in memoriam: Jürgen Ploog «Fake Fiktion»

Es gab angenehme Dilettanten & solche, die einem gewaltig auf die Nerven gehen konnten. Das waren die, die zu viel darüber nachdachten, was sie machten. Ein echter Amateur überlegt nicht lang, er macht einfach. Es ist wie mit Schönheitsoperationen: Die meisten gehen daneben, obwohl sie mit großem Aufwand betrieben werden. (Der auch mit den Schmerzen danach kaum zu rechtfertigen ist.) Ein echtes Spiegelbild ist eben nicht über Nacht hinzukriegen.
Ich war in der Altstadt von Maskat, Oman, unterwegs. Mein Hemd war durchgeschwitzt, ich hatte den Geschmack von Khat im Mund & machte in der drückenden Hitze bei jeder Gelegenheit halt, um einen Mokka zu trinken. Dabei gingen mir Passagen aus einem Filmskript durch den Kopf, mit dem ich mich seit einiger Zeit herumgeschlagen hatte. Der erste Entwurf stammte nicht von mir. Ein Filmer, den ich kaum kannte, wollte, dass ich es durchsehe, um dem Wirrwarr der Szenen eine „Struktur“ zu geben, wie er sagte. Mir kamen sofort starke Zweifel, ob ich der richtige Mann dafür war. Ich hatte etwas gegen Filmer, die einfach nur eine Story herunterkurbeln wollen & den Schnitt dazu nutzen, sich aus der Affäre zu ziehen, wenn sie mit der Story nicht mehr weiterkommen.
Wer filmisch etwas umsetzen will, muss mit dem Zeitablauf umgehen wie einer, der Karten legt.
Wieso Oman? Es ging um einen schwedischen DJ, der dort verschwunden war. Freunde von ihm wollten, dass ich mich vor Ort unauffällig umsehe. Wie oft steckte wahrscheinlich mehr dahinter, aber das, was sie mir anvertrauten, reichte, um mich ins Flugzeug zu setzen & mich getarnt als Tourist ins Gedränge in den Gassen der Altstadt zu stürzen.
Nachts fiel das Mondlicht auf die bleichen Mauern der Stadt wie auf eine Theaterkulisse. Es war ein Bild, das ohne Wirkung auf mich blieb, aber für die Eingangsszene eines Films taugte es. Um dem exotischen Effekt entgegenzuwirken, stellte ich mir vor, es zerspringen & die Splitter über die Leinwand taumeln zu lassen…
Als der Kaffee nicht mehr wirkte, griff ich zu Ritalin, das damals im Mittleren Osten rezeptfrei zu haben war. Ich konnte mir nicht leisten, mich von den Reizen der fremden Umgebung ablenken zu lassen.
Erste Erkundungen brachten mich nicht weiter. Meine Fragen wurden freundlich, aber mit einem Achselzucken abgewiesen. Ich musste mich irren, hieß es, wenn ich versuchte, Genaueres herauszufinden. Auch ein Foto des vermissten DJ half nicht weiter.
Einmal wachte ich in der Dunkelheit des Hotelzimmers auf & sah Sterne wie Schneeflocken durch die Nacht flattern. Am Rand eines Platzes standen ein paar gebogene Palmstämme vor einem Streifen Silberschimmer, wo ich das Meer vermutete. Als ich kurz die Rippen der Jalousie auseinanderbog, fuhr ein schnittiges Cabrio eine leere Straße entlang. Auf dem Beifahrersitz saß eine schlanke Frau mit dem Körper einer Schaufensterpuppe. Hinter dem Lenkrad konnte ich niemand entdecken. Der Blick auf die Straße hatte mir die Vision eines selbstfahrenden Wagens beschert…

Lust & das sie begleitende Skript. Ich blätterte in den Seiten auf der Suche nach einer erotischen Stelle, wie ich sie in alten französischen Schwarzweiß-Pornos in Bangkok gesehen hatte. Stummfilme, die hauptsächlich von der Kraft der Bilder lebten. Wenn eine Frau die Lippen bewegte, konnte sie Bon soir sagen, aber auch eine ermunternde Bemerkung von sich geben. Die Szenen spielten meist an halböffentlichen Orten. Im Taxi, in einem Separee, in einem Gitterlift… Sex braucht geschlossene Räume. Verführerische Episoden dagegen können sich an jedem beliebigen Ort ereignen.
In einer Bar spiegelten sich Lust & Verlangen bei Gegenlicht im Gesicht einer Frau… das Kleid hing an ihr wie eine im Wind flatternde Flagge… im Mondlicht trieben Schatten über ein wie ein Orientteppich gemustertes Mohnfeld am Rand einer levantinischen Stadt… ein türkischer Soldat beobachtete die Szene mit einer entsicherten Walther in der Hand…
Sex im Film läuft heute anders. Die Frau schwingt sich auf den Mann, der ihre abrupten Bewegungen kaum ertragen kann. Wenn er Glück hat, gerät er nicht an eine wie Xenia aus dem Bond-Film GoldenEye, die ihre Lover beim Cunnilingus mit den Schenkeln erwürgt. Was mit etwas Übung jede Frau hinbekommt… von der Lust bis zum Machtspiel, das Sex zur Todesfalle macht, ist nur ein kleiner Schritt.

Nach einem Whisky zu viel sagte sie (die flüchtige Bekanntschaft aus einer Bar): „Deine Hände zittern ja.“
Sie lehnte mit einem Handtuch um die Hüften an der Kachelwand eines türkischen Bads & tauschte heimlich die Chips mit den Daten aus, die ich einem Kontaktmann in Istanbul übergeben sollte. Mit der Gelenkigkeit einer Akrobatin hatte sie mich kampfunfähig gemacht & dann ihre Aktion durchgezogen.
Beim Showdown auf dem Dach des Hotels stellte sich heraus, dass sie bei mir an den Falschen geraten war, was daran lag, dass sie das verabredete Zeichen ihres Komplizen übersehen hatte, auf das sie wartete, um ihr den genauen Zeitpunkt zu verraten, wann die Wirkung des Betäubungsmittels bei mir einsetzte.
Stümper auf beiden Seiten, wie man in der Branche sagt…
Manchmal bleibt eben nur die Taktik, die weibliche Version des Skripts außer Acht zu lassen. Gewöhnlich stiftet das genug Verwirrung, um einen Coup durchzuziehen. Die meisten Akteusen können nicht vertragen, wenn man vom Skript abweicht & plötzlich als ein Anderer auftritt. Sie haben schließlich Jahrzehnte damit verbracht, ihre Rolle einzustudieren.
Xenia mit einem Handtuch um die Hüften suchte verzweifelt den Panikknopf… sie erkannte gerade noch durch die Kuppel des türkischen Bads, dass die Killer des Syndikats im Anrücken waren, bevor die Wirkung des Skopolamins einsetzte & ihre Synapsen versagten. Sie sackte auf eine Pritsche & zappelte mit den Beinen wie ein auf dem Rücken liegender Käfer.
Weder hier noch in einem anderen Land kannst du irgendjemand vertrauen, & was dich betrifft, Tourist, dein Gegenüber hat sich längst aus dem Staub gemacht & nur seine Epidermis zurückgelassen…

Ein Hauch Erox (ein Parfüm aus menschlichen Pheromonen) strömte durchs Gedränge in den Gassen der Altstadt. Ich musste mein Verlangen zügeln, noch einen Kaffee zu trinken. Seiten des Filmskripts waren mit braunen Flecken überzogen & manche Passagen nicht mehr zu lesen.
Wie Stalaktiten fiel Mondlicht auf brüchiges Gemäuer. Ich weiß nicht, aber es kam mir vor, als schaute ich vom Balkon meines Zimmers auf eine weibliche Stadt. Möglich, dass mich die bleichen Mauern an den Teint einer blonden Frau erinnerten, die mit nackten Schultern in einem Cabrio saß, dessen Sitze im Schatten einer Zypresse wie mit Moos überzogen wirkten. Das hatte wohl mit der Art von Erotik zu tun, die durch manche Passagen des Skripts wehte. Von allen Szenen, die als „intim“ markiert waren, wurden heimlich Fotos gemacht, die anschließend unter Sammlern von Hand zu Hand gingen.

Eddie, der sich meist als Agent ausgab, schwang sich nach einem One-Night-Stand mit einer Informatikerin auf die Feuerleiter & verschwand übers Dach. Er hatte versucht, einen Chip mitgehen zu lassen, war sich aber nicht sicher, ob er den richtigen erwischt hatte. Erst anschließend wurde ihm klar, dass ihm die Informatikerin was vorgemacht & nie ihren elektronischen Keuschheitsgürtel abgelegt hatte. Um sicherzugehen, hatte sie sich nicht nur auf die Elektronik verlassen & ihm einen Drink mit Skopolamin verpasst. Das Ergebnis war, dass er erst gegen Morgen in einem Eck neben der Rezeption wieder aufwachte.
Das war nicht Eddies erste unterirdische Nacht. Er hatte schon öfter Bodenberührung gehabt, wenn er an eine gewiefte Gegenspielerin geraten war. Einmal war er mitten in einer Nummer in Panik geraten & getürmt, ohne sich um die an ein Messingbett gefesselte Replikantin zu kümmern, die den Lockvogel gespielt hatte. Sie war gerade dabei, seinen Schwanz auf ihrer Zunge zu balancieren, als die Flammen eines infernalischen Sonnenuntergangs wie ein Buschfeuer durchs Zimmer schwappten & Eddie die Luft abschnürten. Kurz vor einem Erstickungsanfall schwebte er in einem Funkenschwall sprudelnder Lava davon…

Sternschnuppen zerrissen die Nacht. Irrlichter erleuchteten blitzlichthaft die Landschaft. Man konnte hören, wie die Geister der Finsternis aus ihren unterirdischen Revieren auszubrechen versuchten. Es hörte sich an wie das Scharren von Pferdehufen. Lautlose Flügelschläge ließen die Luft erzittern. Als der Strom ausfiel, verflüssigten sich die Farben der letzten Strahlen des Sonnenuntergangs. Dann wurde es schlagartig dunkel. Auf dem verdorrten Rasen vor dem Dschungelhotel, in dem Eddie festsaß, war es drückend heiß.
Immer wieder kam es nach unerklärlichen Kurzschlüssen zu Stromausfällen & er musste sich an den tapezierten Wänden der Gänge entlangtasten, an denen präparierte Tiere wie Fledermäuse, Spinnen mit Fangarmen, Echsen mit fluoreszierenden Häuten & getrocknete Amphibien hingen. Sie sahen aus wie Trophäen von Jägern auf der Suche nach ausgestorbenen Spezies & unbekannten Giften.
Im Schein einer Öl-Funzel erkannte er Lorita, die sich ihm, nur mit einem Patronengürtel & Rucksack bekleidet, in den Weg stellte.
„Wo willst du hin? Ich bin marschbereit“, verkündete sie. Ihr Atem streifte ihn wie der Flügelschlag eines Falters.
Er folgte den Glanzlichtern auf ihrer Haut ins Freie. Er hatte keine Ahnung, was sie vorhatte, & in der dampfigen Dunkelheit war sein T-Shirt nach wenigen Schritten durchgeschwitzt. Sie bahnten sich einen Weg durch ein Gestrüpp aus Schlingpflanzen & Luftwurzeln, die von unsichtbaren Ästen herunterhingen. Manchmal leuchtete kurz der Silberstreifen eines Rinnsals auf. Hin & wieder schimmerten Blüten wie bunte Leuchtzeichen im undurchdringlichen Gebüsch. In der feuchten Hitze kam er kaum zu Atem. Einmal blieb Lorita unerwartet stehen, & er prallte gegen ihre schweißüberzogenen Brüste.
„Ayahuasca… schon mal davon gehört?“, hauchte sie.
Ein Stück weiter endete der Pfad am Eingang einer kleinen Höhle. Eddie wusste nur, dass Ayahuasca aus Lianen gewonnen & von Einheimischen eingenommen wurde, um sich in Trancezustände zu versetzen. Er vermutete, dass sich Lorita Blätter der Pflanze besorgen wollte. Aber sie schien sich in keiner Weise für Gewächse der Gegend zu interessieren.
Die Höhle ging in einen Durchgang über, der dem Flur eines primitiven Krankenhauses glich. Eddie spürte einen leichten Schwindel, den er auf die bedrückende, leicht modrig angehauchte Luft im Gang zurückführte. Er stolperte über einen Kübel, & an den Wänden standen ungewöhnlich kleine Baststühle. Halb verdeckt von verdorrten Kletterpflanzen entdeckte er einen Spiegel & erkannte sein seltsam verzerrtes Gesicht. Durch Ritzen in der Decke drang trübes Licht.
Dann fiel sein Blick auf Lorita. Ihre Schritte waren in die geschmeidigen Bewegungen einer Tempeltänzerin übergegangen, die sich auf ihren Patronengürtel übertrugen, der ihre Hüften umschlang.
Plötzlich öffnete ein als Schamane verkleideter Arzt die Tür eines Raums, der wie ein Wartezimmer eingerichtet war.
„Doktor von Meier… welche Überraschung“, sagte Lorita.
„Du weißt ja… die Arbeit. Hast du einen Patienten mitgebracht?“
„Nicht ganz. Eddie & ich haben beschlossen, eine Reise zu unternehmen.“
Sie setzten sich & ein Indiojunge brachte Mate-Tee in Schädeltassen. Der Doktor, fiel Eddie auf, trank aus einem Kristallschädel.
Einmal, als der Doktor kurz verschwand, beugte sich Eddie zu Lorita hinüber & fragte, was hier lief. Ein Dschungelcamp oder eine Art Kokainlabor?
Ehe sie antworten konnte, kam der Doktor zurück. Er war ein stämmiger Mann um die 50, dessen leicht vergilbte Haut verriet, dass er lange in den Tropen gelebt hatte.
„Sie fragen sich sicher, was wir hier mitten im Urwald treiben. Schon mal von der Amazonas Gesellschaft gehört? Nun, sie hat vor einiger Zeit die Anlage übernommen, in der wir uns befinden… hat Ihnen das Lorita nicht verraten? Das Gebäude diente ursprünglich als Drogenlabor. Als das zu riskant wurde – genauere Einzelheiten kenne ich nicht – entstand eine Klinik für plastische Chirurgie. Für Leute verstehen Sie, die das Licht der Öffentlichkeit scheuen. Berühmte Leute… Leute mit Geld, die sich davor scheuen, dass es zu einem Vorher-Nachher-Vergleich kommt. Die Boulevardpresse, verstehen Sie? Berühmte brasilianische Ärzte steckten dahinter… Sie können sich denken, dass sich die Eingriffe nicht aufs Gesicht beschränkten… manchen ist der Intimbereich wichtiger als die Physiognomie. Mit der Zeit kamen Geschlechtsanpassungen dazu. In der Chirurgie ist mittlerweile nichts unmöglich, folgen Sie mir?“
Lorita schien der Vortrag zu langweilen. „Ich weiß nicht, ob sich Eddie dafür interessiert“, warf sie ein.
„Ich schätze ihn als Mann ein, der erfahren will, was in der Welt geschieht“, fuhr von Meier fort. „Unsere Kundschaft besteht hauptsächlich aus Männern, die sich als Frauen fühlen. Zumindest wollen sie keine Männer mehr sein… ihr Leben als Mann kommt ihnen abwegig vor, sie wollen ihre Männlichkeit ablegen. Die meisten leben nach wie vor heterosexuell, & wenn sie Kinder haben, dann nur, damit sie in die Mutterrolle schlüpfen können. Andere gehen einen Schritt weiter & wollen eine sogenannte Neovagina. Kein besonders komplizierter Eingriff, muss ich sagen. Die Folge ist zwar Unfruchtbarkeit, aber der fehlende Nachwuchs in den… sagen wir entwickelten Ländern… wird reichlich durch die demografische Entwicklung in den Schwellenländern ausgeglichen.“
Eddies Gedanken waren abgedriftet. Der Tee, die Hitze & die Rede des Doktors hatten ihn benommen gemacht.
„Hören Sie mir überhaupt zu, junger Mann?“, hörte er die Stimme des Arztes. „Spüren Sie nicht auch gelegentlich die Neigung, ihre Männerrolle abzulegen & sich aufs Gendersurfing einzulassen?“
„Kann ich nicht sagen. Ich hab noch nie das Verlangen gespürt, mit meinen Gefühlen Roulette zu spielen.“
„Aber es geht nicht um Gefühle, junger Mann. Wir haben es hier mit ernsthaften Identitätsproblemen zu tun.“
Der Doktor drückte auf einen Knopf & eine Schiebetür öffnete sich. Der Raum dahinter war eingerichtet wie ein Sprechzimmer. Ohne sich weiter um Eddie zu kümmern, setzte sich von Meier an einen Bürotisch, auf dem Geldscheine & ein Plastikhandschuh lagen. Daneben bemerkte Eddie einen mit toten Faltern gefüllten Aschenbecher.
„Ich könnte Sie einem kleinen Gentest unterziehen, wenn Sie wollen“, meinte von Meier. Er sagte es, während er in einer Schriftmappe blätterte.
Plötzlich fiel Eddie auf, dass Lorita verschwunden war. Er spürte keine Lust, sich länger in dieser angeblichen Klinik aufzuhalten, in die er nur wegen Lorita geraten war.
„Ich hatte eigentlich vor, Anakondas zu jagen“, sagte er, ohne recht zu wissen, wie er darauf kam.
Von Meier schien diese Bemerkung überhört zu haben. Er stand plötzlich auf & seine Gestalt zerbrach vor Eddies Augen. Er sah den Doktor wie durch eine zersplitternde Glasscheibe. Als die Scherben am Boden gelandet waren, hatte sich von Meier in Luft aufgelöst, & Eddie erkannte, dass er wieder in der Eingangshalle des Dschungelhotels stand. Es gab wieder Strom, & in der gedämpften Beleuchtung sah die Einrichtung aus wie in angenehmes, gelbliches Dämmerlicht getaucht.
Es war ein Anblick, wie ihn Eddie noch nie gesehen hatte.
Ich versuchte den Transceiver, den ich für Notfälle immer dabei hatte, in Gang zu setzen, was mir aber nicht gelang. Zu viele kosmische Störungen, die gelegentlich Schwindelanfälle hervorriefen… Ein Lichtstreifen deutete den Übergang zur Zukunft an, eine astrophysische Chimäre, wie ich annahm, auf die Zeitreisende immer wieder hereinfallen.
Alle Räume der Raumstation, in der ich übernachten wollte, waren offen. Es gab keine Türen, nur Durchgänge. Auf der Suche nach meinem Quartier kam ich an einem Badezimmer vorbei, in dem sich eine nackte Frau mit dem Hintern zu mir die Beine rasierte.
Ich hatte einige Schwierigkeiten, mein Zimmer zu finden, denn eins sah aus wie das andere & es gab keine Markierungen. Schließlich entschied ich mich für ein beliebiges & stellte meine Sachen ab. Durch ein Panoramafenster konnte ich auf eine trostlose Siedlung sehen, über die ein paar grobkörnige Wolken trieben.
Man hatte mich gewarnt, dass die Verständigung auf der Station wortlos ablief. Wünsche, Fragen & dergleichen wurden transverbal wahrgenommen. Sprachlose Sprache war der letzte technologische Schrei, der auf Künstliche Intelligenz zurückging. Das Ganze beruhte auf Sensoren, die in der Lage waren, von Gehirnströmen & winzigen Muskelbewegungen auf Wörter zu schließen. Das Verfahren funktionierte noch nicht ganz eindeutig, war aber so ausgelegt, dass es sich ständig selbstständig verbesserte.
Mir fiel auf, dass mich die Stille in der Station ungewöhnlich empfindlich für Geräusche & Töne machte. Hin & wieder glaubte ich das Knistern von elektrischen Funken zu hören. Ein schwach bläulicher Schimmer, der von einem Geruch der Leere begleitet wurde, durchzog sämtliche Räume. Leere riecht nicht, könnte man meinen. Aber das Fehlen von Gerüchen kann das Empfinden eines intensiven Nicht-Geruchs hervorrufen.
Das waren Eindrücke, um die ich mich nicht weiter kümmerte. Mutation & Science-Fiction waren Gebiete, mit denen ich mich kaum auseinandergesetzt hatte. Im Hier & Jetzt gab es genug Phänomene, mit denen ich mich herumschlagen konnte, & sie wurden keineswegs weniger. Etwa Sprache, die auf Buchstaben & Wörtern beruht & ähnlich Viren Signale im Bewusstsein verbreitet, die sich von der ursprünglichen Bedeutung der Wörter gelöst haben. Am Ende dieser Entwicklung konnten Wörter jede beliebige Bedeutung annehmen & wurden so zu Wirtszellen von Bezeichnungen, die sich willkürlich mit jedem Begriff, Vorgang oder Objekt assoziieren ließen. Eine Programmierung, die allmählich & unbewusst geschah.
Semantische Verschiebungen waren Bestandteil der sprachlichen Entwicklung & nötig, solange sie sich auf veränderte Erkenntnisse oder Zustände bezogen. Sprache projiziert Bilder in den Raum der Dinge. Ohne sie & wörtliche Festlegungen bliebe er unsichtbar. Mit der Zeit ist es zu einer Art Höhenrausch der Abstraktion gekommen, & Sprache hat auf Kosten der Wahrnehmung die Deutungshoheit über die reale Welt übernommen. Stürme des Verfalls wehten über virtuelle Boulevards…
Verfall war zu einem Synonym von Verwirrung geworden.
Städte im Morgengrauen lösen bei mir gewöhnlich eine nervöse Übelkeit aus. In den ersten Momenten, wenn der Tag einsetzt, brechen die Schutzmechanismen der Konditionierung zusammen, & es kommt zu affektiven Reaktionen, meist im Zusammenhang mit sexuellen Phantasien. Ich nahm an, dass das auf Veränderungen der Orgonschicht zurückzuführen war. Besonders wenn ich einen Nachtflug hinter mir hatte, war dann an Schlaf nicht zu denken.
Ich machte mich auf den Weg durch die Gänge der Station & geriet in eine Art Imbissbar, wo mir ein Mädchen mit rosa Pupillen & lilienweißer Haut einen Detox-Drink anbot.
„Wozu ist das gut?“, fragte ich.
„Du wirst schon sehen“, meinte sie cool. Typisch für die Mädchen des Territoriums, die bekannt waren für ihre röhrenförmigen Zungen, die sie trotz Überlänge mit erstaunlicher Geschicklichkeit handhabten.
Die Ebenen des Territoriums glichen einer erstarrten Topografie, über die immer wieder Sonnenstürme fegten. Am Himmel hingen ein paar von der Raumkrümmung lädierte Sternbilder. Erst jetzt fiel mir auf, dass der Dialog mit dem Mädchen in der Bar tatsächlich sprachlos abgelaufen war. Ich hatte die Frage mehr gedacht als ausgesprochen & sie hatte mit einem Zirpen geantwortet, dass sich mit dem Zischen der Kaffeemaschine mischte. Es war ganz selbstverständlich passiert, denn ihr Aussehen hatte mich abgelenkt.
War es nicht Verlangen, das Leben zum Abfalleimer machte? Wenn er voll ist, leert man ihn, & das geht so lange, bis er schließlich bricht.
Immer wieder streifte mein Blick das Mädchen hinterm Tresen, während sie mir mit schlanken, elastischen Fingern, an denen ich winzige Saugnäpfe zu erkennen glaubte, den Kaffee hinschob. Etwas an ihr erweckte meine Neugier & ich wollte herausfinden, was es war. Manchmal warf sie mir einen hämischen Blick zu. Er kam mir mehrdeutig vor.
Ich war der einzige Gast an der Bar, weshalb meine Aufmerksamkeit immer wieder an ihr hängen blieb. Möglich, dass ich die Nachwirkungen des Höhenrauschs noch nicht überwunden hatte, die oft mit bipolaren Empfindungen verbunden sind. Mein Zustand erinnerte mich an Versuche in der Unterdruckkammer. Streckenweise glich er Phasen, die sich während des Entzugs einstellen, was vermutlich mit Schwankungen der Sauerstoffzufuhr zu tun hatte.
„Geht’s dir nicht gut?“, fragte die Mutantin hinter der Theke. Sie war eine Mutantin, keine Frage. Ihre Lippen schimmerten grünlich & ihre Erscheinung hatte etwas Künstliches.
„…oder hast du die falsche Droge erwischt?“
Sie war offensichtlich interessiert, Genaueres über mich zu erfahren.
„Ich bin mir nicht sicher“, gab ich ihr zu verstehen, „ob ich dasselbe höre, was du sagst.“
„Verlass dich auf mich.“ Ihr Gesicht nahm plötzlich die Farbe von Asche an & wurde starr wie eine Larve. Lichtblitze durchzuckten den Raum um uns, & ich verlor die Orientierung, als wäre ich in der Leere des Universums in ein euphotisches Vertigo geraten, wo es nur Hell & Dunkel gab. Mein nächster Gedanke war, dass sie mir etwas in den Kaffee geschüttet hatte. Wahllos tauchten Bilder aus vergangenen Zeiten auf. Aufmärsche & Szenen von Revolten auf städtischen Straßen… stumm gehaltene öffentliche Reden… hastig in Träumen hingekritzelte Gedichte… Echtzeit-Bilder von Terroristen, die ihre Anschläge filmten… Flugblätter mit algebraischen Formeln…
Ich musste in eine Sphäre geraten sein, in der die Zeit durchlässige Stellen hat. Schwaden von schwarzem Geruch umhüllten mich. Die Farbe der Hintergrundstrahlung zwischen Galaxien war Sehnsucht. Lichter schossen durch kosmische Stadtviertel. Bilder hatten sich selbständig gemacht & waberten zwischen Klumpen Dunkler Materie. Das Klicken von Assoziationen überlagerte farblose Traumbilder.

Der Raumflug durchs Bewusstsein endete in einem klimatisierten Hotel mit einem griechischen Portier, der bei unserer Ankunft gerade einen Vortrag über „Kontinuität“ hielt. Der Blick durch seine starken Brillengläser konnte einen Gast glatt durchlöchern. Ich zahlte für ein Doppelzimmer & die Mutantin fragte: „Wo bin ich?“ Solche Fragen führen oft zu unbedachten Schritten, erklärte ich ihr. Ich suchte die Windungen meines Gehirns ab, um einen Namen für sie zu finden.
Auf dem Zimmer gerieten wir sofort aneinander & fickten kreuzweise auf einer quadratischen Matratze. Durch eine Schiebetür schaute ich auf eine fensterlose Hauswand & ein schmales Stück Strand mit grellen Sonnenschirmen. Man muss immer darauf gefasst sein, in einem Reiseprospekt zu landen.
Ausgestreckt aufs Bett erinnerte ich mich an eine Safari-Lodge in Afrika, wo ältere Damen beim Fünf Uhr-Tee durch Ferngläser die Rüssel von Elefanten bewunderten. Sie waren entschlossen, sich nicht von Insekten belästigen zu lassen, die überall herumkrochen.
Am Nachmittag fegten heftige Windstöße durchs Stiegenhaus.
Plötzlich wusste ich, dass der passende Name für die Mutantin Oliviera war.
Allmählich verblassten die Zeichen der Sehnsucht. Die wirren Nächte waren nicht lang genug, um Erinnerungen an Träume zu hinterlassen.
Als ich aufwachte, war mir der Name der Mutantin entfallen, & ich fragte sie danach. Sie tat so, als hätte sie nie einen gehabt. Aber so wie ein Gedicht einen Titel hat, musste auch sie einen Namen haben. Während ich mich an den zu erinnern versuchte, den ich ihr gegeben hatte, rätselte ich, ob es Ophelia oder Odette war. Ich wusste, ohne Namen war sie auf dem Planeten verloren.
Wer mit Assoziationen handelt, muss sich auf Überfälle aus dem Hinterhalt gefasst machen. Ich lag noch ausgestreckt auf dem Bett, als mir die Mutantin ihre röhrenförmige Zunge um den Hals legte & wie eine Schlinge zuzog. Sie war in die Rolle einer mexikanischen Malerin geschlüpft, die ihre Liebhaber beim Ficken erwürgte (was angeblich einen mächtigen Orgasmus erzeugt). La carne de los muertos…
Das Zimmer hatte sich in ein Filmstudio verwandelt, das wie das Innere eines mittelamerikanischen Tempels ausgestattet war. Angestellte arbeiteten mit der stumpfen Routine von Gefangenen. Szenen verschiedener Arbeitsabläufe wurden von Filmprojektoren auf die leinwandähnlichen Innenwände geworfen. Die filmische Geschwindigkeit änderte sich ständig, & die Gefangenen waren gezwungen, ihr Arbeitstempo entsprechend anzupassen. Zeit war zum Film geworden.
Ich versuchte herauszufinden, wo die algebraischen Flugblätter aufbewahrt wurden, die, wie ich annahm, verschlüsselte Angaben über meine Reise mit Oliviera enthielten. Mir war klar, dass es Sex & emotionale Reflexe waren, die uns in der Zeit festhielten. Mit jedem Orgasmus wurden wir tiefer in die schwarze Singularität eines Zeittunnels gezogen, aus dem es irgendwann kein Entkommen mehr geben würde.
Um mich von eigenständigem Handeln abzuhalten, versuchte Oliviera, ihre Stimme über einen Sprach-Transceiver mit meiner zu mixen, so dass es unmöglich wurde, festzustellen, wer sprach. Lautlose Sprache hatte anscheinend mit dem Versuch zu tun, einem die eigene Stimme zu nehmen. Auf diese Weise konnte ein „Ich“ in jeden beliebigen Körper schlüpfen.
Der Sprach-Transceiver ließ sich auch dafür verwenden, sexuelle Erregung von einem Körper auf einen anderen zu übertragen. Sex konnte so programmiert werden, dass der Betroffene keinen Einfluss darauf hatte, wie er ablief. Mit diesem Programm war es möglich, den Ablauf von Lust & Handlungen akustisch steuern. Sobald das Gerät aktiviert wurde, setzte ein leises Ticken wie bei einem Geigerzähler ein, & ich wusste, dass sich die Mutantin für eine neue sinnliche Spielart entschieden hatte. Ich war ihr ausgeliefert, denn ich wusste nicht, welche Signale zu den einzelnen Praktiken passten. Ich konnte nicht anders, als mich auf jede Eigenart wie Sado-Maso oder Tantra einzulassen.
Ich wusste nicht, was ich unternehmen konnte, sollte der Sprach-Transceiver fehlerhaft arbeiten oder gar versagen. Ich erwog, ihn zu zerstören, wagte es aber nicht, weil ich die Folgen nicht abschätzen konnte. Auch kam mir der Gedanke, die Mutantin einer kryonischen Behandlung auszusetzen, einer Methode, die gelegentlich auf langen Raumreisen angewandt wird. Aber ich wollte sie nicht allein in einer Zeitschleife zurücklassen.
Plötzlich füllte sich das Tempelstudio mit grünem Licht. Olivieras Körper wurde durchsichtig. Sie betrachtete mich mit toten Augen & ließ den Sprach-Transceiver über mein Rückgrat gleiten. Eine starke sinnliche Erregung erfasste meinen Körper, der unter den neuronalen Erschütterungen zu zerfallen drohte. Elektrische Stösse durchfuhren & hinderten mich, Bewegungen auszuführen. Wie aus eisiger Ferne sah ich, wie Olivieras Körper mit meinem verschmolz. Bei der geringsten Berührung zwischen uns wurde ich von heftigen Spasmen geschüttelt, & ich verlor kurz die Besinnung.
Ein unsichtbares Wesen geisterte durch mein Gehirn, was eine leichte Übelkeit auslöste, ähnlich der, die bei Raumreisen vorkommt. Ich betrachtete Oliviera, deren Gestalt sich trotz der Verschmelzung unserer Körper kaum verändert hatte. Sie versuchte etwas zu sagen. Es war, als würde sie um Hilfe rufen. Sie bewegte den Mund, blieb aber stumm. Auch die wortlose Verständigung funktionierte nicht.
Etwas musste schiefgelaufen sein bei Olivieras Transferversuch, mich in eine zeitliche Sackgasse abzuschieben, aus der es keine Rückkehr gab. Das Ganze ähnelte einem Ritual, das einst Priester im Verborgenen von prähistorischen Tempelanlagen vollzogen, um durch ein Opfer andere Zeitbereiche zu erreichen.
In ihrem nahezu durchsichtigen Zustand entging Oliviera der Gravitation & begann frei im Raum zu schweben. Ich versuchte sie im Auge zu behalten, aber immer wieder verschwamm der schwache Umriss ihrer Gestalt zwischen Linien & Konturen, die das Filmstudio durchzogen. Aus der gleichmäßigen Silhouette ihres Torsos schloss ich, dass sie nackt war.
Während sie sich entfernte, fing die Einrichtung des Studios an, sich zurück in ein Hotelzimmer zu verwandeln. Die Projektionen an den Wänden überschnitten sich, wodurch der Eindruck entstand, dass der Raum schrumpfte. Der grobe Putz glättete sich, & die handgroßen Mauerdurchbrüche weiteten sich zu einer Fensterfront. Das Gewicht des Himmels drückte auf Raum & Zeit, & ich schloss die Augen.
Ich war kurz eingenickt, & als ich wieder zu mir kam, sah ich Oliviera nackt bis auf einen Slip am Geländer auf dem Balkon des Hotelzimmers stehen. Es musste kurz vor Sonnenuntergang sein, denn flutartig hatte sich die Färbung von Blutorangen ins Zimmer ergossen.
Oliviera drehte sich um, kam langsam auf mich zu & betrachtete mich mit grünlich funkelnden Augen. Einen Augenblick zweifelte ich, ob sie es war. Sie sah älter aus, als ich sie in Erinnerung hatte. Lichtflammen, die durchs Zimmer züngelten, erfassten meinen Körper. Aber ich war immun für ihre erotisierende Wirkung.
„Wo bist du gewesen?“, fragte Oliviera.
„Ich hab versucht, dich zu finden.“
„Aber ich war die ganze Zeit hier.“
Sie würde nie zugeben, dass die Operation, mich in eine andere Zeit zu entführen, misslungen war. Ihre Lippen bewegten sich nicht synchron zu dem, was sie sagte.
„Es kann nicht jedes Mal klappen“, sagte sie, stand auf & zog sich an. Dann: „Vielleicht an einem anderen Ort zu einer anderen Zeit.“
Ich kam mir vor wie in einer Kurzgeschichte mit dem Titel: Das Ende einer Affäre. Bevor ich recht mitbekam, was geschehen war, war sie zur Tür hinaus, die mit einem leisen Klick hinter ihr ins Schloss schnappte.

In einer abgelegenen algebraischen Gegend geriet ich in eine mir unbekannte Biografie. Sie versetzte mich in eine Lage, in der ich mich erst zurechtfinden musste. Ich hatte den Auftrag, die Vorgänge auf der Panamericana zwischen Totolapan & Aurora spiegelverkehrt zu betrachten. Ich war mit einem alten VW-Bus unterwegs & ständig abgebrannt, rauchte Gras & aß vegetarisch. Zu meinem Unbehagen war das eine für einen Alt-Hippie typische Biografie. Die eines Anthropologen, der sich für indigene Kulturen interessiert, wäre mir lieber gewesen. Aber in meiner Branche muss man die Biografien nehmen, wie sie kommen…
Während der Fahrt fiel mir nach einiger Zeit auf, dass mir ein schräger Typ auf den Fersen war, der sich ähnlich unverdächtig zu verhalten versuchte wie ich. Spiegelbildlich gesehen konnte er ohne weiteres mein Doppelgänger sein, der mich vorsichtshalber im Auge behalten wollte, falls es Ärger mit den Narcos oder den Los Zetas geben würde. In meinem Tran aus Skunk (Marihuana-Duft) & Tequila-Schwaden bekam ich nur flüchtig mit, was in der Gegend vor sich ging. Vermutlich hatte man mich vor der Abreise mit einer Körperkamera verdrahtet, von der nicht mal ich wusste, wo sie steckte. Von einem Alt-Hippie kann man schließlich nicht erwarten, dass er mit allen Neuigkeiten der technischen Entwicklung vertraut ist.
Ein Schlitzohr von Dealer hatte mir in der Nähe von Salina Cruz mit Damiana verschnittenes Sinsemilla angedreht, das zu irren Albträumen & Halluzinationen führte. Es war, als hätte sich ein gefräßiges Insekt in meinem Gehirn eingenistet. Es fraß, & ich musste mich mit seinen Ausscheidungen herumschlagen, die zu Dauererektionen schlimmer als mit Viagra führten. Ich hatte den Verdacht, dass der Dealer mit den Los Zetas unter einer Decke steckte & mich durch Lähmung außer Gefecht setzen wollte.
Um diese Symptome loszuwerden, verbrachte ich eine Nacht mit einem Chitin-Girl in einem Hotelzimmer. Sie wollte es so, der VW-Bus war ihr zu schäbig. Das Zimmer war im Preis inbegriffen. Das war vermutlich die Idee ihres Loddels, der auf die Art doppelt kassierte. Sie faselte mehrmals von Cucaracha, & ich hab nie herausgefunden, ob das ihr Name war oder ob sie damit andeuten wollte, dass sie eine Rebellin war.
Sie wollte es auf die Schnelle, aber darauf habe ich mich nicht eingelassen. Schnell kommen & schnell abkassieren, das ist eine alte Nuttenmasche. Obwohl ich mir nicht sicher war, ob das Chitin-Girl eine Nutte war. Natürlich war sie nicht ohne Geld zu haben. Sie tat so, als ginge es um eine Gefälligkeit, für die wegen der Umstände (wir kannten uns kaum & würden uns auch nie wieder begegnen) eine finanzielle Gegenleistung angebracht war. Ich sagte ihr, dass die Bezahlung keine Rolle spielte. Das überraschte sie, & ihre Haltung mir gegenüber änderte sich. „Komm morgen um dieselbe Zeit wieder.“ Keine Nutte vertröstet ihre Kunden, deswegen nahm ich an, dass mehr dahintersteckte als eine kurze „Gefälligkeit“.
Am nächsten Tag trat sie mit einem Fotografen auf, den sie als Jimmy Garcia vorstellte. Er hatte in der Nähe des Hotels ein Fotostudio, wo wir den Nachmittag mit Gesprächen verbrachten. Er sagte, dass er seine Aufnahmen dazu benutze, bestimmte Reaktionen bei den Betrachtern hervorzurufen. Es ging um ein Verfahren, das er als Umkehrfotografie bezeichnete.
Es störte mich, dass er sich mit dem Chitin-Mädchen auf Spanisch unterhielt. Ich erklärte, dass mir die Situation nicht ganz geheuer sei, & machte Anstalten, zu gehen. Die Vermutung lag nahe, dass er einen Porno drehen & damit nicht unumwunden herausrücken wollte.
„Ich glaube, ich bin nicht der Richtige dafür“, sagte ich.
„Ich fürchte, Sie verstehen nicht, Señor“, meinte er. Er hatte einen kalten, unpersönlichen Blick & fummelte ständig an den Kameras herum. Durchaus möglich, dass er bereits heimlich Aufnahmen gemacht hatte.
Schließlich ging er daran, einen Film vorzuführen, den er an die brüchige Wand seines Studios projizierte. Ich konnte nur erkennen, dass er Gesichter von Männern & Frauen zeigte, die sich gelegentlich überlagerten & dabei eine erregte Mimik verrieten. Ich spürte, dass die Aufnahmen eine erotisierende Wirkung auf mich hatten, ohne dass ich sagen konnte, wieso. Es war möglich, dass die Aufnahmen gemacht worden waren, während die Dargestellten einen Orgasmus hatten. Der Fotograf erklärte, dass es ihm darum ging, verschiedene Stadien sexueller Erregung festzuhalten.
Das Chitin-Girl wurde so genannt, weil sie einen geometrisch makellosen Körper hatte & ihre Mimik keine Regungen erkennen ließ, was ihr eine teils animalische, teils exotische Ausstrahlung gab. Das wirkte besonders auf Europäer erregend & geheimnisvoll.
Der Fotograf forderte mich auf, mich ihr gegenüber zu setzen. Mein Misstrauen war inzwischen einer Neugier gewichen, deswegen spielte ich mit.
„Die Zeit ist gekommen“, erklärte er, „körperlich Energien zu übertragen.“
Ich spürte, dass es zu einem Austausch von – wie soll ich sagen – Spannung oder Erregung zwischen dem Mädchen & mir kam, der durch Veränderungen meines Gesichts sichtbar wurde, denn ich erinnere mich, dass ich das Gefühl hatte, es zu verlieren. Ich versuchte, so gut es ging, mein gewohntes zu behalten.
Eingefahrene Vorstellungen drifteten durch ferne Weiten. Es störte mich, dass ich den Namen des Chitin-Girls nicht kannte, & ich fragte mich, wieso ich annahm, dass sie eine Nutte war.
Jimmy der Fotograf zeigte mir ein Foto, auf dem ihr Gesicht einer byzantinischen Ikone ähnelte. Plötzlich sah ich sie in einem anderen Licht. Auch ihr Körper hatte sich verändert. Ihre Haut glänzte & zeigte erstaunliche Geschmeidigkeit.
Ich überlegte, wie ich an sie geraten war. Gab es eine geheimnisvolle Verbindung zwischen uns, die mir bisher entgangen war? Vermutlich war die Wirkung des Damians stärker als ich dachte, denn ich ertappte mich dabei, dass ich einen 3D-Film betrachtete, in dem sie nackt auf einer Pritsche lag & mir zuwinkte. Etwas schien mein Lustzentrum zu blockieren, denn ich spürte kein Verlangen nach ihr. Auch weil mir bewusst war, dass ich nicht sie, sondern eine Reproduktion betrachtete.
Grünliches Licht füllte das Studio, erschütterte die starren Formen der Einrichtung, so dass Gegenstände durchsichtig wirkten.
Ein billiger Trick, sagte ich mir, durch den der Eindruck erweckt wurde, dass ich mich statt im Studio des Fotografen in einem magischen Garten befand. Gedämpfte Musik erklang, & eine Hängematte baumelte zwischen Palmen. Blüten leuchteten in Technicolorfarben, & hinter dichtem Gestrüpp schimmerte das türkisene Wasser einer Lagune.
Es war Zeit, ein paar Fragen zu stellen. Hatten die Lichtmuster des Films mich in einen Theta-Zustand versetzt & meine Traumnerven aktiviert? Ich erinnerte mich an eine Stelle bei Castaneda, wo Don Juan sagt: „…für einen Zauberer ist die Welt des täglichen Lebens nicht real, auch nicht außen, wie wir glauben… die Welt, die wir alle kennen, ist nur eine Beschreibung.“
War das Chitin-Girl ein Medium, das der Fotograf benutzte, um Leute wie mich in einen halluzinogenen Zustand zu versetzen, der mir die Augen für Dinge hinter den Dingen öffnete? Unterlag Sehen nicht auch der Anpassung & Konditionierung, was einen Betrachter dazu verführt, das zu sehen, was er erwartet, & spontane Einsichten verhindert? Was kontrollierte die visuelle Wahrnehmung & Auswahl der Bilder?
Konditionierte Sicht kontrollierte Gefühle & begrenzte, was gesehen wurde & was nicht. Diese vorprogrammierte Sichtweise aufzubrechen, kam einer Revolte gleich, bei der eine Kamera zur Waffe werden konnte. Eine Waffe, mit der sich die Wort-Bild-Struktur der Realität niederreißen & zerstören ließ.
Die ersten Schritte, die in diese Richtung führen, fühlen sich an wie ein Erdbeben. Der Himmel senkte sich schwer wie Blei auf die sichtbare Welt. Palmen fielen um, eine gewaltige Flutwelle schwappte über die Landschaft der Gegenwart, & der gregorianische Zeitkalender zerbrach…

Zurück zum Schauplatz der Inszenierung, wo alles begonnen hatte. Kino der Sinne, wenn alles möglich & die einzige Rettung die Dunkelheit des Zuschauerraums ist. Wenn Körper in Polstersitzen versinken & Gerüche intime Aufdringlichkeit annehmen.
„Red’ nicht so viel, mach’s einfach.“
Lichter verflüchtigten sich. Ein flauer Schimmer schob sich über das Blau der Leinwand. Experten in den ersten Reihen wieherten. Eine schmutzige Sonne tauchte langsam aus dem satten Grün eines Dschungels auf. Dazu der Ton eines Saxofons, der einen zerrissenen Himmel zum Einstürzen bringen konnte.
Immer wieder stellt sich heraus, dass in diesem Geschäft die ersten Sequenzen entscheiden. Sound, Farben & das Panorama des Sets. Der Zuschauer muss sofort wissen, wo er ist. Der Rest ist in den meisten Fällen Routine, Plot, Timing… den Horror des Augenblicks sichtbar machen.
Eine Nebenfigur wird abgeführt, Uniformierte legen an, das Opfer fällt kopfüber in den Sand. Das spielt sich nicht in irgendeiner Bananenrepublik ab, das ist Europa, Abendland. Sarajewo, Berlin in den letzten Kriegstagen, Baskenland, Sizilien, polnisches Hinterland… lachen Sie nicht, es geht um mehr als den Surplus historischer Errungenschaften… Gewalt, Vernichtungslager… eine Mischung aus Macht, ethnischem Wahn & Rückständigkeit… eine Gegend, gepflastert mit Schwarzen Löchern, in denen Zeit spurlos versinkt…
Manchmal dringt er doch noch durch, der vergessene Duft des Kontinents. In Pizzakneipen von Rom, in gekachelten Bistros auf griechischen Inseln & an Austernständen der Normandie, wo die Kühle des Atlantiks durch Zellen weht.
„Noch einen Absinth.“ Langsam schiebt sich der Erdschatten über den Fernsehschirm, & ein Luftschiff verschwindet über dem westlichen Kap. In verstaubten Klamotten gekleidete bürgerliche Imitate schlendern durch das ausgestorbene Biarritz.
Ruhe, Aufnahme… auf sämtlichen Kanälen wird der Augenblick der Wahrheit mitgeschnitten, ins rechte Licht gerückt, mit Kommentaren überschüttert. Nichts entgeht dem Auge der Kamera & doch sind die Bilder inszeniert.
Auf ein verabredetes Zeichen treten die Schauspieler in Aktion. „Ist euch doch klar, was es heißt, es bis zur Schlussszene zu schaffen“, meint der Regisseur. Der Plot verlangt unerbittliche Auslese & entscheidet, wer auf der Strecke bleibt.
Bereitwillig ziehen sich die Schauspieler noch einmal aus, zeigen, was Körper ist. Anschließend werden sie ausbezahlt.
„Okay, das wär’s, haut ab.“
Unschlüssig bleiben noch ein paar Statisten zurück. Sie glauben, dass sie eine zweite Chance bekommen, wenn sie lang genug warten würden.
Die Nacht entfaltet sich wie eine tätowierte Blume. Hauser, „der Regisseur“, tritt aus dem Erdschatten, mustert misstrauisch einen Komplizen, während sein eingebauter Scanner das Umfeld nach feindlichen Impulsen abtastet.
In einer Nebenstraße eine Kaffeebar. Säuerlicher Geruch schlägt ihm entgegen. Ein Glatzkopf dreht sich nach ihm um. Auf einem Hocker eine rosa Perücke, daneben Fotos von zerstörten Pyramiden auf einem Plastiktisch.
Kiki im Hotel nackt an der Jalousie. Sie schaut hinaus aufs Araberviertel & den treibenden Sand im Schein von Karbidlampen. Jedes Wort, das sie von sich gibt, kommt mit einem Klirren über ihre Lippen. Unbeirrt zieht Zeit dahin. Geräusche werden von jahrhundertalten Mauern geschluckt.
„Ville“, eine künstliche Feriensiedlung unweit der Grenze. Hauser, von Paranoia gepackt, gibt das Drehbuch nicht aus der Hand. Er hat Schwierigkeiten, das Team in der Januarkälte bei der Stange zu halten. Ein Sicherheitsmann hat sich Johnny geschnappt, der den Hauptdarsteller in Sexszenen doubelt, & schreit ihn an: „Mann, jetzt verrate ich dir mal was. Hier wird nicht gedealt.“ Ein Techniker wirft eine Windmaschine an & eine Kokswolke wirbelt auf. Overalls flattern im Wind.
Leere Grundstücke, verlassene Tankstellen, schwarzer Kaffee. Kiki mit schlaksiger Anatomie Schulter an Schulter mit einem Coke-Automaten.
„Wo willst du hin?“ Ihr Lächeln verschwimmt im kühlen Licht der Landstraße. Sie rückt die Sonnenbrille zurecht, springt in einen Strandbuggy & rast über eine kondensmilchfarbene Dünenlandschaft.
Vor Mauerresten des Atlantikwalls ein Mädchen am Straßenrand, rausgeputzt wie ein Tanzgirl. (Schreie aus meterdicken Bunkerbauten.)
„Wohin?“
„Egal. Bloß weg hier.“
Ein türkisener Himmel, die Mülltonnen grün. Mit einem Knopfdruck lassen sich Städte, Landschaften & Kontinente abrufen. Eine Bedingung digitaler Anwesenheit heißt: fleischliche Projektion. Nur nicht den Panikknopf erwischen… könnte sein, dass der Bildnomade dann als raumloser Schatten in die Skyline von Manhattan, die Lichter von Casablanca oder in die Silhouette der Istanbuler Moscheen entschwindet…
Augenblicke des Exils: Während eines Blackouts mit einem Pappbecher in der Hand zwischen überladenen Fassaden sitzen & alten Zeitungsseiten hinterherschauen, die über den Gehsteig wehen…
Ahnungslose Opfer, eingesperrt in die Echokammer der Zeit. „Bin fremd hier. Kommst du mit?“, fragt das Tanzgirl im Bikini.
Vor einer Strandvilla ein Cabrio mit einem blonden Androiden am Steuer. Die Fassaden an der Promenade schief wie verwitterte Filmkulissen aus der Zeit pompöser Monumentalschinken.
Johnny & Kiki auf dem Weg zu einem Klub vor der Stadt. Muschicats, in tiefe Sessel versunken, warten auf Kunden. Licht frisst sich durch die Markise des Sonnendachs.
„Ich freu mich“, sagt Kiki, die Sonnenbrille im Gesicht.
„Worauf?“
„Auf jetzt.“
Für einen Augenblick verliert Johnny wie nach einem Autounfall die Orientierung. Flashbacks, grelle Blitze, Doppelbelichtungen flattern durch sein Gehirn. Ein Film, der angelaufen ist, lang bevor er das Kino betreten hat.
„Hab dir was mitgebracht“, sagt sie & berührt ihn an der Hand.
„Zeig her.“ Es ist ein Anhänger, eine Art Amulett. Eine Buddha-Figur, dreieckig eingefasst, billiger orientalischer Import. Bis spät in der Nacht ist sie bei ihm. Sie tanzen, fummeln sich ab. Landen in einem Hinterzimmer mit Diwan. Rollen einen Joint & fallen übereinander her.
„Hey, der Vibrator funktioniert nicht.“
Etwas kippt weg in ihm, nur mühsam kommt er zurück, ein verrutschtes Lächeln auf den Lippen. Auch ihr Gesicht hat sich verändert, sieht aus wie schlecht zusammengeklebt. Die Haut findet keinen rechten Halt.

Ein paar Klubgäste kehren ermattet von einem Ausflug in die Wüste zurück, wo sie wie in einem Sandkasten herumgeirrt sind, lassen sich in Polstersessel fallen & vertiefen sich in Zeitungen. Eine Katze schreit, was Johnny an die endlos sich hinziehenden Routen der frühen Fliegerei erinnert. Damals war Kiki schneller aus den Klamotten als eine Stripperin. Im Haus an der Rue Mohammed V. roch es nach Küchenabfällen, nicht selten hatte sich ein Skorpion ins Zimmer verirrt, & jenseits der Stadt schimmerte das Band der Brandung die Küste entlang.
Verblasst die langsam fallenden Sterne, der matte Schein schwankender Straßenleuchten, ein Foto mit einer startenden Maschine an der Wand.
Johnny erinnert sich an die Taxifahrt auf der anderen Seite des Atlantiks nach einem langen Nachtflug. Leichter Regen, der Asphalt von Glanzlichtern zerkratzt, Leute in Mänteln, Dunstfahnen über Hochhäusern, Brücken & dann der Tunnel unterm Fluss hindurch…
„Was ist, kannst du nicht schlafen?“
Kikis Hand, die ihn zaghaft berührt.
Ein fast schon obszöner Akt von Konzentration. Südliche Morgendämmerung erhebt sich im Osten, durchsichtig fast & mit der hypnotischen Anziehungskraft eines Spiegels.
Alte Junkies krepieren nicht, sie verschwinden einfach…
Ein erster Schritt, um zurückzufinden: ohne Entzugserscheinungen den Körper einer Frau betrachten.
Das dumpfe Dröhnen der Stadt, gleichmäßig wie das Summen einer Kamera.

Johnny schaffte es nie mehr ganz, von seinen Trips zurückzukehren. Tagelang verließ er das Zimmer nicht, unsicher, wo er gerade war. Undurchdringliches Schattengewirr nächtlicher Filmaufnahmen umgab ihn, Gegenstände, die er berührte, hinterließen einen zerebralen Abdruck auf seiner Haut.
Mit der abendlichen Dunkelheit wich das Sichtbare aus seinem Gesichtsfeld & gab ihm seine Bewegungsfreiheit zurück. Er zog sich an & tastete sich durchs Treppenhaus, wo es nach Katzenpisse & ranzigem Pommes-Öl roch. Bevor er die Straße betrat, verharrte er einen Augenblick. Von irgendwoher kamen verzerrt Pianoklänge, die sich wie Fetzen eines Tangos anhörten. Strahlen eines Scheinwerfers streiften ein halb abgerissenes Plakat, als er den ersten Schritt auf der Straße machte.
Sofort war er von aufdringlichen Geräuschen umringt. Er hörte Knistern von Zeitungspapier, Worte wurden geschrien oder geflüstert, Weichteile gedrückt, Schritte hallten, Körperteile rieben sich, Türen knarrten, Tassen klirrten & blieben im kalten Licht liegen.
Während sich die Nacht in Fetzen auflöste, winkte er ein Taxi heran. Im Café de France entdeckte er Kiki neben einem schleimigen Dealer; einer von vielen, die dort ständig herumhängen & Karten oder Backgammon spielen. Genau wie in alten Filmen zogen von Zeit zu Zeit Rauchschwaden über ihre verschlagenen Gesichter. Die Kellner glitten mit Blicken von Attentätern & in ungebügelten weißen Kitteln geschmeidig an den Tischen vorüber. Die Männer saßen versteinert da, & Frauen, zerbrechlich wie Wachsfiguren, nippten an buntfarbigen Säften, in denen Perlen wie Diamantsplitter glitzerten.
Zeit, zu verschwinden, jetzt, wo der Tod die Scheiben zum Klirren brachte. Johnny wusste, dass die Filmleute ihn nicht aus den Augen ließen, auch wenn sie sich nicht zeigten. „Macht ihn fertig, er hat uns den Plot versaut.“ Aber er war ihnen zuvorgekommen, hatte vor Tagen die Seiten des Skripts vertauscht. Er konnte sehen, wie ihnen vor Hass die Drinks in den Gläsern gerannen & ihre von Zeitkrankheit entstellten Gesichter erstarrten.
Das verschaffte ihm einen kurzen Vorsprung. Er nutzte ihn & verschwand mit katzenartigen Schritten in einer dunklen Gasse in Richtung Kaffeebar.

Unauffällige Bauten aus zeitlosen Bruchstücken. Straßen übersät mit Ideogrammen, die Archäologen wie Spürhunde zu entziffern versuchten. Nur wenn sie eine Zeitlang verharrten, nahmen ihre Gestalten flüchtig Konturen an. Sie huschten von Zeichen zu Zeichen & blieben unsichtbar wie Piloten von Überschallmaschinen.
Die Schriftschnüffler arbeiteten nach dem aleatorischen Prinzip, ohne sich von öffentlichen Floskeln irritieren zu lassen. Es hieß, dass sie auf dem Weg in unbewusste Räume waren. Ihre Arbeitsweise war nicht beliebig, sondern spielerisch. Sie wollten sehen, um zu erkennen. Nichtsehen bedeutet, unbrauchbare Motive reproduzieren.
Wenn Zeichen zu sprechen beginnen, ist der Augenblick des Schreibens gekommen. Wer Zeichen übergeht, bewegt nur die Lippen & wird zum Bauchredner. Mit jedem Atemzug ergeben sich neue Fragen. Eine ist: Wer spricht, wenn jemand spricht? Reden oder schreiben kann jeder. Buchstaben tippen, Lippen bewegen & Seiten mit Worten füllen. Wo sind die Gegenstände hinter den Wörtern geblieben? Das Wort kann Dinge zum Verschwinden bringen, wenn es in Horden über den Ereignishorizont schwappt & dabei zum Vehikel beliebiger Bezeichnungen wird.
Von Krise will niemand reden. Schnitte durch die Regression zur Mitte werden von der Presse als Aufbruch ins 21. Jahrhundert gefeiert. „Ich wollte einen Städtetrip machen & bin in einem Flüchtlingslager in Tempelhof gelandet.“ Verfechter der Scharia grasen Gehsteige nach Körperteilen ab. Lautlos gellen Schreie aus der Durchgangswelt durch die Nacht. Semantische Frühgeburten erweisen sich nur scheinbar als Lebenszeichen des Alten Europas. Stattdessen geht es um eine Hinrichtung. Bilder davon werden nicht veröffentlicht, um eine Traumatisierung der Bevölkerung zu verhindern. Flashbacks erschüttern die Wahrnehmung, & das Unbewusste rächt sich mit gedanklichen Verknüpfungen.
Nur wenigen gelingt die Flucht durch dunkle Kanäle. Das Universum der Schrift, wo Wörter die einzigen Waffen sind, ist zum Schauplatz des Überlebens geworden. Die Auseinandersetzung um bipolare Begriffe, bei der es um die Kontrolle über das Sehen geht, wird um Bedeutungen geführt. Eine von Flächenbombardements erschütterte Realität zeigt Veränderungen, denen die Oberfläche des Planeten ausgesetzt ist. Fortschritt geht auf Stoffwechselvorgänge zurück. Konzeptionelle Botenstoffe wirken gesellschaftlich gesteuerten Anreizen entgegen & oft neutralisieren sie sich sogar. Kontrolle wird über Rückgriffe auf sinnliche Kodifizierung ausgeübt.
In der Rolle des Cineasten hat der Voyeur seine endgültige Berufung gefunden & damit das Recht auf erotische Beobachtung & die Gier nach Enthüllung für jeden legitimiert. Was kein Freibrief dafür ist, von Hautfarben zu schwelgen & durchsichtiger Unterwäsche den Rang eines Fetischs zu geben. Eher entsteht ein Hang zur Manie, der vom Zuschauer gern mit Realismus verwechselt wird. Das kann so weit gehen, dass etwa ein gebrauchter Schulmädchenslip die Bedeutung einer Ikone in der virtuellen Dimension annimmt. Es gibt keine unkontrollierten Äquivalente. Die Tatsachen stehen nicht mehr für sich, sondern werden zu Symptomen schleichender Agonie, die mit unfassbarer Torsion des Sinns auch Orte erfasst…
Mit ihrem insektenhaften Verhalten haben Attentäter der Stille den virtuellen Terror zur unschlagbaren Waffe im Hass auf real existierende Gesellschaften gemacht. Ob die kraftlose Wahrnehmung des westlich konditionierten Bürgers den als Fortschritt deklarierten Erschütterungen gewachsen ist? Von wuchernder Bürokratie, umfassender Regulierung & unbegrenzter Datenverarbeitung jedenfalls ist keine Abhilfe zu erwarten. Der kontrollierte Verlust des Realen hat den Nachrichtenkonsumenten zum semantischen Zuschauer gemacht, der nicht mitbekommt, dass die von der Schrift geprägte Zeit die Richtung gewechselt hat. Theoretisches Wissen ist eine Voraussetzung dafür, dass getürkte Aussagen & Nachrichten willige Empfänger finden. Manchmal helfen Quantensprünge, um daran zu erinnern, dass der unbekannte Mensch am Leben ist & den Planeten noch nicht verlassen hat. Der synergetische Aufbau des Weltalls kann den Missbrauch der Reiselust nicht verhindern. Anzunehmen, dass erste Schritte in den Raum von Leuten unternommen werden, die sich wie Geisterfahrer in den Kosmos stürzen & keine Ahnung haben, wohin die Reise geht.
Ein Datenflaneur muss die Wahrnehmung auf Punktuelles richten. Über die Grundregeln auf dem Planeten lässt sich nur spekulieren, & mit dem Ausflug zum Mars ist die Raumfahrt auf einer Einbahnstraße gelandet.
Worte simulieren Geschehen, & niemand kümmert sich darum, ob es & wie es tatsächlich stattgefunden hat. Genauso gilt, dass nichts geschieht, was nicht geschrieben steht. Die Gegner der gegenwärtigen Ordnung operieren mit Versuchsanordnungen, die sie solange verschieben, bis es zur Umwandlung der faktischen Verhältnisse kommt. Die Agenten, die diesen Austausch betreiben, werden Daten-Surfer genannt. Allerdings sind die Ergebnisse ihrer Zufalls- & Nebelaktionen wenig verlässlich, & kulturell gesehen werden sie als Varieténummern belacht. Das Publikum grölt, wenn es einen Random-Techniker auf frischer Tat ertappt. Kausal betrachtet befindet sich die globale Ordnung im Belagerungszustand. Die Notwendigkeit einer Generalprobe für das Schicksal des Planeten wird immer dringlicher. Zugemüllt von schriftlichem Ramsch verliert der „Basic-Realist“ seinen Verstand, & auf Sekundärtexte ist noch weniger Verlass.
Der Kopf eines Nobelpreisträgers für Literatur wird von MS-13 Gangmitgliedern durch die leeren Ränge der Königlich Schwedischen Akademie geschleift. Der humanoide Vormund eines in der Petrischale gezüchteten Gehirnersatzes versucht das zu verhindern, indem er das ethische Einsatzkommando alarmiert. Bevor es eintrifft, wird die Akademie in ein Wachsmuseum umgewandelt & ist über Nacht zu einer Touristenattraktion geworden.

Es gibt Nachmittage, wenn es kein Entkommen aus den Vorstädten gibt. Status quo heißt auf der Stelle treten, & Fakten in der Altstadt verkommen lassen.
In Neu-Köln wurden Schwule als „Perverse“ beschimpft. Die thermodynamische Zone zog sich an der Küste wie eine Blockchain entlang. Im Kampf gegen Viren & Trojaner lüfteten verzweifelte Traditionalisten täglich ihre Matratzen. Der Flaneur, der durch staubige Straßen schlenderte, fand keine Fakten, an die er sich halten konnte. Der Himmel über der Zone erstrahlte im Gletscherblau eines Hologramms. Fluchtpläne wurden zu horrenden Preisen gehandelt, aber die Routen auf ihnen erwiesen sich als falsche Fährten & führten zurück in die Gedächtnisstadt. Geheimnisse der Ausbeutung warfen die Gesetze des Marktes über den Haufen. In der allgemeinen Beschleunigung waren die Bildschirme der Fernseher auf die Größe einer Stecknadel geschrumpft.
Zerstörungen in amerikanischen Kleinstädten geschahen hauptsächlich nachts. Traditionalisten zeichneten sich durch geschichtliche Teilnahmslosigkeit aus. Bei sozialen Unruhen & Tumulten wurden die gegnerischen Fraktionen automatisch getrennt. Auch bei Cocktailpartys konnte auf Kontrollmaßnahmen nicht verzichtet werden. Es gab Tage, wenn die Unruhen nie nachließen. Die Kommission für sozialen Widerspruch ging davon aus, dass sie in der Zone einen Freibrief für schrankenlose Organisation hatte. Die kodifizierte Welt beruhte auf einer ausgeklügelten Struktur kausalen Handelns. Widerspruch musste bestraft werden, weil er den gesellschaftlichen Frieden störte. Das Gedächtnis der Aufklärung war aus dem öffentlichen Bewusstsein verschwunden. In einer Atmosphäre, in der Probleme als unlösbar galten, entstand Raum für ein Spitzelsystem, & das Kontrollarchiv galt als letzte Instanz für politisch korrekte Meinungen. Dem Bürger wurde eine Unfähigkeit zum Wandel unterstellt. Brisante Darstellungen, etwa in Form von Dokumentationen, wurden von medialen Gremien als irreführend abgelehnt.
Spitzel: „Ich bin auf Transparenzgeräte spezialisiert, die anzeigen, was hinter fremden Wänden geschieht.“ Im Interesse der Verwaltung musste auf das schwächste Glied in der Datenübertragung geachtet werden. Kontrolle war erst perfekt, wenn sie keinem Zweck mehr diente.
Übergriffe auf die Wahrheit prägten das städtische Bild der Zone. Wenn Wahrheit das ist, was geschrieben steht, musste gefragt werden: Wer schreibt? Leser, die den Zentralen Datenspeicher anzapften, in dem sämtliche Fragen & Lösungen gespeichert waren, sahen im geschriebenen Wort ein mit undurchsichtigen Motiven befrachtetes Zeichen. Erneuerung durch Zerstörung hieß, die Bilderbank stürmen & am Fundament von „persönlich“ & „öffentlich“ zu rütteln. Bei der Eroberung der eigenen Sichtweise wurde der TV-Bildschirm zum ersten Ziel.
Noch einmal erschien die abendländische Geschichte im letzten Schimmer der Menschheitsdämmerung. Hier der Erfahrungshorizont & dort das hypertrophe Ich. In der kodifizierten Welt drohte jede Handlung in der Fülle von Daten & Zeichen unterzugehen. Es gab keine Verbote, die das Gedächtnis mit der Erinnerung zur Deckung brachten. Bezugspunkte wurden von der Beschleunigung geschluckt. Sobald Big Data übernahm, hatte das Bewusstsein ausgedient. Jedes Objekt konnte die Funktion eines beliebig anderen übernehmen. „Sehen Sie, Boss, ich bin spezialisiert auf kryptische Bilder, die sich wahllos verändern & neu arrangieren lassen.“ Es war der Kontext, dem die Image-Schärfe ihre Gestalt verdankte. Mit der Zeit entfernten sich die Dinge von ihrer spezifischen Bestimmung, & der europäische Mythos von der Funktion des Ganzen begann zu verblassen.

Man muss einen Stadtplan auf den Knien haben, auf dem Schriftzeilen sich wie Straßen hinziehen, um sich ein Bild vom Montageprinzip zu machen. In den Außenbezirken der Zone konnten kritische Auseinandersetzungen einen Flaneur in einen Schlafwandler verwandeln, der sich weder auf gewohnte Erscheinungen noch Phänomene verlassen konnte & dem nur Schweigen geblieben war. Die dicht gedrängten Dächer einer Vorstadt verschwammen in der spontanen Oberflächenwahrnehmung, die das Hier & Jetzt zu einer beliebigen Chiffre machte.
Die exterritorialen Jahre wurden einst die biografischen genannt. Einige Genossen waren dabei im Knast gelandet. An luziden, filmischen Rechtfertigungen fehlte es nicht. Intakte Sätze waren mehr denn je semantischen Zerreißproben ausgesetzt. Glauben Sie, was da schwarz auf weiß vor Ihnen steht?
Der beschreibende Code erweist sich als unbrauchbar, wenn der Zufallsfaktor als treibende Kraft übernimmt. Die Grenzen der Zone wurden von der Ausbreitung der Außenbezirke bestimmt. Wie Dokumentarfilme zeigten, blieben auf einem geometrischen Kontinent vor allem die südlichen Viertel unter einem Netz undurchdringlicher Geheimnisse verborgen, & das hieß, dass sie sich jeder schriftlichen Darstellung entzogen. Straßen wurden wahllos gesperrt & Viertel, durch die sie führten, verschwanden über Nacht. Auf Fragen, wo sie geblieben waren, hieß es, sie seien der Stadtplanung zum Opfer gefallen.
Manchmal gelang es sensiblen Flüchtlingen, in den Häusern der Altstadt Zuflucht zu finden. Es gab Zwischenstufen, die eine Rückkehr, wenn auch nur vorübergehend, in die Vergangenheit möglich machten. Nur spontan & in flüchtigen Augenblicken konnte das radikale Jetzt in Flashbacks einer spontanen Wahrnehmung auftauchen.
Der erste Schritt zum Abschied von der Gegenwart ist nicht ohne einen biologischen Nachfolger zu schaffen, was gewöhnlich nur mit Hilfe eines Dritten gelingt. Ein Dritter spielt immer eine Rolle, wenn es ums Verschwinden geht. Wenn zwei sich einig sind, kann die Übernahme durch einen Dritten beginnen, der entweder als Beobachter oder Agent auftritt. Der Plan dafür beruht auf grammatikalischen Regeln, die für die digitale Kommunikation unerheblich & von denen die meisten praktisch verschollen sind.
In der Zone kam es vor, dass man mitten in der Nacht aufwachte & feststellte, dass man telepathisch Gedanken empfangen & lesen konnte (die einzige Art des Lesens, auf die noch Verlass war). Geografische Orientierung reichte nicht aus, denn die meisten Straßen verliefen nach dem Zufallsprinzip. Einige zogen sich endlos hin, andere endeten nach wenigen Häuserblocks. Gedankenstriche waren absolut nötig, um sich im Stadtbild der Zone zurechtzufinden.
Wer als Flaneur unterwegs war, montierte seine Streifzüge aus Randomschritten. Der Orientierungssinn richtete sich nach virtuellen Hinweisen aus den im städtischen Panorama versteckten Zeichen. In einem als unseriös eingestuften Fremdenführer stand, dass Luis Buñuels Grab auf den Hügeln oberhalb der Zone lag. Nach literarischen Merkmalen allerdings suchte man im Stadtbild vergebens. Sie waren entweder verblasst oder kritischen Zweifeln zum Opfer gefallen. Sprache diente vor allem als Entschlüsselungscode für archäologische Funde.
Die Atmosphäre in der Zone suggerierte einen Zustand, in dem es weder Grenzen noch Ziele gab. Die geometrisch angelegten Außenbezirke täuschten vor, frei von Geheimnissen zu sein. Aber es war nicht zu übersehen, dass hier vor allem Fellachen & Beduinen siedelten. Ein Wanderer musste mit dem schriftlichen Versuch scheitern, etwas über die Lage der Zone festzuhalten. Auf welcher Seite des Äquators lag sie? Wie weit nach Süden oder Norden reichte sie? Zwar kursierten stark fiktiv belastete autobiografische Berichte, & in Dokumentarfilmen wurden surrealistische Landschaften gezeigt. Auch gab es Zwischenstufen, die an jeder Straßenecke andere, von den Störfaktoren der Übertragung verseuchte Assoziationen auslösten. Die Altstadt galt als Ort der Inkompetenz, wo sich die Lebensbedingungen laufend änderten. In Touristenhotels kam es ständig zu Auseinandersetzungen darüber, was auf realistischen & was auf suggerierten Vorstellungen beruhte.
Von Zeit zu Zeit (vor allem, wenn von „Arabern“ die Rede war) kam es zu Paniken, die den Sicherheitskräften zusätzliche Einnahmen verschafften. Ein Mädchen trank Ziegenmilch & schon wurde in den Medien über Menschenhandel & Kinderkrieger spekuliert. Französische Intellektuelle entdeckten den europäischen Einfluss auf maghrebinische Fehlentwicklungen. Politiker nutzten die Streitigkeiten, um auf Distanz zu populistischen Tendenzen zu gehen. Verschiedene Interessensgruppen schmiedeten einen Pakt, der das bewährte Links-rechts-Muster umging. Auf dem internationalen Platz der Macht wurde um Informationen nach den Regeln des Showgeschäfts geschachert.
Es kam vor, dass Schieber & Zwischenhändler, die ihre konspirativen Strategien für eine Alternative zur „kolonialen Unterwanderung“ hielten, bei dunklen Geschäften in einen Stummfilm gerieten, der ihr Geplapper wortlos machte.
Allmählich entwickelte sich die Zone zu einer Arabeske des vierten Wegs, wo statt Untertitel nur Schlagzeilen zählten. Welche Promis hatten es mit welchen getrieben? Wahre Absichten wurden nicht ohne Rückendeckung inszeniert. Mit getürkten Meldungen konnten spielend elektronisch generierte Identitäten gewählt werden. Angriffe aus dem fiktiven Raum waren nicht zu identifizieren. Über Grabenkämpfe zwischen einzelnen Fraktionen, an denen sich Publizisten aus allen Lagern beteiligten, wurde ausführlich berichtet, um die Auflagen der Printmedien zu erhöhen. Extremisten ergriffen die Chance, sich mit griffigen Twittersprüchen einzumischen.
Das Verhältnis von Ziegenmilch & Politik zu behandeln, galt als ambivalent & riskant. Diplomaten, die besonders niederträchtig mit Informationen umgingen, hielten sich an der Macht, indem sie scheinbar behutsam auftraten. Keine Konflikte, keine Polarisierung, war ihre Devise. Niemand konnte sagen, wohin der vierte Weg führte. Er wurde schließlich als Vernebelungstaktik & Nährboden fauler Kompromisse gleichzeitig gepriesen & diffamiert. Im virtuellen Raum tobten unübersichtlich inszenierte elektronische Grabenkämpfe & erstickten kritische Auseinandersetzungen.
Wenn das Alphabet mit Geschichte kollidiert, bleibt nur: Einfach dazwischen gehen, einen Freibrief unterschreiben, & den Broadway hinuntersegeln…

Den Auftrag hatte ich längst fahren gelassen. Jetzt ging es nur noch darum, die Zone schleunigst zu verlassen, indem ich versuchte, unterm Datenradar durchzuschlüpfen. Aber die Kontrolleure der „Wahrheitssysteme“ hatten sämtliche Kanäle blockiert. Eine Zeitlang legte ich fiktive Spuren, um Schnüffler abzuschütteln, die wie Zecken an mir klebten. Der Autor in mir, an den ich kaum noch dachte, hatte ein untrügliches Gefühl dafür, wann es brenzlig wurde. Ich wollte nichts von ihm wissen & hörte nicht auf ihn. Aber allmählich wurde mir klar, dass ich in der Klemme saß. Ich bat ihn um den Gefallen, mich einer biografischen Transformation zu unterziehen. Allein schaffte ich das nicht, aber mit seiner Hilfe…
„Was verlangst du dafür?“, fragte er.
„Um Kohle geht’s nicht.“
„Seit wann?“
Er wollte mich nicht verstehen & riet mir, es mit einem Unschuldsengel zu versuchen. Das war dieselbe Masche, mit der sich der Fliegende Holländer vom Fluch eines endlosen Lebens befreien wollte. Bedingungslose Liebe sollte ihm den lang ersehnten Tod bringen. Ich fragte mich, ob es auch mit einem Flittchen oder einer Emanze klappen würde, wo doch die reine Liebe mit der Romantik vergangen war. Inzwischen drehte sich Liebe um die Frage, wer den Müll rausträgt, & Unschuld war mit der Frauenpower auf der Strecke geblieben…
Wer sich als Mann ausgab, konnte in der Zone schnell unangenehm auffallen. Er wurde als Chauvi geschmäht, der in der falschen Epoche gelandet war.
Der Autor verriet mir, dass er sich mit einem Roman über die Machenschaften des Komitees für Interne Frage befasse, ein Ansinnen, für das ich nur ein müdes Lächeln übrig hatte. Auch die Unauffälligen wurden Opfer der Ideologie. In einer „falschen Epoche“ blieb niemand ungeschoren, was daran lag, dass Konsens ansteckend war.
Mit dem Gerücht, dass Informationen unterirdisch gespeichert wurden, brach ein regelrechtes Fluchtfieber aus. Jeder versuchte seinen genomischen Datensatz zu retten, was in Umkleidekabinen immer wieder zu unerwarteten Konflikten führte. Wer war der Schatten, der wie ein Pantomime die Gestalt & Bewegungen einer Frau nachahmte, die sich in gebückter Haltung den Slip hochzog? Jeden Augenblick konnte sie an ein als Algorithmus getarntes Datenprofil geraten, das sie unter dem Deckmantel sexueller Belästigung aus der Fassung brachte. Belästigung oder nicht, sie schaffte es, den Angriff auf ihre mühsam zurechtgebastelte Identität abzuwehren, indem sie sich als androgyne Emanze ausgab.
Die Realität hing wie eine Klette an mir. Wenn es brenzlig wurde, konnte ich mich vorübergehend in die Fiktion zurückziehen & wochenlang von Salzstangen & Sprudelwasser leben. Aber irgendwann ließ mich die Illusion der Singularität im Stich. In einem ideologisierten Milieu sind es gerade die Unauffälligen, die sich verdächtig machen & ins Visier des Komitees für Interne Fragen & damit in eine Fangschaltung der elektronischen Überwachung geraten.
Durch den Schreibvorgang, behauptete der Autor in mir, konnte sich der ganze Informationsgehalt der Zellen mit einem Schlag entladen & „du stehst mit leeren Händen da“. Wenn das passiert, verwandelt sich der Körper in einen Schatten. Wohin mit dem Ektoplasma, das ist dann die Frage. Ein Schatten entzieht dem Körper die Epidermis, & er kann jede Form annehmen, sichtbar oder nicht.
„Aber die Möglichkeiten, sich in eine dritte Darstellungsform zu retten, verrate ich dir nicht“, sagte der Autor.
Er war zweifellos ein Scharlatan, der mit der List eines Lockvogels & aus dem Hinterhalt auftrat. Allmählich wurde mir klar, dass er mich in eine Falle locken wollte mit der Folge, dass ich nie einen Roman hinkriegen würde. Was einerseits für ihn sprach, andererseits aber war er eine Nervensäge & warf mit Phrasen wie „Protoplasma ist eine Einbahnstraße“ um sich & faselte vage von Fluchtplänen.
Ich schloss die Augen & sah Parkplätze & dampfende Gullys, zwischen denen ich durch die Zone irrte. Es roch nach fleischlichem Zeitungspapier & Abfall in Plastiktüten. In einem Hausflur wollte mir eine dunkle Gestalt eine genetische Verjüngungskur andrehen. Wimmern & Lustgestöhn schwirrte durch die Dunkelheit.
Im Schein des Mondlichts blitzte kurz die Silhouette eines weißen Cadillacs auf, der durch eine hügelige Landschaft fuhr, die von Wiehern & Grunzen erschüttert wurde. Er hielt, die Tür öffnete sich & die schlanken Beine einer Frau schoben sich ins Freie. Sie zögerte, entschloss sich dann aber, sich die Füße zu vertreten. Im Licht der Scheinwerfer konnte ich sehen, wie sie nach wenigen Schritten bis zu den Hüften im Treibsand versank…

Das Filmskript, das ich noch immer mit mir herumschleppte, war ein Dummy. Die Seiten waren mit Fluchtgedanken bekritzelt & kaum noch lesbar. Wegen der Überwachung durch das Komitee wagte ich nicht, ein Hotelzimmer zu nehmen. Ich schlief im Wagen auf Parkplätzen & Aussichtsterrassen. Aus Autos, die in der Nähe standen, war manchmal lautes Lustgestöhn zu hören, das gelegentlich in ein Grunzen überging, wie es beim Oralsex entsteht.
Kosmische Strudel fegten über den Kontinent, & Schwarze Löcher blieben zurück. Ich wollte mich nach Westen durchschlagen, was aber widrige Umstände immer wieder im letzten Augenblick verhinderten, weil entweder Bullen auftauchten & ich eine andere Richtung einschlagen musste oder die Straße an einer Küste endete, wo es nicht weiterging.
Ich überlegte, ob es eine Möglichkeit gab, die Zone per Schiff zu verlassen, was allerdings mit den Gefahren eines historischen Romans verbunden war, in dem Leute um die halbe Welt reisen & dabei riskieren, in die Hände von Piraten zu geraten. Ich wollte mich nicht auf Rückblenden einlassen, denn aus der Vergangenheit kehrt niemand unbeschadet zurück.
„Die besten Ficks…“, erklärte mir ein Matrose. Aber ich winkte ab. Matrosen sind Dilettanten, wenn es um Lust & Befriedigung geht. Im Umgang mit Frauen war es besser, keine großen Töne anzuschlagen & den Mund zu halten.
Ein wenig Skopolamin kann einer Story nicht schaden. Es dämpft den Ekel vor überdeutlichen Bildern, wenn sie anfangen, sich wie Schlingpflanzen um die Nervenstränge zu ranken. Ich kaute Ginkgo, um im Gewirr von Gassen & Passagen einen klaren Kopf zu behalten. Ich wollte endlich die Rolle loswerden, die im Skript für mich vorgesehen war.
Unter der Kuppel eines türkischen Bads kamen mir starke Zweifel, ob die Story dafür taugte, meinen Auftrag unauffällig zu erledigen. Ich wartete auf eine Gelegenheit, den Panikknopf zu drücken & mich aus den zusammengewürfelten Szenen des Plots zu katapultieren. Es reichte nicht, einen Kaffee nach dem anderen zu trinken & im Gedränge von Touristen unterzutauchen. Die Stadt, durch die ich mich bewegte, blieb Theaterkulisse. Schön anzusehen wie der Teint einer Blondine, aber von keinen Eigentümlichkeiten getrübt. Die Schatten der Zypressen & Zedern zerbröselten, & auf dem Silver Screen blieben verschneite Fade-outs zurück.
Aus einem Zeitungsbericht erfuhr ich, dass der vermisste DJ bei einer Gegenüberstellung leugnete, sich das Leben genommen zu haben. Er deutete an, dass er vom Rummel um seine Person die Nase voll hatte. Ich glaubte ihm kein Wort, & der Reporter hakte nicht nach. Die Angelegenheit erwies sich als geschickter Publicity Stunt.

Ich nahm ein Flugzeug nach Guatemala, wo ich wegen der Regenzeit drei Tage auf einem miesen, kleinen Flugplatz festsaß. Ständig hieß es, die Maschine nach Mexiko würde aufgetankt, aber dann wurde der Flug immer wieder verschoben, weil ein Gewitter die Abfertigung unmöglich machte.
Immer mehr Passagiere tauchten auf & die Abflugshalle füllte sich. Als alle Sitzplätze belegt waren, setzten die Leute sich auf den Boden. Manche packten Proviant aus, andere schliefen. Die meisten waren in ihr Handy vertieft & versuchten, Verbindung zur Außenwelt aufzunehmen. Immer wieder fiel die Klimaanlage aus & es wurde stickig heiß.
Das Personal an den Schaltern wechselte & machte hinhaltende Ansagen. Draußen, in der Dunkelheit, zuckten immer wieder Blitze auf. Wartende berieten, ob es einen Ausweg aus der Misere gab. Zurück in die Stadt? Bis zum nächsten Tag durchhalten? Auf den Tisch hauen & sich Klarheit verschaffen?
An einem kleinen Stand gab es Getränke & Sandwiches, der ständig belagert wurde. Um ihn zu erreichen, musste man sich einen Weg durch Koffer, Taschen & auf dem Boden Sitzende bahnen. Irgendwann hieß es, dass die Maschine zwar betankt sei, aber die Besatzung ihre Dienstzeit überschritten habe & eine andere angefordert werden müsse.
Allmählich schwand das Gefühl für Zeit. Wo zum Teufel war ich überhaupt? Ein Mann in meiner Nähe fragte, ob es eine Möglichkeit gab, ein Wasserflugzeug zu chartern. Ich hatte keine Ahnung, was ihn auf diese Idee brachte. Ein anderer schlug vor, es mit einem Heißluftballon zu versuchen, sobald der Sturm sich verzogen hatte. Mir war mehr danach, die Nacht in einem Puff abseits von Touristenhotels zu verbringen. Aber mit einem Transitticket konnte ich das Flughafengebäude nicht verlassen.
Manchmal ertappte ich mich dabei, dass ich eine Art Zuneigung für eine Gestalt in meiner Nähe entwickelte. Eine junge Asiatin, die eine lange Reise hinter sich zu haben schien, saß ruhig & gelassen da, als meditierte sie mit offenen Augen. Kinder spielten gleichmütig mit Voudou-Puppen, die sie aus der Tasche ihrer Mütter gekramt hatten. Ein dunkelhäutiger Reinigungsmann in einer adretten Uniform am Eingang zum Klo, der sich mit der Gelassenheit ländlicher Bewohner bewegte, schaute verwundert auf das wirre Getümmel in den Gängen. Es war ein Anblick, der ihn vermutlich an den Errungenschaften der Zivilisation zweifeln ließ.
Ich verlor die Hoffnung, diesen Ort je wieder zu verlassen. Es schüttete unentwegt, & selbst wenn der Regen vorübergehend nachließ, wurden die Phasen der Beruhigung von Donner & fernen Blitzen erschüttert. Es war, als hätte ich Tage auf einem unbequemen Sitz verbracht. Von Zeit zu Zeit stand ich auf, um mir einen ruhigen Fleck im Abflugsbereich zu suchen, wo die Luft ein wenig besser war. Damit riskierte ich, anschließend keinen Sitzplatz mehr in der Nähe des Abfertigungsschalters zu finden mit der Aussicht, die nächsten Stunden in einer Ecke am Boden zu verbringen.
Gäste standen an den Fenstern & verfolgten das nächtliche Spektakel auf dem Vorfeld. Kurz blitzten Umrisse von Maschinen auf, dann verschwanden sie wieder hinter einer Schattenwand.
Zeitweilig wurde es atemlos still in der Halle. Die meisten Leute schliefen. Als ich einen Blick nach draußen warf, konnte ich Palmstämme erkennen, die sich im Wind bogen. Die Rippen einer Jalousie klapperten, & ich glaubte, in einen Hurrikan geraten zu sein. War es möglich, dass die Airlines das den Wartenden verheimlicht hatten? Alles war möglich an einem Ort, der von der Außenwelt abgeschnitten war. Kaum zu glauben, aber es kam mir vor, als wäre das Bodenpersonal hinter den Schaltern gegen Schaufensterpuppen ausgetauscht worden. Manchmal waren Ansagen zu hören, von denen ich kein Wort verstand.
Wieder zuckten Blitze auf & verzerrten die Gesichter in meiner Nähe. Plötzlich wurde mir klar, dass der Strom & mit ihm die Beleuchtung ausgefallen war, wodurch sich das Treiben in der Halle nur bruchstückhaft erkennen ließ, wenn ein verirrter Lichtschein über zusammengesunkene Gestalten & Gepäckstücke glitt. Kinder schrien im Schlaf auf. Dunkle Gestalten wankten durch die Sitzreihen, als suchten sie einen Verdächtigen, der durch die Sicherheitskontrolle geschlüpft war. Verschlafen hantierte ein Mann in einem Poncho mit Pillen & Pulvern, die er verstohlen zu sich nahm. Frauen saßen da wie in Gedanken an ein vergessenes Gewerbe versunken. Spärlich bekleidete Engel huschten zwischen den Schlafenden herum, um Hilflose mit dem Nötigsten zu versorgen.
Aus den wahllos zusammengewürfelten Passagieren war eine Gemeinschaft von Gestrandeten geworden, die ohnmächtig auf ein Zeichen der Rettung warteten. Kranke, denen die Medikamente ausgegangen waren, gingen die Nerven durch. Einige wurden von Zuckungen erschüttert, andere versanken in regloser Apathie. Schwarzmarkthändler boten nutzlose Waren an, die sie in Seesäcken mit sich herumschleppten.
In meiner Nähe saß ein Mann, der ständig fotografierte & sich Notizen machte wie ein Ziviler, der Einzelheiten für einen Lagebericht zusammentrug. Schachspieler hatten sich am Boden niedergelassen & versuchten, sich auf die Figuren zu konzentrieren, die aber immer wieder von achtlos Auftretenden über den Haufen geworfen wurden.
Blicke einer Lesbe verrieten, dass sie keinen Mann in ihrer Nähe wollte & in tödlicher Mission unterwegs war. Ein suchtkranker Junky saß da wie von einer Krankheit befallen, die ihn an jeder Regung hinderte. Er schien die Gegenwart hinter sich gelassen zu haben & in eine zeitlose Ära abgetaucht & zum Scheintoten erstarrt zu sein. Die Abfertigungshalle glich allmählich einem Asyl verirrter Seelen, die in einem Zustand zwischen Verzweiflung & Aussichtslosigkeit gefangen waren.
Ein Forschungsreisender mit Augen, die nach einem langen Dschungelaufenthalt zugeschwollen waren, hinkte zwischen den Wartenden herum. Sie wichen erschrocken zurück, wenn er ihnen zu nah kam. Ein betrunkener Bulle schlug wild um sich, um sich Moskitos vom Hals zu halten. Er fuchtelte mit unleserlichen Meldezetteln herum, die er für gefälschte Rezepte für Ayahuasca hielt. Ein Indio mit kupferfarbenem Gesicht ahmte die Laute von Urwaldtieren nach. Zwischendurch schwirrten Schwaden von Pulque durchs Gedränge in der Halle. Tote, die kaum von apathisch Ausharrenden zu unterscheiden waren, wurden auf Bahren ins Freie gebracht & den Aasgeiern überlassen.
Zerlumpte Geisterwesen drängten sich um einen klapprigen Spielautomaten, den sie mit Chips aus Knochenteilen fütterten. Halb Verhungerte & von geisteskranken Göttern besessene Sektenmitglieder schleppten sich mit letzter Kraft ins Klo, wo sie sich auf einen Sitz fallen ließen & ihr Leben aushauchten.
Abenteuerliche Pläne wurden ausgeheckt, erwiesen sich aber als undurchführbar, denn es gab kein Entkommen aus dem Inferno. Die Szene glich allmählich dem Sektencamp von Jonestown, wo Plastikbecher mit vergiftetem Kool-Aid verteilt wurden. Einige Passagiere waren bereit, Schluss zu machen, die meisten allerdings schreckten ängstlich vor jedem Getränk zurück & riskierten lieber, zu verdursten. Dass Vollmond war, wurde als schlechtes Omen betrachtet. Apokalyptische Visionen machten die Runde, in denen es um das Ende einer Dschungelexpedition auf der Suche nach El Dorado ging. Es hiess, der Flughafen würde allmählich von der unaufhaltsamen Vegetation des Urwalds geschluckt & verschwinden, wie einst die Tempelstädte der Maya. Zwischen Koffern & Taschen ringelten sich Schlangen. Frauen schrien & Männer gingen mit Plastikmessern & Gehstöcken auf sie los. Nach kurzer Zeit bot die Halle ein Bild mörderischer Zerstörung.
Was tun in einer aussichtslosen Lage? Ruhe bewahren hiess, dem Verderben in die Augen schauen. Ich war von Geistern umgeben, die wie Sternschnuppen durch die Dunkelheit rauschten. Ein paar Verwegene, die den Platz vor dem Flughafen erreicht hatten, klammerten sich an Palmstämme, um nicht von Regengüssen & Sturmböen mitgerissen zu werden. Ein zerfetztes Kleid flatterte im Wind. Die Finsternis hatte sämtliche auf dem Vorfeld abgestellten Maschinen geschluckt. Längst waren Snacks & Getränke ausgegangen. Rettung war nicht zu erwarten.
Allmählich verschwand das Gefühl für Schatten, & das Flugfeld war einem bunt gefleckten Mohnfeld gewichen. Jemand fragte nach einer Möglichkeit, in die nächste Stadt zu kommen. Ein Uniformierter meinte, dass es weit & breit keine Stadt gab.
Das Klo glich plötzlich einem türkischen Bad, in dem Männer mit Handtüchern um die Hüften standen & sich unterhielten.

Ich nutzte die Gunst des Augenblicks, um die letzten Tage zu vergessen & einen Bus oder ein Taxi zu ergattern, ganz gleich wohin. Als ich ins Freie trat, fuhr mir ein Hauch von exotischen Gewürzen in die Nase. Ich wusste, es würde eine lange Reise werden. Ich erinnerte mich nicht, wie es dazu gekommen war, dass ich plötzlich als einziger Fahrgast in einem Bus saß, der durch die Schneise einer dichtbewachsenen Landschaft fuhr. Manchmal tauchten Fußgänger auf, ihre Gesichter mit Tüchern vermummt.
Die undurchdringliche Vegetation öffnete sich zu einem Strand, auf dem wie auf dem Korridor eines Hospitals Patienten mit blutgetränkten Verbänden herumliefen. Vor einer schäbigen Hütte wurde auf Widerspenstige eingeprügelt & Fliehende mit Bolas & Ruten mit Widerhaken gejagt. Ein bläulich angelaufener Asiate lief mit einem Kris in der Hand Amok… & eine skandinavische Touristin stürzte sich von einem Felsvorsprung in die Tiefe eines Wasserfalls.
Von Zeit zu Zeit hielt der Busfahrer & betrachtete eine Landkarte, als hätte er sich verfahren. Es war ein heißer Septembertag, & die Ausläufer eines Hurrikans verhüllten die Sonne. Aus dem Off war ein nervöses Kichern zu hören. Es klang, als würde sich jemand darüber amüsieren, dass der Fahrer die falsche Richtung eingeschlagen hatte.
Während ich mit geschlossenen Augen auf dem schlecht gepolsterten Sitz im Bus saß, verfolgten mich Albtraumbilder. Wenn ich bestimmte Reizwörter wie Yagé oder Traumstrand hörte, bäumte sich mein Körper auf. Ich wusste, die Landschaftsbilder würden über kurz oder lang in einem Filmarchiv verschwinden.
Es gab Anzeichen, dass es im Erbgut des verseuchten Planeten zu genomischen Mutationen gekommen war. Berichte über ungeklärte Unfälle häuften sich. Als Ursache für einen Fehler, bei dem der Pilot vom Kurs abgekommen war, wurde die Hitze genannt. Tatsächlich hatte sich das Magnetfeld verschoben & die Richtung geändert.
Es gab Tage, die, verbunden mit einem Gefühl erotisierter Gleichgültigkeit, geeignet waren, den Kontinent physiologisch hinter sich zu lassen.
Allmählich entfaltete sich in meinem Unterbewusstsein der Fahrplan für eine Fahrt ins Unbekannte, der mich in einen Zustand versetzte, der dem des Fliegens glich. Hinter sich lassen… in räuberische Gegenden geraten… in Hieroglyphen denken… akustischen Schatten nachgehen… Wörter kitzeln & Dinge zurücklassen… sich Gefechte mit Bildern liefern… Gebiete ideologischer Kriege meiden… Sprache mit dem Stoffwechsel abstimmen… auf Flammen balancieren, die aus der Hölle hochschlagen… im freien Fall Straßenkontrollen überwinden…
Sucht lauerte hinter sozial gesteuerten Kodifizierungen. Aussagen zur geistigen Selbstverstümmelung mussten ständig angepasst werden. Auf den Boden spucken, & in einem gottverlassenen Nest einen Seco schlürfen.
Sprache kann einen überall erwischen.
Langsam verfärbte sich der rote Faden des chronologischen Ablaufs. Flimmerndes Blau ging in der Hingabe in einen nackten Körper über. Im schwachen Schamlicht glitzerte ein venezianisch verzierter Tisch. Es war ein Bild, das mich den Fluch des räumlichen Sehens spüren ließ…
In der Komplexität von Flauten zwischen Passatwinden verschwanden die Koordinaten des Bewusstseins, & die Gegenwart beschränkte sich auf Schwitzen, Trinken & Flugerinnerungen im triebhaften Takt von Traum & Rausch beim langsamen Hinübergleiten in den außerirdischen Raum…

MOLOKO PRINT 045 | 2018
© Jürgen Ploog
Collagen. Jürgen Ploog
Gestaltung. Robert Schalinski
ISBN 978-3-943603-48-4

Jürgen Ploog war Schriftsteller und Publizist. Er war 33 Jahre lang Linienpilot, seit 1993 widmete er sich ausschliesslich dem Schreiben. Er lebte in Frankfurt und Florida. Am 19. Mai 2020 starb Jürgen Ploog 85jährig an den Folgen eines Herzinfarkts.

«Jürgen Ploog, eine Gegenfigur zum etablierten Literaturbetrieb» von Florian Vetsch

Beitragsbild © Cohen Archive LLC

Helena Adler «Die Infantin trägt den Scheitel links», Jung und Jung, Gastbeitrag «Konzepte»

Die Österreicherin Helena Adler beherrscht die Kunst der Übertreibung wie weiland der Grossmeister des Grants, Thomas Bernhard. Sie verwandelt eines seiner Lieblingsthemen, die Verkommenheit des Landlebens, in ein Sprachkunstwerk zwischen katholischer Klagelitanei und brachialem Punksong.

Wutrede aus der „Misthaufenresidenz“
Gastrezension von Christian Lorenz Müller

Biobauernhöfe haben ein gutes Image. Anstelle von Gülle und Kunstdünger lässt krümeliger Mist das Gras und das Getreide spriessen; den Kühen wird nicht zwei Mal am Tag ein Protein-Burger aus brasilianischem Soja vorgesetzt, sondern gesundes Vollkorn-Heu von der artenreichen Wiese hinter dem Haus. Die ländliche Idylle ist in den Köpfen der Stadtbevölkerung längst wieder komplett – auch in Salzburg. Dort zerschmetterte in den 1970er Jahren Franz Innerhofer das Bild vom beschaulich-friedlichen Landleben. Der Bergbauernsohn war vom eigenen Vater über Jahre hinweg als Arbeitssklave missbraucht worden; seine stark autobiographisch geprägten Romane zeichnen nach, wie er sich unter grössten Mühen einen Weg aus einer sprach- und fühllosen Familie bahnt, wie er zum Schriftsteller wird, und, von der literarischen Welt tief enttäuscht, schliesslich wieder verstummt. 

Nun hat ein anderes Bauernkind aus Salzburg einen Roman über das Aufwachsen auf dem Land vorgelegt. Helena Adler, Jahrgang 1983, stammt von einem biologisch bewirtschafteten Betrieb, der hoffentlich nicht in allem das Vorbild für den Hof abgegeben hat, den sie beschreibt. Allein schon die Figuren in ihrem provokanten Text sind allesamt zum Fürchten: Zuvorderst das „wilde Vatertier“, das zwar „lieb zu seinen Kindern“ ist, ansonsten aber „alle anderen auffrisst.“ Kurz vor Weihnachten fährt dieses Vieh mit seinem Nachwuchs in die nahe Stadt, kauft auf dem Christkindlmarkt Halbedelsteine, an deren Heilkraft es glaubt, und pöbelt ein paar Minuten später im Dom gegen die katholische Kirche. Die Mutter hingegen, eine Person von „abgründiger Fürstlichkeit“, füllt die Opferstöcke der Gotteshäuser mit einem Geld, das die Familie nicht hat. So überschuldet ist das Anwesen, dass erst ein Blitzeinschlag Erleichterung bringt: Der Stall brennt ab und die Versicherung zahlt. Der Vater hat wieder die Mittel für seine Ausflüge in einschlägige Spelunken und Hurenhäuser, von denen er manchmal erst nach Tagen übel zugerichtet zurückkommt. Und dann gibt es noch die Grosseltern und die Urgrosseltern, und es gibt die älteren Schwestern, Zwillinge, die sich „ihr Erbgut, ihr Hirn und die Jausenbrote“ teilen. Dass sie die Ich-Erzählerin einmal in die Selchkammer einsperren und ihr weismachen, sie werde bald „ganz schwarz“ aussehen „wie der alte Speck“, gehört noch zu den minderen Gemeinheiten, die sie ihr im Lauf der Jahre antun. 

„Der Herrgott in der Ecke am Kreuz streckt die Arme aus, seine Knie schlottern. Meine Zähne klappern. Nicht mehr lange, dann wird er herunterfallen. Wer beschützt mich dann vor den Raubschwestern?“

Es geht also denkbar derb und direkt zu in Adlers Roman. Dementsprechend ist auch die Sprache, sie packt sofort zu, sie zerrt die LeserInnen hinein in eine Welt, in der sich gegen das Beherrschtwerden nur wehren kann, wer kräftige Fäuste hat oder eine – wie man in Salzburg sagt – g‘schnappige Goschen. Die Hände der Erzählerin sind baybyweich wie Pfoten, also bleibt ihr nichts anderes übrig, als Widerworte zu geben. Wohl auch deswegen gerät „Die Infantin trägt den Scheitel links“ über weite Strecken zu einer kunstvollen Wut- und Verteidigungsrede, die immer wieder überrascht, verblüfft und verstört. Adler schwingt sich auf ihre Sprache wie auf einen Traktor, sie tritt das Gaspedal durch und brettert sicher durch schwieriges, literarisch eigentlich längst abgeschriebenes Gelände: Durch das sanft sich dahinhügelnde Katholische zum Beispiel, durch das Bitten und Beten und Psalmodieren; durch tiefe Wälder voller Jäger- und Wildererdramen und einmal sogar über die rauen, kalten Hochebenen körperlicher Arbeit, in der ein knapper Realismus herrscht.

Allerdings geht es fast immer mit Höllenradau dahin, was meistens Vergnügen macht, nach den ersten furiosen Kapiteln aber auch enerviert. Etwas vom Gas zu gehen oder den Traktor auch einmal im Leerlauf vor sich hinbullern zu lassen, hätte vor allen Dingen den Figuren gutgetan. Nur selten stolpern sie nicht schrill und überzeichnet durch die Seiten, nur selten gelangen sie kurz zu sich selbst, ehe wieder Vollgas gegeben wird und der thrashige Traktorritt weitergeht. Was steht hinter dem brutalen Gehabe des Vaters, hinter der Herrschsucht der Urgrossmutter, den Bosheiten der Zwillinge? Ist all die brachial inszenierte Wut, sind die Häme, die Verachtung der Hauptfigur vielleicht nur Fassade? Erst gegen Ende des Romans, als der Hof verkauft und die Kühe von ihrem Erzfeind, dem Fleischwolf gefressen worden sind, bringt die Autorin das erste Mal die Familiengeschichte ins Spiel, versucht, so etwas wie ein Innenleben ihrer Figuren zu rekonstruieren: 

„Er erzählt von der erdrückenden Liebe seiner Mutter. Idealisiert den Vater, der mit dem Auto im Suff einen Offizier getötet hat und dafür ins Gefängnis musste, als er, mein Vater, gerade sechs Jahre alt war.“

Derartige Sätze tragen nicht wirklich dazu bei, die Bestien vom Bauernhof nachträglich zu Menschen zu machen. Dass über ihre verschütteten Ängste, ihre unterdrückten Sehnsüchte kaum etwas zu erahnen ist, unterscheidet „Die Infantin trägt den Scheitel links“ grundlegend von Debütromanen zum gleichen Thema, zum Beispiel von Reinhard Kaiser-Mühleckers „Der lange Gang über die Stationen“ oder von Franz Innerhofers „Schöne Tage“. Trotzdem wird klar, dass das Grosswerden auf einer „Misthaufenresidenz“ über die Jahrzehnte nicht eben leichter geworden ist. Auch das Aufkommen der Biolandwirtschaft hat daran nichts geändert.

© Eva-Maria Mrazek

Helena Adler, geboren 1983 in Oberndorf bei Salzburg in einem Opel Kadett, lebt als Autorin und Künstlerin in der Nähe von Salzburg. Studium der Malerei am Mozarteum sowie Psychologie und Philosophie an der Universität Salzburg. Diverse Ausstellungen und Kunstaktionen, Veröffentlichungen in Anthologien und Literaturzeitschriften.

Diese Rezension ist eine Kooperation zwischen der Literaturzeitschrift «Konzepte» und literaturblatt.ch!

Die Konzepte erscheinen einmal jährlich und versammeln auf bis zu 180 Seiten Texte arrivierter sowie erstklassiger junger Autorinnen und Autoren. Lyrik und Prosa, Essays, Hörspiele und Rezensionen. In jeder Ausgabe werden Arbeiten von bildenden Künstlern oder Fotografen präsentiert.

Werke von bereits etablierten Autorinnen und Autoren stehen neben bislang unbekannten Stimmen. Damit ermöglichen die Konzepte den Zugang zu unterschiedlichen sprachlichen Ebenen und weisen den Weg für junge Schriftstellerinnen und Schriftsteller. „Jung“ bezieht sich hier weniger auf das Alter, sondern vielmehr auf das „zu festigende Standbein“ neuer Autorinnen und Autoren.

Seit nun schon dreissig Jahren erweisen sich die Konzepte als „Entdeckerquelle“ für schriftstellerische Debüts. Viele der hier erstmals vorgestellten Autorinnen und Autoren sind aus der zeitgenössischen Literaturszene inzwischen nicht mehr wegzudenken. Die Konzepte begleiteten den Weg zahlreicher wichtiger literarischer Stimmen, so z.B. Tanja Dückers, Joachim Zelter, Jan Wagner, Kurt Drawert, Ulrike Draesner, Nico Bleutge, Mirko Bonné, Norbert Hummelt, Marion Poschmann, Björn Kuhligk. Mit den jüngsten Ausgaben der Konzepte zeigt sich verstärkt das Interesse bekannter Dichter, neue Werke in der Zeitschrift vorzustellen, so z.B.  Günter Herburger, Jürgen Brôcan oder José F.A. Oliver.

Die Chefredaktion hatte von 1999 bis 2003 Markus Orths inne. 2003 übergab er die redaktionelle Verantwortung an die Lyrikerin Christine Langer (Findelgesichter, Jazz in den Wolken, Verlag Klöpfer & Meyer). Seit 2015 wird sie von Christian Lorenz Müller (Wilde Jagd, Roman, Hoffmann und Campe) unterstützt.

Hier bestellen Sie die einmal jährlich erscheinende Literatur-Zeitschrift Konzepte.

Beitragsbild © evatrifft.com

Über Eva und Lilith in „Schwestern wie Tag und Nacht“ von Margrit Schriber

Natürlich könnte man Margrit Schribers Roman «Schwestern wie Tag und Nacht» vordergründig als literarischen Kriminalroman lesen. Oder als eine Erzählung über Geschwisterrivalitäten, wie sie häufig in Familien mit mehr als einem Kind vorkommen. Man könnte es ebenso als eine Geschichte über Neid und Niedertracht, von Glück und Pech im Leben, von Aufstieg und Untergangverstehen.

© Evelina Jecker Lambreva

Gasttext von Evelina Jecker Lambreva

Alice Zaugg, eine der angesehensten Frauen im Dorf, ist verschwunden. Martha, die «niemand für ihre Schwester hielt», hatte sie zuletzt gesehen – an ihrem traditionellen «Schwesternverwöhntag». Nun wird Martha auf dem Polizeiposten befragt. Frau Irene – oder die «Haselmaus», wie Martha sie bezeichnet – ermittelt. Martha erzählt von Schwesternliebe und Abhängigkeit, von Bewunderung und Eifersucht, von Schwestern wie Tag und Nacht. Die selbstbewusste, ehrgeizige Alice ist verstrickt in Dorfintrigen, ihre Lebensgeschichte und ihr Aufstieg sind das Abbild einer Gesellschaft, die Erfolg über Menschlichkeit stellt. Doch weshalb ist Alice verschwunden? Margrit Schriber erzählt die spannungsgeladene Beziehungsgeschichte von zwei ungleichen Schwestern, von Liebe und Loyalität, aber auch von Enttäuschung und Verachtung. Raffiniert verpackt sie den Stoff in die Erzählform eines Kriminalromans, der in zwischenmenschlichen Abgründen nach der Antwort auf die Frage sucht: Was ist mit Alice Zaugg geschehen?
(Klappentextzu «Schwestern wie Tag und Nacht», ProLibro Verlag Luzern, 2015)

Der Roman ist so vielschichtig wie die in der Erde verborgene Zwiebel einer prächtigen Pflanze, deren herrliche Blüten wir bewundern dürfen. Zwischen den Zeilen geht es jedoch um viel mehr als bloss um die meisterhafte Darstellung einer komplizierten Hass-Liebe-Beziehung zwischen zwei Schwestern, die eine zielstrebig und erfolgreich, während die andere ein passiv-abhängi-ges Schattendasein im Schutz der Powerfrau führt.
Eigentlich, so könnte man sagen, geht es jedoch im Roman gar nicht um zwei Frauen. Es geht um DIE FRAU und zwei sich ewig widersprechende und widerstreitende Seiten der weiblichen Seele, die eine – Abbildung von Lilith, die andere – von Eva, literarisch eingebettet in die Figuren der beiden Schwestern Martha und Alice.

Was haben Lilith und Eva mit Alice und Marta zu tun?
Nach dem deutschen Psychiater Hans-Joachim Maaz, stellen die mythischen Frauenfiguren Lilith und Eva zwei gegensätzliche Grundprinzipien des Frau- seins dar, zwei sich feindselig gegenüberstehende Formen von Weiblichkeit, die unversöhnlich im Kampf miteinander verstrickt sind und mehr oder weniger in jeder Frau verborgen leben. In seinem Buch «Der Lilith Komplex» (2005, DTV) erläutert Maaz, dass nach der jüdischen Überlieferung Gott Lilith als die erste Frau Adams schuf, in gleicher Weise wie er Adam entstehen liess. Lilith aber verweigerte, sich Adam unterzuordnen, sie war nicht zur Selbstunterwerfung bereit, stellte den Anspruch auf Gleichwertigkeit und Gleichberechtigung, waren doch nach ihrer Auffassung beide, Adam und sie, aus derselben Erde gemacht und ins Leben gerufen worden. Ihre Haltung verunsicherte und verärgerte Adam, es kam oft zu Streit. Schliesslich flüchtete Lilith vor Adam und aus dem Paradies. Sie wurde von Gott bitter bestraft und verurteilt, ein Dasein als wollüstige Verführerin und Kindsmörderin an den elendesten Orten der Welt zu führen. Aus Erbarmen mit Adam, der nicht allein leben wollte, schuf Gott dann Eva – aus Adams Rippe. Eva war für Gehorsam und Unterwerfung vorgesehen. Als weibliche Grundeinstellung und Lebensprinzip symbolisiert Eva also Passivität, Aufopferungshaltung, Unterordnung, Gehorsam, Fürsorge, Selbstaufgabe, Keuschheit, Treue, Mütterlichkeit. Lilith hingegen zeichnet sich aus durch Aktivität, Initiative, Eigenständigkeit, Lustbetontheit, Leidenschaft, Verführungsfähigkeit, Unabhängigkeit, Selbstbestimmtheit. Mutterschaft und Mütterlichkeit lehnt sie ab.

Margrit Schriber «Schwestern wie Tag und Nacht», ProLibri, 2014, 220 Seiten, CHF 34.00, ISBN 978-3-905927-45-0

Diese zwei Seiten der weiblichen Seele werden in «Schwestern wie Tag und Nacht» beeindruckend und gekonnt dargestellt: Marta verkörpert in der Tat die Anteile von Eva, Alice diese von Lilith. Marta ist anspruchslos, selbstunsicher und kleinmütig. Sie kocht, putzt, geht einkaufen, kümmert sich fleissig und still um den Haushalt, um das Wohlbefinden ihrer Schwester, sie ist für die peanuts im gemeinsamen Leben zuständig. Alice, die «New Yorkerin», «die Frau von Format» ist ehrgeizig, mutig, eigensinnig, zielstrebig, lust- und genussbetont, sie weiss, was sie will, wie ihren Willen durchzusetzen, und sie ist eine erfolgreiche Unternehmerin.

Beide weibliche Seiten bilden in der Art eine Einheit, dass Lebenslust und Zurückhaltung, Leidenschaft und Gehemmtheit, Ehrgeiz und Unsicherheit, Selbstbewusstsein und Selbstzweifel, Enthusiasmus und Befangenheit – obwohl sie alle miteinander in einem Dauerkonflikt stehen – dennoch Hand in Hand durchs Leben gehen, um es exemplarisch zu meistern. Und sie schaffen es, denn sie fordern sich gegenseitig heraus, erfahren Herausforderung als Motor einer jeden Fortentwicklung.

In Margrit Schribers Roman haben wir es mit einem Weiblichkeitsmodell zu tun, bei dem sich zwei innere Frauenbilder gleichzeitig bekämpfen und ergänzen. Ein Weiblichkeitsmodell also, bei dem das traditionelle Frauenrollenbild gleichzeitig ein neues Rollenverständnis der Frau stützt, hält, quasinährt, mütterlich umsorgt und anregt. Das moderne Frauenbild jedoch möchte sich, je erfolgreicher es in seiner Selbständigkeit und finanziellen Unabhängigkeit wird, desto schneller von den Altlasten der Tradition befreien und jegliche herkömmlichenweiblichen Verhaltensweisen abstreifen.

So organisiert Alice gegen Ende des Romans hinter dem Rücken von Marta stillschweigend deren Platzierung ins Asyl. Logisch wäre nun zu erwarten, dass Marta ihr Schicksal gehorsam hinnimmt und ins Asyl umzieht, dass Lilith Eva schliesslich definitiv besiegt und in die Vergessenheit versenkt hat. Doch es passiert genau das Umgekehrte. Eva tötet Lilith – und dies ist das grosse Rätsel des Romans: Was hat diese unerwartete Entwicklung zu bedeuten? Dass Tradition letztlich doch über allem steht und alles überlebt? Dass das mutige Überschreiten von Grenzen kein weibliches Privileg sein kann und deshalb nie unbestraft bleibt? Dass es Grenzen gibt, die sogar für Lilith gelten?

«Was ist mit Alice Zaugg geschehen?» So endet der Klappentext des Romans «Schwestern wie Tag und Nacht». Dieses paradoxe Schicksal der Frau, die gefangen in ihrem ewigen inneren Kampf zwischen Eva und Lilith sich ständig weiter entwickelt, um sich dann doch selbst zu limitieren, die unaufhörlich wächst, um sich anschliessend wieder ungeschehen zu machen, die fortlaufend siegt um sich letztendlich selbst zu zerstören, dieses typisch weibliche Phänomen wird vermutlich weiter ein Mysterium bleiben.

Mit «Schwestern wie Tag und Nacht» ist Margrit Schriber eine literarisch hervorragende und psychologisch äusserst präzise Sektion der weiblichen Seele gelungen, die die Autorin den Leserinnen und Lesern mit dichterischer Feder vor Augen führt.

Margrit Schriber wurde 1939 als Tochter eines Wunderheilers in Luzern geboren. Sie arbeitete als Bankangestellte, Werbegrafikerin und Fotomodell. Margrit Schriber lebt heute als freie Schriftstellerin in Zofingen und in der französischen Dordogne. Sie erhielt mehrere Auszeichnungen, unter anderem den Aargauer Literaturpreis für ihr Gesamtwerk.

Rezension von «Die vielgeliebte meines Mannes» auf literaturblatt.ch

Rezension zu «Glänzende Aussichten» auf literaturblatt.ch

Simone Lappert «schlaflos», Plattform Gegenzauber

schlaflos

als ob da im dunkeln was umkippt
hinter dem brustbein und beim atmen verschüttet.
jetzt, wo die luft so kühl und die blicke der andern
so zugefenstert, als ob da was scheuert und knotet,
als ob die ellbogen einwärts knicken und durch die rippen
nach innen wachsen, als ob auch die hände einwärts ästeln.
als ob da ein wald unter der zunge, ein blättriger
störton im hals; und dann das krachen der äste
hinter den augen, die zunehmende vermoosung
der gedanken – bis da aussen ein wald ums bett
und innen die fäuste, im rippentresor.

 

aufgewachsen

es ist nur noch ein leises da:
zwischen den zweigen ein schnittpunkt
den es damals schon gab, die hierarchie
der pflastersteine, leicht verschoben nur
die gerüche im hausflur zerzaust erhalten und
was kümmert den hasel sein wachsender schatten
was die hagenbutte der fortgang der zeit;
zwischen den halmen, im flickwerk der felder,
fläzen kinderjahre, auf der abgespielten haut.

 

1992

hattest beschlossen, dich bis zum gefrierbrand zu monden,
bis zur verbleichung durch den schnee zu stapfen
und stehst jetzt stattdessen so knie gegen heizstab, beschlägst
die scheiben mit tauendem gedankenfrost. hinterm kondensat:
der durchstapfte rasen, aneinander geflockte weggehversuche;
heimlich und klein und tief gefroren. – stehst ganz handwarm jetzt,
in deiner radiatorenstille, und enteist die wut in deinen fäusten.

 

langschlaf

dein händegeweih. und dann zwischen den lippen
ein wortwild ganz scheu, seine hufe dampfen vom laufen
im moos, so sprichst du, den rücken noch feucht
vom moos deiner träume und alles im zimmer
bleibt unterholz nach solchen nächten, bleibt
wurzelwerk und die ohren nach innen.

 

im feriehaus

abends, wenn im seetal die laternen angehen,
mir beweisen, dass wieder ein tag überstanden ist,
mach ich mir gierig eine erinnerung ans uns auf,
schlinge sie roh und im stehen; lehne dann
klumpbäuchig am kühlschrank und hasse den mond,
der wahllos jeden scheiss versilbert.

 

strawberryfields forever

und selbst wenn wir liegen, mit den ohren im gras,
den mündern in der sonne, den händen im salbei,
mit erdbeerzungen einander süsses sagen:
sorgsam gepflücktes beschwichtigungsobst;
selbst wenn wir uns auf instagram ins abseits liken,
gartenzaun an gartenzaun, labiles gewissen umhegen:
# strawberrymoments; selbst dann kandieren wir heimlich
ein paar idyllen für später, für tage, die mager sind,
den outgesourcten frost, der wieder heimfinden wird,
irgendwann, und die früchte verbittern.

 

ans eingemachte

dein schweigen ein einweckglas, hygienisch
ausgekocht deine herzkammerwände, lückenlos
das vakuum deines rückzugs. weck sie nur ein,
unsere essigliebe, luftleer konserviert
hält sich angebrochenes länger.

 

Simone Lappert (1985) studierte Literarisches Schreiben am Schweizerischen Literaturinstitut in Biel, sie lebt und arbeitet als freie Autorin in Zürich und Basel. 2014 erschien ihr Romandebüt «Wurfschatten» (Metrolit, Berlin, 2014). Ihr zweiter Roman «Der Sprung» erschien Ende August 2019 bei Diogenes und ist für den Schweizer Buchpreis nominiert. Simone Lappert ist literarisch und performativ an diversen Kunstprojekten beteiligt, führt literarisch durch Ausstellungen, zuletzt in der Fondation Beyeler (Alexander Calder und Fischli/Weiss) und in der Kunsthalle Basel (Lynette Yadom-Boakye). Sie ist Präsidentin des Internationalen Lyrikfestivals Basel, Jurymitglied des Basler Lyrikpreises, Mitbegründerin der transdisziplinären Gesprächsreihe Raum für Unsicherheit, war Schweizer Kuratorin für das Lyrikprojekt Babelsprech.International und ist Mitglied des AdS (Verband Autor*innen der Schweiz).

Rezension von «Der Sprung» auf literaturblatt.ch

Webseite der Autorin

Hansjörg Schneider «Hunkeler in der Wildnis», Diogenes

Hansjörg Schneider legt mit „Hunkeler in der Wildnis“ seinen zehnten Hunkeler-Krimi vor. Der ist auch diesmal zum Niederknien. Weil alles bleibt, wie es ist. Und sich doch manches ändert.

Neues aus der alten Welt
Gastbeitrag von Frank Keil

Frank Keil

Sommer ists. So ein richtiger Sommer, warm, dann heiss, man kann nachts kaum schlafen. Was man morgens schon ahnt, wenn es noch kühl ist, dass es nicht so bleibt. Und die Wärme und die Hitze, sie werden es zum Vorschein bringen, was die Menschen freut, wenn sie etwas freut und was sie plagt, wenn sie etwas plagt.

Ein Morgen im Juni ist es, als wir lesend dazukommen. Hunkeler trinkt einen Kaffee. Er sitzt in keinem mondänen Café, an denen es in der Basler Innenstadt nicht mangelt, er sitzt vor einem Kiosk, am Eingang zum Kannenfeldpark, es gibt Brötchen mit Ei und Büchsenspargel, wenn einem danach ist. Hunkeler jedenfalls ist in diesem Moment zufrieden, die Welt ist in Ordnung für ihn, er hat in seiner Stadtwohnung übernachtet, nicht drüben in seinem Haus, im Elsass, wo es unbedingt kühler und schattiger wäre, aber wo er nicht unter Leuten sein könnte, die ihn trotzdem nicht stören, dass sie da sind.

Und dann – ein Toter. Im Park liegt er, zu dem der Kiosk gehört, von der Johanneskirche her sind die Glockenschläge zu hören. Da liegt einer, leblos, erschlagen, wie sich herausstellen wird und vorbei ist es mit der Ruhe und der Zufriedenheit, die eben noch Hunkeler mit gütiger Selbstverständlichkeit umschloss. Denn Peter Hunkeler, Kommissär, also: ehemaliger Kommissär, der froh ist, dass es vorbei ist, dass er im Kommissariat sass, unter Kollegen, die oft kaum zu ertragen waren und der so fest sich entschlossen hat, das Mörderfindungsgewerbe für immer ruhen zu lassen, wird sich einmischen. Das geht gar nicht anders, auch wenn er es anders will. 

Denn es ist seine Welt, die erneut aus den Fugen geraten ist, aus dem Gleichgewicht, das kann einer wie Hunkeler nicht stehen lassen; da kann er sich noch so dagegen wehren und beteuern, dass er diesmal sich zurückhalten will, dass er nicht einmal etwas wissen will, über das, was passiert ist, unmöglich ist das. Und er stellt seine erste Frage.

Hansjörg Schneider „Hunkeler in der Wildnis“, Diogenes, 2020; 222 Seiten, 22 Euro, CHF 29.90, ISBN 978-3-257-07097-2

82 Jahre alt ist Hansjörg Schneider jetzt, ein angesehener und auch erfolgreicher Schweizer Schriftsteller, was nicht immer zusammenfällt, der uns zum zehnten Mal in seine Hunkeler-Welt mitnimmt, in sein Hunkeler-Basel, in sein Hunkeler-Elsass. Und nicht minder wichtig sind die Wege zwischen beiden Orten, mit dem Auto, auch einmal zu Fuss, eine lange, lange Wanderung ist das, die ihn dennoch erfrischen wird, an der Tramlinie entlang nach Allschwil, zur Landesgrenze im Talgrund, weiter Richtung Folgensbourg, dann durch den Wald, bis es dunkel wird und dann ist; beide Welten sind wichtig, die Stadtwelt, die Landwelt, erzählen sie doch auch von dem tiefen Wunsch, noch einmal loszulegen und dessen Gegenstück, alles sein zu lassen, wie es nun mal ist, aufhören, still sein, einfach dasitzen.

Nur: Hunkeler, der pensionierte Kommissär, kennt den Toten; den Schmidinger, einen Journalisten, einen Kritiker; einen, der nichts anderes konnte, als Verrisse schreiben, selbst wenn ihm das gefiel, was er berufsmäßig zu begutachten hatte, da konnte er sich nicht bremsen, keine Gnade, keine Rücksicht, keine Milde – und losgeschrieben. Und also gibt es viele oder zumindest einige in der Basel-Stadt, die es nicht schade finden, dass er nun tot daliegt, mit eingeschlagenem Schädel, hinter einer Steinmauer in dem Park, in dem der Kiosk ist, wo Hunkeler morgens seinen Kaffee trinkt, wenn er in der Stadt ist.

Und – wie gesagt: Es ist der zehnte Hunkeler-Krimi – wir tauchen zum zehnten Mal in diese Hunkeler-Welt, die uns entsprechend vertraut ist. Streifen durch Basel, eine Karte zum Orientieren findet sich vorne auf der Rückseite vom Titelumschlag, baden diesmal auch im Rhein, lassen uns treiben wie ein Baumstamm sich absichtslos treiben lässt, gehen wieder gut essen, ins Restaurant Birseckerhof an der Heuwaage etwa, das seit jeher hausgemachte Teigwaren anbietet, dazu diesmal einen herben Barbera aus dem Piemont; verachten aber auch den billigen Rotwein nicht, wenn er uns nur freundlich angeboten wird, sitzen wieder mit am Küchentisch, wenn unter Glühbirnenlicht Lebensbeichten folgen, die unser Hunkeler nicht mehr hören will; gemeinsam sind wir alle ein Stück älter und vielleicht auch alt geworden, seit wir den ersten Hunkeler-Krimi aufschlugen, Anfang der 1990er-Jahre war das und diese heute alte Welt fasziniert noch immer. 

Weil uns damals gleich der Hunkeler-Ton überzeugte, diese unglaubliche Ruhe, die aus der Handlung und den Beschreibungen hervorstrahlt, Hansjörg Schneider war nie der Mann der schnellen Schnitte, mit lauter Musik unterlegt, sondern er ist der Mann der langen Einstellungen, der vorsichtigen Kamerafahrten; einer, der sich Zeit nimmt für seine Erzählungen, wenn es sein muss, alle Zeit der Welt.

Was nicht nur geblieben ist, was sich noch mehr verstärkt hat, ist die offensichtliche Dünnhäutigkeit unseres Helden, der eben noch voller Verständnis geduldig zuhört, nun brüllt, unangemessen und hartherzig, der nicht fair ist, sondern ungerecht, auch das, um sich im nächsten Moment genau dafür zu entschuldigen, das muss man können; dazu muss man bereit und fähig sein. Hedwig ist es und kann es, die Frau an seiner Seite, wie man so sagt. Die ihr eigenes Leben führt, damit Platz ist für einen wie Hunkeler.

Tiere sind diesmal wichtig, mehr als sonst schon: Schwalben, Fledermäuse, ein Fuchs, Wildschweine, ein Dachs, ein bissiger Hund, den Hunkeler mag und nicht mag. Sie bevölkern die Welt auf ihre Weise, dass sie in einem anderen Licht erscheint. Dass wir bemerken, wir sind nicht allein, da ist noch etwas anderes, schwer fassbar und greifbar. Uns zugetan und uns abgewandt und manchmal bekommen wir auch eine Ahnung, dass auch in uns eine Wildnis ist, vor der wir uns zu schützen haben und in der wir heimisch werden sollten, auch davon erzählt Hansjörg Schneider auf seine so selbstverständliche und grundruhige Art.

Foto: Philipp Keel / © Diogenes Verlag

Hansjörg Schneider, geboren 1938 in Aarau, arbeitete als Lehrer und als Journalist. Mit seinen Theaterstücken war er einer der meistaufgeführten deutschsprachigen Dramatiker, seine ›Hunkeler‹-Krimis führen regelmässig die Schweizer Bestsellerliste an. 2005 wurde er mit dem Friedrich-Glauser-Preis ausgezeichnet. Er lebt als freier Schriftsteller in Basel.

Rezension von Hansjörg Schneiders «Kind das Aare» auf literaturblatt.ch

Beitragsbild © Sandra Kottonau

Thomas Poeschel «Der Nestor», Elster

Der Schriftsteller Thomas Poeschel erzählt im „Der Nestor“ eine Davoser Kunst- und Hoteliersgeschichte und gibt Auskunft über seine Beziehungen zu Barcelona und Graubünden.

Gastbeitrag von Urs Heinz Aerni

„Wie eine Offenbarung“

Urs Heinz Aerni: Ihr Buch mit dem Titel „Der Nestor“ ist Ihrem Vorfahren Ernst Poeschel gewidmet, der 1913 krank nach Davos kam, geheilt wurde, dann selber Hotelier wurde und Gastgeber für für viele Kunst- und Kulturschaffende war. Sie selber sind auch in der Welt der Kultur tätig. Kann man nicht anders, wenn man Poeschel heisst?

Thomas Poeschel: Ich wurde erst ziemlich spät an Erwin Poeschel erinnert, der übrigens nicht mein Vorfahr ist, sondern einer von ungefähr dreissig Cousins meines Grossvaters war. Eines Tages hat mich eine Buchhändlerin in München gefragt, ob ich mit Hans Poeschel, dem älteren Bruder von Erwin verwandt sei, was ich aus Unwissenheit glatt verneinte. Hans war unter anderem eng mit dem Dichter Ernst Pentzold, dem Autor von «Squirrel» befreundet, und ist mir dann plötzlich in US-amerikanischen Militärakten im Zusammenhang mit der Presse-Lizenzierung im Freistaat Bayern wiederbegegnet.

Aerni: Dann kam die Neugier?

Poeschel: So begann, ohne dass ich dies beabsichtigt hätte, eine Spurensuche, die mich schliesslich zu Erwin und seinem wunderbaren Buch über Augusto Giacometti hinführte. Es war Giacometti, der Erwin Poeschel, einen gelernten Juristen und nun Davoser Hotelier, für die Kunstgeschichtsschreibung «entdeckt» hat. Der Dichter Klabund wiederum, ein Protagonist meines Buches, war mir aus Erzählungen von Elga Jacobi, die ihn persönlich aus dem legendären Romanischen Café in Berlin kannte, vertraut. Dann hat sich herausgestellt, dass Klabund lange Zeit im Haus von Erwin Poeschel in Davos gelebt hat, und dort schliesslich gestorben ist. Das ist doch ein reichlich verrückter Anlass, um eine gute Geschichte zu erzählen.

Aerni: In der Tat. Damals trafen sich Künstlerinnen, Schriftsteller, Tänzer und Musikerinnen, tauschten sich aus und feierten. Hand auf Herz: Begannen Sie beim Schreiben nicht eine solche Welt heute zu vermissen?

Poeschel: Wenn Sie „damals“ sagen, meinen Sie wohl die Zeit des Ersten Weltkriegs, als die Schweiz ein Zufluchtsort für jene wurde, die die sinnlose Zerstörung der europäischen Nachbarländer nicht mitmachen wollten.

Aerni: Ja, aber obwohl ich nicht die Weltsituation meine, sondern den Austausch zwischen den Kulturschaffenden…

Thomas Poeschel «Der Nestor», Elster, 2017, 220 Seiten, CHF 41.90, ISBN 978-3-906065-98-4

Poeschel: Sie bildeten eine sehr enge Gemeinschaft, ja sie verstanden sich als Schicksalsgefährten. Sie setzten in Zürich Dada in die Welt. Selbst ein Einzelgänger wie Augusto Giacometti, der ja 1915 als Ausländer selbst Florenz verlassen musste, schloss sich lose an. Als Einzelgänger, in einer, in vielen Ländern Europas von Vereinzelung und bloss virtueller Vernetzung gekennzeichneten Welt, tausche ich mich immer wieder persönlich mit Anderen aus, vor allem auf Reisen. Doch eine so richtig ausgelassene Künstlerfeier, wie sie in «Der Nestor» erzählt wird, habe ich zuletzt nur in Kolumbien erlebt.

Aerni: Die Herausforderung des Biografen über einen Verwandten ist wohl die Wahrung einer kritischen Distanz. Wie gingen Sie dabei vor?

Poeschel: Ich nahm mir ein Beispiel an Erwin. Er war ja Hotelier, ein Schweizer Hotelier, das heisst er war überaus diskret. In meinem Buch «Der Nestor» agiert er in dieser diskreten Rolle des feinen und umsichtigen Gastgebers, der sich gerne etwas im Hintergrund hält, um seinen berühmten Gästen, wie dem Dichter Klabund und der Schauspielerin Carola Neher, dem Romancier Jakob Wassermann oder dem Vortragskünstler Ludwig Hardt mit Vergnügen das Rampenlicht zu überlassen.

Aerni: Sie selber leben in Barcelona und sind immer wieder in München oder in der Schweiz anzutreffen, was hat Barcelona, was Zürich oder Ihr Geburtsort Würzburg nicht haben?

Poeschel: Das Meer. Die Mittelmeerkultur. Auch Andalusien, übt seit mehr als hundert Jahren, besser gesagt seit der Industrialisierung der Küstenregion Kataloniens, einen deutlich spürbaren Einfluss für das bunte Zusammenleben in der Metropole aus. Lateinamerika ist präsent, und wie Sie bestimmt wissen, wurden grosse Romane der Weltliteratur wie von García Márquez der Vargas Llosa in Barcelona verfasst und verlegt. Auch viele Schweizer haben hier ihre Spuren hinterlassen. Das Klima in dieser wunderbaren Stadt bekommt mir schon immer gut.

Aerni: Sie studierten Ethnologie und Philosophie sowie Experimentelle Filmgestaltung, welches von diesen Fächern nutzt Ihnen heute beim Schreiben am meisten?

Poeschel: Kann ich Ihnen nicht sagen. Bei der Arbeit an «Der Nestor» hatte ich komischerweise das Gefühl, wie ein Bildhauer vorzugehen. Nur dass der Steinblock aus nichts Anderem als Zeit bestand.

Aerni: Erwin Poeschel publizierte in den 1920er bis in die 60er Jahren kunsthistorische Bücher über St. Gallen, Liechtenstein und Graubünden. Seine Bibliothek befindet sich im Staatsarchiv Graubünden in Chur. Wie würden Sie Ihr Verhältnis zur Südostschweiz beschreiben?

Poeschel: Ich bin dabei sie näher zu entdecken. Mein Grossvater ist schon viele Jahre vor Erwin Poeschel in die Westschweiz gekommen und hat in Vevey Pharmazie gelernt hat. Als Kind kam ich mehrfach zum Skifahren nach Scuol. Als ich kürzlich in Chur eine rätoromanische Zeitung kaufte, war ich nicht wenig darüber erstaunt, dass ich sie lesen konnte. Es scheint mir eine sehr vornehme Sprache zu sein, die ja einst auch in Bayern gesprochen wurde. Im Werdenfelser Land bestehen heute noch rätoromanische Sprachreste. Im Anschluss an meine Recherchen im Staatsarchiv in Chur bin ich von Thusis nach Zillis gewandert. Es kam mir wie eine Offenbarung vor.

Der Kulturanthropologe Thomas Poeschel verfasste ein umfangreiches zeitgeschichtliches Faust-Buch, «Abraxas. Höllen-Spectaculum». Vor kurzem veröffentlichte er die von Jaime de Córdoba illustrierte kleine Erzählung «Die Madonna mit dem Fisch» (Bucher Verlag). In Bälde wird eine Drei-Geschwister-Biografie zur Exilforschung, «Die Geschwister Olden. Eine Odyssee» erscheinen. Poeschel lebt in Barcelona.

Beitragsfoto © Urs Heinz Aerni

Ulrike Ulrich «Das Beste an Corona», Literatur für das, was passiert

Das KünstlerInnenkollektiv Literatur für das, was passiert wurde 2015 von den Schriftstellerinnen Gianna Molinari und Julia Weber gegründet, um Menschen auf der Flucht zu helfen.

Seit 2015 gibt es Anlässe, bei denen SchriftstellerInnen an Schreibmaschinen Texte auf Wunsch verfassen. Das können Gedichte, Geschichten, Pamphlete, Liebesbriefe, das kann alles sein. Auch kommen seit einigen Jahren immer wieder ZeichnerInnen dazu, welche die Texte vor Ort illustrieren. Die entgegengenommenen Spenden gehen an Menschen auf der Flucht. Dabei werden Organisationen unterstützt, welche vor Ort (mehrheitlich in Griechenland, Italien und Syrien) tätig sind, die medizinische Hilfe leisten, Nahrungsmitteln, Kleidung verteilen und die Menschen bei der Weiterreise finanziell und rechtlich unterstützen.

Seit 2019 ist Literatur für das, was passiert auch in Deutschland präsent.

Literatur für das, was passiert schreibt für das, was passiert, gegen das, was passiert, schreibt auch für das, was passieren soll. Es wird für oder gegen das geschrieben, was drängt. Literatur für das, was passiert mischt sich durch das Schreiben in gesellschaftliche und politische Diskurse ein.

Ulrike Ulrich schrieb den folgenden Text ist an einer Schreibmaschine in 30 Minuten:

 

Ulrike Ulrich, geboren 1968 in Düsseldorf, lebt seit 2004 als Schriftstellerin in Zürich. 2010 erschien ihr Debütroman „fern bleiben“, dem 2013 der Roman „Hinter den Augen“ folgte, und 2015 der Erzählband „Draussen um diese Zeit“. Mit Svenja Herrmann hat sie Anthologien zum 60. und 70. Geburtstag der Menschenrechte herausgegeben. Mit Axmed Cabdullahi erschien zuletzt „Ein Alphabet vom Schreiben und Unterwegssein“. Ihre Texte wurden u. a. mit dem Walter Serner-Preis 2010, dem Lilly-Ronchetti-Preis 2011 und Anerkennungspreisen der Stadt Zürich ausgezeichnet. 2016 erhielt Ulrike Ulrich ein Werkjahr der Stadt Zürich und 2018 einen Pro Helvetia-Werkbeitrag für «Während wir feiern».

Webseite der Autorin

Literatur für das, was passiert

Alice Grünfelder „Postkarten aus Taiwan“ V

Alice Grünfelder ist in Taiwan auf Spurensuche und schickt ihr Gewölk aus Gedanken, Beschreibungen, Zitaten in Miniaturen verdichtet per Postkarte ans literaturblatt.ch – jeden Monat eine. Aber weil die Taiwanesische Post wegen der Pandemie keine Post nach Europa ausliefert, geschieht das für einmal ohne Stempel.

Shilin 士林

(Lang-Haiku)

Surrende Morgen
im Wald der Gelehrten wie
ein Dorf in der Stadt
Tofuverkäufer richten
die Stände Nudeln werden
geschlürft Kinder auf
Motorrollern zur Schule
gefahren derweil
das Café an der Ecke
geschlossen wegen
der Krise alte
Frauen und Männer schwingen
Arme und Beine
im Kinderwagen sitzt ein
Hund Frauen wollen
keine Männer regieren
besonnen das Land.
Warum werden Graffiti
bald weiss übermalt?
Die hohen Betonmauern
schützen vorm Fluss wenn
der Taifun Wasser
in die Stadt treibt weit schwingen
Brücken zähmen die
Natur Mensch gefangen
im löchrigen Netz.

Alice Grünfelder, lebt in Zürich, studierte nach einer Buchhändlerlehre Sinologie und Germanistik in Berlin und China. 1997–99 Lektorin beim Unionsverlag in Zürich, für den sie 2004–2010 die Türkische Bibliothek betreute. Von 2001–2010 eigene Literaturagentur für Literaturen aus Asien. Unterrichtet Jugendliche und ist als freie Lektorin tätig. Sie leitet diverse Workshops rund ums Thema Schreiben und seit fünf Jahren den Kinderschreibworkshop „Wortschatz“ im Aargauer Literaturhaus in Lenzburg. Als Herausgeberin und Übersetzerin aus dem Chinesischen und Englischen publizierte sie Bücher über Asien, zuletzt „Sri Lanka. Geschichten und Berichte“ (2014) und „Flügelschlag des Schmetterlings. Tibeter erzählen“ (2009). (Unionsverlag) 2018 erschien ihr erster Roman „Die Wüstengängerin“ (Verlag edition8).

Alice Grünfelder „Postkarten aus Taiwan“ I

Alice Grünfelder „Postkarten aus Taiwan“ II

Alice Grünfelder «Postkarten aus Taiwan» III

Alice Grünfelder «Postkarten aus Taiwan IV

«Bücher sind lebensverlängernd – oder: Bücher als Lebensmittel»

Monika Lustig gründete die Edition Converso mit literarischem Blick zum Mittelmeerraum. Zum mutigen Unterfangen und die Motivation dazu, gibt die in Süddeutschland lebende Verlegerin Auskunft.

Urs Heinz Aerni: Ihr Verlagslogo schmückt sich mit einer Meeresgöttin, der Amphtrite. Wie sind Sie auf sie gekommen?

Monika Lustig: Zum ersten Mal begegnete sie mir als Skulptur auf der Spitze des Mannheimer Wasserturms.  Meine Neugier war hellwach. Dann, die Steintafel gemäss Wikipedia aus korinthischer Zeit, eine Offenbarung…

Aerni: … inwiefern?

Lustig: Den Dreizack kennen wir gemeinhin als Machtsymbol für die Domäne des Fischfangs in der Hand von Neptun oder Poseidon, den Herrschern der Meere. Doch die mythologische Geschichte dahinter besagt: diese Macht war einst die der Frauen. Sie die schöne und stolze Amphitrite mit ihren weltenspiegelnden Augen wollte unverheiratet bleiben, und das reizte den Appetit des Poseidon. Er setzte ihr nach, sie flüchtete. Am Ende erlag sie seinem Schmeicheln …

Aerni: Ob es wirklich Liebe war?

Zum Beispiel: Belinda Cannone «Vom Rauschen und Rumoren der Welt»
Ein sehr origineller wie sinnlicher Ideenroman, in dessen Zentrum zwei Figuren mit «Hyperakusis», extremem Hörvermögen, eine Komponistin und ein Vagabund stehen. Ein Roman, der dem Schrecklichen und Schönen in der Welt gleichermassen nachlauscht und beim Zuhören Widerstandskräfte entwickelt.

Lustig: Poseidons Ziel war die Macht, kaum die liebende Verbindung. Amphitrites Hand löst sich vom Dreizack … der bereits mit dem Myrtenkränzchen der Hochzeit geschmückt war. Diese «Momentaufnahme» der Niederlage wurde zum Logo von Edition Converso. Doch Amphitrite soll den Dreizack wieder fest in ihre Hand bekommen. Weibliche Ästhetik und Kreativität sollen programmatisch im Vordergrund stehen, besondere Wertschätzung erfahren; doch zugleich offenbaren sich mir an erster Stelle die Themen und die Geschichten, die zu Büchern werden, ohne Ansehen des Geschlechts. «Inkohärenzen» sind also mitbedacht.

Aerni: Die Grundbedeutungen von di converso oder con verso, mit Widerspruch, in der Konversation und mit Reim sagt ja schon einiges aus über die Absicht Ihres Verlages. Wie würden Sie dieses Credo für Ihr Programm sonst noch umschreiben?

Lustig: Wir haben uns auf die Fahnen geschrieben: Das Lesen «die menschlichste aller Gesten» (Fabio Stassi), soll wieder zur lebendigen Praxis des Austausches mit Anderen werden. Dem kurz gewordenen Gedächtnis, dem Geschichts-Vergessen mit all seinen Monstrositäten der Kampf angesagt werden. Hochgestecktes Ziel: Aus allen Sprachen rings um das Mittelmeer, Adria inclusive, Übersetzungen zu veröffentlichen, erzählende wie essayistische Literatur, aber auch Lyrik, um den Mittelmeerraum wieder als einen vereinten und ganzheitlichen Kulturraum zu erkennen, wie er es einst war, und nicht als eine Region unmenschlicher Grenzverläufe und Kriegsgräben. Wir sprechen bislang italienisch, sizilianisch, arabisch, spanisch, griechisch, slowenisch …

Der Verlag soll ein Podium für aufklärerische und verführerisch schöne Stimmen sein. Und doch auch Bücher zu verkaufen, um neue zu machen, um das Gespräch mit der Welt fortsetzen zu können.

Aerni: Es gibt ja Tage, die dem Buch gewidmet werden, wie der 23. April oder diese Vorlesetage…

Zum Beispiel: Hussein Bin Hamza «Ich spreche von Blau, nicht vom Meer»
Hussein Bin Hamzas Gedichte sprechen eine frische knappe Sprache – er meidet jegliche „orientalische“ Blumigkeit. Die Sprache ist ein Rüttelsieb, durch das er die Existenz bis auf die Knochen freilegt.

Lustig: Richtig, aber warum wird am Tag des Lesens immer nur an Kinder gedacht? Wir glauben an die therapeutische Wirkung von Büchern. Politikerinnen und Politiker sollten zur Lektüre verpflichtet werden – einschliesslich dem «Abgehörtwerden» (sie lacht).

Aerni: Sie hegen eine sehr persönliche Beziehung zu Büchern…

Lustig: Es geht um das Weiterlernen, erinnern, altes Wissen ausgraben. Ich will den Beweis antreten, dass allein schon der Besitz von vielen Büchern, mit Sinn aufgereiht, lebensverlängernde Wirkung haben kann.

Aerni: Was führte Sie zur Gründung eines Buchverlages?

Lustig: Die Geschichte hinter Edition Converso nährte und nährt sich, wie alle meine Unternehmungen, von purer Passion und Leidenschaft. In die nähere Vergangenheit blickend war die  2013 begonnene Veranstaltungsreihe  «Südwärts-um-die-ganze-Welt» eine Verlagsvorstufe: sie zeigte auf, wie wichtig die Schnittstelle zwischen der Verklärung des Südens und die Suche des Südens nach Rettung und Zukunft durch den Norden ist. Die damaligen Begegnungen in Karlsruhe mit Autorinnen, Musikern, Verlegerinnen und Übersetzer und die Veranstaltung im Januar 2018 zu «Religionen der Liebe» im ausverkauften Gartensaal des Karlsruher Schlosses mit Stefan Weidner gingen nahtlos über in die Verlagsgründung am 1. März 2018. Weidner wurde dann auch unser erster Hausautor.

Monika Lustig,  Bismarckgymnasium Karlsruhe, Philosophie- u. Germanistikstudium Heidelberg, 1979, statt zu promovieren, Emigration nach Italien:  Insel Elba, Sardinien, Sizilien, Emilia-Romagna. Und Toskana. Sie ist sie bis heute nicht darüber hinweg, Florenz verlassen zu haben. Nach Jahren des Unterrichtens an italienischen Schulen u. Uni, eigene Sprachschule „Studio Fiore Blu“ (Deutsch-Italienisch-Englisch) auf Elba. Geschrieben hat sie schon immer; so auch 1993 (Auftragsarbeit) eine Biografie des Mafiajägers Leoluca Orlando. Lieblingsautoren aus ihrem Übersetzerportfolio: Leonardo Sciascia, Simona Vinci, Santo Piazzese, Fabio Stassi, Simonetta Agnello-Hornby, Marcello Fois, Giorgio Chiesura, der Andrea Camilleri der historischen Romane, u.v.m.. Für ihre Übersetzungen erhielt sie mehrere Stipendien (Deutscher Literaturfond; Freundeskreis zur Förderung literarischer und wissenschaftlicher Übersetzungen e.V. Befruchtende Aufenthalte im Übersetzerhaus Looren/Zürich. Sie lebt derzeit im deutschen Wald, immer das Mittelmeer vor Augen.

Webseite des Verlags

Karsten Redmann «Flawil bei Paris»

Wo es einen hinführt, wenn es einen fortführt; aus dem allseits Gewohnten, hin zu etwas Neuem. Flawil leuchtet. Und Paris? Mutet an, nur ein paar Strassen weit entfernt zu sein.

Es sind andere Zeiten, denke ich. Und dass diese etwas mit mir anstellen. Mich in Bewegung versetzen.

Und so ist es ja auch: Ich habe vorübergehend einen Ort durch einen anderen ersetzt; Sankt Gallen gegen Flawil. Und dieses Flawil, so scheint es, so sagt man, ist zwar nicht schön, aber doch wohl wert gesehen zu werden.

Also erkunde ich.

Die Sonne steht hoch. Ich gehe los, quere die Strasse, nehme die Brücke. Unter der Brücke liegen Schienen. Sie verbinden Ost mit West. Ein Zug passiert die Brücke, es vibriert. Geräuschvoll gleiten die Wagen unter mir hindurch. Meine Kapillare nehmen die Vibration umgehend auf.

Es ist einer der Züge, die weite Strecken zurücklegen. Links und rechts des metallenen Schienenstrangs leuchten Schilder in Blau. Ich lese «Flawil». Erst rechts, dann links. Gehe weiter. Über die Brücke hinaus. Folge dem Weg, in den Ort hinein.    

Das Gehen tut gut. Ich bin unterwegs. Nicht so wie gestern und vorgestern. Denn gestern und vorgestern sass ich oder lag ich, hinter einer dünnen Bretterwand. «So ein Bauwagen ist schlecht isoliert», hatte jemand zu mir gesagt – und das stimmt ja auch: die Nächte sind kalt.

Im Nachhinein ist mir, als hätte es gestern und vorgestern nicht aufgehört zu regnen. Unzählige silberne Bindfäden in der Luft. Kühle auf der Haut. Das Geräusch des Regens auf dem Dach des Wagens, ein ständiges Trommeln – tausende Finger auf dem Blech. Das ist heute anders. Heute ist das Draussen schön.     

Ich spaziere am Spital vorbei. Es ist ruhig. Kein Mensch auf der Strasse. An den Fenstern stehen Ärzte und Patienten. Folgen mit den Augen meinen Schritten. Kurz bin ich versucht zu winken, lasse es aber sein. Mit der Hand wische ich mir Schweiss aus dem Gesicht. Aus dem Nichts tauchen Filmsequenzen auf, bebildern meinen Kopf. Ich höre Schreie. Stumme Schreie.

Aber das macht doch keinen Sinn, denke ich.

Ich sehe Menschen hinter Glas. Offene Münder. Ich denke an Anstalten, weisse Kittel, und daran, wie schnell man diese an- und ausziehen kann. Auch denke ich an Blut, das an den Kitteln kleben bleibt. Früher oder später. Vor allem aber denke ich daran, wie sich Dinge verfestigen. Auch Muster und Rollen.  

Grundsätzlich versuche ich zu sehen was ist. Hin und wieder auch das Dahinter. Aber weit komme ich nicht. Einer geschlossenen Tür folgt die Nächste. Und es braucht unendlich viel Zeit sie zu öffnen.

Es braucht immer viel zu viel Zeit.

Jetzt: eine Fassade. Und ein Haus weiter: eine Fassade. Fenster. Türen. Dann andere Strassen. Sich kreuzende Wege. Grünflächen. Hunde. Lautes Bellen. Wieder Wege, die zu Häusern führen, Menschen dahinter. Unsagbar viele Vorhänge. In einem der Fenster: Kakteen. Auf der Fassade des Hauses prangt eine Sonne. Selbst in der Nacht ist ihre Wärme zu spüren. Man kann es sich denken.

Ich bin in der Ansichtnahme von Dingen und Menschen. Hole sie mit meinen Blicken näher heran. Mehr jetzt die Dinge als die Menschen. Warum das so ist? Vielleicht liegt es ja an der Widerspruchslosigkeit der Dinge. Sie wehren sich nicht. Das macht es einfacher.  

All diese Strassen sind mir neu. Ich kannte sie nicht. Und lerne sie jetzt kennen: den Teer, die gepflasterten Steine, links und rechts Gebäude – die einen bewohnt, die anderen wohl unbewohnt.

Es ist sehr still. Und in dieser Stille empfinde ich Stille. Und aus dieser heraus, betrachte ich. Betrachte ein Fenster mit zur Schau gestellten Dingen. Ich sehe eine Puppe in einem Wagen. Einen Plüschhund an einer Leine, die von keiner Hand gehalten wird. Ein Haus aus Pressspan mit vielen Zimmern und Figuren darin. Eine nachgestellte Welt. Ich koppele das, was ich sehe, an Gedanken, die ich habe. Es sind nicht viele; aber doch welche. Es könnte schlimmer sein, denke ich. Mit einem Mal die Frage: Was stellt man eigentlich aus, für wen, und warum? Warum diese eine Figur und keine andere? Fragen und Schaufenster haben etwas gemein, sie geben keine Antworten.       

Vor einem weiteren Schaufenster mit weiteren Dingen stehend, vergesse ich, wo ich eigentlich bin. Da ist ein Gefühl, das sich in mir entfaltet, sich breit macht, wie ein Teppich auslegt; auf dem ich stehe, dann gehe. Über Dinge hinaus. Ein paar Strassen weiter ist Paris, sagt mir mein Gefühl – und meint: Geh weiter. Bleib in Bewegung. Sieh genau hin. Und ich sehe genau hin, gehe den Dingen allmählich auf den Grund, wende Steine, grabe mit den Händen ein Loch, wühle auf.

Die Hitze macht meinem Körper zu schaffen. Ich suche Schatten. Finde Schatten. Grabe mich ein. Unter der Stadt ist eine andere Stadt. Eine Unter-Stadt. Sie hat Häuser und Wege, die anders aussehen. Wege, die ins Nichts führen. Häuser ohne Fenster. Zwischen den Gebäuden und auf den Strassen brennen Feuer. Das einzige was ich höre ist ihr Lodern. Stundenlang gehe ich die Wege der Unter-Stadt entlang. Ich nehme einfach hin, dass es sie gibt, diese Stadt unter der Stadt. Die Erde ist braun, Varianten von Braun. Am Ende eines schmalen Weges, der steil nach oben führt, wende ich den Kopf. Eine Bewegung in Richtung Himmel. Zwischen den Häusern, und deren mit roten Ziegeln bedeckten Dächern, leuchtet es Blau. Die Ober-Stadt, denke ich. Am Himmel kein Schwarz. Keine Flügel. Kein Schatten. Nur Licht. Es blendet.  

In der Nähe grösserer Einkaufsläden komme ich an einer Plakatwand vorbei. Treffe auf Menschen. Es sind nie mehr als fünf. Sie grüssen ohne Worte.

Überall, selbst in den kleinsten Strassen, zeigt sich etwas. Gibt sich als neu aus. Doch mit dem Gehen verliert sich das Neue. Ich eigne mir Orte an, schmiege mich an Angesehenes, mit den Augen Abgetastetes. Aber – ich verliere mich gleichzeitig. Meine Gedanken füllen ganze Strassen. Liegengebliebene, auf der Strecke gebliebene, Gedanken.

Ich summe ein Lied aus Kindertagen, es tut gut, es in meinem Inneren zu hören, ihm zu lauschen, den Tönen nachzugehen. So hole ich mich ein. Sammele mich auf. Ein Mann ruft ein Kind. Davon gehe ich zumindest aus, denn die Art wie er ruft, macht die gerufene Person klein. Es ist ein strenger Ton.

An einem Spielplatz bleibe ich stehen. Keine Kinder. Lange blicke ich auf den verlassenen Sandkasten, die Schaukeln, die leeren Sitzbänke. Eine Welle kommt auf mich zu, erst leise, dann lauter: ein französischer Chanson. An einem offenstehenden Fenster sehe ich eine junge Frau. Aus ihrer Wohnung dringt das Französisch. Ein Singsang.

Paris, denke ich, und meine Schritte werden schneller. Ein Junge mit riesigen Kopfhörern geht an mir vorbei. Auf seinem schwarzen Pullover prangt ein weisses Haus das auf dem Kopf steht. Aus den Fenstern des Hauses purzeln Menschen. Ihre Körper ebenfalls weiss. Sie hängen in der Luft. Jetzt verschwindet der Junge hinter der nächsten Strassenecke.

Der Eiffelturm, auf den Kopf gedreht, bohrt sich direkt neben meinen Füssen in den Boden. Ich stehe an einem der vier Enden. In der Erde, tief unter mir, die Spitze des Turms. Wie tief er wohl steckt? Irgendwie ist alles verdreht.

Ich gehe weiter. Gehe um Ecken herum. Hier eine Mauer, da ein Garten, alles sauber getrennt. Hier das eine, da das andere. Hier jetzt ein speiender Zwerg an einem Teich. Das Gurgeln des Wassers. Ein Garten aus Stein. Balkone. Wörter und Sätze, die von Balkonen fallen. Ich nehme sie auf. Betrachte jedes einzelne Wort. Was es nicht alles zu sagen gibt? Zu sagen gäbe? An einer der grauen Häuserwände klebt eine Figur. Ein Mädchen. Ihr Körper ist rot. Sie trägt ein Kleid.

In einem Hinterhof sitzen Menschen auf Stühlen. Sie nicken sich zu. Ihre Gespräche ein Rauschen. Um die kräftigen Beine der einen Frau windet sich eine Katze. Die Katze sieht mich und läuft weg.     

Wie sehr sich in meinem Kopf, während ich gehe, alles verbindet, verschaltet: Diese Strassen und Häuser von Flawil mit den Strassen und Häusern von Paris´ Zentrum – einer Stadt in der Stadt, die zwar auch Paris ist, aber nicht nur. Man denke an ihre schiere Grösse. An weitere Kreise. Umkreisungen von Kreisen.

Überall entdecken meine Augen, ihre Farbe habe ich vergessen, wie so Vieles in der letzten Zeit.

Finde ich den Weg zurück? Von jetzt zu früher? Von diesem Ort hier, zu einem, an dem ich gelebt habe? Von diesem Platz, wo ich mich gerade aufhalte, zu dem Wagen mit dem Blechdach? Gerade weiss ich es nicht. Kann es nicht sagen. Aber es ist auch egal. Vielleicht muss man sich erst verlieren um sich später zu finden.

Umgehend frage ich mich, was ich über mich selbst sagen kann? Und ob das stimmen würde, was ich dann sage? Fände ich die richtigen Worte? Treffende? Und führen diese Worte zu mir? Was ist dieses Ich? Ist es oder wird es? Wird es sein? Gewesen sein? Ich? Bin ich das?         

Überall erkennen meine Augen: ein Wort. Hören meine Ohren: ein Wort. Spuckt mein Mund: ein Wort – auf den aschgrauen Boden. Und dieses Ich, es dunkelt, ein Punkt. Ein Ausgehen von. Ich gehe von diesem Punkt aus. Das Davonausgehen tut gut, denn ich bleibe in Bewegung.

Alles ist näher als man denkt, denke ich. Und bald schon kommt Paris, denke ich. So viel ist sicher. Man muss nur weitergehen. Über alles Bekannte hinaus.

Es sind andere Zeiten.

Karsten Redmann, geboren 1973 in Neunkirchen (Saar), lebt und arbeitet als freier Schriftsteller in St. Gallen (CH). Studium der Politologie mit Nebenfach Psychologie an den Universitäten Duisburg, Bremen und Tampere (FIN). Nach Abschluss des Politikstudiums besuchte er die Deutsche Fachjournalistenschule (DFJS) in Berlin und arbeitete als freier Journalist für überregionale Print- und Onlinemedien. Zuletzt erschien der Erzählungsband mit dem Titel «An einem dieser Tage»in der edition offenes feld.

Beitragsbild © Sandra Kottonau