Simone Meier «Die Entflammten», Kein & Aber

Leidenschaft allein reicht nicht. Aber Genialität allein ebenso nicht. Gina, eine junge Frau, schreibt zwischen Lähmung und Selbstzerstörung, über Lebensentwürfe, die nach ihrer Erfüllung rufen. In „Die Entflammten“ prallen Welten aufeinander.

Sie kennen Vincent van Gogh mit Sicherheit. Wahrscheinlich kennen sie auch Theo van Gogh, seinen jüngeren Bruder, Kunsthändler und -sammler, ohne den sein genialer Bruder nie und nimmer jene Bilder hätte malen können, die ihn unsterblich machten. Aber wahrscheinlich lernen sie Jo van Gogh-Bonger, die Frau von Theo, erst durch den Roman von Simone Meier kennen. Eine Frau, die es sich nach dem frühen Tod der beiden Brüder zur Lebensaufgabe gemacht hatte, Vincent van Goghs Bilder dorthin zu bringen, wo sie hingehören; in die grossen Museen der Welt. Vincent van Gogh war einzig und allein an seiner Malerei interessiert, unkonventionell und mit totaler Hingabe. In einer Hingabe, die gekoppelt mit seiner desaströsen Lebensweise schon früh auf eine Katastrophe hinzielte und mit dem frühen Tod seines Bruders, der ihn in jeder noch so zerstörerischen Lebensphase unterstützte, leicht ins grosse Vergessen hätte münden können. Wenn nicht Johanna van Gogh-Bonger gewesen wäre.

Simone Meier erzählt aber nicht einfach die Geschichte jener Frau nach, die die Sehnsucht nach Liebe an die Seite der berühmten Brüder brachte, der die Kunstwelt verdankt, dass jenem Künstler, der viel mehr als einfach abbilden wollte, jener Platz an den Wänden der Welt sicherte.

Über hundert Jahre später stösst die junge Kunsthistorikerin Gina auf die Geschichte dieser Frau. Sie taucht immer tiefer ein in die Biografie dreier Leben, die in ihrer Radikalität und Besessenheit auch im stummen Untergang hätten enden können. Was wäre geschehen, hätte Vincent seinen Bruder Theo nicht gehabt? Was wäre geschehen, hätte Jo das Lebenswerk beider nicht weitergeführt? Was wäre geschehen, wenn das Selbstzerstörerische des Malers, die Syphilis seines Bruders die junge Witwe mit ihrem kleinen Sohn mitgerissen hätte? Gina folgt einem Leben, sucht nach dieser Stimme und findet sie.

Simone Meier «Die Entflammten», Kein & Aber, 2024, 272 Seiten, CHF ca. 29.00, ISBN 978-3-0369-5029-7

Gina sucht aber auch nach den Rätseln in ihrer eigenen Familie. Warum scheiterte die Ehe ihrer Eltern? Warum schafft es ihr Vater in dem kleinen Haus am Meer nicht endlich, aus den vielen Anfängen einen zweiten Roman zu schreiben, nachdem der Ruhm des ersten schon seit Jahrzehnten verflogen ist? Gina zieht für eine begrenzte Zeit in das kleine Haus ihres Vaters, wohl nicht zuletzt darum, weil sie hofft, dass sie mit ihrem Schreiben die Fesseln ihres Vaters lösen kann.

Das Reizvolle an diesem Roman sind die  Prozesse der Begegnungen. Im Vordergrund steht jene zwischen Jo und Gina, zweier Frauen in ganz unterschiedlicher Zeit, obwohl doch eigentlich nur etwas mehr als ein Jahrhundert zwischen den beiden Frauenleben liegt. Gina rutscht mit Recherche und Schreiben immer tiefer in das Leben einer Frau, die ihr Dasein nach dem Tod der van Goghs immer entschiedener in den Dienst einer Sache stellt. Eine Kompromisslosigkeit, von der die Schreibversuche ihres Vaters diametral entfernt sind und wehleidig groteske Züge angenommen haben. Je tiefer Gina forscht und sich in das Leben Johannas hineinversetzt, desto mehr schwinden Barrieren, bis Jo und Gina im letzten Teil des Buches in einen Dialog treten, der die Grenzen schwinden lässt.

Wo sind die Grenzen zwischen Eigensinn und Genialität? Wie schafft es Genialität an die Oberfläche, zwischen all die Banalitäten des Lebens? Simone Meier geht es um mehr als Aufklärung über eine Frau, die seit einem Jahrhundert im Schatten „ihrer“ beiden Männer steht. „Die Entflammten“ ist ein Buch über Entflammte, die in ihrem selbstzerstörerischen Tun alles mit sich reissen und über „Entflammte“, die das einst entfachte Feuer nie erlöschen lassen.

Interview

Was war zuerst; die Faszination für die Person Johanna Bonger, später van Gogh oder die Geschichte einer jungen Frau, die sich in ihrer Suche nach einer eigenen Stimme mit dem Scheitern ihres Vaters konfrontiert?
Keine von beiden. Zuerst war Ginas Vater da. Nach meinem letzten Buch war ich frustriert, ich hatte die Ausläufer des Corona-Tiefs schwer unterschätzt, besonders in Deutschland. Man kriegt nun mal keine Sichtbarkeit hin, wenn die Buchhandlungen ganz oder teilweise geschlossen sind. Die Zugänge zu Lesungen waren beschränkt und die Leute blieben vorsichtshalber lieber zuhause. Aus therapeutischen Gründen wollte ich zuerst eine Literaturbetriebssatire schreiben. Einfach um Wunden zu lecken. Das sollte man natürlich unterlassen, das habe ich relativ schnell gemerkt. Und dann kam Jo. Ganz plötzlich, aber sehr bestimmend, und ich wusste, wenn ich mich jetzt nicht ganz in den Dienst dieser Figur stelle, bin ich die blödste schreibende Person weit und breit. Gina kam erst danach, allerdings enorm selbstverständlich, und aus dem Vater wurde aus einer lächerlichen eine gute Figur.

Über ein Jahrzehnt nach dem Suizid des einen und dem Syphilistod des andern war Vincent van Goghs Kunst nur einem ganz kleinen Kreis ein Begriff. Heute werden, wenn ein Bild überhaupt zum Verkauf steht, exorbitante Summen bezahlt, die mit Kunstverstand oder Sammelleidenschaft nichts mehr zu tun haben. Doch eigentlich eine Watsche an Künstler, eine an die Kunstszene, profitiert doch die Kunst selbst nie von solchen Preisen und eine Watsche ins Gesicht all jener, deren Genialität nie an die Oberfläche gelangt.
So what? Im stillen Kämmerchen sind wir alle in irgendwas genial. Ich war mal eine geniale Blockflötistin. Aber braucht die Welt das? In den allermeisten Fällen nicht. In meinen 28 Jahren als Kulturjournalistin sind mir wohl erst zwei lebende Menschen untergekommen, von denen ich sagen würde, sie sind genial und ihre Kunst bringt uns wirklich was. Vorherrschend ist ja immer und überall solides, stabiles Mittelmass. Ich persönlich bin kein Van-Gogh-Fan, mir ist das zu aufdringlich, aber in der Beschäftigung mit ihm für das Buch habe ich verstehen gelernt, wie echt revolutionär er war und was die Menschen in ihm sehen konnten, was sie begeisterte. Tragisch für ihn, dass er das nicht erlebte, Picasso und Warhol hatten mehr von ihrem Ruhm. Aber wenn besonders Viele einen Einzelnen besonders grossartig finden, kommt es unweigerlich irgendwann zu diesen perversen monetären Exzessen, egal ob in der Kunst, im Fussball, in Hollywood oder in Chefetagen. Offenbar haben wir noch nicht gelernt, unsere Wertschätzung anders auszudrücken. 

Das Literaturhaus St. Gallen lädt ein!

Gina setzt sich einigem aus, nicht zuletzt dem Stolpern ihres Vaters, der, statt seinem einstigen Brotberuf nachzugehen, vom Leben eines erfolgreichen Schriftstellers „besessen“ ist. Muss man besessen, entflammt sein, um mit seiner Kunst eine Bühne zu finden?
Für seine Arbeit entflammt zu sein, garantiert noch lange keine Bühne, hilft aber sicher. Was ich jedoch weiss, ist, dass es kein Entkommen vor einer gewissen Besessenheit, einer Auslieferung gibt, wenn man es mit seiner Kunst wirklich ernst meint. 

Jo findet schlussendlich ihre Bestimmung in der Kunstvermittlung, mit ihrer Strategie, die Werke ihres Schwagers nicht einfach gewinnbringend zu verscherbeln, sondern den Bildern jenen Platz zu geben, der ihnen durch ihre Einzigartigkeit zusteht. Ein typisch «weibliches Prinzip»?
Ist diese Frage ernst gemeint? Ich hoffe nicht! Das Einzige, was Jo an Weiblichkeitsklischees wie diesem interessierte, war, sie aus der Welt zu schaffen. Zum Glück hatte sie dank Theo, aber auch dank ihrem späteren Umfeld ganz unweibliche Einblicke in den damals zu hundert Prozent von Männern beherrschten Kunstmarkt. Sie sah, wie man es eben nicht machen sollte. Und sie war ein totaler Kontrollfreak. SIE wollte das Narrativ bestimmen, niemand sonst. Das Praktische an Vincent van Gogh war ja nun mal, dass er schon tot war und nicht mehr von seiner Kunst zu leben brauchte, sie konnte die Nachlassverwaltung entsprechend gründlich und langfristig angehen. Und sie legte sich einen genialen Dreiphasenplan zurecht: Sichtbarkeit schaffen, Rarmachen auf dem Markt, am Mythos basteln. Die breitestmögliche Sichtbarkeit erreichte sie, indem sie Zeit ihres Lebens über 100 Ausstellungen organisierte und dabei immer darauf achtete, dass Leute, die wenig verdienten, weniger Eintritt zahlen mussten. Da war sie ganz Sozialistin, wie übrigens die meisten im Van-Gogh- und Bonger-Clan damals glühende Sozialisten waren, was in der Van-Gogh-Rezeption natürlich gerne unterschlagen wird. Am Mythos bastelte sie bei ihrer Herausgabe der Briefe der Brüder, zu der sie selbst den alles entscheidenden Essay schrieb, der das Bild von van Gogh nachhaltig prägte. Und mit dem Zurückhalten besonders beliebter Bilder vom Markt befriedigte sie einerseits die Museumsbesucherinnen und -besucher und schuf andererseits noch grössere Begehrlichkeiten bei den abgewiesenen Käufern. So kam der immer lautere «Buzz» um van Gogh zustande.

Im zweiten Teil ihres Buches mischen sich die Stimmen der beiden Protagonistinnen Jo und Gina zu einem Dialog über Zeit und Raum hinaus. Eigentlich eine virtuelle Begegnung. Ist das nicht genau das, was die Literatur kann? Warum muss die Grenze des Möglichen ausgerechnet auch für die Literatur gelten? 
Mich müssen Sie das nicht fragen, ich bin eh das Schmuddelkind, das sich nicht um die Genregrenzen und die albernen Reinheitsgebote der deutschsprachigen Literaturkritik kümmert. In jeder anderen Weltliteratur ist diese Art der Kunstfreiheit, des ’magischen Realismus’, des kreativen Ausserkraftsetzens von Zeit, Raum und Konventionen völlig normal und anerkannt. Bei uns nicht.

Simone Meier, geboren 1970, ist Autorin und Journalistin. Nach einem Studium der Germanistik, Amerikanistik und Kunstgeschichte arbeitet sie als Kulturredakteurin, erst bei der WochenZeitung, dann beim Tages-Anzeiger, seit 2014 bei watson. 2020 und 2022 wurde sie zur »Kulturjournalistin des Jahres« gewählt. Bei Kein & Aber erschienen ihre Romane «Fleisch«, «Kuss» und «Reiz». Simone Meier lebt und schreibt in Zürich.

Beitragsbild © Ayse Yavas

Terézia Mora «Muna oder Die Hälfte des Lebens», Luchterhand

„Muna oder Die Hälfte des Lebens“ ist vieles; eine Liebes- und Leidensgeschichte, ein Versuch einer Emanzipation, die Geschichte eines deutschen Lebens vor und nach der Wende und ein emotionaler Erklärungsversuch. Térezia Mora erzählt vielschichtig, taucht tief in die Psyche einer Frau und zeigt die Unaufhaltsamkeit menschlichen Schicksals.

Muna wächst als Einzelkind vor der Wende in einer ostdeutschen Kleinstadt auf. Der Vater starb früh an Lungenkrebs, die Mutter versucht sich an ihrem Engagement am örtlichen Theater festzuhalten, schwankt zwischen Alkohol und Depression und überlässt ihre Tochter sich selbst. Eine Kindheit zwischen Einengung und Verlorenheit. Kaum ist der 18. Geburtstag von Muna vorbei, muss die Mutter mit einer Alkohol- und Tablettenvergiftung notfallmässig ins Spital gebracht werden, lässt Muna im Ungewissen darüber, was wirklich passiert ist. Die eine Woche zwischen Geburtstag und Einweisung der Mutter ist für Muna eine Woche voller Glück. Endlich tut sich eine Tür auf.

«Es wird Zeit, dass du etwas aus deinem Leben machst.»

Leben ist permanente Unsicherheit. Nichts an Munas Leben gab ihr Sicherheit. Am ehesten noch die Träume von einer Befreiung, von Ausbildung, von einem eigenen Leben, weit weg vom alten. Sie erfährt schon früh von ihrem Geschick zu schreiben, arbeitet als Praktikantin in einer Redaktion und glänzt bei kleinen Schreibwettbewerben. Bis sie auf eben einer solchen Redaktion Magnus kennenlernt, Lehrer und Fotograf. Sie verliebt sich in den um einiges älteren Mann, obwohl der sie kaum beachtet, sich kühl und distanziert gibt. Und als wäre der Unerklärbarkeiten nicht genug, verschwindet Magnus nach der ersten und einzigen gemeinsamen Nacht.

Terézia Mora «Muna oder Die Haelfte des Lebens», Luchterhand, 2023, 448 Seiten, CHF ca. 32.00, ISBN 978-3-630-87496-8

Muna beginnt Literatur zu studieren und hält sich mit vielerlei Jobs über Wasser. Sie arbeitet an Forschungsprojekten zu Frauenrechten, zieht von Berlin über London nach Wien, immer auf der Suche nach einem festen Stand, mit der Sehnsucht nach Ankommen und der Hoffnung, dereinst Magnus wiederzusehen, dem sie Briefe schreibt, die sie bei einem Freund von ihm hinterlegt.
Sieben Jahre nach seinem Verschwinden trifft sie ihn wieder, im Foyer eines Theaters. Sie setzt alles daran, wieder mit ihm zusammenzukommen, manövriert sich von einer zur nächsten Abhängigkeit, reist ihm von Stadt zu Stadt nach, bis nach Übersee und blendet geflissentlich aus, dass Magnus längst nicht der Mann ist, der sie auf Händen trägt. Ganz im Gegenteil. Es fliesst Blut.

«Begehren, sagte er schließlich. Das glaube ich. Dass das ziemlich zuverlässig funktioniert. Der Rest ist Schwulst.»

Der Roman ist konsequent aus der Sicht von Muna geschrieben. Sie versucht sich zu erklären, schreibt eine 400seitige Rechtfertigung, immer wieder mit gedanklichen Einschüben, Korrekturen, die sich im Text niederschlagen, bis hin zu Schwärzungen. Da ist ihr fatales Manövrieren in einer toxischer Abhängigkeit, der unbändige Wunsch nach einem emotionalen Zuhause, nach Geborgenheit und Liebe. Da ist der jahrelange Versuch einer Frau, sich von einer Mutter, einer Herkunft zu emanzipieren, in einer akademischen Welt Fuss zu fassen, was nicht klappen kann und will angesichts der Turbulenzen, die ihre Abhängigkeit von Magnus verursacht.

Die Lektüre dieses Romans erzeugt Schmerz, weil es nur schwer erklär- und ertragbar ist, dass eine intelligente Frau nicht erkennt, was passiert, selbst dann, wenn ihr Nahestehende schonungslos spiegeln, wie perspektivlos sie in eine ungewisse Zukunft torkelt.

„Muna oder Die Hälfte des Lebens“ ist ergreifend, eine Geschichte, die unter die Haut geht, in einer Sprache, die grosse Meisterschaft verrät, so souverän erzählt wie das Leben Munas in Zwängen eingeschlossen ist.

Im Sommer ist Terézia Mora Gast im Literaturhaus St. Gallen.

Terézia Mora wurde 1971 in Sopron, Ungarn, geboren und lebt seit 1990 in Berlin. Für ihren Roman «Das Ungeheuer» erhielt sie 2013 den Deutschen Buchpreis. Ihr literarisches Debüt, der Erzählungsband «Seltsame Materie», wurde mit dem Ingeborg-Bachmann-Preis ausgezeichnet. Für ihr Gesamtwerk wurde ihr 2018 der Georg-Büchner-Preis zugesprochen. Terézia Mora zählt ausserdem zu den renommiertesten Übersetzer*innen aus dem Ungarischen.

Beitragsbild © Antje Berghäuser

Die Laudatio zum Basler Lyrikpreis 2024 an Carla Cerda – von Rudolf Bussmann

Auf dem Titelblatt von Carla Cerdas letztem Gedichtband Ausgleichsflächen stehen die Sätze: „Attention Readers! Dies ist ein Experiment der poetischen Kommunikation realer Ereignisse“. Der ironische Ruf nach Aufmerksamkeit kann auch als Warnung aufgefasst werden: Wer zu lesen beginnt, soll sich. vorsehen. Was hat es damit auf sich? Worauf muss, darf man gefasst sein, wenn man sich aufmacht, in Carla Cerdas Sprachwelt einzudringen? Allgemein gesprochen darauf, dass in den Gedichten das herkömmliche Verständnis von Realität und Fiktion erweitert und in kühner Weise neu bestimmt wird. Wenn wir im Folgenden nach einer etwas genaueren Antwort suchen, können uns zwei Textpassagen behilflich sein, die wir näher heranzoomen wollen.

Zwei Gedichtbände hat Carla Cerda bis jetzt veröffentlicht, Loops 2020 und Ausgleichsflächen 2023, beide sind in der Reihe roughbooks bei Urs Engeler erschienen. Die schmalen Büchlein enthalten je rund fünfzig Gedichte, gegliedert in fünf resp. sechs Gedichtzyklen, denen manchmal ein Intro vorangestellt ist. Eines davon haben wir gerade kennen gelernt.

Zoom eins

Es führt zum ersten Zyklus von Ausgleichsflächen, worin von einer Mutter und ihrem Kind die Rede ist. Die beiden sind mit einem Spiel beschäftig. Weiter anwesend sind ein Mann und eine Box mit einem Käfer drin. Wobei diese als anwesend zu bezeichnen ziemlich gewagt ist. Beim Mann handelt es sich – Attention readers! – um einen Chatbot, also um ein Computerprogramm, das menschliche Konversation simuliert. Der Kantbot, wie er im Gedicht genannt wird, schreibt gerade an einer wissenschaftlichen Abhandlung, einem Text, der vor über 200 Jahren verfasst wurde. Es ist ein posthum erschienenes Manuskript von Immanuel Kant. Den Philosophen beschäftigt darin unter anderem die Frage nach dem leeren Raum, in dem, obwohl er leer ist, dennoch physikalische Gesetze wirken, etwa das der Gravitation. Dass Carla Cerda gewisse von Kants Formulierungen in ihren Zusammenhang aufgenommen hat, ist kein Zufall. Sie holt Kant gleichsam als Vater an den Tisch zu Mutter und Kind, weil sie bei ihm vorgedacht findet, was sie heute beschäftigt.

und der Kantbot ist jetzt auf Seite 20, Convolut XI
angekommen, wo „die Gravitationsanziehung
dynamisch durch den leeren Raum –
obzwar kein solcher da ist“ 

Hinter Kants wunderbar lapidaren Feststellung von der Existenz des gedachten leeren Raums, der gar keiner ist, verbergen sich Grundfragen nicht nur der Physik, sondern auch der Literatur: In welchem Verhältnis steht, was ich lesend vor mir habe, zu meiner Erfahrungswelt? Wer bestimmt seinen Wirklichkeitsstatus? Welche Realität kommt einer Box mit einem Käfer zu, wenn sie in einem Gedicht auftaucht? Und: ist die Box weniger präsent, wenn das Gedicht sie mit den Worten einführt:

„ein Käfer in einer Box und die Box ist weg“ 

Die Dichterin weiss, dass mir die Box gegenwärtig bleibt, auch wenn sie diese im Gedicht zum Verschwinden bringt. Der Zyklus heisst „Bootstrap“. Bootstrapping benennt in der Computersprache einen Vorgang, der aus einem einfachen Programm ein komplexeres generiert. Ich habe aus dem Wort Box mittels der Formel „ist weg“ eine Vorstellung generiert, in der zwei Boxen£existieren, eine, die es gibt, und eine, die es nicht gibt, und beide meinen dieselbe.

Das erste Gedicht des Zyklus, aus dem die zitierte Zeile stammt, ist von denkbarer Schlichtheit. Dennoch fallen wir von einem Bootstrap in den anderen, von einer Falle – Trap – in die nächste. „spielen wir ein Spiel“, heisst der erste Satz. Wer spricht da zu wem? Die Mutter spricht zum Kind. Oder spricht die Ich-Erzählerin zu uns, den Lesenden? Es bleibt offen, der einfache Satz generiert zwei mögliche Bezugsfelder, die unaufgelöst nebeneinander stehen bleiben. Darauf folgt eine Aufzählung des Spielmaterials. Unter anderem wird auch das Kind vorgestellt, und zwar folgendermassen:

„das Kind, sowie es aufhört, nicht zu sprechen“

Das Kind scheint nur anwesend und für das Spiel brauchbar zu sein, wenn es sein Schweigen bricht und zu sprechen beginnt. Sein Reden macht es präsent, oder anders gesagt, seine Anwesenheit verdankt es dem Wort. Genau wie die Box, die da ist, weil sie genannt wurde.

Es gibt eine zweite bemerkenswerte Aussage über das Kind, sie ist in Klammern beigefügt:

„das Kind, sowie es aufhört, nicht zu sprechen (in etwa du)“

„in etwa du“ könnte zum Kind gesprochen sein, es würde dann bedeuten: Im Gedicht kommt ein Kind vor wie du eines bist, mein Schatz. Die Ich-Erzählerin spricht als Mutter zum Kind. Auch die Lesenden können sich mit dem Du gemeint fühlen. „in etwa du“ hiesse: so wie du, wenn du zum Kind wirst. Es sei denn, der Zusatz beziehe sich nicht auf eine Person, sondern auf die Sprache und meine ganz einfach nur das Personalpronomen selber, dem hier keine Person fest zugewiesen sei.
Ähnliches gilt für das Ich der Mutter. Wir, die Lesenden, tun gut daran, dieses Ich nicht ausschliesslich als Person, sondern ebenso als Pronomen anzusehen. Das mildert unseren Schreck, wenn das Ich auf einmal buchstäblich aus dem Text fällt:

„ich falle – ups – durch eine fiese Laufmasche im Satzgefüge.“

Verunglückt ist hier bloss das Pronomen, das drei Zeilen später munter wiederaufersteht und im Text weiterfährt.

Ein unspezifisches Sie, ein unspezifisches Du, eine Box, die nicht da ist, ein Philosoph als Chatbot – den erwähnten Textstellen ist gemeinsam, dass sie mehrere Bezugsebenen zur Verfügung halten, zwischen denen Lesende hin und her wechseln können und die untereinander agieren. Das gehört zum Spiel, zu dem uns die erste Zeile einlädt; zum Spiel, zu dem Carla Cerdas Bücher einladen. Die Autorin beherrscht es in all seinen Nuancen. Sie treibt es bis zum Irrwitz, bis zur Absurdität, behält die Spielfäden aber fest in der Hand.

Die 34-Jährige weiss mit Texten umzugehen, sie hat am Literaturinstitut Leipzig studiert. Sie hat ein Studium der Biologie und Ökologie hinter sich, kennt sich aus in der Welt der Wissenschaft. Und als Übersetzerin aus dem Spanischen und Englischen hat sie einen wunderbar leichten Umgang mit Sprachen. Ihre Spiellust kennt keine Grenzen. Das ist wörtlich gemeint. Sie geht über die Grenzen hinaus, die ein Gedicht in der Regel setzt, und bezieht nicht nur Wörter, Sätze, Zeilen mit ein, sondern auch die Druckseite selber.

Zoom zwei

Im Zyklus „Apophenia“ wird dem Lesepublikum ein mechanischer, durch Lochkarten gesteuerter Webstuhl vorgeführt. Die Gedichte sprechen diesmal ein Sie (in der Höflichkeitsform) an. Achtung, Personalpronomen! Wir Leser:innen werden uns hüten, uns vorschnell selber in das Sie hineinzudeuten. Wie recht wir mit unserer Vorsicht haben! Bringt der Text das „Sie“ doch in eine befremdliche Situation.

„fühlen Sie einmal hier unter der haut den stoff
die geschichte ihrer hm die geschichte des
programms das Sie hervorbrachte Ihre ganz
persönliche lochkarte sehen Sie? fühlen Sie?
merken Sie?“ 

Wir sind uns nicht sicher, was dem „Sie“ an dieser Stelle genau widerfährt. Aber wir haben verstanden, es geht um eine Lochkarte, „Ihre ganz / persönliche lochkarte sehen Sie? fühlen Sie? / merken Sie?“ Tatsächlich, wir fühlen die Lochkarte. Sie liegt in unserer Hand. Wir sehen, dass der Satzspiegel des aufgeschlagenen Gedichtbands eine Veränderung erfahren hat. Der Text ist vom Gedicht zur Lochkarte mutiert.
Gleichzeitig besteht er darauf, ein Gedicht zu sein. Die Lesenden haben die Wahl nicht nur zwischen verschiedenen Bedeutungen, sondern zwischen verschiedenen Erscheinungsweisen bedruckten Papiers. Wenn sie Lust haben, können sie die Lochkarte wahrnehmen und synchron dazu das Gedicht lesen. Das erhöht den Genuss, das hebt die Stimmung.

Vielleicht wäre für die Lektüre von Carla Cerdas Werk ein neuer Terminus einzuführen, das „synchrone Lesen“. Ihre Gedichte ermuntern dazu, verschiedene sich überlagernde Inhalte zusammenzudenken. Dies nicht im Sinne von Metaphern, die sich via Assoziation einstellen, sondern durch das Verflechten von Themen. So wechselt der Webrahmen-Zyklus von der Stoffproduktion zu anderen Kontexten, die mitgelesen werden können. Etwa zur literarischen Textproduktion. Und er führt, es liegt nahe, zur Bild- und Textproduktion des Internets. Es liegt nahe nicht nur deshalb, weil die Lochkarte der Vorgänger der Speichermedien Magnetband und Diskette ist. Sondern insbesondere deshalb, weil Carla Cerdas gesamtes lyrisches Schaffen mit dem Internet auf das engste verknüpft ist. Davon soll abschliessend die Rede sein.

Die Dichterin als DJ

Ein grosser Teil der in den Gedichten verarbeiteten Inhalte stammt aus der digitalen Welt. Sie sind raffiniert eingepasst und als solche nicht erkennbar, oder dann ganz offensichtlich im Copy/Paste-Verfahren übernommen. Sie gehören mit zu dem, was verhandelt wird, können es auch ergänzen, konterkarieren, ihm eine Alternative entgegenhalten.

Mitunter lässt sich ihr Weg von ihren Internetwurzeln bis in das Gedicht nachverfolgen. Etwa im Fall eines englischen Zitats aus der Finanzbranche, das ohne ersichtlichen Grund in den Webstuhl-Zyklus platzt. „trust me on this testimony everybody“, meldet sich mitten im zweiten Gedicht eine Stimme, um fortzufahren:

„I invested 900 and I withdrew 9000 it was like a dream come true” 

Vielleicht rühmt sich hier jemand, der gerade einen Deal mit Loom gemacht hat? Loom, das englische Wort für Webstuhl, bezeichnet auch eine Kryptowährung. Im Wort Loom bündeln sich zwei Welten, die des Webens und die des Spekulierens. Diese Nachbarschaft macht sich Carla Cerda zunutze. Sie wiederholt mehrfach die Beteuerung „trust me on this –“ und gibt diese Floskel aus der Werbesprache für Finanzprodukte der Lächerlichkeit preis.

Sie liebt es, en passant hier eine Kritik an der kapitalistischen Wirtschaftsordnung anzubringen, dort Auswüchse unserer Zivilisation blosszustellen. Hellwach verfolgt sie das Weltgeschehen, setzt in ihre Lyrik Fetzen und Splitter davon ein, die im poetischen Umfeld nicht selten absonderlich und komisch wirken. Einmal lässt sie die Ich-Erzählerin sich damit brüsten, dass ihr Gedicht, das von einer Platane handle, die α Biodiversität erhöhen und ihre eigenen biodiversity credits wieder ins Gleichgewicht bringen werde. Das Gedicht löst sich hier aus seinem ästhetischen Kontext und gibt sich als Bon für Artenvielfalt aus, als Ausgleichsfläche für Umweltsünden – eine ironiegeladene Anspielung auf die verbalen Kraftakte in den Reden von Politikern und Industrievertretern.

Auch in diesem Beispiel manifestiert sich Carla Cerdas Lust, aus der Hermetik des Gedichts auszubrechen, diesem neue Funktionen zuzuweisen und die Grenzen der Lyrik zu transzendieren. Es interessieren sie neben der Welt der Märchen und Mythen, der Belletristik, der Kommunikation insbesondere die Bereiche, die als poesieresistent erscheinen. Der Einbezug von Textfragmenten aus der Meeresbiologie, dem Abbau von Bodenschätzen, der Karpfenzucht oder der Aktienbörse erschliesst dafür nahezu unerschöpfliche Quellen. Die Autorin wählt aus ihrem in umfangreichen Recherchen zusammengetragenen Material das Passende aus, wandelt um, passt ein, kombiniert, schneidet weg. Ihre Arbeit erinnert an die Tätigkeit einer DJ, die am Mischpult steht, sampelt, mixt und scratcht und die fortlaufend ihre Rhythmen komponiert. Ab und zu macht sie sich in Ausrufen Luft. Mit den eingestreuten hey, ups, äh, hm, oh, iiih, aha
scheint sie sich selber zu befeuern, vor allem aber steigert sie damit das Vergnügen der Lesenden. Sie macht Stimmung. Das ist vielleicht das Erstaunlichste an dieser Lyrik: wie heiter, wie munter sie daherkommt. Als gäbe es nichts Selbstverständlicheres, als aus den gigantischen Materialbergen des Internets eine Folge von durchgestalteten Gedichten zu machen. Als wäre es die eigentliche Bestimmung des worldwide web, in Poesie verwandelt zu werden.

Dieser Dichterin ist – Attention! – viel zuzutrauen. Der Basler Lyrikpreis, den ihr die Jury, bestehend aus Wolfram Malte Fues, Claudia Gabler, Simone Lappert, Alisha Stöcklin, Ariane von Graffenried und Rudolf Bussmann heute überreicht, soll sie dazu ermutigen, ihren literarischen Weg so konsequent und originär fortzusetzen, wie sie ihn begonnen hat. Unsere guten Wünsche begleiten sie dabei.

von Rudolf Bussmann

© Samuel Bramley

Carla Cerda, geboren 1990, ist Biologin, Dichterin und Übersetzerin und lebt in Leipzig, wo sie als Teil der «anemonen» interdisziplinäre Lesungen und Workshops mitorganisiert. Sie hat zwei Gedichtbände veröffentlicht: «Loops» (2020) und «Ausgleichsflächen» (2023), beide bei roughbooks. Sie erhiel tauch den Hauptpreis beim open mike 2019 und den Heimrad-Bäcker-Förderpreis 2022.

Beitragsbild © privat

„Für jede Mutter ist Krieg die Hölle“ Zeruya Shalev in St. Gallen

Der israelischen Schriftstellerin Zeruya Shalev fehlen die Worte, wenn es um den Angriff der Hamas geht. Trotzdem setzt sich die dreifache Mutter, die selbst einmal Opfer eines Anschlags war, für Versöhnung ein.

Gastbeitrag von Manuela Tschida-Swoboda

Ihr Debütroman «Nicht ich» erschien schon vor 30 Jahren auf Hebräisch, aber erst jetzt auf Deutsch. Beim Lesen hat man das Gefühl, in einen seltsamen Traum geraten zu sein.
ZERUYA SHALEV: Ja, das Buch unterscheidet sich in vielem von meinen späteren. Manchmal ist es realistisch, manchmal nicht, manchmal ist es ein Traum, dann wieder ein Albtraum. Das Buch ist bruchstückhaft, aber die seelischen Inhalte sind dicht gepresst.

Erzählt wird die Geschichte einer Frau, die Mann und Tochter für einen Geliebten verlässt, mit dem dann aber nichts wird. Das Thema des Verlusts zieht sich von Beginn an durch Ihr Werk. Wieso eigentlich?
Hm. Ich denke, weil es eines der wesentlichsten Themen im Leben ist. In meinem Roman trägt die Frau besonders schwer an der Last des Verlusts, weil es vermutlich auch noch ihre Schuld war. Auf der anderen Seite gibt sie ihrem großen Traum nach, findet sich letztlich aber in einer unglaublichen Leere wieder. Sie hat alles verloren und muss fortan mit den Konsequenzen ihrer Entscheidungen leben, und das bringt sie fast um.

Ihr Roman ist wie eine Traumnovelle, die von Sigmund Freud interpretiert werden will, oder?
Ja, vielleicht. In gewisser Weise ist das Buch auch ein innerer Monolog, ein Bewusstseinsstrom. Als ich den Roman nach 30 Jahren noch einmal gelesen habe, mochte ich die Zerbrechlichkeit meiner Hauptfigur sehr, und auch ihren Galgenhumor.

Der Holocaust und der Konflikt mit den Palästinensern durch- dringen diesen Roman, ohne dass beides explizit erwähnt wird. Ge- schah das bewusst oder unbewusst?
Alles in diesem Roman ist hauptsächlich unbewusst passiert. Ich schrieb das Buch als junge Mutter. Meine Tochter war drei, vier Jahre alt. Und ich erinnere ich mich noch gut daran, wie ängstlich ich als Mutter plötzlich wurde. In Israel gab es immer schon Krieg, Terror und schreckliche Erinnerungen, aber für eine Mutter ist das alles ein Albtraum.

Als Sie das erste Mal Mutter wurden, brach die erste Intifada aus, der Aufstand der Palästinenser gegen Israel. Wie war das?
Ich sehe noch die Schlagzeilen der Zeitungen, die auf meinem Bett im Krankenhaus lagen, während ich meine Tochter stillte. Der Terror rundum wurde von da an immer stärker. Als meine Tochter drei wurde, kam es zum Golfkrieg. Und ich weiß noch, wie ich versuchte, eine Gasmaske auf ihren kleinen Kopf zu bekommen.

Zeruya Shalev «Nicht ich», Piper, 2024, aus dem Hebräischen von Anne Birkenhauer, 208 Seiten, CHF ca. 35.90, ISBN 978-3-8270-1476-4

Es gibt eine starke politische Komponente in Ihrem Buch. Die Tochter wird entführt, sie wird von Soldaten vom Spielplatz weggeholt. Sie schreiben von unterirdischen Gängen unter dem Kindergarten, in denen Kinder verschwinden – unheimlich aktuell. Wie geht es Ihnen jetzt damit?
Es schockiert mich, dass etwas, das ich eigentlich nur metaphorisch verwendet habe, plötzlich Wirklichkeit geworden ist. Im Buch spielt sich alles in der Fantasie der Mutter ab, aber jetzt, nach der schrecklichen Attacke der Hamas, ist plötzlich alles real. Was soll ich sagen? Es ist alles so traurig.

Sie haben drei Kinder: Wo sind die jetzt?
Sie sind nicht in der Armee. Mein jüngster Sohn, er ist erst 17, muss erst im nächsten Jahr dahin. Und der ältere war in keiner Kampfeinheit, er war Lehrer in der Armee. Für jede Mutter ist Krieg die Hölle.

Wollten Sie nie weg von Israel, wo Trauer und Schmerz so treue Gefährten sind?
Nein. Das Leben hier ist wirklich schwierig, aber ich spüre ganz stark: Das ist mein Land, das ist mein Platz. Wir erinnern uns alle daran, was mit jüdischen Menschen passiert, wenn sie kein Land haben. Das war ja auch der Grund, warum Israel gegründet wurde. Unglücklicherweise sind wir aber auch hier nicht sicher. Aber ich kann nicht aufgeben, auch die anderen können das nicht. Ich spüre eine tiefe Verbundenheit mit diesem Land. Und ich hoffe, dass es für Israelis einmal besser wird, und auch für die Palästinenser.

Der ehemalige israelische Premier Yitzhak Rabin war davon überzeugt, dass sich Israels Konflikt mit den Palästinensern nicht lösen lasse, sondern nur managen. Wie sehen Sie das?
Aber ich denke, man muss versuchen, diesen Konflikt zu lösen, auch wenn ich mir nicht sicher bin, ob das je gelingt. Wir müssen versuchen, eine Vereinbarung zu finden, denn auf Dauer kann dieser Konflikt nicht gemanagt werden, ohne eine klare Vereinbarung. Wir haben letztlich keine andere Wahl.

Sie selbst wurden 2004 bei einem Attentat eines Palästinensers schwer verletzt, setzen sich aber trotzdem immer für die Versöhnung zwischen Israelis und Palästinensern ein. Wie geht es Ihnen jetzt?
Ich sehe nicht hinter jedem Araber einen Terroristen. Natürlich bin ich tief schockiert von der sadistischen, barbarischen Attacke der Hamas. Mir fehlen die Worte für dieses Grauen. Ich bin tief schockiert. Aber es gibt einen Unterschied zwischen der Hamas und der arabischen Zivilbevölkerung. Es gibt so viele Menschen, auch viele Frauen, die sich dafür starkmachen, dass der jüdisch-arabische Dialog nicht abbricht. Letztlich habe ich die Hoffnung, dass es nach diesen furchtbaren Schrecken doch auch die Chance auf Frieden gibt.

Kann aus soviel Schrecklichem je etwas Gutes entstehen?
Ich bin keine große Historikerin, aber überall in der Welt kam nach dem Krieg auch wieder der Friede. Meine Hoffnung gilt auch den nächsten Wahlen und einer neuen Regierung in Israel. Denn die ist notwendig, wenn der Staat wieder gesund werden soll. In Israel folgt auf den Krieg nicht immer gleich Friede, aber die Kriege haben immer zu Wahlen geführt. Ich hoffe, dass dieser fürchterliche Krieg dazu führt, dass sich alle in der Region gegen die extremen Fundamentalisten vereinen, auch die Bevölkerung in Gaza gegen die Hamas, die die Menschen dort als Schutzschilde missbraucht. Und ich hoffe, dass wir Netanyahu und seine Regierung loswerden.

Ein Leitmotiv in Ihren Büchern ist stets die Melancholie, a kind of blue: Ist der Sound von Shalev letztlich der Sound von Israel?
Ich habe noch nie darüber nachgedacht, aber wenn ich das jetzt so höre, kommt es mir sehr wahrscheinlich vor.

Wie ist Ihr Leben in Haifa seit dem Angriff der Hamas?
Mein Leben hat sich komplett verändert. Ich schreibe nichts, außer kleine Artikel. Die Zeit von damals bis heute fühlt sich an wie ein einziger langer Tag. Es scheint, als höre man in den Ereignissen vom 7. Oktober das Echo der gesamten jüdischen Geschichte. Und diese Geschichte ist lang und tragisch.

Zeruya Shalev, 1959 in einem Kibbuz am See Genezareth geboren, studierte Bibelwissenschaften und lebt mit ihrer Familie in Haifa. Ihre vielfach ausgezeichnete Trilogie über die moderne Liebe – «Liebesleben», «Mann und Frau», «Späte Familie» – wurde in über zwanzig Sprachen übertragen. Zuletzt erschienen ihre Romane «Schmerz» (2015) und «Schicksal» (2021). Zeruya Shalev gehört weltweit zu den bedeutendsten Erzählerinnen unserer Zeit.

erschienen in «Kleine Zeitung», Sonntagsbeilage, 14. Januar 2024
© Kleine Zeitung

Beitragsfotos © Jonathan Bloom

Basler Lyrikpreis 2024 geht an Carla Cerda

Die Preisverleihung findet im Rahmen des 20. Internationalen Lyrikfestivals Basel am Samstag, 27. Januar 2024 um 19:00 Uhr im Literaturhaus Basel statt. Die Laudatio hält Rudolf Bussmann.

Carla Cerda wagt sich mit ihren Gedichten in Bereiche vor, die für Lyrik weitgehend unentdeckt sind. Sie interessiert sich für automatisierte Nachrichten gleichermassen wie für Wettermessgeräte oder Enzyme. Mit frechem Witz mischt sie die Formeln der Computer- und Wissenschaftssprache auf, lässt ein Sprachassistenzprogramm als Person auftreten, unterhält sich mit einem Bot. Mit leichter Hand hebt sie die Grenzen zwischen Logik, Algorithmenregeln und Fantasie auf. Dass ihre Gedichte dabei die Formstrenge wahren, erhöht ihren Reiz. Die Lektüre ihres noch schmalen Werks ist ein Vergnügen.

Carla Cerda (*1990) ist Dichterin und Übersetzerin und lebt in Leipzig, wo sie als Teil der «anemonen» interdisziplinäre Lesungen und Workshops mitorganisiert. Sie hat zwei Gedichtbände veröffentlicht: Loops (2020) und Ausgleichsflächen (2023), beide bei roughbooks.

Mit dem Basler Lyrikpreis zeichnen die Mitglieder der Basler Lyrikgruppe (aktuell Rudolf Bussmann, Wolfram Malte Fues, Claudia Gabler, Simone Lappert, Alisha Stöcklin und Ariane von Graffenried) jährlich das Werk eines/einer* Kolleg*in aus. Der Basler Lyrikpreis wird an Dichter*innen verliehen, deren Werk sich durch Innovationskraft auszeichnet und durch den Mut zu konsequentem und eigenwilligem Arbeiten mit Sprache. Er soll dazu beitragen, herausragende Stimmen einer breiteren Öffentlichkeit bekanntzumachen.

Der mit Fr. 10’000 dotierte Basler Lyrikpreis wird von der GGG gestiftet. Frühere Preisträger*innen waren u. a. Anna Hetzer (2023), Nadja Küchenmeister (2022), Hans Thill (2021), Eva Maria Leuenberger (2020) Katharina Schulthens (2019), Dagmara Kraus (2018), Walle Sayer (2017), Ron Winkler (2016) und José F. A. Oliver (2015).

Vom 25. bis zum 28. Januar 2024 findet das Basler Lyrikfestival bereits zum zwanzigsten Mal statt. Aus dezentral organisierten Veranstaltungen einer Gruppe von Basler Lyriker*innen hat sich im Verlauf der Jahre ein etabliertes Festival entwickelt. Bis heute kuratiert die Lyrikgruppe das Programm. Zum Jubiläum bietet das Festival u. a. Nora Gomringer, Dinçer Güçyeter und Klima-Lyrik eine Bühne.

Schon am 19. Januar präsentieren Schüler*innen im Rahmen der Museumsnacht Basel die Ergebnisse eines Schreibworkshops mit Sarah Altenaichinger in der Fondation Beyeler. Nach einem Lyrikspaziergang gibt es am Freitag den Dichter und Verleger Dinçer Güçyeter im Porträt zu erleben. Darauf folgen waghalsige Sprachperformances im Late Night Varieté. Das 20. Jubiläum wird gebührend gefeiert: am Samstag finden sich aktuelle und ehemalige Mitglieder der Lyrikgruppe zu einer kurzweiligen Gruppenlesung ein, und für den Sonntagnachmittag hat Nora Gomringer eine Carte blanche erhalten. Sie tritt mit der Dichterin und Festivalmacherin Augusta Laar in den Dialog. Auf dem Podium zum Thema Lyrik im Kontext Klima/Wandel diskutieren Daniel Falb, Marion Poschmann und Steinunn Sigurðardóttir. Ausserdem: ein Workshop mit Dinçer Güçyeter, Begegnungen mit Martin Piekar und Verena Stauffer sowie die Verleihung des Basler Lyrikpreises 2024 mit anschliessendem Konzert von Fitzgerald & Rimini. Das Festival endet mit einer Sofalesung von Anna Ospelt.

(aus der Medienmitteilung des Festivals)

Informationen zum Lyrikfestival Basel

Daniel de Roulet «Die rote Mütze», Limmat

In Zeiten, in denen das historische Bewusstsein mehr und mehr schwindet und man glaubt, im Internet die Wahrheit über Vergangenes zu finden, sind Autoren wie Daniel de Roulet wichtiger denn je. „Die rote Mütze“ (damals Symbol der Revolution) ist ein Stück Geschichte, das sowohl bei den Protagonisten wie beim Autor physisch ins Leben eingreift.

Mag sein, dass jede Form des literarischen Schreibens eine Art der Vergangenheitsbewältigung ist, selbst dann, wenn das Geschriebene in der Zukunft geschieht. Aber wir leben und erzählen, was wir an Geschichten und Geschichte mit uns herumtragen. Aber nicht alle, die schreiben, kann man als „politische“ oder gesellschaftspolitische AutorInnen bezeichnen. Ich begleite das Werk von Daniel de Roulet schon seit Jahrzehnten. Er ist nicht nur ein Urgestein der Schweizer Literaturszene, Daniel de Roulet ist ein Autor, dessen Geschichtsbewusstsein, sein gesellschaftpolitisches Bewusstsein stets Niederschlag in seinem Schreiben finden. Und trotzdem ist sein Schreiben weder belehrend noch von Mission durchsetzt. Aber sein Schreiben schärft das eigene Bewusstsein.

„Die rote Mütze“ ist in vielfacher Hinsicht ein bemerkenswerter Roman. Zum einen beschreibt er Geschehnisse vor und nach der Französischen Revolution aus einer eigenen Betroffenheit. Daniel de Roulet muss feststellen, dass einer seiner Vorfahren in jener Zeit eine mehr als nur ungute Rolle spielte, der Roman wendet sich weniger den Ursachen hin als den Auswirkungen, Auswirkungen bis in die Gegenwart. Und nicht zuletzt überrascht der Roman formal.

Daniel de Roulet «Die rote Mütze», Limmat, 2024, aus dem Französischen von von Maria Hoffmann-Dartevelle, 168 Seiten, CHF ca. 30.00, ISBN 978-3-03926-066-9

Stellen sie sich vor, sie müssten feststellen, dass einer ihrer Vorfahren eine unrühmliche Rolle in der Vergangenheit spielte, vielleicht auch erst aus heutiger Sicht und obwohl man demjenigen ein Dankmal setzte. Denke man nur an all jene Namen, die erst heute im Zusammenhang mit Sklavenhandel gebracht werden.
Daniel de Roulet muss feststellen, dass auf einem goldgerahmten Stich, den er von seinem Vater erbte, ein Vorfahr mit Louis-XVI-Perücke abgebildet ist. Jacques-André Lullin de Châteauvieux war Besitzer eines Söldnerregiments, ein Menschenschinder, der einen Aufstand seiner Söldner wegen ausbleibenden Solds blutig niederschlagen liess. Aber weil Daniel de Roulet Daniel de Roulet ist, erzählt er in seinem Roman „Die rote Mütze“ nicht einfach die Geschichte jenes royalen Zöglings nach. Es geht auch nicht darum zu verstehen, wie Menschen damals funtionierten, die sich nicht vorstellen konnten, dem „gemeinen“ Volk ein Mitspracherecht oder gar die Demokrtie zuzugestehen. Daniel de Roulet erzählt von den Opfern, jenen Söldnern, die die Konsequenzen auch mit dem Leben bezahlen mussten oder nur mit viel Glück mit dem Leben davonkamen.

Samuel wächst in Genf auf, einer Stadt, die von Patrizierfamilien regiert wird und sich ganz der französischen Monarchie verpflichtet fühlt. Aber schon Samuels Vater akzeptiert die scheinbar göttliche Ordnung nicht mehr. Samuel gerät zwischen die Fronten, muss Genf verlassen, heuert als Söldner an, wird festgenommen, muss mitansehen, wie seine Kameraden gefoltert und erhängt werden und entkommt erst im letzten Moment dem sicheren Lagertod, um schlussendlich in einer Heldenparade von Festakt zu Festakt geschoben zu werden, um nach Jahren festzustellen, dass sich das Leben, das er einst mit so viel Hoffnung begonnen hatte, ein Trümmerfeld ist.

Beeindruckend an Daniel de Roulets Roman ist zum einen die Perspektive, aus der er erzählt, aber auch die Klarheit und Schlichtheit der Art seines Erzählens. Nichts ist aufgeblasen, aufgebauscht und ausgeschmückt. Daniel de Roulet vermeidet jede Form der Verklärung oder Entfremdung. Er hält sich an Fakten, lässt diese sprechen. Was sich auch formal niederschlägt, denn der Text ist im Flattersatz geschrieben (linksbündig), abgespeckt und schlank.

Ein wichtiger Einblick in ein Stück Geschichte, die sich immer und immer wiederholt!

Am 4. Februar feiert Daniel de Roulet seinen 80. Geburtstag. Herzliche Gratulation und eine tiefe Verneigung vor dem engagierten, vielfältigen und eigenständigen Werk des Schriftstellers!

Interview

Historische Romane haben ein grosses Publikum. „Die rote Mütze“ ist durchaus ein historischer Roman. Und doch unterscheidet er sich in vielem von den meisten dieses Genres. Was mich am meisten beeindruckt, ist die Tatsache, dass sie keine „Guten“ und Bösen“ konstruieren, die Handlung nicht emotionalisieren und aus einer ganz eigenen Perspektive erzählen. War die Form von Beginn weg klar?
Seit 1688, als die Krankheit die Schweizer Söldner traf – und nur sie – wird sie «Nostalgie» genannt (etymologisch, Die Krankheit der Rückkehr). Das war eine ansteckende Krankheit, die tödlich verlaufen konnte. 
Wenn ein Soldat eines Regimentes an ihr erkrankt war, musste man ihn nach Hause schicken, bevor er andere anstecken konnte. Ausserdem waren die Schweizer Söldner bekannt als sehr grausam im Kampf. Auf der einen Seite die Nostalgie (das Heimweh), auf der anderen Seite die Grausamkeit. Wie also diese Widersprüchlichkeit in Worte fassen? Der klassische, historische Roman vermeidet solche Widersprüche. Ich hatte verschiedene Arten ausprobiert und habe mich schlussendlich für eine Form entschieden, ähnlich wie eine Ballade, wie «Vreneli am Guggisberg». Keine Psychologie, ein objektiver Blick von aussen. Die unterbrochene Prosa entspricht, für mich, einer angelsächsichen Tradition in der die Poesie Geschichten erzählt. 

Ein politischer Autor. Stört Sie dieses Etikett? Man setzt Sie in eine Reihe mit Dürrenmatt, Frisch und Meienberg. Ist es nicht erstaunlich, dass es in der Schweizer Literaturszene nicht mehr politische AutorInnen gibt? 
Für mich ist es schwierig, dass ein Autor Stellung beziehen kann, ohne von den Gerüchten der aktuellen Zeit beeinflusst zu werden. Man kann die Literatur nicht produzieren wie Tomaten ohne Erde ‘hors-sol’.
Also ja, ich befinde mich im Jahrhundert, ich schliesse mich der Tradition deutschsprachiger Schweizer Autoren der Generation vor mir an. In der Westschweiz ist die Literatur oft intim und misstrauisch gegenüber der Politik. Für mich hat Literatur mit Aktivismus nichts zu tun. Ich schreibe keine Flugblätter, ich erzähle Geschichte und versuche diese in einen Kontext zu betten, der das literarische Feld überschreitet. Das heisst, es gibt auch engagierte Autorinnen und Autoren, die nicht den Anspruch erheben, Politik im klassischen Sinn zu betreiben, sondern die sich für Feminismus, Ökologie, etc. engagieren.

Sie waren lange Jahre Informatiker und betrieben das Schreiben neben Ihrem Brotberuf. Erst mit über 50 Jahren widmeten Sie sich ganz dem Schreiben. Wenn heute junge Menschen mit dem Traum der Schriftstellerei Ihr Schreiben intensivieren, sind das ganz andere Vorzeichen. Wie hat sich Ihr gelebter Berufsalltag auf Ihr Schreiben später ausgewirkt?
Ich habe bis 50 verdient, um es danach für die Literatur auszugeben. Mit 50 Jahren habe ich zu schreiben und zu veröffentlichen begonnen. Davor habe ich nur Bücher gelesen, die etwas mit meinem Beruf zu tun hatten, keine literarischen Werke, Romane usw. Die wissenschaftliche und die literarische Welt kehren sich den Rücken zu. Ich wollte die beiden Welten versöhnen, für meine alten Kollegen schreiben, aber das ist unmöglich, diese zwei Kulturen sind zu unterschiedlich. Themen die ich behandle, wie das des Atoms, bedürfen einer wissenschaftlichen Erläuterung. Es bietet sich nicht offensichtlich an, daraus einen Roman, Literatur zu machen. Aber ich habe es versucht. Der Vorteil für mich, der ich spät angefangen habe, war, dass ich nie das Syndrom der weissen, leeren Seite hatte. Es scheint als hätte ich einen unerschöpflichen Vorrat an inneren Bildern und erlebten Situationen. Der Nachteil des späten Beginnens ist, dass man nicht getragen wird von einer Generation von Autorinnen und Autoren, die die gleichen Anliegen haben und so den Mainstream der Literatur formen. 

Wenn man in der Schule die Geschehnisse um die Französische Revolution auswendig lernt, scheint Geschichte eine logische Folge verschiedener Kausalitäten. Genau das widerlegt „Die rote Mütze“. Und nicht zuletzt ist Geschichtsschreibung stets eine Frage der Perspektive. Gerade heute wird „Geschichtsschreibung“, auch jene der aktuellen Geschichte, immer mehr in Frage gestellt. Müssen wir akzeptieren, dass sich Historie und Objektivität auf ewig streiten?
Es gibt die offizielle Geschichtsschreibung, die von den Herrschenden geschrieben wird und den Figuren der Macht folgt. Darum kann die Geschichte erzählt werden wie ein Loblied der Macht, wie eine Erfolgsstory oder eine Mythologie. Für mich muss die Literatur die Geschichte von unten her erzählen, um sichtbar zu machen, wie das Individuum, der einzelne Mensch die Geschehnisse, welche ihm durch das Handeln der Mächtigen quasi aufgezwungen wurde, erlebt hat. Das Problem, das sich im Zusammenhang mit dem Söldnertum stellt, ist, dass das Leben der Offiziere und der Inhaber der Regimente wohl gut dokumentiert ist, über das Leben der einfachen Söldner aber keine Dokumente vorhanden sind. Die Literatur muss diese Leben wiederbeleben, sogar erfinden. Historiker können sich nicht mehr mit den grossen Schlachten begnügen oder mit dem Beitritt der Kantone zur Eidgenossenschaft nicht mehr zufrieden geben. Jedes noch so kleine Leben und seine persönliche Erzählung zählt, was die voreiligen Synthesen in Frage stellt. Die Literatur lässt den Leser, die Leserin eintauchen, mittels Empathie, in die Details einer persönlichen Geschichte, die eine Epoche mindestens ebenso erfahrbar und verständlich machen wie die Liste der Französischen Könige. 

„Die rote Mütze“ ist auch die Geschichte Vertriebener, Heimatloser. Etwas, was man sich als satter Schweizer nur schwer vor Augen halten kann, obwohl das Weltgeschehen millionenfach solche Geschichten schreibt; kleine Leute, die durch die Machtgier weniger mit dem Tod im Rücken durch die Zeit gehetzt werden. Sie rütteln und schütteln uns mit Ihrem Schreiben. Packt Sie nie der Zweifel?
Ich habe mich entschieden, die Schweiz von unten zu erzählen. So habe ich auch die Geschichte der Schweizer Söldner erzählt («Die rote Mütze»). Es gab deren zwei Millionen über die Jahrhunderte. Ein Viertel davon ist nie in die Heimat zurückgekehrt. Ich erzähle auch aus der Schweiz während des 19. Jahrhunderts, gezeichnet durch die erzwungene Auswanderung («Zehn unbekümmerte Anarchistinnen»). Ich erzählte die Atom-Saga («Die menschliche Simulation») und die Geschichte der Gründung des Kantons Jura («Staatsräson»). Oder dann die Geschichte meiner Generation während der Zeit des kalten Krieges («Ein Sonntag in den Bergen»). Jedes Mal frage ich mich, wofür das gut sein soll. Aber sobald meine Bücher publiziert sind, freue ich mich zu sehen, dass sie meine Mitbürger, auch ausserhalb eines gewissen, ausgesuchten literarischen Kreises, interessieren. 

Daniel de Roulet, geboren 1944, war Architekt und arbeitete als Informatiker in Genf. Seit 1997 Schriftsteller. Autor zahlreicher Romane, für die er in Frankreich mit verschiedenen Preisen ausgezeichnet wurde. Für sein Lebenswerk erhielt er 2019 den Grand Prix de Littérature der Kantone Bern und Jura (CiLi). Daniel de Roulet lebt in Genf.

Maria Hoffmann-Dartevelle, 1957 in Bad Godesberg geboren, studierte Romanistik und Geschichte in Heidelberg und Paris. Seit Mitte der Achtzigerjahre u.a. als freiberufliche Übersetzerin tätig.

Rezension von «Zehn unbekümmerte Anarchistinnen» auf literaturblatt.ch

Rezension von «Wenn die Nacht in Stücke fällt» auf literaturblatt.ch

Rezension von «Brief an meinen Vater» auf literaturblatt.ch

Webseite des Autors

Thomas Heimgartner «Koenigs Weg», pudelundpinscher

Thomas Heimgartners Karl Koenig ist König, wenn auch das Reich, über das er regiert, ein kleines ist. Koenig ist es gewohnt, sein Leben nach seiner Fasson einzurichten, auch wenn ihm nicht bewusst ist, dass er die Bodenhaftung längst verloren hat.

Thomas Heimgartner schrieb einen Roman über eine Spezies Mensch, die sich schleichend auszubreiten scheint, versteckt hinter all den Errungenschaften der Moderne. Über all jene, die sich selbst genügen, in ihrem Leben eingerichtet haben, optimiert, sauber, reibungslos und stets auf gebührenden Abstand bedacht. Obwohl da in der Vergangenheit einmal der Plan war zu schreiben, ist Korrektur daraus geworden. In einem ehemaligen Kiosk, nicht gleich in der Innenstadt, betreibt Koenig sein Büro; Koenigs Korrektionsanstalt. Arbeit hat er genug, nicht weit weg eine schöne Wohnung, alles zweckmässig eingerichtet, seit 16 Monaten Single. Seine Arbeit genügt ihm, so wie die Art und Weise, die Welt aus der Distanz zu betrachten.

Thomas Heimgartner «Koenigs Weg», edition pudelundpinscher, 2023, 150 Seiten, CHF ca. 30.90, ISBN 978-3-906061-33-7

Bis ihn eine Kurznachricht seiner Ex erreicht: „Ich bin übermorgen wieder einmal in Deiner Stadt, falls Du Zeit hast.“ Eine Mitteilung, die er reflexartig zuerst mit seinem Korrekturblick scannt, bevor er den eigentlichen Inhalt an sich heranlässt. (Angesichts der weit verbreiteten Manie, hinter und unter allem ein lauerndes Etwas zu vermuten, eine durchaus verständliche Vorgehensweise) Mirela trennte sich von ihm, weil er sich ohne Rücksprache mit ihr unterbinden liess. Für ihn damals ein Akt der fürsorglichen Voraussicht. Für sie das letzte Puzzleteil einer Person, die sich die Welt nach eigenem Gusto formt, die sich selbst ins Zentrum setzt.

«Das Leben ist kein verdammter Text, den du am Schreibtisch verbessern kannst.»

Koenig sitzt zur ausgemachten Zeit in einem Café und wartet. Aber Mirela erscheint nicht, dafür beginnt ein wildes Hinundher im Netz mit einem Avatar, der sich Bosnamirela nennt, in Anlehnung an ihre Herkunft, eine Person, die behauptet, nicht „seine“ Mirela zu sein, bei der Koenig aber genau spürt, dass es nicht irgendwer sein kann.

Koenig lässt sich auf ein Spiel ein, das mehr und mehr zum Ernst wird. So sehr, dass es ihn aus seinen Gewohnheiten und Gewissheiten reisst, so sehr, dass er sich auf eine Reise begibt, ausgerechnet er, der sich so sauber und propper in einer selbstgemachten Welt eingerichtet hatte. Er schliesst sein Büro, verlässt seine Wohnung, seine sichere Welt und macht sich auf in jenes Land, aus dem Mirela einst in die Schweiz kam. Er macht sich auf nach Bosnien, auf eine Reise mit ungewissem Ausgang, in eine Welt, die ihm fremd ist, eine Welt, die ihn endlich spiegelt – den Mann ohne Eigenschaften.

„Koenigs Weg“ ist eine wirblige Geschichte über Kontrollverlust. Über einen Mann, der feststellen muss, dass die Wirklichkeit weit über das hinausgeht, was sich auf einem Blatt Papier mit Text korrigieren lässt. Über einen Mann, der existenziell aus der Reserve gelockt werden muss, um aus einer beinahe antiseptischen Lebenswirklichkeit ausgeklinkt zu werden. „Koenigs Weg“ liest sich vergnüglich, auch wenn der Roman in mir jene Seite offenlegt, die wie Koenig eine aus den Angeln gehobene Welt am liebsten nur noch hinter Panzerglas betrachten will.

am 30. November Lesung und Gespräch

Thomas Heimgartner, geboren 1975 in Zug, lebt in ­Luzern. Er hat Sprach- und Literaturwissenschaften stu­diert und unterrichtet Deutsch an der Kantonsschule Zug. Bei pudel­undpinscher sind die Bücher «Kaiser ruft nach» und «Koenigs Weg» erschienen. Zusammen bilden sie eine »kaiserlich-königliche« Dilogie.
Zuvor erschienen kürzere und längere Erzählungen als Book on Demand und in anderen Publikationen.

Webseite des Autors

Beitragsbild © Matthias Jurt

Ich lade Sie ein ins Literaturhaus Thurgau! 2. Dezember 18 Uhr!

In den 40 Monaten unter meiner künstlerischen Leitung im Literaturhaus Thurgau waren es 86 Veranstaltungen, rund 120 Künstlerinnen und Künstler, Stipendiatinnen und Stipendiaten und Gäste in der Autorenwohnung, die das literarische Leben im Bodmanhaus ausmachten. Lesungen, Performances, Ausstellungen, Konzerte, Diskussionen, Vorträge – ein reiches Programm. Im letzten Monat meiner Amtszeit lade ich alle Freundinnen und Freude, alle Zugewandten und Interessierten zu einer ganz besonderen Abschiedsveranstaltung ein. Gäste sind:

Alice Grünfelder, aufgewachsen in Schwäbisch Gmünd, studierte nach einer Buchhändlerlehre Sinologie und Germanistik in Berlin und China. Sie war Lektorin beim Unionsverlag in Zürich, für den sie unter anderem die Türkische Bibliothek betreute. Seit 2010 unterrichtet sie Jugendliche und ist als freie Lektorin tätig. Alice Grünfelder ist Herausgeberin mehrerer Asien-Publikationen („Wolken über Taiwan. Notizen aus einem bedrohten Land“, u. a.) und veröffentlichte unter anderem Essays und Romane. Sie lebt und arbeitet in Zürich. Im Gepäck ihr 2023 erschienener Roman „Jahrhundertsommer“.

Urs Faes, aufgewachsen im aargauischen Suhrental, arbeitete nach Studium und Promotion als Lehrer und Journalist. Sein literarisches Wirken begann er als Lyriker, in den letzten drei Jahrzehnten sind indes eine Vielzahl von Romanen entstanden. Sein Werk wurde mehrfach ausgezeichnet. 2010 und 2017 war er für den Schweizer Buchpreis nominiert. Zuletzt erschienen bei Suhrkamp «Halt auf Verlangen» und «Untertags«. Urs Faes lebt in Zürich. Er nimmt sein neustes Manuskript mit, das in Teilen in Gottlieben entstanden ist.

Christian Berger (Gitarren, Loop, Electronics, Büchel, Sansula, Framedrum) und Dominic Doppler (Schlagzeug, Schlitztrommel, Perkussion, Sansula), zu zweit «Stories», Musiker aus der Ostschweiz, besitzen die besonderen Fähigkeiten, sich improvisatorisch auf literarische Texte einzulassen. Schon in mehreren Projekten bewiesen die beiden auf eindrückliche Weise, wie gut sie mit ihrer Musik Texte zu Klanglandschaften weiterspinnen können. 

Datum: Samstag, 2. Dezember 2023
Zeit: 18.00 Uhr / Türöffnung 17.30 Uhr
Ort: Literaturhaus Thurgau / Bodmanhaus
Eintritt: CHF 15.- regulär // CHF 10.- Freunde des Bodmanhauses // CHF 5.- in Ausbildung und KulturLegi

Hier zur Anmeldung!

Deniz Utlu «Vaters Meer», Suhrkamp

Vaterbücher – vielleicht sind alle Bücher Mutter- und Vaterbücher. Bücher, in denen man Kindheitsbildern nachhängt, in denen man sich von seinen Eltern emanzipiert, ein Tun, das sehr oft ein nicht enden wollender Prozess bleibt. «Vaters Meer» von Deniz Utlu ist ein ganz eigenes, in Liebe getauchtes Vaterbuch.

Vaterbücher, Bücher, mit denen man sich loszusagen versucht von gewalttätigen Vätern oder einnehmenden Müttern. Bücher, die in der Auseinandersetzung mit sich selbst Väter und Mütter spiegeln, nicht nur dann, wenn man selbst Mutter oder Vater wird, aber ganz bestimmt dann, wenn man im Spiegel die Züge seiner Eltern sieht, wenn man mit dem Sterben und dem Tod konfrontiert wird und mit Schrecken feststellt, das die Vertreibung aus dem Paradies allgegenwärtig ist.

Deniz Utlu schrieb mit seinem Roman „Vaters Meer“ ein sehr bewegendes Vaterbuch, einen mosaikartigen Erinnerungsteppich über ein Leben, dass sich mit den vielfältigsten Formen der Trennung und des Schmerzes auseinanderzusetzt, aber ohne je in Rührseligkeit zu verfallen. „Vaters Meer“ ist die Hommage an eine Liebe, das Erinnern an einen langen Abschied, das Nachspüren dessen, was geblieben ist.

«Eine Erinnerung ruft die nächste. Wo ich eine Wüste erwarte, stosse ich auf ein Meer.»

Deniz Utlu «Vaters Meer», Suhrkamp, 2023, 384 Seiten, CHF ca. 36.90, ISBN 978-3-518-43144-3

Schon in seinen ersten beiden Romanen, „Die Ungehaltenen“ (2014) und „Gegen Morgen“, waren Vatererinnerungen Thema. Aber in seinem aktuellen Roman wird die Vaterfigur, sein Schicksal, seine Krankheit, seine Sprachlosigkeit, sein Tod zu einem Tor ins eigene Leben. Deniz Utlu taucht in Vaters Meer, um die Inseln zu suchen, die ausmachen, was er war und ist.

Als Yanus (im Türkischen „Delfin“) dreizehn Jahre ist, erleidet sein Vater einen zweiten Schlaganfall, nachdem er sich eben erst schlecht und recht von einem ersten erholt hatte. Nachdem man ihn aus der Türkei zurück nach Deutschland geflogen hatte und die Ärzte nicht mehr von Heilung sprechen, nimmt ihn die Mutter des Erzählers nach Hause. Der Vater ist vollständig gelähmt und kann seiner Umgebung nur noch mit den Augen zeigen, dass in der erlahmten Hülle einer liegt, der am Leben teilhaben will. Vaters Blinzeln wird zur Augensprache. Auch wenn das Schicksal des Vaters ein Schweres war, Deniz Utlu spricht vom «Fallen», von einem Erdbeben, obwohl die Schlaganfälle des Vaters sowohl die Mutter wie den Sohn zurückbanden, sie mehr oder weniger isolierten, der Sohn eine Rolle einnehmen musste, die ungefragt über ihn hereinbrach, ist in dem Buch kein Funke Verbitterung oder Anklage zu lesen.

«Der erste Satz, den er mit den Augen sprach: Ödlum sandım. Mutter und Selma atmeten auf, sie hatten die Verbindung zu meinem Vater wiederhergestellt. Sein erster Satz lautete: Ich dachte, ich sei tot.»

In einem opulenten Teppich aus Erinnerungen und Reflexionen, Spiegelungen und Binnengeschichten erzählt Deniz Utlu die Geschichte eines Auswanderers, eines Heimatlosen, eines Mannes zwischen den Welten, von jemandem, der nach dem Glück in Deutschland suchte, aber stets arabisch fluchte. Von der elterlichen Liebesgeschichte, einer Kindheit zwischen den Kulturen. Von einer beinahe märchenhaften Kindheit seines Vaters in der Wüste Mesopotamiens, ein Blick, der jenem übers Meer ganz ähnlich erscheint. Von den Momenten unsäglicher Nähe, wenn sich der Vater zu ihm legte und Geschichten erzählte. Deniz Utlus Schreiben ist gleichsam Nachspüren wie die Suche nach sich selbst. Was trägt man an Geschichten mit sich? Was formt? Was zieht und was stösst?

Deniz Utlus Roman, der alles andere ist als eine chronologisch erzählte Vater- und Familiengeschichte, ist ein Meer aus Sprache und Verdichtung, aus Erinnerungen und Geschichten, aus Reflexionen darüber, was einem ausmacht. Ein grossartiges, herzerwärmendes Buch!

«Wenn ein Mensch stirbt, verschwindet das Wasser nicht.»

Deniz Utlu liest und diskutiert an der BuchBasel 2023!

Deniz Utlu, geboren 1983 in Hannover, studierte Volkswirtschaftslehre in Berlin und Paris. Von 2003 bis 2014 gab er das Kultur- und Gesellschaftsmagazin freitext heraus. Sein Debütroman «Die Ungehaltenen» erschien 2014 und wurde 2015 im Maxim Gorki Theater für die Bühne adaptiert. Von 2017 bis 2019 schrieb er für den Tagesspiegel die Kolumne «Einträge ins Logbuch». 2019 erschien sein zweiter Roman «Gegen Morgen». Ausserdem hat er Theaterstücke, Lyrik und Essays verfasst (u. a. für FAZ, SZ, Tagesspiegel und Der Freitag). Er forscht am Deutschen Institut für Menschenrechte und veranstaltet am Maxim Gorki Theater die Literaturreihe «Prosa der Verhältnisse». Für seine Arbeit wurde er vielfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Alfred-Döblin-Preis und dem Literaturpreis der Landeshauptstadt Hannover.

Webseite des Autors

Beitragsbild © Heike Steinweg

Alice Grünfelder „Jahrhundertsommer“, dtv

In ihrem Roman «Jahrhundertsommer» zeichnet Alice Grünfelder das Schicksal einer Familie in einer Kleinstadt im östlichen Baden-Württemberg nach. Magda, die Hauptfigur, wird in den Nachkriegs-Wirtschaftswunderjahren von ihrem ‘Alten’ verlassen.

Gastbeitrag
von Franco Supino 

Die nicht einmal 40jährige Magda lebt als Geschiedene mit ihren zwei erwachsenen Kindern stigmatisiert und mittellos am Rande der Gesellschaft, und es braucht Snezana, die Arbeitskollegin in der Fabrik, die sie ermuntert, doch mal auf ein Fest mitzukommen. Hier lernt Magda einen in der Umgebung stationierten US-Army-Soldat kennen. Wir erleben die unbeschwertesten Momente im Buch – eine tiefe, heimlich gelebte Liebe und einen Jahrhundertsommer.

Kurz darauf wird John nach Vietnam versetzt, Magda bleibt schwanger mit Ellen in Murrheim zurück. Ursula, die dritte Figur, aus deren Perspektive die Geschichte erzählt wird und Tochter von Magda, findet trotz ihrer ehrenlosen Mutter einen eitlen spiessigen Bürolisten, der später sogar Bürgermeister wird, der ihr ein Kleinbürgeridyll – dank vieler Entbehrungen der Familie – als Hausfrau in der Neubausiedlung ermöglicht. Der Spiesser, der immer Dankbarkeit von Ursula verlangte, lässt sie eines Tages wegen einer anderen sitzen. Auch hier: eine Scheidung müsste man sich leisten können, weshalb Ursula ein sozialer Abstieg bevorsteht. Ursula sucht zudem die nächste toxische Abhängigkeit eines Mannes, weil sie an ihrer Mutter sieht, was einer Frau ohne Mann blüht. Die vierte Perspektive bringt Viktor in den Roman ein, Ursulas Sohn, der im Gegensatz zu seinem Namen ein Looser ist. Trotz der Schläge des Vaters schafft er knapp eine Elektrikerlehre, aber schon als Jugendlicher ist er vor allem ein dem Bier zugeneigtes Grossmaul, das er in den 300 Seiten von Alice Grünfelders Roman hektoliterweise in sich schüttet. Ellen, hofft man eine Zeitlang, könnte sich dem Sumpf, in den sie geboren wurde, entziehen. Sie schafft es bis nach Paris – kämpft sich hoch, studiert, findet einen interessanten Mann, aber auch sie scheitert schuldlos und muss nach Murrheim zurückkehren. Viktor entpuppt sich überraschenderweise als Kitt der Familie, und sorgt für Magda, Ursula und Ellen zwar für keinen weiteren Jahrhundertsommer, aber immerhin für ein «Zwischenhoch» (dessen abruptes Ende der Leser und die Leserin allerdings ahnen).

Alice Grünfelder «Jahrhundertsommer», dtv, 2023, 320 Seiten, CHF ca. 29.90, ISBN 978-3-423-28345-8

Alice Grünfelder hat einen lebensklugen Epochenroman geschrieben. Angesiedelt in der miefigen schwäbischen Provinz der späten 60 Jahre bis in die Zeit nach den Attentaten von 9/11 zeigt er, dass die deutsche Gesellschaft sich zwar verändert hat, aber keineswegs zum Besseren. Wie Magda wird Ellen, eine alleinstehende Frau mit einem nicht weissen Kind, nach ihrer Rückkehr ausgegrenzt: sie findet weder Arbeit, noch Anschluss. Etwas Farbe und Aufbruchstimmung bringen die Protestierenden gegen die Stationierung der Pershing II Raketen («Unser Mut wird langen, nicht nur in Mutlangen» skandieren sie) – aber als die Amis 1990 abziehen, verbiedern auch die Friedensbewegten.

Im Zentrum stehen die prekären sozialen und ökonomischen Verhältnisse der Protagonistinnen – ja, in diesem Roman geht es dauernd um Geld und Status, dem die Figuren nachjagen –; wer kein Kapital hat, weder monetäres noch soziales – wissen wir seit Bourdieu -, kommt auf keinen grünen Zweig. Bezeichnend ist, dass die Figuren nicht einmal merken, wie tief unten sie sind – etwa als Magda eine Anstellung in einer Gärtnerei kriegt und nicht merkt, dass auch sie eine ‘Klientin’ des Sozialprojekts ist. Aber Magda lässt sich nicht kleinkriegen. Das sieht man am besten in der grandiosen letzten Szene des Romans, die hier nicht verraten sei!

Romane, die sich dem Leben der Menschen der Unterschicht annehmen und dieses glaubhaft darstellen können, sind in der deutschen Literatur der Gegenwart selten. Alice Grünfelder schafft dieses Kunststück. Und sie weiss, wie man das macht, welche Détails wichtig sind, welche Bögen geschlagen werden müssen und wie man für überraschende Wendungen sorgt: sie ist eine geborene Erzählerin!

Alice Grünfelder, 1964 im Schwarzwald geboren, aufgewachsen in Schwäbisch Gmünd, studierte nach einer Buchhändlerlehre Sinologie und Germanistik in Berlin und Chengdu (China), war 1997–99 Lektorin beim Unionsverlag in Zürich, für den sie 2004–2010 die Türkische Bibliothek betreute. Vermittelte und übersetzte von 2001-2010 Literaturen aus Asien. Seit 2010 unterrichtet sie Jugendliche, leitet Workshops rund ums Schreiben, Lektorieren und Übersetzen und ist als freie Lektorin tätig. Von Februar bis Juli 2020 war sie für ein Sabbatical in Taipei (Taiwan). Sie ist Herausgeberin mehrerer Asien-Publikationen, schreibt Essays, Erzählungen und Romane. Das Buch «Wolken über Taiwan» (2022) schaffte es auf die Hotlist der Unabhängigen Verlage.

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Illustration © leale.ch