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Seit mehr als zwei Jahrzehnten organisiert ein Team „unbändig Lesehungriger“ im beschaulichen Hall ein Literaturfestival mit internationaler Ausstrahlung. Für Literaturbegeisterte deshalb ein Abenteuer, weil Hall zu einem Wortmekka wird mit Namen, denen man sonst nur schwer begegnen kann.
Man trifft sich auf der Hotelterrasse oder in der Lobby, mit Sicherheit in einem der Säle während einer Lesung oder auch mal im Lift, oder bei einem Spaziergang durch das mittelalterliche Städtchen: Jan Carson aus Nordirland mit ihrem Roman „Firestarter“ über ein fiebrig, explosives Belfast, in dem die Mauern zwischen „christlicher“ Religionen nicht kleiner geworden sind und Fussball zum Stellvertreterkrieg wird, Dinçer Güçyeter mit seinen Gedichten und dem Buch „Unser Deutschlandmärchen“, mit dem er die Jury des Preises der Leipziger Buchmesse überzeugte, die Österreicherin Waltraud Haas mit ihren lyrischen Miniaturen, die mein Innerstes mitschwingen liessen, Elisabeth R. Hager mit witzig Tiefgründigem aus ihrer Tiroler Herkunft, Wlada Kolosowa, die mit ihrem Debüt „Fliegende Hunde“ das Hungern für den Livestyle demjenigen in Kriegszeiten schmerzvoll gegenüberstellt, Judith Kuckart, die seit mehr als dreissig und mehr als einem Dutzend Bücher ihre LeserInnen stets zu überraschen weiss, Kerstin Preiwuß, die als „Dichterin bis auf die Knochen“ dem Wahrhaften nachspürt oder dem grossen amerikanischen Romancier Stewart O’Nan, der es wie kaum ein zweier versteht, die Enge us-amerikanischer Unfreiheiten zu beschreiben – und anderen mehr.
Zweien aus der Sprachsalz Gästeliste möchte ich ganz speziell nachspüren. Es sind nicht immer die grossen Namen, die mich in Schwingung versetzen, denen ich mit Ungeduld entgegenfiebere, weil sie mich in ihren Büchern schon seit Jahrzehnten begleiten. Manchmal leitet mich die pure Neugier in eine der Veranstaltungen. Und wenn ich wie bei Waltraud Haas das Glück habe, in einem Zustand der Verzückung aufzugehen, dann hat sich die lange Reise ins Tirol bereits mehr als gelohnt.
im siebzigsten jahr führe ich mich innen noch jung hinters licht
Die kleine Frau mit dem knallig roten Hut hat es faustdick hinter den Ohren. Mit messerscharfem Sprachwitz und unbändiger Lust und Freude an ganz locker scheinender Sprachkunst, die mit treffsicherem Humor den aufrechten Gang zum Stolpern bringt, setzt mir die Dichterin Waltraud Haas in ihrem neusten Band „pfeilschnell wie kolibris“ einen Spiegel vor, der sie selbst stets miteinschliesst.
liebst du mich? ich werde dich immer lieben das ist gut sagt sie und geht
Die meist sehr knappen, verknappten Gedichte Waltraud Haas‘ sind, obwohl sie sich der grossen Themen wie Liebe, Schmerz und Tod annimmt, wohl melancholisch aber nie sentimental oder wehleidig. Der Biss in ihren Texten schnappt, ein Luftzug reisst, der Schlag in die Magengrube sitzt. „pfeilschnell wie kolibris“ ist das perfekte Buch sowohl für den Nachttisch (Da sammelt sich Stoff für Träume), das Wartezimmer beim Zahnarzt (nicht schmerzstillend, aber doch narkotisierend) oder für Fahrten in übervollen Zügen (Ihre Gedichte besiegen das Geplapper).
Stewart O‘Nans Bücher begleiten mich schon fast drei Jahrzehnte. Einer der Namen, die mich zwingen, stets auf ihrer Spur zu bleiben, die mit ihren Romanen Suchtpotenzial erzeugen und jenen Mythos „American Dream“ mit spitzer Feder demontieren. Stewart O‘Nan beschreibt nicht die auf Hochglanz polierte Gegenwart einer selbstzufriedenen Hight Society, sondern jene Menschen, die als untere Mittelschicht oder Unterschicht von den Privilegien einer Upperclass nicht einmal mehr träumen. Sie sind liegen geblieben, abgehängt und aufgegeben. Sie wohnen in rostigen Pickups, undichten Trailern oder nach Speisefett riechenden Appartements, ernähren sich von Pizzas oder Tiefkühlkost und verlieren schon als Teenager den Traum vom Glück.
In seinem neusten Roman „Ocean State“ erzählt O‘Nan von einer Mutter und ihren zwei Töchtern, von Carol, die sich schon längst vom Vater ihrer beiden Töchter trennte und sich von Mann zu Mann hangelt, ihre Töchter sich selbst überlässt und ihr eigenes Leben immer mehr im Schlick ihres Unvermögens versinken sieht. Von der neunjährigen Marie, die in Selbstzweifeln und Einsamkeit von der Mutter von Wohnort zu Wohnort geschleppt wird. Und von der älteren Tochter Angel, einem tief gefallenen Engel, die mit einer schrecklichen Tat alles mit in den Abgrund zu reissen droht.
Stewart O‘Nans Romane schmerzen, weil sie schonungslos wiedergeben, was in der us-amerikanischen Gosse liegen bleibt. Und wenn einem bewusst wird, wie leicht das, was im Land der unbegrenzten Möglichkeiten wie Schimmel wuchert, bis übers grosse Wasser greift, kann die Lektüre seiner Romane durchaus Bauchschmerzen erzeugen. Aber Literatur soll genau das; nichts verbergen!
Sprachsalz ins Leben!
Waltraud Haas, geboren 1951 in Hainburg/ Donau. Lebt seit 1970 in Wien. Studium der Grafik bzw. Germanistik und Philosophie. Seit 1984 freie Schriftstellerin. Publikationen in Zeitschriften („kolik“ u.a.), Anthologien und im Rundfunk.
Stewart O′Nan wurde 1961 in Pittsburgh/Pennsylvania geboren und wuchs in Boston auf. Bevor er Schriftsteller wurde, arbeitete er als Flugzeugingenieur und studierte an der Cornell University Literaturwissenschaft. Für seinen Erstlingsroman «Engel im Schnee» erhielt er 1993 den William-Faulkner-Preis. Stewart O′Nan lebt in Pittsburgh.
Jedes Jahr im November wird im Theater Basel der Schweizer Buchpreis für das beste erzählerische oder essayistische deutschsprachige Werk von Schweizer oder seit mindestens zwei Jahren in der Schweiz lebenden Autorinnen und Autoren überreicht. Am 13. September gibt der Schweizer Buchhandels- und Verlags-Verband die fünf Nominierten bekannt.
Letztes Jahr war es Kim de l’Horizon mit seinem Debüt «Blutbuch», einem Roman, der die Jury durch seine Sprache, seine Erzählweise aber auch durch seine Offen- und Direktheit überzeugte: «Der Text lässt Erzählkonventionen hinter sich und erzählt auf verblüffend eigenwillige Art eine Familiengeschichte vor dem Hintergrund der aktuellen Gender- und Klassendebatten.» Eine Entscheidung, die nicht zuletzt deshalb zu Diskussionen führte, weil bei den Nominierten mit Thomas Hürlimann und seinem Roman «Der rote Diamant» ein Grosser der deutschsprachigen Literatur stand, der es, gemessen an seinem Werk, sehr wohl verdient hätte, für diesen Roman mit einem grossen, publikumswirksamen Preis ausgezeichnet zu werden.
Nachdem Kim de l’Horizons Roman «Blutbuch» im vergangenen November mit dem Schweizer Buchpreis 2022 ausgezeichnet wurde, schlugen die Wellen regelrecht über dem jungen Autor zusammen. Sinnbildlich dafür die unendlich lange Schlange bei den letzten Solothurner Literaturtagen, als der grösste Saal des Festivals übervoll wurde, weil sowohl Buch wie Autor in aller Munde waren. Der Roman «Blutbuch» verkaufte sich schon vor der Verleihung des Schweizer Buchpreises ausgezeichnet. Kim de l’Horizon gewann mit seinem Buch im gleichen Jahr auch schon den Deutschen Buchpreis, ein Doppelerfolg, der erst Melinda Nadj Abonji 2010 mit dem Roman «Tauben fliegen auf» verbuchen konnte. Mit den beiden Preisen schlugen die Verkaufszahlen, zumindest für Schweizer Verhältnisse, durch die Decke.
Literaturpreise gibt es viele. Es gibt zwei Kategorien; jene, die ein Buch alleine auszeichnen und jene, die das Werk einer Schriftstellerin oder eines Schriftstellers auszeichnen. Preise sind wichtig, denn sie schenken nicht nur Aufmerksamkeit, sondern ermöglichen mit der Preissumme eine gewisse Zeit des Schreibens ohne wirtschaftliche Sorgen. Aber Preise sind letztlich immer der Entscheidung einer Jury unterworfen, die Vorlieben und Präferenzen unmöglich blockieren kann. Und sehe ich die Listen der Preise gewisser Autorinnen und Autoren durch, kann ich mich nicht gegen den Eindruck wehren, dass gewisse Preise weitere Preise regelrecht provozieren.
Nun denn. Der Schweizer Buchpreis prämiert das beste «Schweizer» Buch. Eine heere Absicht, der niemals und in keiner Weise entsprochen werden kann. Das eine Buch, das man im November auf den Sockel hieven wird, ist jenes Buch, das den Konsens in der Jury traf, das den Bedürfnissen des Schweizer Buchhandels in Sachen Qualität, Lesbarkeit und Verkäuflichkeit am meisten dient. Im vergangenen Jahr war mit «Pommfritz aus der Hölle» von Lioba Happel ein äusserst spannendes Buch unter den fünf Nominierten. Ein Buch, dass durch seine Radikalität, seine Eigenwilligkeit und Sprachkunst überzeugte. Aber das Buch war und ist keines, das man der alt gewordenen Mutter unter den Christbaum legt. Nicht mal meine Söhne hätten es gelesen. Nicht weil sie Anspruchsvolles grundsätzlich verschmähen. Aber die meisten lesen doch, weil sie unterhalten werden wollen.
Am 13. September werden wieder fünf nominierte Bücher präsentiert. Ganz viele Bücher, die es wert gewesen wären, werden fehlen, wie immer, jedes Jahr. Ganz viele Verlage und noch mehr Autorinnen und Autoren werden sich die Augen reiben. Die einen, weil sie nie und nimmer damit gerechnet hätten bei den fünf Nominierten zu sein, die anderen, weil ihre Namen schlicht fehlen auf der kurzen Liste. Und ein paar wenige werden gar beleidigt sein, weil man sie (wieder) nicht berücksichtigte. Auch bei den Lesenden wird es viele geben, die die Nase rümpfen oder verkünden, die Liste ginge sang- und klanglos an ihnen vorbei.
Ob dem so ist oder nicht, es werden fünf spannende Bücher sein mit fünf spannenden Namen und Geschichten dahinter. Ich freue mich darauf, auch wenn es eigentlich unmöglich ist, fünf Bücher in einem Wettbewerb ohne transparente Kriterien gegeneinander antreten zu lassen.
Was und wie Bettina Scheiflinger schreibt und erzählt, beeindruckt sehr. Ihr Debüt „Erbgut“ überzeugt durch aussergewöhnliche Reife, durch Mut und hätte es in den vergangenen Monaten verdient, einiges an Beachtung mehr zu bekommen. Mit der Einladung der Autorin ins Literaturhaus Thurgau verneigt sich der Schreibende vor der Autorin.
Ernstzunehmende Untersuchungen erklären, dass jedes Leben genetisch vorbelastet ist durch die Generationen davor. Auch wenn man solchen Aussagen gegenüber kritisch bleibt, wird es einleuchtend, wenn man zugestehen muss, dass traumatisierte Menschen, die eine Familie gründen, ihre Erlebnisse bei der Erziehung nicht einfach ausblenden können. Es ist nicht möglich, in einem neuen Leben einfach bei Null zu beginnen. All das, was sich in die Jahrringe eines Menschenlebens einfrisst, was sich als dunkle Schatten in den Seelen ablagert, was im Untergrund modert, wirkt im Tun – oder auch im Unterlassen. Dass sich Bettina Scheiflinger schon mit dem Titel ihres Erstlings unzweifelhaft in dieses Thema hineinzuwagen versucht und dabei alles andere als scheitert, ist beeindruckend. Schon der Titel selbst – „Erbgut“ – offenbart die Vielschichtigkeit des Wortes selbst. Was sich als Erbe von Generation zu Generation weitergibt, ist nicht immer ein Gut, aus dem die nächste Generation schöpfen kann. Beispiele aus der Geschichte gibt es viele. Was heute in Israel passiert, ist in vielem mit Sicherheit mit dem kollektiven Traumata mehrerer Generationen zu erklären, die in der Folge von Judenverfolgung und -vernichtung millionenfach Leben zerstörte.
Bettina Scheiflingers Roman erzählt aber keine grossen geschichtlichen Zusammenhänge, auch wenn die Geschehnisse des zweiten Weltkriegs eine nicht unwesentliche Rolle in ihrem Roman spielen. Die Erzählstimme ist eine junge Frau, zwischen einer schweizerischen Kleinstadt, Wien und einem Dorf, einem Haus in Kärnten. Die junge Frau löst sich gegen den Willen der Eltern aus der fürsorglichen Umklammerung ihrer Familie und zieht nach Wien. Sie ist allein, hat Arbeit, bleibt länger, hadert mit sich und ihrer Vergangenheit. Sie weiss, dass in der Familie Sperrzonen eingerichtet wurden, dass es Dinge gibt, die ausgeschwiegen werden, sei es in der Geschichte ihrer Mutter oder in der ihres Vaters. Selbst die gemeinsame Geschichte ihrer Eltern ist nicht jene, die an der Fassade präsentiert wird. Die junge Frau stolpert, schwankt und taumelt, selbst als sie schwanger wird und in einer Klinik ein Kind zur Welt bringt.
Ein weiteres Qualitätszeichen des Romans ist, dass sich Bettina Scheiflinger keines billigen Erzähltricks bedient. Da sind keine Briefe im Dachboden, kein Geständnis einer Grossmutter, kein Tagebuch. Bettina Scheiflinger erzählt in einzelnen Bildern, die sich erst während der Lektüre zu einem ungefähren Ganzen zusammenfügen. Aber schon diese einzelnen Bilder haben es in sich. Sie sind von einer derartigen Intensität, dass sie wie Selbsterlebtes in der Erinnerung bleiben. Da sitzt Arno, der Vater der Erzählerin, als Halbwüchsiger auf einem Baum und weigert sich selbst in der Nacht herunterzukommen. Sein Vater hat ihn wegen einer Nichtigkeit windelweich geschlagen. Die Mutter droht, die Schwester fleht. Aber Arno bleibt. Am nächsten Tag ringt er seiner Mutter das Versprechen ab, dass es nie wieder soweit kommen darf. Ein anderes Beispiel: Johanna, die Grossmutter der Erzählerin, die auf einem Hof mit Wirtshaus in Kärnten lebt, muss während des Krieges miterleben, wie Partisanen ihre Eltern aus dem Haus zerren und verschleppen. Franz, ihr Vater, ist Nationalsozialist. (Vielleicht ist mir diese Binnengeschichte auch deshalb so in die Kniekehlen gefahren, weil sich das immer Gleiche in der Geschichte wiederholt.)
Bettina Scheiflinger wollte kein chronologisch, stringentes Erzählen. So wie Ablagerungen, sich das Erbgut toxisch auffüllt, so erzählt Bettina Scheiflinger. Sie erzählt vom grossen Schweigen in der Familie, all den Auslassungen, die alles andere als klären. Von den Ängsten, nicht zu genügen, den Traumatas einer Kindheit, wenn Gewalt und Einsamkeit, das Gefühl von Verlassenheit, die Angst vor Verlust das eigene Tun dominieren. Wenn man sich nicht befreien kann. Wenn man im Niemandsland hängen bleibt.
Ich bin mir sicher; Da beginnt Vielversprechendes!
Bettina Scheiflinger, geboren 1984 in der Schweiz. Auf das Lehramtsstudium und einige Jahre Unterrichtstätigkeit folgte 2017 der Umzug nach Wien, um am Institut für Sprachkunst an der Universität für angewandte Kunst zu studieren. Sie schreibt Theaterstücke und Kurzhörgeschichten, veröffentlicht Prosa in Literaturzeitschriften und Anthologien. Eins ihrer Hörstücke wurde 2020 beim sonohr Radio- und Podcastfestival nominiert.
Schreibwerk Ost:Lieber Gallus, die für unsere Leser:innen wichtigste Frage zuerst: Wie kommt man als Neuling im Betrieb zu einer Lesung in einem Literaturhaus – welche Wege empfehlen sich aus deiner Sicht?
Gallus Frei: Es gibt bei mir nur zwei Wege. Irgendwann liegt das Buch auf meinem Tisch. Ich beginne aus irgendeinem Grund gerade dieses zu lesen und weiss schon während der Lektüre, dass genau dieses für eine Veranstaltung auf der Bühne des Literaturhauses perfekt wäre. Die Geschichte, das Thema, die Konstruktion, die Sprache, das literarische Abenteuer. Letztlich alles ziemlich subjektive Gründe, warum ich genau jene Personen anspreche.
Zudem kenne ich von meinen Erfahrungen als Besucher aller möglichen Veranstaltungen auch die „Wirksamkeit“ vieler Schreibenden, ihre Authentizität, ihre Begeisterungsfähigkeit. So kenne ich einige, die ich niemals mit mir auf der Bühne haben möchte. (Beispiele nenne ich keine!)
Der zweiter Weg: langjährige „Treue“. Ein Beispiel: Ich lese schon lange und mit grosser Freude Prosa und Lyrik von Lisa Elsässer. Somit war es mir wichtig, sie irgendwann nach Gottlieben zu bringen, ob man sie nun kennt oder nicht. Im Sommer 2023 wird es soweit sein. Ich freue mich schon jetzt. Es wird ein Fest!
Du bist ein bekennender Fan der Schweizer Literatur, kaum jemand, der so viele und so systematisch Schweizer Autor:innen liest wie du. Wie kam es zu dieser Liebe?
Ich war als Kind kein Leser, bekam wohl immer wieder mal zu Weihnachten ein Buch geschenkt, das dann aber meist im Regal ungelesen verstaubte. Erst während meiner Lehrerausbildung mahnte mich mein Deutschlehrer und Seminardirektor, Lesen gehöre zur Welt eines Lehrers. Da ich ihm in meiner Hilflosigkeit entgegnete, ich hätte keine Ahnung, womit ich beginnen sollte, nahm er ein A3-Papier, zeichnete mit seinem Füller die Umrisse der Schweiz und die wichtigsten Seen und schrieb in diese rudimentäre Karte 5 Namen. In meiner Erinnerung waren es Kurt Guggenheim, Robert Walser, C. F. Ramuz, Jacques Chessex und Ruth Blum. „Wenn du von jedem dieser fünf eines gelesen hast, dann komm zu mir und berichte.“
Da die meisten Bücher dieser Autor:innen nur in Antiquariaten für einen Studenten bezahlbar waren, wurde schon die Beschaffung zum Abenteuer.
Aber: Ich tat es, hatte viel mehr als nur fünf gelesen und bekam wieder fünf neue Namen für meine Reise in ein unbekanntes Land. Mit der Leidenschaft kam die Liebe.
Seit 2020 zeichnest du für das Programm des Literaturhauses des Kantons Thurgau verantwortlich. Dabei fällt auf, dass du ganz unterschiedliche Formate aufnimmst und nicht mehr nur reine «Wasserglas-Lesungen» auf die Bühne holst. Ist das deiner persönlichen Neugier geschuldet – oder wie kommt es zu dieser neuen Vielfalt?
Das ist eine Entwicklung, die an Festivals schon lange begonnen hat. Lesen kann man doch eigentlich selber. Und von vielen Autor:innen gibt es Hörbücher. Warum also macht man sich auf den Weg, verlässt die geheizte Stube, setzt sich in den Zug?
Weil man sich von einer Lesung etwas verspricht, was nur die persönliche Begegnung schenken kann. Zumindest geht es mir so. Und ich bezeichne mich als den idealen Besucher jeglicher literarischer Experimente.
Noch immer geistert die Meinung in vielen Köpfen, Lesungen seien verkopft, elitär, vergeistigt, trocken, langweilig und einschläfernd. Das geschieht zuweilen, nicht anders bei Musik oder im Kino.
Ich liebe „Wasserglaslesungen“, wenn sie das Gespräch nicht ausschliessen, wenn sich die Moderation nicht zu wichtig nimmt. Aber ich liebe auch das Experimentelle, die Überraschung, das Zusammenführen verschiedener Kunstsparten.
Noch viel wichtiger ist für mich der Fokus auf jene Literatur, die nicht zuvorderst auf den Bestsellerlisten fungiert. Nicht, dass ich jenen Namen aus dem Weg gehen müsste. Aber das grösste Kompliment für mich als Veranstalter ist das Echo der Besucherin, die mir für eine Neuentdeckung dankt.
Ab 2023 arbeitest du neu zusammen mit Monika Fischer – wie stellt man sich so eine Zusammenarbeit vor? Was läuft da alles hinter den Kulissen eines Literaturhauses?
Brigitte Conrad war über zwei Jahrzehnte Dreh- und Angelpunkt im Literaturhaus. Sie kannte alles und jede:n, war absolut zuverlässig, ein Fels in der Brandung. Ich bin der Überzeugung, dass kaum jemand weiss, wie viel Brigitte Conrad für dieses Haus geleistet hat. Und damit nicht nur für das Haus, sondern für die Literatur eines ganzen Sprachraums.
Intendanzen im Literaturhaus Thurgau dauerten in der Regel drei Jahre. In 22 Jahren ein Kommen und Gehen. Die Arbeit des Sekretariats bedeutete Konstanz. Dafür gebührt Brigitte Conrad grosser Dank.
Dass mit Monika Fischer nun eine neue, initiative Kraft ins kleine Bötchen genommen wird, ist gut und vielversprechend, denn Monika Fischer bringt einiges an Erfahrung mit.
Die Aufgabenteilung zwischen Intendanz und Sekretariat ist genau geregelt. Folglich bin ich äusserst zuversichtlich. Es wird viel gearbeitet hinter den Kulissen des Literaturhauses, sehr viel. Und wie überall in der Kultur nicht des Geldes wegen! Literatur ist Leidenschaft.
Gottlieben am Seerhein ist geografisch betrachtet nicht gerade am Weg – wieso lohnt es sich, ausgerechnet in dieses Literaturhaus zu pilgern? Bitte nenne uns genau drei Gründe.
1. Stolz: Dass der Kanton Thurgau mit einem Bevölkerungsanteil von nicht einmal 4 Prozent ein eigenes Literaturhaus führt, ist schon Sensation genug. Fast gleichzeitig gegründet wie jene in Zürich und Basel. 2004 kam das Aargauer Literaturhaus in Lenzburg dazu, 2012 das Maison de Rousseau et de la Littérature (MRL) in Genf, 2014 das Zentralschweizer Literaturhaus in Stans und seit 2019 im Aufbau das Literaturhaus Wyborada in St. Gallen.
2. Liebe: Ich kenne viele Literaturhäuser im In- und Ausland. Keines versprüht derart viel Charme und Liebreiz wie das Literaturhaus Thurgau. Dazu gehört nicht nur das Haus. Auch der Ort Gottlieben am Seerhein. Ein Geburtstagswunsch des Dichters Klaus Merz zum 20jährigen Jubiläum bringt es auf den Punkt:
Frommer Wunsch (Haiku)
Ob Bodman- oder
Literaturhaus, es bleibt
Gott lieb, ganz sicher!
3. Leidenschaft: Literaturhäuser sind Begegnungsorte, literarische Brutstätten. Unverständlich genug, wie selten Schreibende bei den Lauschenden sind! (Michèle Minelli, Peter Höner und Zsuzsanna Gahse ausgenommen!)
Neben der Vielfalt an Veranstaltungen laden solche zum Austausch, zu Gesprächen ein. Im Literaturhaus wird aber auch geschrieben, Neues geschaffen. Ich weiss von einem Autor, der in den drei Nächten, die er dort in der Gästewohnung verbrachte, einen neuen Roman zu schreiben begann. Ich weiss von anderen Autoren, die regelmässig im Haus schreiben und eben diese Mauern brauchen, um dem Geschriebenen den letzten Schliff zu geben. Und im Erdgeschoss führt Sandra Merten eine Buchbinderei, die jedem Büchermenschen das Herz höher schlagen lässt.
„Es ist ganz ausserordentlich, was Gallus Frei seit Jahr und Tag in Bezug auf die Literatur leistet! Ihm haftet dabei nichts Dünkelhaftes an, es geht ihm weder um die „verwöhnten“, vom Kulturbetrieb gehätschelte Namen, noch schliesst er sich den gängigen „Nachschreibgepflogenheiten“ an, die heute die Feuilletons auszeichnen! Unerschütterlich folgt er seiner persönlichen Wahrnehmung, seinem klugen Literaturwissen, dem subtilsten Empfinden, das auch die ansonsten leider öfters übergangenen „Perlen“ in den Fokus zu rücken weiss! Mit Hochachtung und Dankbarkeit für diesen doch sehr rar gewordenen Mut!“ Lisa Elsässer
Wer das analoge Literaturblatt abonniert, unterstützt die Literatur. Die Einnahmen durch die Beiträge der AbonnentInnen sind meine einzige «regelmässige» Einnahmequelle, Einnahmen, die die Kosten für meinen Aufwand wenigstens etwas abfedern und mit jenes Engagement erlauben, das ich im Dienst der Literatur mit aller zur Verfügung stehender Leidenschaft aufwende.
Herzlichen Dank all jenen, die mit zum Teil schon seit einem Jahrzehnt ihre Treue halten!
„Literarische Blogger und -innen gibt es zuhauf, auch wenn kaum mal einer oder eine ein Buch aus dem Verlag hier hinten am Horizont in die Hände bekommt. Macht nix, Hauptsache Long John Silver liest unsere Preziosen. Nun ist es so, dass auch die Welt der Blogs eine der Superlative ist und wen wundert es, dass die Suche nach dem Besten, Schönsten und Weitvernetztesten im Gange ist. Mir persönlich ist nur einer bekannt; ein wenig verrückt ist er, – wie könnte ich ihn sonst kennen –, publiziert er doch seine immer eigenwillig geschriebenen Buchrezensionen – davon kann man sich jederzeit selbst überzeugen – nicht nur auf seinem Blog, sondern schreibt diese zusätzlich und von Hand mit Kugelschreiber wie in ein (B)Logbuch, druckt das Ganze auch noch auf Papier und verschickt diese Flaschenpost, die LITERATURBLATT heisst, per Post, mit Briefmarke und allem, was dazu gehört.“ Ricco Bilger, Verleger
Für mindestens 50 Fr./€ schicke ich ihnen die kommenden 10 Nummern der Literaturblätter. Die Literaturblätter erscheinen ca. 5 – 6 Mal jährlich.
Für mindestens 100 Fr/€ schicke ich ihnen als Freunde der Literaturblätter 10 Literaturblätter, 5 – 6 pro Jahr. Zudem sind sie auf literaturblatt.ch vermerkt.
Für mindestens 200 Fr./€ sind Sie als Gönner stets eingeladen, als Gönner der Literaturblätter auf literaturblatt.ch vermerkt bekommen 10 Literaturblätter (5 – 6 pro Jahr), also etwa zwei Jahre lang und werden einmalig auf Wunsch mit einem Buch beschenkt.
Lentille, eine junge Kuh, die ihr erstes Kalb erwartet, liegt im Stall und brüllt. Urs Mannhart arbeitet dort, wenn er nicht schreibt. Aber wenn er schreibt, brüllt die Kuh auch in seiner Schreibstube im Städtchen. Urs Mannhart erzählt von seiner Liebe, jener zu den Tieren in dem jurassischen Stall und jene zu der Art, sich Fragen zu stellen.
Urs Mannhart war am Internationalen Literaturfestival in Leukerbad diesen Sommer mit seinem Roman „Gschwind oder Das mutmasslich zweckfreie Zirpen der Grillen“ in den Walliser Bergen eingeladen. Wie allen hätte man ihm die Spesen für eine Reise mit dem Zug von La Chaux-de-Fonds nach Leukerbad und zurück mit aller Selbstverständlichkeit bezahlt. Aber Urs Mannhart kam mit dem Fahrrad. Circa 200 Kilometer, angekommen mit den ersten Regentropfen eines infernalen Gewitters, am nächsten Tag bereits wieder wie aus dem Ei gepellt bereit für die „Literarische Wanderung“ von Guttet über Albinen bis nach Leukerbad. Urs Mannhart ist ein Tausendsassa, nicht nur was seine körperliche Fitness betrifft und seinen Willen, Dinge mit letzter Konsequenz zu tun, sondern auch als Schriftsteller, Reporter und Landwirt.
Und wenn Urs Mannhart die unabdingbare Fähigkeit eines Schriftstellers, sich in ein „künstliches Gegenüber“ versetzen zu können, Empathie wie Tasten und Stift zu einem Werkzeug macht, wenn er sich so ganz in sein Tun und seine Überzeugung hineingeben kann, ist es auch nicht verwunderlich, dass der Biobauer Urs Mannhart eine Kuh zu seinem Gegenüber machen kann, ohne Pathos, ohne Verklärung.
„Menschen, die sich zu viel Arbeit und zu viele Termine aufhalsen, sollten ärztlich angewiesen werden, eine Kuh aufzusuchen, um ihr nahe zu sein, wenn sie wiederkäut.“
Urs Mannhart ist zwei Tage in der Woche Mitarbeiter auf einem kleinen Bauernhof unweit von La Chaux-de-Fonds. Im Stall stehen nur wenig Kühe; Susi, Ambre, Galia, Amina und Lentille. Urs und Michaël, der Bauer, melken sie von Hand, jeden Tag zweimal, morgens und abends. Wer so eng mit Tieren zusammen ist, seien es Haus- oder Nutztiere, wer mit ihnen lebt, an ihrem Leben teilnimmt, wer den Tieren Namen gibt, der wird auf die Frage, ob Tiere eine Persönlichkeit besässen, mit Verwunderung reagieren. Die Frage ist nicht, ob Tiere eine Persönlichkeit besitzen, viel mehr, ob sie Persönlichkeiten sind. Ob sie zu Gefühlen fähig sind.
Urs Mannhart erzählt in seiner essayistischen Reportage von einer Kuh, von Lentille. Ganz zu Beginn des Buches kämpfen Michaël und der Tierarzt an der Seite Lentilles um ihr erstes Kalb, während Urs sich sonst irgendwie nützlich zu machen versucht, während das tiefe Brüllen der Kuh die Ruhe des sonst stillen Hofes zerreisst. Das Kalb kommt tot zur Welt. Michaël legt es neben die Mutterkuh. Sie stupst es sanft mit den Hörnern. Empfindet eine Kuh Trauer nach einer solchen Todgeburt? Urs Mannhart schildert die Begegnungen mit der Kuh danach, versucht sie zu verstehen, krault und streichelt ihr Fell, beobachtet sie auf der Weide. Urs Mannhart nimmt Lentille gedanklich mit nach Hause, an seinen Schreibtisch in seiner kleinen Wohnung in La Chaux-de-Fonds.
Urs Mannhart setzt sich nicht nur mit seiner Arbeit auseinander. Das mit Farbfotos illustrierte Buch ist Zeugnis einer tiefen Befragung, darüber, ob all das, was in europäischen Ställen geschieht noch in irgend einer Weise etwas mit Tierwohl gemein hat, oder ob sich eine perfekt organisierte Fleisch- und Milchindustrie das Tier nicht längst zum reinen Objekt und Lieferanten herangezüchtet hat. Ob eine Gesellschaft, die frag- und kritiklos in Bergen eingeschweisster Billigfleischangebote wühlt noch weiss, was es bedeutet, einer Kuh den Schmerz anzusehen, wenn sie mit ihrer feuchten Schnauze den toten Körper ihres Kalbs berührt. Wir haben uns entfernt. Urs Mannhart ist ganz nah. Er erzählt in seiner Auseinandersetzung mit ethischen Fragen von seiner Liebe zum Tier, mitunter gar von seinem Werben um sie.
„Lentille. Aus dem Leben einer Kuh“ ist keine Kampfschrift gegen den Verzehr von Fleisch- oder Milchprodukten, nicht einmal gegen Massentierhaltung. Das Buch zwingt mich zur Auseinandersetzung, zur Selbstbefragung. Darüber, dass ich mich viel zu selten frage, was ein Tier empfindet, wo wir ihnen doch zugestehen, dass sie zu Kommunikation fähig sind. Wie sehr wir uns die Welt zurechtbiegen, um sie „untertan“ zu machen; einsperren, abschneiden, kupieren, schleifen und veröden. „Lentille. Aus dem Leben einer Kuh“ ist eine Liebeserklärung.
Urs Mannhart, geboren 1975, lebt als Schriftsteller, Reporter und Biolandwirt in der Schweiz. Er hat Zivildienst geleistet bei Grossraubwildbiologen und Drogenkranken, hat ein Studium der Germanistik und der Philosophie abgebrochen, ist lange Jahre für die Genossenschaft Velokurier Bern gefahren, war engagiert als Nachtwächter in einem Asylzentrum und absolvierte auf Demeter-Betrieben die landwirtschaftliche Ausbildung. Mannhart beschäftigt sich mit Tierphilosophie, dem bedingungslosen Grundeinkommen, mit Suffizienz und entschleunigter Mobilität. Für sein literarisches Werk erhielt er eine Reihe von Preisen, darunter den Conrad-Ferdinand-Meyer-Preis 2017. Im selben Jahr war er zum Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb eingeladen; sein Text stand auf der Shortlist.
«So etwas habe ich noch nie aus einem Kuvert geschält – handgeschrieben, handgezeichnet, wunderschön. Am Anfang stehen vier Bücher und ein weisses A4-Blatt. Wo andere in die Tasten hauen, greift er zum Kugelschreiber. Anstelle von Fotos setzt er auf zarte Zeichnungen. Jede Ausgabe ein Kunstwerk: Gallus Frei-Tomics Literaturblätter. Abonnieren, lesen, staunen – Unbedingt!» Rebekka Salm
«Seit langem ist das Literaturblatt mein Favorit unter den Abos und den mit Mitgliedschaften einhergehenden Printprodukten. Während papier-, bild- und werbelastige Vereins- und Verbandspost kontinuierlich auf einen Stapel wandert, der nicht immer Freude bereitet, viel eher ein schlechtes Gewissen verursacht, weil er schon fast chronisch zum Brachliegen verurteilt ist, ergeht es dem Literaturblatt anders. Ich will das gefaltete, von Hand beschriebene und sorgfältig illustrierte A4-Blatt sofort anschauen, will wissen, welche vier Bücher Literaturblatt-Redaktor Gallus Frei-Tomic letzthin weshalb ans Herz gewachsen sind. Ob er die Besprechungen von Hand schreibt aus Respekt vor der zeitaufwändigen schriftstellerischen Arbeit und damit quasi bewusst einen Kontrapunkt zur Schnelllebigkeit im Literaturbetrieb setzt? Ich interpretiere es so – und fühle mich deshalb umso mehr geehrt, in der jüngsten Ausgabe mein neues Buch besprochen zu sehen.» Marianne Künzle
„In Zeiten, in denen die Feuilletons immer dünner, die Kulturseiten immer weniger und Rezensionen immer seltener werden, ist das von Gallus Frei mit viel Herz, Wissen und Leidenschaft bespielte Literaturblatt.ch eine wunderbare Quelle für lesebegeisterte Menschen, die in Sachen Literatur (gerade auch der Schweizer Literatur!) auf den neusten Stand gebracht werden möchten.“ Frank Heer
„ Ganz herzlichen Dank einmal mehr für dieses einzigartige analoge Kunstwerk – Dein Literaturblatt!“ Claudia Wüest
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Die Welt besteht aus vielen Welten. Manchmal sind diese Welten nur durch hauchdünne Membranen voneinander getrennt. Welten, die sich in allem unterscheiden; in ihren Wahrheiten, ihrem Licht, den Trennungen zwischen Gut und Böse. „Der Mann im Untergrund“ von Richard Wright, in den 40er Jahren entstanden und bisher nur in gekürzter Form als Erzählung erschienen, ist erstmals als Roman in Deutsch zu lesen. Eine Offenbarung!
Stellen Sie sich vor: Sie sind von der Arbeit zu Fuss auf dem Weg nach Hause. Nicht weit. Den Wochenlohn in Scheinen in der Tasche werden sie von zwei Polizisten angehalten. Das Scheinwerferlicht des Polizeiautos blendet sie. Man gibt ihnen unmissverständlich zu verstehen, ins Auto einsteigen zu müssen. Obwohl sie eindringlich zu erklären versuchen, dass es sich in jedem Fall um einen Irrtum handeln muss, nimmt man sie mit, wird schon im Auto nicht nur verbal grob und unverschämt. Und nachdem man ihnen mit der Frage nach dem Geld ganz beiläufig sagt, ob sie es genommen, gestohlen hätten, nachdem sie getötet hatten, bricht die Welt weg.
Fred Daniels wird des zweifachen Mordes beschuldigt, in Handschellen gefesselt in einen Verhörraum gesperrt, gefoltert und misshandelt, bis man ihm seine schlaffe Hand nimmt und einen Wisch unterschreiben lässt, den die Polizisten Geständnis nennen. Um die Folter noch zu verfeinern, führt man ihn nach Hause zu seiner hochschwangeren Frau, die mit dem misshandelten Mann vor Augen ihr Kind zu gebären beginnt. Man fährt ins Spital. Fred sitzt einen Moment unbeobachtet im Flur, nur durch eine Mauer von seiner Frau entfernt und setzt sich ab, schlüpft durch Türen und auf der regennassen Strasse durch einen Gully in die Kanalisation. Weg von der Oberfläche in den Untergrund. Ins Dunkle, Schlammige, Stinkende.
Was Richard Wright dann schildert, ist die Odyssee durch eine Gegenwelt, ganz nah an der realen Welt vorbei, nur durch Mauern getrennt. Fred hört Stimmen singen, einen Gottesdienst. Fred ist gottesfürchtig. Er schlüpft durch Löcher, bricht durch Mauern, wird in seiner Ausweglosigkeit, seiner Hoffnungslosigkeit zum Dieb, zum Verbrecher, hungrig nicht nur nach Essen, hungrig zu überleben, hungrig nach der Welt, die in ausgespuckt hatte. Mit gefundenen Werkzeugen bricht er sich gar in den Kellerraum eines Geldinstituts, klaut ganze Bündel mit Scheinen, steigt in die Werkstatt eines Juweliers, nimmt Goldschmuck mit, Diamanten.
Irgendwann hockt er in einer Mischung aus Wahn, Verzweiflung und Euphorie in seinem Loch und tapeziert die Backsteinwände mit Geldscheinen, stampft Diamanten in den Dreck, hängt goldenes Gehänge an Nägel. Ein Rausch des Sinnlosen, von einem Mann im Sinnlosen.
Richard Wrights düsterer Roman erzählt die Geschichte von unrettbarer Verdammnis. Fred ist schwarz, nicht nur seine Hautfarbe. Alles an ihm wird schwarz, auch seine Seele. Und in der Erkenntnis des unendlichen Verlorenseins steigt Fred aus der Unterwelt, geht durch das Licht an der Oberfläche zurück an den Ort, an dem ihn die drei weissen Polizisten geständnisreif schlugen. „Der Mann im Untergrund“ ist eine einzige Metapher für die grenzenlose Missachtung aller Menschenwürde. Man stösst Fred in eine Existenz, die eigentlich diametral von seiner bisherigen Wirklichkeit entfernt ist. Man macht ihn zum Mörder, zum Verbrecher, ohne Zukunft, ohne Chance, beraubt ihn seiner Würde, seines aufrechten Gangs.
„Der Mann im Untergrund“ liest sich auch als blosse Geschichte atemlos. Der Roman ist die Geschichte der Rechtlosen überall, die Geschichte der institutionalisierten Willkür, in die die Gegenwart zu versinken droht. Wer diesen Roman liest, sieht grenzenloser Verzweiflung ins Gesicht. Jener Verzweiflung, die all jenen ins Gesicht gedrückt wird, denen das Recht auf ein Leben in Würde und Frieden genommen wird!
Was für ein Buch!
Richard Wright wurde 1908 auf einer Plantage bei Natchez, Mississippi, geboren. Mit neunzehn Jahren verliess er den Süden und ging nach Chicago, wo er sich seinen Lebensunterhalt als Strassenfeger, Tellerwäscher und Postangestellter verdiente. Er schrieb zunächst vor allem Essays, Kurzgeschichten und Gedichte, bekannt wurde er mit seinem Roman «Native Son», der mehrfach verfilmt und 1941 als Bühnenversion am Broadway unter der Regie von Orson Welles aufgeführt wurde. Bis heute gilt Richard Wright als einer der bedeutendsten afro-amerikanischen Schriftsteller des 20. Jahrhunderts. Er starb 1960 in Paris.
Werner Löcher-Lawrence studierte Journalismus, Literatur und Philosophie, danach Lehre und Forschung am kommunikationswissenschaftlichen Institut der Universität München. Es folgten lange Jahre in verschiedenen Verlagen, als Lektor und Programmleiter, bei Bertelsmann, Hoffmann und Campe und der Deutschen Verlags-Anstalt. Seit 2002 selbstständig, mit eigener Agentur und als literarischer Übersetzer.
«Ein kleines Kunstwerk für sich, wirkt die reine Existenz dieses handgemachten, detailversessenen Blattes wie ein stiller Widerstand gegen das brutale Tempo unserer Zeit.» Constantin Schwab
«Gallus Frei-Tomic hat ein Literaturblatt fürs Auge, für die Hände und für den Kopf geschaffen, das man in der Schweizerischen Literaturlandschaft nicht mehr missen möchte.» Yael Inokai
«Die Literaturblätter sind wunderschön. Ich habe RIESENFREUDE!» Eva Bröckelmann
«Das Literaturblatt April verdanke ich, lese mit grossem Interesse die Beschreibungen. Welch reiches Innenleben kann ich da miterleben.» Marianne D.
„literaturblatt.ch ist eine wohltuend und erfrischend von Mainstream und Moden unabhängige Zeitung, ganz der Neugier und der Begeisterung ihres Herausgebers verpflichtet. Im Fokus steht, was heute leider immer mehr aus dem Blickfeld gerät: die Sprache selbst in ihrer individuellen und inneren Verführungskraft.“ Jürg Beeler
Für mindestens 50 Fr./€ schicke ich ihnen die kommenden 10 Nummern der Literaturblätter. Die Literaturblätter erscheinen ca. 5 – 6 Mal jährlich.
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Für mindestens 200 Fr./€ sind Sie als Gönner stets eingeladen, als Gönner der Literaturblätter auf literaturblatt.ch vermerkt bekommen 10 Literaturblätter (5 – 6 pro Jahr), also etwa zwei Jahre lang und werden einmalig auf Wunsch mit einem Buch beschenkt.