritieren und ihn seine Position aus der Irritation heraus finden zu lassen. Was ist mit denen?

Inwiefern schärft Ihr Schreiben Sichtweisen, Bewusstsein und Einstellung?
DSCN4383_res_cropvMeine eigenen oder die des Lesers? Meine eigenen sowieso, s.o. Falls das auch bei anderen Menschen gelingen sollte, dann wohl am ehesten auf die Art, dass gefestigte Überzeugungen destabilisiert werden und derjenige muß sie dann wieder neu zusammensetzen. Was wir ja sowieso ständig im Leben tun sollten, sobald wir die Kapazität dazu haben. Ich würde gern der Welt die Komplexität, die wir ihr durch die täglichen Routinen (auch des Denkens und Fühlens) nehmen, wieder zurückgeben.

Erzählen Sie kurz von einem literarischen Geheimtipp, den es zu entdecken lohnt und den sie vor noch nicht allzu langer Zeit gelesen haben?
Eine echte Entdeckung war für mich der Autor Jürgen Kross, den ich im Frühjahr kennengelernt habe und dessen Gedichte ich sehr mag. Sie sind, geprägt von seinem Interesse an lateinischer Syntax, sehr fein gebaute syntaktische Versuchsanordnungen. Ich finde diese kleinen Irritationen und Bedeutungsverschiebungen durch Sprachmaterial wie Hölderlin es ja auch getan hat, das Wichtigste, was Lyrik leisten kann. Dabei sind sie aber ganz schlicht in ihrem Repertoire.
Wie ich Jürgen Kross kennenlernte, ist auch eine schöne Geschichte. Ich kannte den Namen gar nicht als ich in einer Buchhandlung in Mainz nach einem Geschenk suchte und mich über lateinamerikanische Literatur, von der ich wenig Ahnung habe, von dem Buchhändler des kleinen Ladens beraten ließ. Ich kaufte das empfohlene Buch, obwohl der Inhalt mir als Geschenk nicht ganz passend schien, aber alles, was er darüber sagte, war so überzeugend, dass ich ihn bat, das Buch für den Beschenkten zu signieren und mir eine Empfehlung hineinzuschreiben. Seine Schrift war bemerkenswert wie ja auch seine Ausführungen und wir unterhielten uns weiter, wobei ich herausfand, dass er selbst Autor ist.

Zählen Sie 3 Bücher auf, die Sie prägten, die Sie vielleicht mehr als einmal gelesen haben und in Ihren Regalen einen besonderen Platz haben?
Hölderlin: Gedichte
Achmad Schamlu: Blaues Lied (leider der einzige ins Deutsche übersetzte Band und Farsi kann ich leider nicht)
Peter Waterhouse (ungefähr alles von ihm)

Was tun Sie mit gekauften oder geschenkten Büchern, die Ihnen nicht gefallen?
Wir dämmen die Wände im Flur damit, aber das Projekt scheint auch bald abgeschlossen …

Schicken Sie mir ein Foto von Ihrem (unaufgeräumten) Arbeitsplatz?
(Das Foto ziert den Anfang des Interviews.) Ich bin für drei Monate nicht in Deutschland, deswegen kann ich jetzt nur ein Bild vom Schreibtisch hier schicken. Der zu Hause ist sowieso zu groß fürs Bild, ich habe ihn mir über die Länge von anderthalb Wänden gebaut und er ist eigentlich immer ordentlich, weshalb er dann ja auch nicht in Frage kommt.

9783835318410lEine Abenteuergeschichte über die Abgründe des eigenen Ichs, eine moderne Legende – bildmächtig, geheimnisvoll, bezwingend.
Alles um Constantin herum scheint merkwürdig weit weg, auch wenn es auf den ersten Blick aussieht, als wäre alles in Ordnung. Tons lebt mit seiner Frau und zwei Jungen auf einem Grundstück zusammen; aber das Wort «zusammen» beschreibt es nicht ganz: Ein Haus hatten sie einmal bauen wollen, jetzt wohnen sie noch immer in provisorischen Containern in zwei Stockwerken, unten Cons, oben die Frau mit den Kindern. Etwas in Cons wirkt wie zerbrochen; er ist seit seinem «Aussetzer» bei einer Übung als Zeitsoldat, an den er sich nur vage erinnern kann, wie aus der Welt gefallen. Ja, die Welt ist ihm abhanden gekommen. Unfähig, sich von der Fokussierung auf ein Ziel zu lösen, das es nicht mehr gibt, gleitet Cons aus alten Freundschaften und aus dem Leben seiner Familie in eine richtungslose, nächtelange Pirsch.
Angelehnt an die Legende des römischen Feldherrn und Jägers Eustachius schreibt Daniela Danz ein radikales Buch über den Sog des Scheiterns und die vergebliche Tapferkeit eines Mannes, der sich noch einmal mit aller Macht der Fluchtlinie seines Lebens entgegenstemmt, bevor er in eine alptraumhafte Irrealität sich überschlagender Ereignisse gerät.

Porträt Daniela Danz

Daniela Danz wurde 1976 in Eisenach geboren und lebt in Kranichfeld. Sie studierte Kunstgeschichte und Germanistik in Tübingen, Prag, Berlin, Leipzig und Halle und promovierte über den Krankenhauskirchenbau der Weimarer Republik. Seit 2002 ist sie freiberufliche Autorin und Kunsthistorikerin. 2010 gründete sie die Internationale Schülertextwerkstatt svolvi und bekleidet seit dieser Zeit einen Lehrauftrag an der Universität Hildesheim. Daniela Danz ist Mitglied der Akademie der Wissenschaften und Literatur Mainz und leitet seit Juni 2013 das Schillerhaus in Rudolstadt.

Vielen Dank an Daniela Danz! Anfang Oktober folgt das Interview mit Michèle Minelli. Seien Sie wieder Dabei!