Der heilige Mungo ist Schutzpatron einer Kathedrale in der schottischen Stadt Glasgow. Aber die Heiligen scheinen Glasgow vergessen zu haben. Im zweiten Roman des in Glasgow aufgewachsenen Autors Douglas Stuart stemmt sich der nicht einmal 16jährige Mungo gegen grassierende Gewalt, toxische Männlichkeit und selbstzerstörerische Ausweglosigkeit.
In den 1970er und 1980er Jahren wurden in der Arbeiterstadt Glasgow eine ganze Reihe Minen und Fabriken geschlossen. Eine ganze Stadt rutschte in Massenarbeitslosigkeit. Noch heute gilt Glasgow als eine jener Städte mit massiver Jugendkriminalität und überdurchschnittlich hohem Drogenkonsum. In Douglas Stuarts preisgekrönten Debüt „Shuggie Bain“ war dieses düstere Szenario schon einmal Kulisse für einen Roman, der zwischen Zartheit und Brutalität hin- und herpendelte.
Mungos Mutter ertrinkt in ihrer Alkoholsucht und schnappt nach den Resten eines Lebenstraums. Nichts ist geblieben nach einer frühen Ehe, drei Kindern, dem Tod des Mannes, bevor Mungo, der Jüngste, zur Welt gekommen war und der Aussichtslosigkeit, der Familie den erhofften Halt geben zu können. Hamish, der älteste, gibt den Ton in seiner Gang ein, vertickt Drogen und lechzt dauernd nach der nächsten Konfrontation mit den verfeindeten Gangs, den Katholiken, wilden Gewaltorgien, bei denen keine Regeln gelten und man bis zum Äussersten geht. Mungos Schwester Jodie versucht ihrem jüngeren Bruder das zu geben, was die meist abwesende Mutter längst vergessen hat, ein Nest, ein bisschen Wärme, in all der Grobheit etwas Zärtlichleit. Die Mutter nicht da und wenn doch im Suff, der Bruder in Sorge, dass aus Mungo kein richtiger Mann werden würde, denn alle um Mungo herum spüren, sehen und wissen, dass der grosse Junge mit dem tiefen Blick und den schmalen Händen anders ist als die meisten anderen.
Douglas Stuart «Young Mungo», Hanser Berlin, 2023, übersetzt aus dem Englischen von Sophie Zeitz, 416 Seiten, CHF ca. 37.90, ISBN 978-3-446-27582-9
Mungo lernt James kennen, einen Jungen aus der Nachbarschaft, Halbwaise wie er. Aber James ist Katholik, kaum ein Steinwurf von ihm weg und doch in einer anderen Welt. James eigentliches Zuhause ist ein Taubenschlag auf dem Dach seines Hauses, den er einst, nach dem Tod seiner Mutter, zusammen mit seinem Vater gebaut hatte. Zwischen Mungo und James wächst eine Schicksalsgemeinschaft. Zum einen, weil sie beide hoffen, dereinst diesen Ort verlassen zu können. Zum andern, weil sie spüren, dass zwischen ihnen etwas zu wachsen beginnt, eine Liebe, ein Begehren, dass dort nicht sein kann und darf.
Mungo hat in seiner Welt keinen Platz. Auf einem Ausflug, zu dem man ihn mehr zwingt als drängt, zusammen mit zwei zwielichtigen Gestalten, wird Mungo nicht bloss aufs Übelste missbraucht und in eine ausweglose Rolle gezwängt, sondern in Situationen manövriert, die ihn zu dem zwingen, was ihm eigentlich widerstrebt, woraus er sich halten will, nicht zuletzt darum, weil ihm sein Freund James unmissverständlich zu spüren gibt, dass es eine gemeinsame Zukunft nur dann gibt, wenn er aus dem scheinbar Vorgegebenen, Unausweichlichen aussteigt.
Am Schluss des Romans kehrt Mungo abgekämpft, blutverschmiert und verwundet in seine Strasse zurück in ein Leben ohne Hoffnung und Perspektive. „Young Mungo“ liest sich nicht leicht. Eine beinah dystopische Welt, die aber in den 80ern spielt, in einer Stadt, die den Menschen die Zukunft genommen hat, in einer Gesellschaft aus Gewalt und verbaler Gewalt, einer Welt, in der es keine Entscheidungen mehr gibt nur den von den Zwängen des Überlebens vorgezeichneten Pfad. Der Roman lebt von Gegensätzen, dort die Momente des Friedens zwischen Mungo und seiner Schwester Jodie oder die Zartheit in den zaghaften Zärtlichkeiten zwischen Mungo und seinem neuen Freund James. Dort die Entgleisungen der Mutter, die Gewalt in verkommenen Mietskasernen, die Schlachtzüge der verfeindeten Gangs, die Vorstellungen dessen, was Männer und Frauen sein müssen.
Was an Liebe und Zärtlichkeit in einem stinkenden Meer aus roher Gewalt und tiefem Hass schwimmt, reicht nicht aus, um sich zu befreien. „Young Mungo“ ist von shakespearescher Kraft und apokalyptischer Intensität.
Douglas Stuart, geboren und aufgewachsen in Glasgow, studierte am Royal College of Art in London. Nach seinem Abschluss zog er nach New York, wo er als Modedesigner arbeitete. Für seinen ersten Roman, Shuggie Bain, der in 40 Ländern erschien und zum Weltbestseller wurde, erhielt er den Booker Preis 2020. «Young Mungo» (2023) ist sein zweiter Roman.
Sophie Zeitz, 1972 geboren, lebt in Berlin. Sie übersetzt aus dem Englischen, u. a. Werke von Henry David Thoreau, Joseph Conrad, John Green und Marina Lewycka und ist dafür mehrfach ausgezeichnet worden.
„Fast wie ein Bruder“, der neue Roman von Alain Claude Sulzer, ist nicht nur ein Buch über Freundschaft und die Scham einer Schuld. Dieser Roman wirbelt auf, was die Gesellschaft seit Jahrzehnten zu verbergen versucht: Die Angst der Heimsuchung. Die Angst, dass uns dereinst etwas offenbart, die Augen dort verschlossen zu haben, wo man hätte hinschauen und etwas tun sollen.
Er liest in der Zeitung von einer Ausstellung in einer Berliner Galerie, von den Bildern eines unbekannten Künstlers. Und weil er eine der abgebildeten Skizzen in jener Zeitung als jene seines schon lange verstorbenen Freundes Frank erkennt und alle abgebildeten Gemälde mit der Initiale F signiert sind, weil die Bilder die unverwechselbare Sprache seines alten Freundes sprechen, reist er nach Berlin und besucht jene Galerie. Dort sieht er sich selbst, sieht in sein junges Gesicht, die Nacktheit seines Körpers und die unmissverständlich aufgeladene Gestik eines Alleine-Gelassenen. Eigentlich müssten sämtliche Bilder verschwunden sein, denn sein Freund, der zu Lebzeiten fast nichts verkaufen konnte und in der Masse all der unbekannten Talente versank, orderte seinen Nachlass kurz vor seinem Tod zu ihm von New York nach Frankreich, wo er die Bilder ungesehen und verpackt im Schuppen neben seinem Wohnhaus einlagerte mit der jahrelang verschobenen Absicht, sich irgendwann den Bildern, der Hinterlassenschaft seines Freundes anzunehmen. Bis die Bilder aus seinem Schuppen verschwanden. Bis das lautlose Verschwinden aller Bilder alte Wunden aufriss, eine schlummernde Schuld, ein schlechtes Gewissen, die Scham über das mehrfache Sterben seines Freundes. Bis ein Artikel voller Begeisterung und Verwunderung auf einen bisher unbekannten Künstler aufmerksam macht, einen grossen Unbekannten, ein Genie.
Alain Claude Sulzer «Fast wie ein Bruder», Galiani, 2024, 192 Seiten, CHF ca. 35.90, ISBN 978-3-86971-294-9
Frank und er wuchsen wie Brüder im Ruhrgebiet der Siebzigerjahre auf, Wohnung an Wohnung. Nicht nur sie waren befreundet, auch ihre Eltern. Ein Leben ganz nah, Tür an Tür. Eine Art paradiesischer Urzustand, aus dem sie der fast gleichzeitige Tod ihrer Mütter vertrieb. Beide Frauen raffte Krebs aus den Leben und hinterliess alleinerziehende Väter, die sich nicht mehr zurechtfanden. Die Leben der beiden Familien trennten sich. Aus dem Gleichschritt wurden zufällige Treffen und als Frank mit seinem unauslöschlichen Wunsch und Drang, dereinst ein grosser Künstler zu werden, nach New York zog, verloren sich die beiden Leben, dünnte aus, was einmal unzertrennlich schien.
Erst als Frank sich Anfang der Neunzigerjahre aus einem Schöneberger Krankenhaus meldet und verrät, dass er unheilbar krank auf das Erscheinen seines ehemaligen Freundes wartet, bricht auf, was über Jahre schlummerte. Frank hat zu einer Zeit Aids, als es noch kaum Medikamente gab und die Diagnose einem Todesurteil gleichkam. Als man an Aids Erkrankten den Körperkontakt verweigerte, nicht einmal mehr die Hand geben wollte. Als man von Seuche sprach und nicht einmal hinter vorgehaltener Hand von der gerechten Strafe Gottes sprach, angesichts der vielen Opfer unter den Schwulen. Er reist nach New York und sie treffen sich ein letztes Mal, weil jene Freundschaft, aus der sie wuchsen, die sie als Kinder wie Brüder verband, etwas blieb, was trotz der so gegensätzlichen Biographien stets geblieben war, wenn auch begraben, verdrängt, fast vergessen.
Plötzlich sind die Bilder wieder da. Die Bilder eines Mannes, der einst wie sein Spiegelbild war, der sich ganz in seine Leidenschaften stürzte, sei es seine Malerei, sein Leben selbst, in seiner Kompromisslosigkeit. Auch die Bilder jenes einen Moments, der nicht nur die beiden Freunde auseinandertrieb, sondern die beiden Familien, eine Freundschaft, die für eine Ewigkeit hätte reichen sollen. Als Frank aus seinem Leben verschwand, man ihn gebrandmarkt hatte, für immer aus dem Paradies vertrieben.
„Fast wie ein Bruder“ ist auch ein Roman über Wahrnehmung. Wie sehr sich unterscheiden kann, was wir als real empfinden. Darüber, dass wir unter dem Zwang stehen, uns ein Bild von allem zu machen, ob als Künstlerin oder Künstler, ob als irgendwer. Wir sehen und interpretieren, senden Signale. „Fast wie ein Bruder“ ist ein Erklärungsversuch, warum man die Dinge nicht zu lesen verstand.
Und Alain Claude Sulzer erzählt mit der Stilsicherheit eines Meisters! Ein ungemein starkes Buch!
Interview
Zwei Freunde, die in ihrer Kindheit wie Brüder aufwachsen, durch einen Donnerschlag voneinander getrennt werden und sich doch nie ganz verlieren. Vielleicht bewegt dein Roman auch deswegen, weil wir diese Geschichte alle selber kennen; Freundschaften, die einst elementar waren, die unzertrennlich schienen, sich in den Wirbeln der Zeit verlieren und einen Zustand der immerwährenden Scham hinterlassen. So wie ich selbst einst einen Mann im Bus traf, den ich als Freund aus Kindertagen erkannte, aufgeschwemmt und laut mit sich selbst redend. Ich sprach ihn nicht an, aus Feigheit und der Furcht vor Konsequenzen. Wie ungern beschäftigen wir uns mit der Feigheit! Ist die Frage nicht eher: Wie ungern beschäftigen wir uns mit dem, was vergangen ist, mit dem, was mal einen Wert darstellte, der heute einfach verloren ist. Von Feigheit würde ich nicht unbedingt sprechen, wenn man sich voneinander entfernt hat. Kinder- und Jugendfreundschaften halten selten, wir haben ja manchmal genug an unseren eigenen Familien zu nagen, das ist für viele Vergangenheit genug. Da stellt sich eher die Frage, wie feige man ist, sich ihr zu stellen. Oder wie «zurückhaltend» oder meinetwegen «ängstlich» man ist, es zu tun. Uns trennen oft Welten von «damals». Sie hinter sich gelassen zu haben, ist nicht feige, sondern doch eher befreiend.
Frank erkennt bei einem Ausstellungsbesuch, dass die Malerei seine Stimme sein muss. Von dem Moment ist klar, er muss Maler werden. Alles, fast alles in seinem Leben, richtet sich danach aus. Erst sein Zeichnen, später sein Malen, seine Kunst, seine Form des Ausdrucks wird zur Manie. Ein Drang, bei dem das New York der Achtzigerjahre der einzig mögliche Ort des Gedeihens sein kann. Du beschreibst sehr eindrücklich, wie nah einem diese Manie an den Abgrund führen kann, ein Abgrund, dem du als Schriftsteller bestimmt immer wieder begegnest. Wie schafft man es, sich nicht zu verlieren? Ich frage mich eher, wie man es schafft, sich als Autor zu verlieren und trotzdem arbeiten zu können. Wenn ich regelmässig am Abgrund gestanden hätte, gäbe es mich als Autor wohl längst nicht mehr. Ich lebe wie wohl die meisten anderen Autoren auch, ein eher «durchschnittliches» Leben, in dem die Arbeit zwar vielleicht der wichtigste Aspekt ist, aber keiner, der mich verschlingt. Das ist mir ohnehin eine zu romantische Vorstellung des Künstlers. Natürlich gab und gibt es, insbesondere bei den Bildenden Künstlern, immer wieder welche, die von ihren Manien fortgerissen wurden, aber zu ihnen zähle ich mich sicher nicht. Ich nehme mir – wenn ich denn danach suchen müsste – eher ein Beispiel an Nabokov, dessen grösster Wunsch es stets gewesen war, in vornehmen Hotels zu wohnen, um dort über Menschen zu schreiben, die – getrieben ihren fixen Ideen – von billigem Motel zu Motel hinterherhechelten.
Frank malt, der Erzähler in deinen Roman macht Filme. Du schreibst, du schreibst auch immer wieder über Musiker. Ob Maler, Schriftsteller, Dichter oder Musiker – sie alle erzeugen Bilder, Bilder, die keine Wahrheiten abbilden wollen. Und trotzdem wird die Kunst immer und immer wieder am Grad ihres realen Spiegelbilds gemessen. Ein ewiger Kampf. Und gerade der Film wirbt dann auch noch gerne mit dem Untertitel „Nach einer wahren Begebenheit“. Höhlen diese permanenten Erklärungsversuche, das Erschaffene am Realen messen zu müssen, nicht irgendwann aus? Nicht, wenn sie für den Autor gar nicht entscheidend sind. Auch er erzeugt Wahrheiten, egal worauf sie basieren; seine Fantasie und deren Produkte sind ja genauso real wie das Kind, das über die Strasse geht und von einem Auto überfahren wird. Jetzt genau wird es in der Fantasie des Lesers überfahren, also real. Dieser Satz ist also wahr, solange ihn jemand liest, zumindest kurzfristig. Es ist völlig egal, ob sein Inhalt auf einer wahren Begebenheit beruht oder nicht, ob der Erzähler uns eine Lüge auftischt oder nicht. Das Kind wird überfahren, weil es nicht aufpasst. Gerade noch einmal – diesmal mit einem erklärenden Nebensatz. Es ist am Leser zu entscheiden, für wie wahr er diese Geschichte hält, und am Autor liegt es, sie glaubhaft erscheinen zu lassen. Die Frage nach der «wahren Begebenheit» oder dem Faktencheck ist also nicht die Frage, die die Literatur sich stellen muss.
Frank schafft es nie, sich als Maler einen Namen zu machen. Das Meer all jener, die es in der Welt der Kunst trotz Leidenschaft und Akribie nie zu lebensnotwendiger Aufmerksamkeit schaffen, ist riesig. Posthum scheinen es seine Bilder für einen kurzen Moment zu schaffen, um dann wie in einem Traum wieder von der Bildfläche zu verschwinden. Eine Form der natürlichen Verschwendung? Würde Frank nicht früh sterben, hätte er sich vermutlich den Namen gemacht, den er verdiente. Seine Geschichte als Maler ist eine Geschichte reduzierter Möglichkeiten. Er hat zu wenig Zeit, und die Zeit, in der er lebt, ist wohl auch nicht die Zeit, in der es jene Menschen gibt, die er auf sich aufmerksam machen kann. Natürlich Verschwendung? Vielleicht.
Franks Bilder sind laut. Sie schreien. Sie provozieren. Dass Provokation ein Teil der Kunst ist, scheinen die wenigsten zu verstehen. Lieber wäre vielen Kunst bloss als nette Verzierung, hübscher Schmuck. Was war das Urmotiv, als Du Dich ans Schreiben dieses Romans machtest, steckt doch in deinem Roman ganz offensichtlich auch Provokation? Ich sehe die Provokation nicht, lasse mich aber gern eines Besseren belehren. Das Urmotiv ist wohl die Geschichte meines Vaters, der während seines Lebens immer wieder Phasen hatte, in denen er malte – und keineswegs als Dilettant. Er malte, hat aber nie ausgestellt. Seine Bilder existierten also nicht und hatten keinen Marktwert. Nach seinem Tod haben wir Brüder einen letzten Effort unternommen und einen jungen Galeristen gefunden, der für diese Bilder regelrecht entbrannte und eine Ausstellung organisierte, die sehr erfolgreich war. Plötzlich waren die Bilder, die vorher kaum jemand kannte, da. Sie wurden gesehen, es wurde darüber geschrieben, sie wurden verkauft. Eine späte Genugtuung, ähnlich jener, die Frank in meinem Roman «erfährt», auch er erst nach seinem Tod.
Noch vor wenigen Jahren erklärte man Aids zur Volksseuche. Eine Tatsache, die viel mehr Opfer forderte als die Krankheit selbst. Heute ist Aids aus dem Bewusstsein der Öffentlichkeit verschwunden. Es gibt Medikamente. Du beschreibst die ganz persönliche Scham deines Erzählers. Geht es aber nicht viel mehr darum, dass man sich nie mit den tatsächlichen Folgen von Aids auseinandersetzte? Die Betroffenen setzen sich auf die eine oder andere Weise bis heute damit auseinander. Dass die Nichtbetroffenen das nicht tun, ist nachvollziehbar. Alles in allem hat man die «Seuche», die keine «Volksseuche» war, sondern zunächst vor allem ganz bestimmte Menschen – eigentlich nur Männer – betraf, gut gemeistert. Das lag an besonnenen Politikern – es gab auch andere – und Medizinern, die sich nicht hysterisieren und manipulieren liessen.
Alain Claude Sulzer, 1953 geboren, lebt als freier Schriftsteller in Basel, Berlin und im Elsass. Er hat zahlreiche Romane veröffentlicht, u.a. «Ein perfekter Kellner», «Zur falschen Zeit», «Aus den Fugen» und zuletzt «Doppelleben«. Seine Bücher sind in alle wichtigen Sprachen übersetzt. Für sein Werk erhielt er u.a. den Prix Médicis étranger, den Hermann-Hesse-Preis und den Kulturpreis der Stadt Basel.
D Chilchenuhr hett churz vor achti und im Chinderzimmer chäibet myni Chlyyni no immer uf em Chinderbett umme wie en chäärige Chirsichlöpfer. E Chilbi isch das, säg ich euch. Chääferig wie si isch, chrääsmelet si us eigener Chraft uf en umgcheerte Chratte näb em chriesböimig Chaschte, chniempet sich cherzegraad aane und chalbernäärscht denn wie nes chaabisdrööligs Chäigeli über s chloobige Kchaanapee derap ufe Chacheliboode, zmitz is Chlötzli-Chrausimausi, dezwüüsche Chrükcherli und verdrukcheti Chröömli, alles chrüzwyys. Wie das chäibed, chläppered und choldered, chasch chuum glaube. Es Chrippischrappis het si gmacht bim ummechalbere und ummechuugele, das Chrüüschelihäxli.
„Mach kchäi Chabis, Chnüschperli“, hani chooblig gchäibed und ha ufe Liechtschalter drükched und s Chämmerli isch dutzwytt chäibemeesig choolbrandschwarz worde.
Do isch dä chlyy Chnopf z Chopfede ufs Chopfchüssi gchläädered wie ufe Chanzle, het sich haupthööchlig und z chnüünlige aaneghökchled und het mit syyne Chueöigli so gross wie Choolchöpf gkchlimpered und gchüüscheled:
„Chunnsch mi cho chrüüfzere, Mami?“
Ui, was cha das Chutschi chüenzle und chüüderle noch allne Noote.
„Du chrampfchruttige Chnüüderi“, hani drum gchittered und däm Chnööpflibyyger s chruushöörige Chöpfli gchrääbeled. „Es isch doch scho chyttig. Und was zum chöödrige Chrottestächer isch denn ‚chrüüfzere‘ für es chäibs Chäppelerzügs? Isch das Chuuderwältsch?“
„Chrüüfzere isch e chäibe chöischtligi Sach“, isch es choo wie us dr Chäpselibischtoole und debyy isch mir das Chützli ufd Schänkchel gchläädered und het sich zhächligedikch an mich aanegchnuuschded wie ne Chlette. „Chasch mi drum bissoguet so lang chrüüfzere wies bruucht, um mit eme Chüechliseechter e Chrueg Chrälleliwasser zchluuribelze?“
„Äch chumm, du chlyyne Chluuri“, hani gchlööned, „chasch nid äifach chly chrööse. Und was isch denn das Chogechäibs, das Chrüüfzere?“
S Chindle het chatzefrüntlig syn Chambe uf mini Chittelfäkchte gchiered. Do hani in deere chäibe chaltlächtige Chäldnacht aagfange, sys Chruuseltschüppli z chnöötsche und z chüüderle. Jo, die ganzi chrooschpelig Chüürpse vo däm chlyyne Chlaus hani gchrööieled und gchräsmeled.
„Isch das chrüüfzere“, hani gchüüscheled und ha mit myne Chlööpe die chöischtlige Chaabisblätter gchrüüseled, gchriibeled und gchramsled.
„Chasch dänkche“, het dä chyydigi Chnoorzchopf gkchichered.
„In däm Fall isch das chrüüfzere“, hani gchischpered und ha s chnuschprig Chyyni gchnätted und gchrüüscheled und mit myne chnöpfige Chlöpfer, fascht scho Chnölpifinger syys, e chlyy uf em Chiifer ummekchlympered.
„Chaabis, Mami, het dä chatzenöigligi Chaschper gchäischbered. Hesch Chuuder in de Oore? Chrüüfzere söllsch mi, chumm.“
„Chas ächt syy, dass das chrüüfzere isch“, hani fangs chäibedäig gchyyschtered und ha die chäche Chnüü vo däm chummlige Chnülli gchlütterled, gchnutted und gchnöötscht und die verchruschtete Chlekch hani gstryychled.
Jo s ganze chöischtlige, gschmökchige und choge choschtbaare Chind hani phäkched und gchnuddled und churzschpitz chreftig an mi aaanegcheesed und ha gchlischpled:
„Oder ächt das? Isch das churzamänd das chrüüfzere, Chindgottes?“ Chöit dir euch voorstelle, was mir dä chlyy Chrott churz vor Mitternacht ändlich chogechäibelyys zur Antwoort gchuuched het?
Chhh.
Chhh.
Chhh.
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Rebekka Salm besuch den Lesekreis Literaturhaus St. Gallen mit ihren Romanen im Gepäck. Wer Interesse an diesem Lesekreis hat, kann sich hier (Literaturhaus St. Gallen) oder hier (Veranstaltungen literaturblatt.ch) informieren und anmelden.
Rebekka Salm, geboren 1979 in Liestal und wohnhaft in Olten, studierte Islamwissenschaften und Geschichte in Basel und Bern, arbeitet als Texterin, Moderatorin und Erwachsenenbildnerin. Mit ihrem bemerkenswerten Debütroman «Die Dinge beim Namen» (2022) schaffte sie es in die Bestsellerlisten und wurde bereits zu über hundert Lesungen eingeladen. Rebekka Salm wurde mit diversen Preisen ausgezeichnet: Förderpreise der Kantone Solothurn und Basellandschaft, Dreitannen-Förderpreis der Hans und Beatrice Maurer-Billeter-Stiftung.
Überall gibt es sie – Lesekreise. Aber dieser eine in St. Gallen soll sich von allen anderen unterscheiden. Ein Begegnung mit Autorinnen und Autoren auf Tuchfühlung, im vergangenen Halbjahr mit Karl Rühmann und Mireille Zindel, im kommenden mit Rebekka Salm und Jens Steiner.
Der Lesekreis! Mindestens 2 Bücher, 5 Abende, maximal 12 Teilnehmerinnen oder Teilnehmer, jeweils von 19 bis 21 Uhr in St. Gallen, bei Wein und Knabberzeug und mit der einmaligen Gelegenheit, die ausgewählten Schriftstellerin und Schriftsteller persönlich kennenzulernen.
«Dienstagabend, sieben Uhr. Wir treffen uns im Bürgerratssaal des Stadthauses zur Abschlussdiskussion meines neuen Romans «Fest». Das heisst, Gallus holt mich am Bahnhof ab und spaziert mit mir durch die Innenstadt dorthin. Und so geht der Abend weiter: wärmend, nährend. Zwölf Teilnehmende des Lesezirkels, die sich in insgesamt drei Sitzungen eingehend mit «Fest» befasst haben, stossen in der Abschlussrunde auf mich. Ich erfahre, wie die Lektüre auf sie gewirkt hat, beantworte ihre Fragen und höre Dinge, die mich riesig freuen. Zum Beispiel, dass Ueli drei Monate lang kein anderes Buch lesen konnte, weil «Fest» ihn so sehr anging. Oder Dieter, der nach zwei Stunden ein Zitat aus dem Roman vorliest und das Gespräch so zu einem perfekten Abschluss bringt. Die direkte Begegnung mit Lesenden und das Gespräch mit ihnen ist äusserst wertvoll, nochmals ganz anders als bei Lesungen, intensiver, weil näher. Und es ist schön zu beobachten, wie sie das Buch – so scheint es – beinahe besser kennen als ich.» Mireille Zindel
Dieser Lesekreis ist ein ganz besonderer! Nicht nur dass wir uns im Gespräch ganz intensiv an mehreren Abenden mit den Romanen zweier Schweizer Schriftsteller der Gegenwart beschäftigen. An zwei der fünf Abenden besuchen uns die jeweiligen Autoren der gelesenen Bücher und ermöglichen so einen ganz speziellen Einblick in das Werk dieser Künstler. Diese Begegnungen bei einem Glas Wein eröffnen Gespräche weit über die Bücher hinaus!
Zwischen September 2024 und Januar 2025 werden dies an fünf weiteren Abenden Jens Steiner («Die Ränder der Welt«, Hoffmann & Campe) und Rebekka Salm («Wie der Hase läuft«, Knapp) sein.
»Jens Steiner erzählt von einer lebenslangen Odyssee durch die Wirren der Zeit, auf der Suche nach einem Zuhause, nach Freundschaft und Liebe.« Gallus Frei, literaturblatt
«RebekkaSalm hat ein absolut tolles Gefühl für Dramaturgie, Aufbau, Erzählökonomie. Sie schreibt gute Dialoge und hält wunderbar die Spannungsfäden zusammen bis zum Ende.»Elke Heidenreich
Ausnahmezustände. Paris mit seinen Banlieues und Ferymont, ein Fleck Erde im Schweizer Seeland, Orte an denen Gegensätze zusammenprallen, sich so lange aneinander reiben, bis die Hitze in Flammen aufzugehen droht. Wie jedes Jahr lädt das Internationale Literaturfestival Leukerbad zur Literarischen Wanderung ein, stets mit zwei Autorinnen oder Autoren. Heuer mit der vielfach preisgekrönten Anne Weber und der jungen Debütantin Lorena Simmel.
Das Wallis, auch ein Ort der Gegensätze; dort das touristische Gesicht eines Kantons, der mit schwarzen Kampfkühen, dem Matterhorn und Weinbergen wirbt, auf der anderes Seite riesige Industriekomplexe und ewige Baustellen, die sich über Jahrzehnte ins Rhonetal hineinfressen. Aber wer nicht nur in die Literatur eintauchen will, wer während dieser Büchertage auch etwas von der Landschaft, den Traditionen, der Geschichte mitnehmen will, ist am eigentlichen Eröffnungstag des Literaturfestivals mit der Literarischen Wanderung, geführt durch einen Guide des Naturparks Pfyn-Finges, bestens bedient, auch wenn sich die Sonne zurückhaltend zeigt.
Die Schriftstellerinnen Lorena Simmel und Anne Weber beschreiben in ihren Romanen verwundete Landschaften. Verwundungen, die bis in die Seelen der Menschen wirken, ob in einem fiktiven Ort im Berner Seeland, zwischen Bieler-, Murten- und Neuenburgersee oder den Banlieues rund um die Megacity Paris. Ob in den Plastiktunnels der Gemüse- und Beerenproduzenten, in denen Hundertschaften vom dortigen Leben gekappt unter menschenfeindlichen Bedingungen für einen Hungerlohn die Supermärkte der Schweiz bedienen oder in den von Touristen geschmähten Banlieues, wo die im Sommer beginnende Olympiade tiefgreifende Veränderungen in eine Subkultur der Metropole hineinbaut, die das Gefüge in diesen heissen Zonen nicht abkühlen wird, da das Geld meist bloss dorthin fliesst, wo das öffentliche Interesse mit Aufmerksamkeit hingiert.
Lorena Simmel liest aus «Ferymont», Verbrecher Verlag
In Lorena Simmels Roman «Ferymont» weiss die Wahlberlinerin sehr gut, wovon sie erzählt, denn ihr fiktiver Ort Ferymont liegt dort, wo sie aufwuchs. Die Erzählerin in ihrem Debüt freundet sich in den Monaten, in denen sie dort Geld verdienen will und bei einer Tante einquartiert ist, mit Daria an. Daria, eine moldawische Saisonarbeiterin, die mit ihrer ganzen Familie weit weg von ihrem eigentlichen Zuhause ihr Stück Sicherheit gewinnen will. Die Erzählerin, als Seeländerin aufgewachsen, wusste schon als Kind von den fleissigen Händen in den langen Plastikröhren und Feldern in ihrer Heimat. Aber erst durch die eigene Arbeit, im Wechsel von einem Aussen in ein Innen, um als junge Frau Geld für Ausbildung und Leben in Berlin zu verdienen, lernte Lorena Simmel, was es heisst, Teil der «Erntebrigaden» in den künstlich aufgeheizten Subkulturen einer hochgerüsteten Landwirtschaft zu sein. Daria hilft der jungen Frau, manchmal gar zum eigenen Nachteil. Je tiefer die Erzählerin in die begrenzten Lebenswelten der Arbeiterinnen und Arbeiter auf den Feldern sieht, desto grösser wird ihr Befremden darüber, was die Gegensätzlichkeit dieser verschiedenen Welten mit ihr macht. «Ferymont» ist ein starkes Stück engagierter Literatur, das sich mit seiner Gesellschaftskritik nicht zurückhält!
Anne Weber mit «Bannmeilen», Matthes & Seitz
Genauso «Bannmeilen» von Anne Weber! In ihrem «Roman in Streifzügen» macht sich die Erzählerin auf in jenen Teil ihrer Heimatstadt, der bisher ihrer literarischen Aufmerksamkeit entging. Mit einem befreundeten Filmemacher, der auf Recherchegängen für ein Filmprojekt, das sich mit den Auswirkungen der Sommerolympiade auf das filigrane Ungleichgewicht in den Banlieues der französischen Hauptstadt auseinandersetzt, macht sich die Erzählerin auf in eine Welt, die ihr selbst nach 40 Jahren Paris verborgen blieb. Zu zweit besuchen sie die Unorte einer Stadt, die im Bewusstsein der Allgemeinheit als Stadt der Liebe gilt. «Bannmeilen» ist ein Versuch zu verstehen, ein fast reumütiger Versuch, den Menschen dort Aufmerksamkeit zu schenken, die sie/man bisher mit Ignoranz auszublenden verstand. Ein Buch über jene Orte, die sich mehr und mehr den Zugriffen eines Rechtsstaats entziehen, in denen die Gewalt alles frisst und sich Generationen der Hoffnungslosigkeit ergeben. „Bannmeilen“ ist ein Mahnmal, ein mutiges Buch, das einem beschämt zurücklässt.
Aus 14 Nationen reisen Mitwirkende ins Oberwallis und bringen Geschichten und Gedichte in den verregneten Leukerbadner Bergsommer. An drei Tagen wird sich zum 28. Mal alles um die Literatur drehen, auf den Terrassen und Wiesen von Leukerbad, beim Dalaschluchtspaziergang, im «James-Baldwin-Zelt» und natürlich um Mitternacht auf dem Berg. Insgesamt warten zwischen 50 und 60 Veranstaltungen auf das Publikum, bei denen auch 12 aus der Schweiz auftreten werden.
Als ich vor mehr als zehn Jahren den ersten in Deutsch erschienen Roman von Douna Loup las, hatte ich das Gefühl, eine Perle gefunden zu haben, etwas Besonderem begegnet zu sein. „Verwildern“ ist die konsequente Fortführung einer ganz eigenwilligen Stimme, die sowohl in der Form wie in ihrer Tonalität Resonanzen erzeugt, die weit über das Übliche hinausgehen!
„Die Schwesterfrau“, Douna Loups deutschsprachiges Debüt, wurde mit mehreren Preisen ausgezeichnet, u.a. dem Förderpreis der Schweizerischen Schillerstiftung, dem Prix Michel Dentan und dem Prix Senghor du premier roman francophone. Dass es 12 Jahre dauerte, bis Douna Loup mit einem zweiten Buch auf dem deutschsprachigen Markt erscheint, mag verschiedene Gründe haben. An Gelegenheiten zu Übersetzungen hätte es nicht gefehlt. Mit Sicherheit belohnt „Verwildern“ aber die Neuentdeckung. Zu hoffen ist, dass „Verwildern“ weit über die Schweiz hinaus wahrgenommen wird. Buch und Autorin hätten es mehr als verdient.
„Verwildern“ erzählt die Geschichte einer jungen Frau, die als Mädchen zusammen mit ihrer Mutter weit draussen aufwuchs, eingebettet in die Natur, als Teil ihrer selbst. Keine paradiesische Kindheit, aber eine Kindheit in absoluter Unmittelbarkeit, wörtlich hautnah mit der Natur verbunden. Umso grösser ist der Schrecken, als das Mädchen erfährt, dass sie nicht nur einen Vater hätte, sondern auch noch einen drei Jahre ältern Bruder. Aber weil es nach ihrer Geburt zum Bruch zwischen Mutter und Vater kam und dieser die junge Mutter mit der Tochter alleine zurückliess, wird das Wissen um einen bisher nicht existierenden Bruder zu einer ultimativen Kraft, mit der das Mädchen die Mutter zwingt, sich gemeinsam mit ihr auf die Suche zu machen. Auf die Suche nach einer Nadel im Heuhaufen.
Douna Loup «Verwildern», Limmat, 2024, übersetzt von Steven Wyss, 152 Seiten, CHF ca. 30.–, ISBN 978-3-03926-070-6
Mutter und Tochter machen sich mit fast nichts auf den Weg, auf einen langen Weg, lernen sich ganz neu kennen, nicht nur sich, auch die Welt, der sie sich bisher verweigerten. Es ist ein jahrelanger Weg. Ein Weg, der die beiden auch in Städte führt, die für das Mädchen so fremd sind, wie unbekannte Planeten. Die Mutter hält sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser, das Mädchen lernt alles, was es wissen muss von Ihrer Mutter und sich selbst. Bis sie mit einer Fähre auf eine kleine Insel kommen. Das Mädchen ist über die Jahre eine junge Frau geworden. So wie sie das Gefühl hat, in ihrem Körper langsam angekommen zu sein, so sehr will sie vorerst bleiben auf dieser Insel, die ihr alles zu geben scheint, wonach sie sich sehnt. Die Sehnsucht nach ihrem Bruder ist so sehr zu einem immerwährenden Gefühl geworden, dass seine Erfüllung mehr und mehr in den Hintergrund trat. Die Mutter geht weiter, die junge Frau bleibt. Die junge Frau findet die Liebe, endlich ein Gegenüber, das einen grossen Teil des Suchens stillt.
Aber irgendwann treffen Briefe der Mutter auf der Insel ein. Briefe, die der Tochter zeigen, wie sehr ihre Mutter zu kämpfen hatte, dass die Suche für sie nie zu Ende war. Dass sie den Bruder gefunden hat und die Tochter bittet, sich auf den Weg zu ihr zu machen.
Die Geschichte dieses Buches ist das eine. Was mich aber viel, viel mehr faszinierte, ist die Sprache dieser Autorin, die Melodie ihrer Sätze. Wie sehr der Inhalt mit ihren Gefühlen, ihrem Empfingen, ihrer Wahrnehmung korrespondiert. Leser*innen lieben Bücher wie „Der Gesang der Flusskrebse“ von Delia Owens, den meistverkaufte Belletristiktitel des vergangenen Jahres. Ein durchaus gutes Buch einer jungen Frau, die man wegen eines Mordfalls in ihrer Nähe aus ihrem Leben in der wilden Natur reissen will. Eine Geschichte, bei der die Natur nur Kulisse bleibt, die Naturverbundenheit der Protagonistin bloss ein Mosaik. In „Verwildern“ macht Douna Loup die Natur und die junge Frau zu einem Paar. Sie erzählt von dieser Verbundenheit, einer Liebe ohne Enttäuschungen. In ihrem Roman ist die Natur keine Kulisse. Sie setzt die Geschichte nicht in die Natur. Sie erzählt aus der Natur. Ihre Sprache ist von einer derartigen Intensität und Nähe zur Natur, das man riecht und schmeckt. Man hört die Stille und spürt die Kiesel unter den blossen Füssen.
„Verwildern“ ist ein literarisches Manifest ohne Bitterkeit, ohne Enttäuschung, ohne Belehrung. Dafür ein ganz zartes Kunstwerk, dass von Liebe und Respekt durchtränkt ist. Wie schön!
Douna Loup wurde 1982 in Genf geboren, ihre Eltern waren Marionettenspieler. Sie verbrachte ihre Kindheit und Jugend in Frankreich, arbeitete in Madagascar und lebt heute in Nantes. Ihr erster Roman, «L’Embrasure» (2010) («Die Schwesterfrau (Lenos 2012)) wurde mit dem Förderpreis der Schweizerischen Schillerstiftung und dem Prix Michel-Dentan ausgezeichnet. Ihre Texte erscheinen in der Mércure de France und im Verlag Editions Zoé in Genf.
Steven Wyss, geboren 1992 in Thun, studierte Angewandte Sprachen und Übersetzen in Winterthur und Genf sowie Contemporary Arts Practice an der HKB in Bern. Neben seiner Tätigkeit als freier Übersetzer arbeitet er im Übersetzerhaus Looren. Er lebt in Zürich. 2023 erhielt er den Kulturförderpreis der Stadt Thun sowie eine literarische Auszeichnung der Stadt Zürich für seine Übersetzung von C.F. Ramuz’ «Sturz in die Sonne».
Dass bei Jens Steiners neuestem Roman ein Zitat von Julio Cortázar voransteht, scheint Vorsatz und Programm. Nicht nur dass die Literatur selbst, die Kunst in diesem Werk eine Rolle spielt. Jens Steiners Roman bricht aus einer helvetischen Erzähltradition aus, nicht nur wegen seiner Schauplätze, auch im Gestus des Erzählens. Dieser Roman ist in vielerlei Hinsicht phantastisch.
Ein Roman eines Suchenden, über Freundschaft und Liebe, ein Familienroman, ein Abenteuerroman, ein Künstlerroman. Ein Roman der vom ganz Kleinen ins Grosse auf- und ausbricht, aus dem Mief der Kleinbürgerlichkeit ins Provisorische, Abenteuerliche, hinaus an die Ränder der Welt. Jens Steiner begibt sich auch sprachlich auf eine Abenteuerreise, eine Reise, die ich als Leser beeindruckt und ergriffen verfolge.
Kristian Aavik, noch während des letzten Weltkriegs geboren, ist der einzige Sohn estnischer Flüchtlinge, die im baslerischen Kleinhünigen nach einer schmerzhaften Flucht ein neues Leben zu beginnen versuchen. Sein Vater als Übersetzer, die Mutter in der Hoffnung, dereinst von ihren selbstentworfenen Schnittmustern für Kleider leben zu können. Lebensträume, die sich nie verwirklichen, ein Leben, dass sich mehr und mehr in sich selbst zurückzieht, auch das des noch jungen Kristian, der am liebsten in seiner Abgeschlossenheit liest. Estnische Wurzeln, die ein Leben lang nach Bedeutung pochen, erst recht darum, weil ihr Herkunftsland hinter dem eisernen Vorhang abgeriegelt ist.
Jens Steiner «Die Ränder der Welt», Hoffmann und Campe, 2024, 304 Seiten, CHF ca. 34.00, ISBN 978-3-455-01710-6
Kristian ist aber nicht nur von der Geschichte seiner Herkunft gezeichnet, der Enge der kleinen Wohnung, der Schwermut seines Vaters. An seiner linken Hand zählt man sechs Finger. Eine Anomalie, bei der Grossvater bei der Geburt zur sofortigen Amputation rät, der Vater sich aber widersetzt, eine Sonderbarkeit, die ihn als Kind zum Aussenseiter macht. Einziger Freund in dieser Zeit wird der fahrige Mikkel Jacobsen. Im Schutz seiner Freundschaft, eine Freundschaft zwischen Faszination und Abstossung, eine Freundschaft, die Kristian sein ganzes Leben begleitet, auch in den Jahren, in denen sich die beiden aus den Augen verlieren, auch nach Zerwürfnissen, die sich tief in die Biographien eingraben.
Nach dem Versuch, in Basel eine Ausbildung zum Bildhauer zu absolvieren, einer Reise nach Paris, die eigentlich der Beginn eines Künstlerlebens hätte werden sollen, bricht Kristian endgültig aus und folgt der Einladung seines Freundes Mikkel nach Kopenhagen in seine Wohngemeinschaft. Kristian macht sich auf die Reise, mit der Absicht, dort dänische Literatur zu studieren. Aber in jener Wohnung, die zum Schmelztiegel dessen geworden ist, was sich später zur Freistadt Christiana auswachsen würde, verliert sich der noch junge Kristian, bis er über den Dächern Kopenhagens Selma Olsen kennen und lieben lernt, eine Vertriebene und Getriebene wie er selbst. Selma stammt aus Grönland, hatte jene Vergangenheit zurückgelassen, so wie er die seine. Sie heiraten, eine Liebe mit einem grossen Versprechen, bis es erneut Mikkel ist, der einen Keil in das schlägt, was für Kristian zu Heimat wurde, in eine Welt, die endlich festigte, was bisher nur Ahnung war.
Kristian flieht erneut, über Italien bis in das von einer Militärchunta regierte Argentinien, wo er mit einer fremden Identität ganz im Süden eine neue Existenz aufzubauen versucht, ein neues Leben, abgenabelt von seinen Geschichten. Er glaubt ein Zuhause gefunden zu haben und spürt doch, dass ihn nicht loslässt, was ihm schon ein ganzes Leben Unruhe in seine Seele bläst.
Jens Steiner schildert Kristians letzte Reise auf eine Insel. Kristians Geschichte in Rückblenden sind die Schritte zurück zu jenem Mann, der ihn in seinem Leben gleichermassen hinzog wie wegstiess. Nach Jahrzehnten der Trennung macht sich Kristian auf zu Mikkel, der ein ganz anderer geworden ist. Kristians letzte Flucht ist sein endgültiges Ankommen, eine Versöhnung mit seinem Freund gleichermassen wie mit seiner Geschichte. Jens Steiner erzählt von einer lebenslangen Odyssee durch die Wirren der Zeit, auf der Suche nach einem Zuhause, nach Freundschaft und Liebe. Was Jens Steiner mit seinem Roman gelingt, gelingt nur wenigen in der hiesigen Literaturszene. Nichts an diesem Buch riecht nach Kleinräumigkeit, Selbstreflexion und Biederkeit, selbst dann, wenn es diese beschreibt. Und doch evoziert Jens Steiners Buch genau jene Fragen, um die sich ein ganzes Leben unentwegt drehen kann: Worher kommen wir? Wo ist mein Platz? Wohin soll es gehen?
Bücher wie „Die Ränder der Welt“ machen glücklich.
Jens Steiner, geboren 1975, studierte Germanistik und Philosophie in Zürich und Genf. Sein erster Roman «Hasenleben» erschien 2011 und stand auf der Longlist für den Deutschen Buchpreis. 2013 gewann er mit «Carambole» den Schweizer Buchpreis und stand erneut auf der Longlist des Deutschen Buchpreises. Es folgten die Romane «Junger Mann mit unauffälliger Vergangenheit», «Mein Leben als Hoffnungsträger» und «Ameisen unterm Brennglas«. Jens Steiner lebt heute als Schriftsteller und Journalist in der französischen Region Burgund.
Die deutsche Schriftstellerin Anne Weber, heuer mit dem Solothurner Literaturpreis 2024 für ihr Lebenswerk geehrt, lebt seit vier Jahrzehnten in Paris, einem Sehnsuchtsort vieler, einer Stadt, die wie kaum eine andere mit Klischees verhängt ist. „Bannmeilen“ ist der beeindruckende Versuch der Schriftstellerin, jenen Teil ihrer Stadt zu erkunden, der ihr bisher verschlossen blieb.
Anne Weber lebt und schreibt dort, wo andere Ferien machen – in der „Stadt der Liebe“. Eine ebenso irrwitzige Bezeichnung wie Ausblendung immer krasser werdender Gegensätze. Eine Blendung, der auch ich verfalle, einer Blendung, die zeigt, wie Wahrnehmung mit Wissen, mit Bereitschaft zur Aueinandersetzung verzahnt ist. Anne Weber liebt „ihre“ Stadt – und vielleicht ist genau diese Liebe der Ursprung für ein Abenteuer, dass der Schriftstellerin ihren Lebensmittelpunkt ganz neu erschliessen sollte.
Im Sommer 2024 finden in Paris die Olympischen Spiele statt. Wie immer bei solchen Mega-Sportevents will sich der Austragungsort von der besten Seite zeigen. Man baut und pflanzt, man gräbt und schleift. Die Erzählerin im Buch bittet ihren Freund Thierry, der einen Film über die Auswirkungen der Olympischen Spiele drehen will, ihn auf seinen Recherchestreifzügen begleiten zu dürfen. Thierry will wissen, wie sich Paris verändert, sein Paris, auch wenn er im Gegensatz zur Erzählerin, einen ganz anderen Bezug zur Stadt hat. Thierry ist algerischer Abstammung, zwar in Paris geboren und aufgewachsen, aber ganz anders sozialisiert wie sie, sie, die einst aus Deutschland in die Stadt an der Seine zog und dort wohnt, wo Einheimische und Touristen in Strassencafés Kaffee trinken und an noblen Schaufenstern vorbeispazieren. Thierry selbst ist in den Banlieues aufgewachsen, dort, wo sich normalerweise kein Tourist hinverirrt, in jenen Teil der Stadt, ein Vielfaches grösser als das Postkarten-Paris, in dem Armut, Dreck und soziale Ungerechtigkeit grassiert.
Anne Weber «Bannmeilen. Ein Roman in Streifzügen», Mattes & Seitz, 2024, 301 Seiten, CHF ca. 32.50, ISBN 978-3-7518-0955-9
Die beiden machen sich zu Fuss auf einen langen Weg durch jenen Teil der Stadt, der von Schnellstrassen und Autobahnen durchzogen, von schmutzigem Beton zugepappt, von Müllhalden gezeichnet und von der nach Idylle lechzenden Gesellschaft vergessen vor sich hindämmert. Dort gibt es kein Flanieren, schon gar keine einladende Bank in einem lauschigen Park, keine Läden, keine Cafés. Dafür Wohnsilos für Abertausende, Bauruinen, kaputte Strassen, Obdachlose, Zugefixte, Sans-Papiers, die unter Brücken hausen und schwarz gekeidete Chouffeurs, die allerorts auf Kundschaft lauern. Hinein in die Gegenden auf der anderen Seite des Boulevard périphérique, einer Ringautobahn rund um den Vorzeigeteil der Stadt Paris. 600 Kilometer auf unzähligen Streifzügen, für die beide den Blick des jeweils anderen brauchen. Sie beide spiegeln sich, in dem was sie mit ihrem Blick lesen, was hängen bleibt und zu Gespächen während ihrer Wanderungen führt. Paris ist viel mehr als der Eiffelturm, der Louvre und die Notre Dame. Paris pumpt sich dort auf, wo sich im Sommer der kollektive Blick bündelt, ungeachtet dessen, dass es für alle jene, die dort wohnen, oder auch von dort verdrängt werden, damit nicht besser wird.
Anne Weber spinnt in all die Streifzüge Geschichten. Thierry und die Erzählerin treffen sich immer wieder in einem der seltenen Cafés in den Banlieues, im Le Montjoie von Rachid, der mit jedem Besuch etwas mehr Vertrauen in die beiden fasst und zaghaft zu erzählen beginnt. Mitgenommene Geschichten wie jene des algerischen Marathonläufers Boughera El Ouafi, der bei den Olympischen Spielen 1928 für Frankreich zwar eine Goldmedaille erlief, der aber nach Profiläufen in den USA seinen Amateurstatus verlor, nicht mehr an Wettkämpfen zugelassen wurde, nach geschäftlichem Unglück immer mehr verarmte und schlussendlich durch eine Pistolenkugel sein Leben in der Bedeutungslosigkeit verlor. Ein Mann, der für einen kurzen Moment ruhmreicher Franzose sein durfte, begraben in einem vermüllten Pariser Friedhof.
Anne Webers „Roman in Streifzügen“ ist ein Bekenntnis zu den Schattenseiten, eine Vergewisserung des Andersartigen, eine Annäherung an eine fremde Welt. Es gibt diese Ausblendungen urbaner Tatsachen überall. Zu hoffen ist, dass das Café Le Montjoie von Rachid nicht zu einem Hotspot alternativer Reiserouten durch das unentdeckte Paris wird. Zu hoffen ist, dass Paris nach den Olympischen Spielen gewonnen hat. Nicht das Paris der Boulevards, sondern das Paris der Banlieues. Jene Orte, die sich mehr und mehr den Zugriffen eines Rechtsstaats entziehen, in denen die Gewalt alles frisst und sich Generationen der Hoffnungslosigkeit ergeben. „Bannmeilen“ ist ein Mahnmal, ein mutiges Buch, das einem beschämt zurücklässt.
Die fünfköpfige Jury des Solothurner Literaturpreises ehrt die deutsche Autorin Anne Weber für ihr Gesamtwerk. Der Preis ist mit 15’000 CHF dotiert und wird zum 31. Mal verliehen. In der Begründung der Jury zum Solothurner Literaturpreis heisst es: «Ob historischer Stoff, politisches Verhängnis oder gescheiterte Liebesgeschichte: Anne Weber stellt sich mit jedem Buch einer neuen Herausforderung. Kühn setzt sie ihre Position als Autorin aufs Spiel und lotet die Beziehung von Fiktion und Leben neu aus, wobei sie darauf bedacht ist, ihrem Lesepublikum eine Rolle der aktiven Teilnahme zu gewähren. Anne Weber wird für ein schriftstellerisches Werk von formaler und thematischer Vielseitigkeit und Experimentierfreude ausgezeichnet, das vom Essay über den Roman bis zum Epos reicht.»
Anne Weber, 1964 in Offenbach geboren, lebt seit 1983 als freie Autorin und Übersetzerin in Paris. Sie hat sowohl aus dem Deutschen ins Französische übersetzt (u. a. Sibylle Lewitscharoff, Wilhelm Genazino) als auch umgekehrt (Pierre Michon, Marguerite Duras). Ihre eigenen Bücher schreibt sie sowohl in deutscher als auch in französischer Sprache. Ihre Werke wurden u. a. mit dem Heimito von Doderer-Literaturpreis, dem 3sat-Preis, dem Kranichsteiner Literaturpreis, dem Johann-Heinrich-Voß-Preis und dem Solothurner Literaturpreis 2024 ausgezeichnet. Für ihr Buch «Annette, ein Heldinnenepos» wurde Anne Weber mit dem Deutschen Buchpreis 2020 ausgezeichnet.
Irgendwann scheint es kein Zurück mehr zu geben. Julia verliebt sich in einen Künstler, einen Mann, der sie vielfach fasziniert und in eine Welt mitnimmt, die Julia stets vor Augen hatte, sieht sie sich doch selbst als Künstlerin, will malen, zeichnen, sich ganz ihren Leidenschaften widmen. Aber aus dem Weg ins Glück wird ein Sog in eine Welt, die Julia mehr und mehr die Kehle schnürt.
Julia, eingeklemmt in Strukturen, die ihr die Hände ebenso wie den Kopf binden, sehnt sich nach Befreiung. Die Beziehung mit David, der nie da ist und mit dem alles in unverrückbaren Bahnen eingeschrieben ist, ihre Schwester, die auf dem elterlichen Hof lebt und arbeitet und wieder schwanger ist, der Grossvater, der sie das Sehen und Zeichnen lehrte, der der einzige war, der uneingeschränkt an ihre Fähigkeiten glaubte und immer mehr einsinkt in seine gesundheitlichen Unzulänglichkeiten. Ein Netz, in dem sie sich gefangen sieht.
Sie lernt Joe kennen, einen charismatischen Künstler, einen, der sie respektiert, der an ihre Fähigkeiten als Künstlerin glaubt, an dessen Seite sie hofft, jenen Raum zu bekommen, der ihr zusteht. Sie verliebt sich. Obwohl sie vom ersten Moment weg spürt, dass ein dunkler Schleier über dem Mann hängt. Joe scheint sie ganz zu verstehen. Und als er sie einlädt zu ihm zu ziehen, nachdem die Beziehung zu David eskalierte, scheint sich eine Tür zu öffnen, ein Weg, auch wenn sie die einzige ist, die ganz an diesen glaubt. Auch wenn Freundinnen und Cousine mehr als kritisch auf das reagieren, was seinen Lauf nimmt.
Joe macht ihr seine Türe auf und schliesst hinter ihr zu. Joe malt grossformatige Bilder toter Frauen, besessen, wie in einem grossen Rausch, eingenebelt in seinem eigenen Trauma. Aber statt dass Julia zu einer Mit- oder Gegenspielerin wird, soll sie seine Muse werden, sein Modell, Projektionsfläche seiner Leidenschaften – und seiner willkürlichen Ausbrüche. Immer mehr taucht Julia in Zwänge und Fesseln, immer noch in der Hoffnung, es würde sich wandeln, er würde ihr den versprochenen Platz zugestehen, sie endlich tun lassen, was sie sich in seinem Schatten erhoffte.
Barbara Rieger «Eskalationsstufen», Kremayr & Scheriau, 2024, 229 Seiten, CHF ca. 34.90, ISBN 978-3-218-01422-9
Als der Gesundheitszustand ihres Grossvaters immer dramatischer wird und seine Verweigerung dazu führt, dass es Julia versäumt, rechtzeitig ans Sterbebett ihres Grossvaters zu fahren, als die Pandemie um sich greift und Joe in einen permanent panischen Zustand versetzt, wird die Schlinge um ihren Hals immer fester. Joe zwingt Julia zu einer Flucht in eine abgelegene Jagdhütte, weit weg von den Auswüchsen kollektiver Angst und Paranoia. Es bahnt sie jene Katastrophe an, die Julia über Wochen und Monate zu verleugnen versuchte.
Barbara Riegers Roman ist beklemmend. Ein Protokoll dessen, was man „toxische Beziehung“ nennt. Man möchte während der Lektüre zwischen die Seiten schreien, weil es beim Lesen so geht wie all jenen, die Julia immer wieder zu warnen versuchen. Mit jeder Seite, die man liest, bestätigen sich Ahnungen, wird das Drohende immer unausweichlicher. Barbara Rieger zeichnet das Psychogramm einer Frau, die in ihrer Hoffnung und Sehnsucht ausblendet und sich immer tiefer in einen Tunnel hineinbegibt, aus dem kein Fluchtweg, nicht einmal eine Umkehr offensteht. Warum geht man offenen Auges in die Katastrophe? Wie schafft man es, alle Zeichen und Warnungen in den Wind zu schlagen? Wie kann man sich derart blenden lassen? Scheinbare Zeichen des Vertrauens werden zu Warnungen, nur ja keine Grenze zu überschreiten, Gebote nicht zu missachten.
„Eskalationsstufen“ ist ein klaustrophobischer Tripp in eine Hölle aus Obsession und Leidenschaft. Stark geschrieben!
Interview
Eigentlich eine Liebesgeschichte. Für Julia zuerst die Rettung aus einer Beziehung, die sich totgelaufen hatte. Warum kann uns die Sehnsucht nach Sicherheit und Geborgenheit derart in einen Tunnel zwingen, aus dem es kein Entrinnen gibt. Frauenhäuser sind voll mit Frauen, die sich einst verliebten, alle ihre Hoffnung in eine Beziehung, alles auf eine Karte setzten. Da war überall einmal Liebe, oder zumindest das, was man als solche verstand. Warum schafft es rationales Denken nicht? Warum können wir uns dem Sog falscher Hoffnungen nicht entziehen?
Eigentlich eine Liebesgeschichte, aber was ist das für eine Liebe? Unsere Vorstellungen von Liebe wurden durch patriarchales Denken geprägt. Auch wenn wir nun vielleicht anders denken, fühlen wir vielleicht noch nicht anders. Das Narrativ beispielsweise des – in etwas Monströses – verwandelten Prinzen, der durch die Liebe einer besonderen Frau gerettet werden kann, ist, denke ich, noch immer vorherrschend. Überspitzt formuliert: Jede will diese eine besondere Frau sein. Keine will alleine bleiben. Jede will den Prinzen. Den Prinzen zu bekommen ist doch das Größte im Leben einer Frau! Für mich steht hinter dem Roman eigentlich die Frage, ab wann Liebe, so wie wir sie kennen und denken, gewaltvoll wird und ob die Gewalt dieser Liebe nicht sogar innewohnt.
Julia malt Bäume, Joe malt tote Frauen. Grösser könnte der Gegensatz nicht sein. Nicht dass diese Tatsache allein schon Warnung genug sein könnte, hat sich die bildende Kunst ja längst von verklärtem Idyll befreit. Aber Julia verweigert sich den Zeichen konstant. Nicht nur in Beziehungen verweigern wir uns den Zeichen. Die Tatsache, dass sich Menschen offenen Auges ins Verderben, ins totale Abseits manövrieren können, sehen wir bis in die Politik. Dort nützt auch besonnenes Argumentieren nicht mehr. Müsste man nicht eigentlich resignieren?
Das Gefühl der Überforderung und Machtlosigkeit angesichts national- und weltpolitischer, gesellschaftlicher, ökologischer und sonstiger Zustände kommt auch bei mir immer wieder auf. Man könnte resignieren, ja. Oder eine Pause einlegen, sich abschotten, wenn man die Möglichkeit dazu hat und durchatmen. Oder wie wäre es mit einer Revolution?
Da ist das Ideal einer Liebe, einer Beziehung. Da ist die Sehnsucht nach Liebe und Geborgenheit, nach einem Nest, in dem man sich sicher fühlt, in dem man sich ganz so zeigen kann, wie man ist. Dort all die menschlichen Unzulänglichkeiten, das Versagen, die Eigendynamik einer sich anbahnenden Katastrophe. Ihr Roman ist schonungslos ehrlich. Einen Roman zu schreiben kostet Kraft. Aber ein solcher doch noch viel mehr!
Ich erinnere mich an ein Gespräch mit Stefanie Jaksch, der damaligen Verlagsleiterin von Kremayr und Scheriau. Diesen Roman hätte ich schon fertig im Kopf, ich würde ihn runterschreiben, sagte ich zu ihr. So war es – Überraschung! – nicht. Jeder Roman ist Arbeit, aber dieser war besonders hart. Die einfache Liebesgeschichte wurde komplexer als gedacht und meine Fiktion wurde ständig von der Realität überholt. Während der Arbeit an diesem Roman wurden in Österreich über hundert Frauen von ihren Partnern oder Ex-Partnern ermordet. Es machte mir keinen Spaß, mich in die Situation einer Frau hineinzuversetzen, die sich in einen narzisstischen Psychopathen verliebt. Manchmal dachte ich auch, dass ich im Hinblick auf meine Gesundheit diesen Roman aufgeben sollte. Als Autorin wollte ich meine Protagonistin Julia da hineingehen lassen, aber als Mensch wollte ich sie retten.
Kann man während des Schreibens eines solchen Romans diesen so einfach zwischendurch mal weglegen? Oder verfolgte er dich nicht bis in deine Träume, dein Unterbewusstsein?
Ja, es ist möglich und auch wichtig für die psychische Gesundheit, denke ich. Das Hineingehen und wieder Herauskommen aus der Fiktion kostet aber viel Kraft. Beim Schreiben dieses Romans half es mir, aus meinem Zuhause auszusiedeln, um die Gefühlszustände, in die ich mich versetzen musste, möglichst weit weg von meiner Familie zu bringen. Wenn ich alleine bin und keine großen Verpflichtungen habe, kann ich zulassen, dass temporär alles verschwimmt und ich sehr tief eintauche. Und ich habe in den letzten Jahren nicht gut geschlafen, nein.
Eine Geschichte hat Joe dorthin getrieben. Julia genauso. Wie weit sind wir nicht einfach „das Opfer“ unserer eigenen Geschichte, das Opfer vieler Geschichten, die sich unserer Macht vollständig entziehen? Ist es nicht Augenwischerei, dass der Mensch sich doch eigentlich einfach in die Hände spucken müsste, um sein Leben in die Hände zu nehmen? Ist es nicht ernüchternde Realität, dass das Leben mit Gerechtigkeit nichts zu tun hat?
Gerechtigkeit ist ein Konstrukt. Persönlich glaube ich aber nicht daran, dass alles vorherbestimmt ist, sondern dass wir sehr wohl Entscheidungen treffen und damit unser Leben beeinflussen können. Im Roman zwinge ich Julia, sich in Joe zu verlieben, aber in der Realität zwingt sie niemand! In der Realität kann sie sich entscheiden und ich hoffe, dass Julia sich gar nicht erst auf Joe einlässt (die Namen sind austauschbar). Ob Joe es schaffen könnte, sich zu verändern, weiß ich nicht.
Lesung im Literaturhaus Liechtenstein in Schaan
Barbara Rieger, geboren 1982 in Graz, lebt und arbeitet als Autorin und Schreibpädagogin in Wien und im Almtal (OÖ). Gemeinsam mit Alain Barbero Herausgeberin des Foto- & Literaturblogs „cafe.entropy.at“ sowie mehrerer Anthologien. Zuletzt erschien der Roman „Friss oder stirb“ (Kremayr & Scheriau 2020). Für einen Auszug aus „Eskalationsstufen“ erhielt sie den Marianne von Willemer-Frauenliteraturpreis der Stadt Linz.
Dass sich mit der Zeit Schicht um Schicht über die Vergangenheit legt, mag tröstlich erscheinen, vor allem dann, wenn sich in den verborgenen Schichten Geheimnisse verbergen, die Wunden aufreissen würden. Und doch macht das Vergessen Verborgenes nicht ungeschehen, wirkt Eingeschlossenes auch dann, wenn sich Schweigen ausgebreitet hat. Özlem Çimen hat Mut.
Letzthin sah ich einen Ausschnitt eines Interviews mit einer jungen Person, die sich vehement dagegen wehrte, sich mit der Vergangenheit beschäftigen zu müssen, mit den Gräueln des 2. Weltkriegs, des systematischen Tötens Andersgläubiger, den fatalen Auswirkungen eines Führerkults, der sich jeder Eigenverantwortung entzog. Und weil es die selbsternannte Spitze der Evolution nicht schafft, ein Miteinander wenigstens so zu organisieren, dass nicht immer und immer wieder Massen von Menschen Vertreibung, Verfolgung und Vernichtung ausgesetzt sind, ist es wichtig, diese Schichten aufzureissen, um sich nicht in einer falschen Sicherheit zu suhlen, man hätte mit all dem Schrecken aus der Vergangenheit nichts zu tun.
Özlem Çimen erlebt das unmittelbar, nachdem sie zu fragen beginnt und jenes Gefühl und all die kleinen Beobachtungen wahrnimmt, die ihr zeigen, dass da etwas in ihrer Familie wirkt, was sich nicht nur in ihrer Familie auswirkt. Özlem Çimens Roman „Babas Schweigen“ ist eine ganz direkte Auseinandersetzung mit der Geschichte ihres Herkunftslandes, der Türkei. Eine unrühmliche Geschichte, die bis in die Gegenwart wirkt, Menschen ihre Kultur raubte, ihre Sprache, ihre Geschichte, ihren Boden. Özlem Çimens Roman ist minimal fiktionalisiert und beschreibt das Bemühen einer jungen Frau Verdrängtes, Verschwiegenes, Verleugnetes aufzubrechen.
In den Jahren 1937 und 1938 wurden in der türkischen Region Dersim mehr als 10 000 Kurden von türkischem Militär umbebracht, eine Aktion zur Türkisierung, ganz offensichtlich deshalb, weil der Staat Angst hatte, das verbliebene ehemalige Osmanische Reich würde durch verschiedene Volksgruppen und ihre Unabhängigkeitsbemühungen auseinanderbrechen. Damals fiel ein Zehntel der nicht muslimischen Dersim-Kurden dem Morden zum Opfer. Erst 2011 entschuldigte sich die türkische Regierung. Ein Akt, der den Armeniern gegenüber immer noch auf sich warten lässt. Viele Kurden damals mussten ihre angestammte Heimat verlassen, Kultur und Sprache verleugnen.
Özlem Çimen «Babas Schweigen», Limmat, 2024, 120 Seiten, CHF ca. 30.00, ISBN 978-3-03926-071-3
Özlem Çimen wuchs in der Schweiz auf. Jedes Jahr reiste man, schon als sie ein Kind war, immer wieder in die Türkei zu ihrer grossen Verwandtschaft, ihren Grosseltern. Sommer für Sommer war das Dorf dort der Inbegriff für Freiheit, Familie und Gemeinschaft. Özlem Çimen, die mittlerweile selber Mutter zweier Kinder ist, die sie immer und immer wieder auffordern, Geschichten aus ihrer Heimat zu erzählen, muss im Laufe der Zeit feststellen, dass die erzählte Idylle sich immer mehr mit dunklen Ahnungen mischt, die Özlem Çimen auffordern, ihre Fragen ganz direkt zu stellen. Fragen an Menschen, ihre Grosseltern, die es nicht gewohnt sind, das in Worte zu fassen, was sie schon ein ganzes Leben als Alp mit sich herumtragen.
Özlem Çimen erzählt ganz behutsam, auch mit der Absicht, mit dem Aufbrechen niemandem schaden zu wollen, am allerwenigsten ihrer Familie selbst. „Babas Schweigen“ ist eine Konfrontation gegen innen. Özlem Çimens Roman ist ein vorsichtiges Herantasten an Tatsachen und Wunden, die über Jahrzehnte verborgen und vergessen schienen, erzählt in einer schlichten Sprache, die den Schrecken von damals in vielem bloss andeutet. Ich hätte dem Buch etwas mehr historische Einbettung gewünscht, auch wenn damit eindeutige Positionierungen auf heikles Terrain führen.
„Babas Schweigen“ ist ein wichtiges Buch, weil das Schweigen nichts ungeschehen macht!
Interview
In Ihrem Roman treffen zwei Dringlichkeiten aufeinander; die Frage nach Herkunft und Wurzeln und das Bedürfnis, etwas offenzulegen, etwas ans Licht zu führen, das während Jahrzehnten unbelüftet zwischen Unter- und Unbewusstem schlummerte. Mir scheint, dass diese Fragen aus der Distanz, als in der Schweiz Geborene und Aufgewachsene noch viel dringlicher werden.
Die räumliche Distanz ist eine von vielen Komponenten, die sicherlich dazu beigetragen hat, mich mit diesem Thema intensiv auseinanderzusetzen. Ich habe das grosse Glück, all dieses Leid nicht am eigenen Leib erfahren zu haben. Meine Grosseltern konnten nicht darüber sprechen. Einerseits aus Selbstschutz und andererseits, weil sie nicht wussten, wie. Meine Eltern waren auch nicht in der Lage dazu. Sie mussten dafür sorgen, ein möglichst unauffälliges Leben für sich und ihre Nachkommen aufzubauen.
Insofern glaube ich, dass ich es einfacher habe, darüber zu sprechen, da ich das Ganze aus der nötigen zeitlichen Distanz sehen kann. Nun versuche ich der nächsten Generation unsere Geschichte weiterzugeben und komme dabei selbst an meine Grenzen. Wie spricht man darüber? Wie erzählt man eine solch grausame Geschichte weiter? Es ist nicht einfach, die passenden Worte dafür zu finden. Es sind nun mehrere Generationen her, aber es fühlt sich beim Berichten letztlich so an, wie wenn man selbst dieses Schicksal erlitten hätte.
Wie weit hat die Aufarbeitung dieser Themen mit der Tatsache zu tun, dass Sie selber Mutter sind? Oder anders gefragt; Hätten diese Themen mit gleicher Dringlichkeit angeklopft, hätten Sie keine eigenen Kinder?
Bevor ich mich entschied, diese Geschichten niederzuschreiben, lag ich wegen Corona im Bett. Mir ging es richtig mies. Da wurde mir bewusst, falls ich morgen sterben würde, würden meine Kinder die Wahrheit über ihre Wurzeln nie erfahren. Irgendwie war ich ihnen eine Erklärung oder Antwort schuldig. Hinzu kommt, dass ich aus diesem Schweigen, das mich starr machte, endlich ausbrechen wollte. Das konnte ich nur tun, indem ich die Geschichte der nächsten Generation weitererzählte. Im Endeffekt kann ich aber nicht abschliessend sagen, ob ich dieses Buch auch ohne Kinder fertiggebracht hätte. Jedenfalls hätte ich auch ohne eigene Kinder in der Vergangenheit recherchiert und nachgebohrt.
Die Türkei nennt sich zwar Republik, aber zumindest aus meiner Warte gleicht Recep Tayyip Erdoğans Politik viel mehr einer autokratischen Regierungsform, die wenig Widerspruch oder Oposition erlaubt. Minderheiten scheinen es sowohl in der Vergangenheit wie auch in der Gegenwart schwer zu haben. In ihrem Roman schildern sie die Angst ihrer Familie, dass mit dem Buch unschöne Dinge an die Oberfläche gelangen. Müssen Sie nicht viel mehr befürchten, dass ihre zukünftigen Besuche in der Türkei schwieriger werden?
Warum sollte ich? Ich stelle niemanden an den Pranger.
Eine Freundin von mir ist Mutter geworden. Sie ist Einzelkind und ihre Eltern wohnen weit weg. Die Eltern ihres Mannes sind im Altersheim. Auch er hat keine Geschwister. Eine kleine Familie. Von Sippe keine Spur. Die Familie meiner Frau ist ein dicker Teppich aus Beziehungen. So sehr Sippen, grosse Verwandtschaften Sicherheiten bieten, ein Eingebettetsein, Heimat, so sehr kann eine Sippe einengen, eine Rolle aufzwingen.
Möglicherweise verstehe ich Ihre Frage nicht. Aber ja, ich bin in einer grossen Familie aufgewachsen und innerhalb dieses Kreises genoss und geniesse ich nach wie vor viele Freiheiten. Ich erlebe die Beziehung in meiner Familie als sehr respektvoll. Selbst, wenn wir anderer Meinung sind, sind wir füreinander bedingungslos da. Ich bin nach dem Motto aufgewachsen: Mensch ist Mensch, er ist mit all seinen Ecken und Kanten okay, so wie er ist. Aber das ist in meiner Familie so. Ich kann nicht stellvertretend für alle grossen Familien oder im Namen der Zaza sprechen.
Unabhängig von der Grösse der Familie und der herrschenden Kultur, gilt in allen Familien das Anna-Karenina-Prinzip oder was meinen Sie?
Ihr Buch ist auch ein Buch über das Schicksal einer Minderheit in der Türkei. Ein Kapitel, das auch mit der Entschuldigung der türkischen Regierung 2011 kein Ende gefunden hat, denke man nur an das Schicksal anderer Kurden oder das der Armenier. Warum blüht der Nationalismus in einer Zeit, in der man doch eigentlich merken sollte, dass Grenzen und Abgrenzungen willkürlich und nie aus einer echten Not entstehen?
Alle unterdrückten Minderheiten haben eine Entschuldigung und eine Aufarbeitung der Vergangenheit verdient. Ich bin mit meiner Geschichte über die Zaza nicht einzigartig. Sie ist leider eine von vielen. Gerade jüngst wurde darüber berichtet, dass eine deutliche Mehrheit der Australier in einer Volksbefragung gegen die Stärkung der Rechte der Aborigines stimmte. Dies in einem fortschrittlichen Land wie Australien.
Das Buch steht für alle Minderheiten, die von einer Mehrheit unterdrückt, missachtet und überstimmt werden. Ich bin bereit mein Gesicht und meinen Namen dafür herzugeben. Ich habe weder ein politisches Motiv noch führe ich Krieg gegen eine Mehrheit.
Özlem Çimen, geboren 1981 und aufgewachsen in Luzern, lebt mit ihrer vierköpfigen Familie in Zug. 2012 schloss sie den Master in Education in Special Needs an der Pädagogischen Hochschule Luzern ab und ist als Heilpädagogin im Kanton Luzern tätig.