Dominique Anne Schuetz «Wohnblock – Kino – Coiffeur»

Der Wohnblock

Stockwerke übereinander gestapelt wie Kartonschachteln, voll mit Plüschsofas und Fernsehgeräten, Kuckucksuhren, Aquarien und Gummibäumen. Vierundzwanzigmal ein Stück gemietete Heimat mit Grenzen aus dünnhäutigen Wänden. Namensschilder statt Menschen. Türen im Multipack. Fenster in Reih und Glied. Verstopfte Abläufe und defekte Storen gehören zum Alltag. Die Hausordnung hat mehr als zehn Gebote. Du sollst nicht Lärm machen zur Unzeit. An den Treppenhausmief gewöhnt man sich, an den Waschküchenplan nicht. Die Frau des Hausverwalters wischt die Stufen. Im Winter ist die Fassade leer. Im Sommer ergiessen sich Geranien wie bunter Badeschaum über die Balkone, und aus den Radios scheppern Pavarotti, Ramazzotti und Kaleb. Ganz oben scheint die Sonne länger. Unten rauscht das Meer aus Blech.

Kino

Irgendwo am Sunset Boulevard. Die letzte Vorstellung. Zwei Tickets für eine Hand voll Dollar. Eine Tüte Popcorn und eine Coke, bitte. Thelma & Louise weisen den Weg zu den Plätzen aus rotem Plüsch. Lange Beine, kurze Röcke. Manche mögen’s heiss. In den Rängen hält ein Midnight Cowboy seine pretty Woman im Arm. Der stramme Goldjunge Oscar sitzt in der ersten Reihe. Auf den billigen Plätzen tummeln sich die nervigen Poltergeister. Jean-Paul Belmondo und Jane Seberg sind wie immer zu spät und völlig ausser Atem. Das Licht geht aus, doch die Men in Black behalten ihre Sonnenbrillen auf. Der Projektor surrt, ein Löwe brüllt. Nur noch 12 Sekunden bis zur Ewigkeit. Endlich beginnen die Stars zu leuchten. In den Hauptrollen: der blaue Engel, des Teufels General und Dr. Mabuse. Denn sie wissen nicht, was sie tun. Das Publikum vergisst die Realität, wird zurück in die Zukunft geworfen, hört den Fluch der Karibik, verliert sich in 3D, ist jenseits von Eden. Liebe, Verrat und Tod allenthalben. The End. Der Saal leert sich. Wollen wir noch in Rick’s Café? Im Regen vor dem Filmpalast wartet ein Taxi Driver. Er sieht aus wie Robert De Niro.

Damals beim Coiffeur

Zwei Schaufenster, vier Stufen, eine Tür. Dahinter öffnet sich die Welt der Scheren, Bürsten und Kämme, der Shampoos, Lockenwickler und Haarfarben. Waschen, legen, frisieren seit 35 Jahren. Alles alte Schule. An den Wänden Reklameplakate, ausgebleicht von der Zeit. In der Mitte zwei Frisierstühle mit Polstern aus Plastik, rot und glänzend wie lackierte Fingernägel. Spiegel zeigen eine verkehrte Wirklichkeit. Einmal aussehen wie Doris Day. Die Trockenhaube hat viel zu tun. An der Decke surrt ein Ventilator, und aus dem Radio scherbelt Frank Sinatra. I did it my way. Eine Wolke aus Haarspray schwebt im Raum. Hochsteckfrisuren wachsen bis zur Decke. Die Monroes der Vorstadt wollen immer dasselbe: Wasserstoffblond. Gern doch, eine Maniküre für Madame, und eine gründliche Rasur mit dem Messer für den gepflegten Herrn, Dampfkompresse inklusive. Ein Salon vom Scheitel bis zur Sohle.

Dominique Anne Schuetz, geboren in Winterthur (CH), ist aufgewachsen in St. Gallen. Studium Graphic Design an der Schule für Gestaltung St. Gallen. Zunächst Art Director, dann Konzepterin/Texterin und Creative Director in namhaften Kommunikationsagenturen.
Seit 2007 Ausrichtung auf das Schreiben von Romanen, die Entwicklung von Kulturprojekten und die Arbeit als Konzepterin / Texterin. Ihre beiden letzten Romane «Die unsichtbare Grenze» und «Von einem, der auszog, die Welt zu verschieben» sind beim Europa Verlag erschienen. Ein neuer Roman ist unterwegs!

Bernd Schroeder «Warten auf Goebbels», Hanser

Während sich in den letzten Monaten des 2. Weltkriegs das Grauen, die Bomben und Granaten immer unüberhörbarer Richtung Reichshauptstadt Berlin donnern, dreht in Altenburg in der Heide die letzte Filmcrew einen Spielfilm, der am 1. Mai 1945 in den deutschen Kinos den Endsieg mitfeiern soll.

Konrad Eisleben dreht einen Film über den Rückkehrer Hans Weimar, der als strahlender Sieger zu seiner Familie zurückkehrt. Ein Film, so das Ministerium, der Dank sein soll an «das deutsche Volk,  das durch seine Opferbereitschaft und seinen ungebrochenen Glauben an den Führer diesen Sieg möglich gemacht hat». So surreal die Szenerie zu Beginn der Dreharbeiten erscheint, potenziert sie sich laufend. Ein Regiesseur, zeitlebens immer im zweiten Glied hinter den Grossen, dann aber doch von Joseph Goebbels selbst in den filmischen Adelsstand des Professors geadelt, dreht einen Film, von dem es kein Drehbuch gibt. Tröpfchenweise erreicht das Filmset Order um Order aus Berlin und Eisleben versucht krampfhaft der Geschichte und den Protagonisten eine Richtung zu geben.

Zwischen Fanatismus und Fatalismus

Von der linientreuen Produktionsleitung, die auch nicht zögert, mit Drohungen und geladener Pistole ihre Macht zu unterstreichen bis zu zwei Juden, die man im Hühnerstall hält, um sie im richtigen Moment als Persilschein voranzustellen, wabert die Szenerie zwischen Lethargie und Hysterie. «Warten auf Goebbels» ist ein durchaus ernstzunehmender Einblick in die Produktion eines Nazi-Propaganda-Spielfilms, bei dem Parteibonzen realitätsblind und führergeil selbst im Winter 44/45 noch an den Endsieg des Tausendjährigen Reiches glauben. Witzig und böse zugleich. Das Personal dieser «Arche Noah» hat alles; vom linientreuen Bürgermeister des Ortes in unterwürfiger Habachtstellung bis zu Hauptdarstellerin Johanna Leise, die ihren Eltern mit falschen Papieren zur Flucht verhalf. Und als sich Propagandaminister Joseph Goebbels ankündigt, sich selbst im Film zu spielen, eine Rede zu halten, wird aus dem Set ein Pulverfass. Die Lunte brennt! Eine Rede zum Sieg über das internationale Judentum und die feindlichen Mächte, deren satanisches Ziel die Zerstörung der Welt nicht erreicht habe. Bis ein Schuss fällt, die Ratten das sinkende Schiff verlassen und ein englischer Soldat mit Gewehr im Anschlag das Set stürmt, droht die Situation mehrfach zu kippen.

Bernd Schroeder inszeniert ein irres Kammerstück, das glaubhaft zeigt, was passiert, wenn die Welt brennt und der Kampf ums Überleben die Masken von den Gesichtern reisst. Bernd Schroeder erzählt collageartig. Man liest, was in der Scheune in Altenburg passiert. Die Stimme Joseph Goebbels, der sich in fanatischer Ergebenheitan der Seite des Führers sonnt. Die kurzen Lebensläufe der Setmitglieder, die zeigen, wie unterschiedlich die Wege bis zur Schicksalsgemeinschaft am Ende der nationalsozialistischen Zeitrechnung sind. Und Meldungen von der Front, von den Tausenden von Tonnen Bomben und unsäglich vielen Opfern, die dem Tausendjährigen Reich ein Ende mit Schrecken bereiten sollen.

Bild: Peter-Andreas Hassiepen

Bernd Schroeder, geboren 1944 im heute tschechischen Aussig, wuchs im oberbayerischen Fürholzen auf. Er lebt in Berlin. Als Autor und Regisseur zahlreicher Hör- und Fernsehspiele erhielt er 1985 den Adolf-Grimme-Preis und 1992 den Deutschen Filmpreis. Zuletzt erschienen bei Hanser: «Hau» (Roman, 2006), «Alte Liebe» (Roman, 2009, mit Elke Heidenreich), «Auf Amerika» (Roman, 2012), «Wir sind doch alle da» (Roman, 2015) und «Warten auf Goebbels» (Roman, 2017).

Titelbild: Sandra Kottonau

Joachim B. Schmidt «Moosflüstern», Landverlag

Er ist da, der Neue von Joachim B. Schmidt! «Moosflüstern», erschienen beim Landverlag. Ein Mann erfährt, dass seine leibliche Mutter nach dem Krieg nicht wie erzählt ins Wasser gegangen sei. 1949 liess sie sich vom isländischen Bauernverband mit 300 anderen, vornehmlich Frauen, anheuern. In Island fehlten auf den einsamen Höfen rund um die Insel Frauen, die anpacken sollten.

Es braucht nicht viel, um aus dem Trott zu fallen. Und doch gibt es Menschen, die sich durch ganz viel Leid nicht fallen lassen wollen. Joachim B. Schmidt erzählt in seinem dritten Roman «Moosflüstern» von zwei solcher Leben. Von Heinrich und seiner Mutter.
Heinrich, Ingenieur, Familienvater in einer Einfamilienhaussiedlung unweit der bündnerischen Hauptstadt, erfährt von seinem Vater ein bislang gut gehütetes Familiengeheimnis. Vreni ist nicht seine leibliche Mutter. Heinrichs Mutter starb vor ein paar Tagen und liegt auf einem isländischen Friedhof begraben.
Heinrich beginnt zu fallen. Zuerst zerfällt die innerfamiliäre Wirklichkeit und dann erschüttern zwei Tödesfälle in einem eingestürzten Lagerhaus das Ingenieurbüro, in dem Heinrich arbeitet. Das eingestürzte Gebäude wurde von Heinrich durchgerechnet. Die beiden Portugiesen, die ums Leben kamen, vielleicht Opfer eines Berechnungsfehlers, vielleicht Opfer Heinrichs. Ausgerechnet, gilt doch der untadelige Familienvater und Modelleinsenbahner als sonst korrekter Rechner.
Heinrich beginnt zu fallen. Zuerst ist da der Zweifel, der sich immer mehr zur Gewissheit durchfrisst. Auch die Ungewissheiten um seine Mutter, von der man 40 Jahre lang eine Lüge erzählte. Und jetzt, zu spät, ist da bloss noch ein Grab in Reykjavik und eine Tante in Paris, von der sein Vater bislang auch nichts verriet. Heinrich fällt. Und nachdem ihn sein Chef heisst, für ein paar Tage eine Auszeit zu nehmen, macht sich Heinrich auf den Weg. Zuerst nach Paris zur greisen Schwester seiner Mutter, dann nach Island, die Insel der brodelnden Vulkane. Eine Reise, um mehr darüber zu erfahren, warum seine Mutter ihn als Kleinkind mit dem Vater zurückliess, um aus seinem Leben zu verschwinden.

Während Heinrich fällt, erzählt Joachim B. Schmidt die Geschichte Heinrichs Mutter, die nach dem Krieg einen versehrten Mann, einen Rückkehrer aus englischer Gefangenschaft zurücknehmen musste, einen, der aus den Maschen fiel, lauthals verkündet, nun endlich Ordnung zu machen. Dabei war es Heinrichs Mutter, die zusammen mit einem Heer zurückgelassener Frauen die zerbombte Stadt händisch von Trümmern befreite. Zumindest von den greifbaren Trümmern. Nicht von den Verletzungen, die der Krieg auch nach seinem Ende durch Hunger, Entbehrung, Krankheit, Mord und Vergewaltigungen anrichtete. Heinrichs Vater kam zurück, ohne sich um den Schmerz seiner Frau zu kümmern, schwängerte sie und liess sie auch in Ruhe, als sie nach Heinrichs Geburt in zerstörerische Depressionen verfiel. Sie verschwand aus einer Nervenklinik, verliess die Trümmer und mit ihnen den kleinen Heinrich, um dort auf der Insel in der Anonymität ein neues Leben beginnen zu können. Heinrichs Mutter fängt sich auf, richtet sich in der isländischen Einöde auf, trotzt allem und allen.

Joachim B. Schmidt erzählt geschickt und gekonnt. Genauso die Leben von Heinrich und seiner Mutter, ihren so unterschiedlichen Geschichten, ihren Charakteren. Er spinnt eine Geschichte, dessen Spannung einem nicht loslässt, die einem gar zwingt, den Anfang des Buches ein zweites Mal zu lesen.

Ein Interview:

Du lässt Heinrich ziemlich abstürzen. In jeder Beziehung, ausser in der Beziehung zu seiner Frau. Warum dieser Absturz ins Wasser? Warum hast du mir die Assoziation zu Leonardo di Caprio nicht erspart? Nicht dass ich das Ende schlecht oder unpassend fand. Schon gar nicht, weil du mit dem Ende deinen Roman begonnen hast.
Es ist für Heinrich die einzige Möglichkeit, seiner Mutter zu begegnen. Ein Happy End in gewissem Sinne, wenn auch äusserst tragisch. Endlich ist seine Mutter für ihn da, kümmert sich um ihn, wie er es insgeheim von ihr gewünscht hätte.
Die Frage hat ihn geplagt und zu dieser Reise bewegt: Wieso hat sie mich verlassen? Er geht nach Island, um die Antwort darauf zu erfahren. Mit dem Sich-Annähern an seine Mutter, gewinnt er an Selbstvertrauen, Zuversicht, und damit heilt die Beziehung zu seiner Ehefrau und seiner Familie. Er weiss nun, woher er kommt, wer er ist, und er ist endlich zufrieden mit sich.
Klar, man hätte ihn überleben lassen können. Es fiel mir schwer, Heinrich sterben zu lassen. Und darum soll der Prolog ein Hintertürchen sein, um ihn trotzdem nicht ganz sterben zu lassen. Was wissen wir schon über diese verschobenen Alkoholiker, Obdachlosen, Clochards. Wieso sind sie, wie sie sind? Vielleicht ist einer von ihnen ins Meer gefallen und hat sein Gedächtnis dabei verloren…
Kurzum: Ich lass ihn ins Meer fallen, weil ich will, dass er seine Mutter trifft. Und ich will, dass sie endlich ihre Mutterpflichten wahrnehmen kann.
Zudem: Ich widme das Buch einem Freund, der eine Wanderung in den Bergen unternahm, ohne jemanden wissen zu lassen, wo er sich aufhalten würde. Er wurde von einer Schneelawine verschüttet und während Wochen nicht gefunden. Die Wanderung war Teil seiner Abschlussarbeit für eine Multi-Media-Schule. Das Leben ist manchmal bitter.

Wie kam das Zitat, das ganz am Schluss des Buches wohl verrät, was die Zündung des Romans war, zu dir?
Ich habe Ursula während den Recherchen kennengelernt. Es ist ein Zitat, das sie bei jedem Besuch – mit Tränen in den Augen – wiederholt. Sie ist in einer kaputten Mutter-Tochter-Beziehung gefangen. Und ich wünsche mir, dass sie von ihrer Mutter in den Arm genommen wird, wenn sie stirbt.

Heinrich der Mann fällt und fällt, bodenlos. Seine Mutter, deren Verletzungen doch eigentlich viel tiefer waren, fällt auch, steht aber wieder auf. Sind das zwei geschlechtstypische Verhaltensmuster? Hätte das Arrangement auch in umgekehrter Rollenbesetzung stattfinden können? Die starke Frau, der schwache Mann? Huldigst du deinem weiblichen Publikum? (Nicht wirklich ernst gemeint!)
Heinrich ist ein eher schwacher Charakter, zugegeben. Und darum vielleicht schwer zu mögen. Aber seine Mutter finde ich nicht unbedingt stärker. Sie gleichen sich eigentlich sehr. Auch sie stellt sich nicht den Problemen, sondern macht sich davon. Sie widersetzt sich ihrem Mann nicht. Sie lässt sich von ihrer Schwester nach Island verschiffen, wird beinahe von Hakon vergewaltigt, muss von Dagur gerettet werden, und bringt es nie fertig, Heinrich zu schreiben. Aber vielleicht huldige ich den isländischen Frauen. Sie sind stark, selbstbewusst, aber zugleich rücksichtsvoll. Heinrichs Schwestern kümmern sich fürsorglich um ihn, gönnen ihm aber den nötigen Abstand, denn er ist ein fragiles Bergblümlein.

Das kleine Stück Geschichte war spannend und aufschlussreich. Aber täuscht der Eindruck, dass dich die Geschehnisse um den 2. Weltkrieg ganz besonders interessieren?
Mich interessieren alte Geschichten. Der 2. Weltkrieg interessiert mich sehr, vor allem die Geschichten, die sich in Island abspielen, aber ich bin kein „Weltkrieg-Fan“. Island erlebte völlig absurdes während dem Krieg und blieb vom Horror erspart. Das finde ich befreiend: Ein deutscher Pilot, der zum Abendessen eingeladen wird. Deutsche Frauen, die nach Island geholt werden, weil die Bauern Frauen brauchen. Es sind die seltenen, fast sympathischen Seiten dieser menschlichen Katastrophe. Darüber darf man auch mal schreiben. Es muss ja nicht immer KZ und D-Day sein.
Aber dass ich erneut über den 2. Weltkrieg berichte ist eher Zufall. Als ich mit den Recherchen zu den Deutschen Frauen in Island vor 10 Jahren begonnen habe, gabs praktisch nichts darüber zu lesen oder zu hören.

Was sind die Unterschiede zwischen Island und der Schweiz? Unterschiede, die freuen oder nerven? Welchen Isländer soll man lesen, wenn man keine Krimis mag und Laxness schon kennt?
Zu dieser Frage könnte man mehrere Seiten verfassen. Ich will mich ganz kurz halten: Schweizer und Isländer sind sich ähnlich, und doch nicht. Beide Völker leben auf Inseln, wollen in Ruhe gelassen werden und empfinden deshalb wenig Verantwortung für das Schicksal anderer Völker. Sie sind nationalistisch und meinen, dass sie alles erfunden haben. Mich nerven die Schweizer und die Isländer. Die Geldmacherei durch Waffenverkäufe, das Horten von Reichtum … Auch die Isländer huldigen den Reichen, wählen Politiker, die selber aus einer Finanzkrise Profit geschlagen und das Volk über den Tisch gezogen haben. Sie haben ein Goldfischgedächtnis. Sie fischen in afrikanischen Gewässern, wo sie nichts verloren haben.
Zugleich liebe ich die Schweizer, diese ehrlichen Häute, Krampfer, Denker, Zweifler. Es sind wunderbare Eigenschaften. Die Isländer sind Charakterköpfe, die man einfach mögen muss, selbst wenn sie kein Feingefühl für ihre schöne Natur haben. Sie sind familienbewusst, humorvoll, gesprächig, neugierig und optimistisch. Wunderbare Eigenschaften.
Mich interessiert das Fehlerhafte im Menschen. Es gibt kaum etwas langweiligeres, als ein Held, der keine Fehler macht.

Deine Tipps: Steinunn Sigurdardottir: «Herzort», Jon Kalmann Stefansson: alles, Einar Karason: einiges, Sjón: «Der Junge, den es nicht gab»

Wirst du auf Island als Schriftsteller wahrgenommen?
Ja und nein. Der Schriftsteller Sjón hat mich wahrgenommen. Er setzt sich für die ausländischen Schriftsteller in Island ein, will versuchen, das Potential, das hier irgendwie vergessen geht, zu erschliessen. Auf seinen Rat und seine Verbindungen habe ich eine Kurzgeschichte, übersetzt auf Isländisch, in einer Zeitschrift veröffentlichen können. Ansonsten gibt es mich in Island als Schriftsteller nicht.

Vielen Dank!
Lesen und entdecken Sie Joachim B. Schmidt!

Joachim B. Schmidt, geboren 1981, wuchs in Cazis am Heinzenberg als Bauernsohn auf. Seit einigen Jahren lebt und arbeitet er als Journalist, Schriftsteller und Gelegenheitsarbeiter in Island.
Von Haus aus ist Schmidt diplomierter Hochbauzeichner und Journalist, doch er verdiente sein Brot auch schon als Knecht, Gärtner, Trockenmaurer, Kellner, Hilfskoch, Molkereiarbeiter und Rezeptionist. 2013 erschien beim kleinen Landverlag sein erster Roman «Küstennähe», ein Jahr später der Roman «Am Tisch sitzt ein Soldat». Joachim B. Schmidt lebt mit seiner Isländischen Lebenspartnerin und einer gemeinsamen Tochter in Reykjavik.

Webseite des Autors

Stephan Lohse «Ein fauler Gott», Suhrkamp

Jonas ist tot. Jonas ist Benjamins kleiner Bruder. Bens Mutter weint, immer wieder. Mama war zu beiden Teilen seine und Jonas› Mutter. Was mit Jonas› Teil geschieht, ist unklar. Vielleicht bekommt Ben ihn. Vielleicht nicht.
Für gewisse, seltene Romane, scheinen Allgemeingültigkeiten ausser Kraft zu treten. Wettern Kritiker manchmal, dem Autor fehle die Distanz zum Geschehen, zu den Protagonisten, macht genau dies eine der Qualitäten von Stephan Lohses Erstling «Ein fauler Gott» aus.

Ben ist vor ein paar Wochen elf geworden. Aber statt sich über Geburtstag und die epochalen Entdeckungen eines Elfjährigen freuen zu können, stirbt Bens kleiner Bruder Jonas. Und mit einem Mal schlingert das kleine familiäre Planetensystem. Mit einem Mal ist alle Normalität ausser Kraft gesetzt, nichts mehr, wie es einmal war. Und weil sich Bens Vater, Ruths Mann eh schon aus der Familie verabschiedete, bleibt Ben mehr als bloss allein mit seiner Mutter, die nachts in ihrem Schlafzimmer auf einer Heizdecke hockt und stundenlang weint. Am nächsten Tag gibt es zu Mittag Ravioli aus der Büchse, innen noch kalt. Oder Nudelauflauf mit viel Rotz.

Stephan Lohse begleitet den ins Abseits abdriftenden Ben und seine verlorene Mutter Ruth durch ein Leben voller Tücken, Unverständnis und unlösbarer Geheimnisse. Stephan Lohre schildert eindrücklich, wie der kleine Ben mit Gott hadert, erst recht, nachdem Mami mit heiserer Stimme sagt, der kleine Engel auf Jonas› Sarg solle daran erinnern, dass der liebe Gott einen Engel gebraucht und dafür Jonas ausgesucht habe. Stephan Lohse schlüpft in die zu tiefst verunsicherte Seele des Jungen, sieht und versteht mit den Schlüssen des Jungen: «Im Krankenhaus haben sie mit einer Maschine Jonas› Gedanken aufgeschrieben. Seine Gedanken waren schnelle Zacken. Deswegen gebe ich mir Mühe, dass meine Gedanken mehr wie lange Kurven sind.» Stephan Lohses Schreiben entwickeln eine Kraft, der ich mich über 330 Seiten lang nicht entziehen konnte. Ben sucht nach Angelpunkten für sein aus den Fugen geratenes Leben. Er mag Herr Gäbler, den Nachbarn, der in seinem Garten ein Autowrack ohne Räder aufgebockt hat, einen Opel Rekord P1 mit 92% Rundumsicht. Herr Gäblers Auto hat einen Knopf für Nebel, links neben dem Loch für den Zigarettenanzünder. Praktisch, denn im Nebel kann einem niemand sehen! Ben mag Herr Gäbler, weil Herr Gäbler versteht, ohne Fragen zu stellen und Ben nicht zu Antworten zwingt, die immer mehr fordern. Ben will nicht sagen, dass Jonas, sein Bruder, tot ist. Dann lieber eine Lüge «Der hat zu tun», die ihm Distanz bringt.

Da war «die Sache im Schwimmbad» – und dann fuhr man Jonas mit Blaulicht ins Krankenhaus. Dort ist er geblieben. Mami kam zurück und weinte, Tag und Nacht. Ben kam extra pünktlich nach Hause, spielte ihr auf der Blockflöte vor. Aber dann muss Ben weg, für ein paar Wochen ins Kinderheim Lugisland im Schwarzwald zum Aufpäppeln. Ausgerechnet er, Ben, der so gar keine Lust hat, in einem Schlafsaal aufzuwachen, schon gar nicht mit Pisse vollgesogenen Unterhosen. Dann lieber liegen bleiben, für immer, und sterben, jetzt gleich, auf der Stelle. Aber erstaunlicherweise entpuppt sich das Kinderheim als Ort voller Sonderlinge, lauter Jungs mit Geschichten. Bis das Kinderkurheim eines Morgens lichterloh in Flammen steht, Ben zum Held wird und im Jesuitenkolleg St. Blasien landet. Dort nehmen ihn die Schüler in ihre Gemeinschaft auf. Und Sebastian, der Geige spielt, gibt ihm Winnetou zum Lesen: «Muss man kennen.»

Stephan Lohse schlüpft in den Jungen, begleitet ihn, hört seinen Gedanken zu, ohne zu kommentieren. Er stellt sich ganz nah an seine Seite. Stephan Lohses Sprache spiegelt diese Nähe meisterhaft und trotz aller Trauer mit Witz. Es ist die Tonart des Jungen, die mich als Leser verstehen oder erahnen lässt, was in und zwischen den Zeilen liegt. Ich trage den Schmerz mit, den Ben mit Gott hadern lässt: Gott packt die Seelen an ihren Armen, bis der Schmerz in ihnen pocht, und sie zum Arbeiten in die äussersten Ecken des Himmels verbannt, wo sie nackt und mit verdreckten Gesichtern aufräumen müssen und putzen und Gottes Sachen durch die Gegend schleppen. Gott selbst ist faul in seiner Allmacht, und es bereitet ihm Freude, den Brüdern die Bücher zu stehlen und den Müttern ihre Kinder. Er ist unersättlich.»

Stephan Lohses Erstling trifft tief. Gut vorstellbar, dass es Lebenssituationen gibt, in denen die Lektüre dieses Buches unerträglich sein kann.

«Irgendwo im Haus geht eine Tür. Dann noch eine. Mami lebt. Sie war zu gleichen Teilen seine und Jonas› Mutter. Was mit Jonas› Teil geschieht, ist unklar. Vielleicht bekommt Ben ihn. Vielleicht nicht.»

Ein Interview:

«Ein fauler Gott» als Titel schimpft schon auf dem Buchdeckel. Glücklicherweise bestätigte sich der Verdacht einer Kampfschrift gegen die Kirche nicht, auch wenn es Gründe dafür genug gäbe. Trotzdem hadert Ben mit Gott oder ganz allgemein mit einer Welt, die ihm niemand wirklich erklären kann. Waren sie einmal ein Ministrant, Mitspieler einer Zeremonie, die auch viel Schauspielerei beinhaltet? Nein, ich war kein Ministrant. Aber die Kirche spielte eine große Rolle in meiner Kindheit. Als Angehöriger der Diaspora (damals war Hamburg kein eigenes Bistum wie heute, sondern gehörte zum Bistum Osnabrück) war ich sogar ein wenig stolz, Katholik zu sein. Das änderte sich mit den Jahren. Bis heute gefällt mir der zeremonielle Aspekt der katholischen Messe, ich gehe allerdings nur noch selten in die Kirche.

Ihr Roman erzählt unter anderem davon, was passiert, wenn man Kinder mit ihren Fragen zur Welt allein lässt, wie leicht Kinder Dinge und Situationen interpretieren und Schlüsse ziehen, die Fäden durch ein ganzes Leben ziehen können. Die Art und Weise ihres Erzählens verrät viel über ihre Empathie Kindern gegenüber. Wie nah sind sie ihrer eigenen Kindheit? Ich glaube, ich kann mich ganz gut erinnern. Wobei ich weniger bestimmte Vorfälle erinnere, sondern Atmosphären und Stimmungen. Obendrein habe ich mir mit dem Erwachsenwerden Zeit gelassen. Es ist also noch nicht so lange her… Ein Freund meinte neulich, ich hätte einen Schlag bei Kindern. Ich mag Kinder sehr und unterhalte mich gerne mit ihnen.

Sie sind Schauspieler, in ihrem Fach ein Meister, in fremde Hüllen zu schlüpfen. Wie sehr erleichterte diese Fähigkeit ihr Schreiben, nehmen sie doch mit dem 11jährigen Ben und seiner Mutter Ruth zwei Erzählpositionen ein, die er nicht einfach machen. Ich denke, dass meine Gewohnheit, szenisch zu denken, Einfluss auf mein Schreiben hat. Für mein Empfinden tue ich nicht viel anderes als in den letzten zwanzig Jahren: Ich denke gründlich über Figuren nach. Ich habe lediglich das Medium gewechselt.

Kritiker und Textfachleute warnen schnell davor, beim Schreiben eine gewisse Distanz nicht zu verlieren. Manche Autoren schweben in ihrem Erzählen dauernd leicht über dem Geschehen, beinahe gottähnlich. Sie scheuen sich gar nicht, möglichst viel Nähe einzunehmen. War ihre Erzählposition von Beginn weg klar definiert? Der Wunsch nach Nähe ist zunächst einmal der Wunsch nach Kontakt. Ich muss etwas anschauen, um es anschaulich zu machen, ich muss es berühren, um berühren zu können. Ich glaube, nur wenn ich bereit bin, die Nähe zum Beschriebenen auszuhalten, wird der Leser dem Beschriebenen nahe kommen können. Es ist wohl auch ein wenig meine Art, durch die Welt zu gehen: Ich schließe vom Detail aufs Ganze.

Die Welt eins Jungen im Sommer 1972 unterscheidet sich in krasser Weise von der eines Kindes im Jahr 2017. Trotz allem Schmerz, von dem ihr Roman erzählt, verfallen sie nie einem Kommentar darüber, was alles verloren ging. Gibt es solche Nachbarn noch wie Herrn Gäbler, der Ben auf seinem im Garten aufgebockten Autowrack mitnimmt? Oder würde man Herr Gäbler ziemlich schnell die unmöglichsten Motivationen anhängen? Was wäre ihnen wichtig, wäre ihr Junge heute 11? Wäre es nicht furchtbar, wenn man Herrn Gäbler falscher Absichten verdächtigte? Dabei gab es das Problem damals natürlich genauso. Ich halte Vorsicht gegenüber Männern, die sich mit elfjährigen Jungs abgeben für angebracht. (Meine Schwester ist Psychoanalytikerin im Strafvollzug und hat einige Kindesmissbraucher als Patienten.) Doch das Klima permanenter Verdächtigung ist unerträglich. Pädophilie ist ein seltenes Phänomen. Mehr als die Hälfte der Kindesmissbraucher sind nicht pädophil, und die meisten von ihnen kommen aus dem unmittelbaren familiären Umfeld. Die wenigsten von ihnen sind freundliche Nachbarn.
Ich habe kein besonders nostalgisches Verhältnis zu den Siebziger Jahren. Es war halt die Zeit meiner Kindheit. Dort kenne ich mich aus. Und ich hatte wenig Lust, über Kinder zu schreiben, die von ihren Smartphones hypnotisiert sind und ständig Biogemüse essen müssen.

Lieber Herr Lohse, vielen Dank!

Stephan Lohse wurde 1964 in Hamburg geboren. Er studierte Schauspiel am Max-Reinhardt-Seminar in Wien und war unter anderem am Thalia Theater, an der Schaubühne in Berlin und am Schauspielhaus in Wien engagiert. «Ein fauler Gott» ist sein Debütroman. Stephan Lohse lebt in Berlin.

Titelbild: Sandra Kottonau

Michèle Minelli & Peter Höner „Aufs Land gezogen“

Dialoge

1 Aufs Land gezogen

Grauenhaft, dieses Wetter. Hochnebel, Regen, ein eisiger Wind. Und das schon den dritten Tag.
Stinklaune?
Ach, was. Stinklaune, Stinklaune. Mir fällt die Decke auf den Kopf.
Kino? – Wir könnten ins Kino gehen. Ins „Luna“ kann man immer, die zeigen nur gute Filme.
Ach ja?
Wir waren schon Ewigkeiten nicht mehr im Kino.
Kino. – Und nachher liegt Schnee, und die Strassen sind vereist.
Seit wann hast du Angst vor dem Winter?
Hab ich nicht. Trotzdem. Das geht nicht.
Warum nicht?
Sommerreifen.
Was, Sommerreifen?
Sommerreifen. Und dann kommen wir hier nicht mehr hoch.
Du wirst doch nicht, ich meine… Du fährst immer noch mit Sommerreifen? Bist du blöd, vor einem Monat habe ich dir gesagt, du sollst die Reifen wechseln…
Nun schrei hier nicht rum. Letzten Winter gab es nicht einen Tag, an dem wir Winterreifen gebraucht hätten.
Dann nehmen wir den Bus.
Nach dem Kino kannst du fast zwei Stunden warten, in einer Beiz neben dem Bahnhof, Soldaten und Besoffene, Rentner mit ihren Geschichten, die kaum auszuhalten sind, Ausländer …
Du solltest dich einmal hören…
Was sollte ich?
Ja, du solltest dir einmal zuhören müssen, was für einen Stuss du daher schwafelst. Hock dich an einen Stammtisch, im Frohsinn, in der Traube, im Hecht. Vom Wetter zu den Ausländern! Da bist du zumindest in Gesellschaft.
Du weisst genau, dass wir mit Sommerreifen… Das Risiko ist einfach zu gross. Und: Einen ganzen Abend unter Leuten ohne ein Bier, ein Glas Wein, ohne einen Schnaps, das hält man doch gar nicht aus.
Man?
Und dann stehen wir da kurz vor Mitternacht an der Abzweige und haben noch einmal eine halbe Stunde, bis wir zu Hause sind. Ich meine, damit wird das ganze Elend ja geradezu auf die Spitze getrieben. Im Kino friert man, weil es schlecht besucht ist, und sie an Heizung sparen, oder man sitzt neben jemanden, der ohne Schirm durch den Regen gelaufen ist. Und dann immer diese Pause, entweder soll ich ein Eis fressen oder ihren billigen Wein trinken, das hat doch keine Atmosphäre, auf jeden Fall, nachdem sie diesen schrecklichen Neubau gleich nebenan hochgezogen haben. Und immer kennt man jemanden, mit dem man reden sollte. Ich will doch nicht reden müssen, wenn ich nichts zu sagen habe. Übers Wetter? Über den Film? Sicher nicht. Dass sie nichts verstehen, merkt man ja schon an ihren Reaktionen, wo und warum die Leute immer lachen, das möchte ich auch gerne einmal wissen. Ich meine, dieses ländliche Publikum. Die lachen doch immer an den falschen Stellen. Wenn überhaupt. Wo sie nichts verstehen, über Dinge, von denen sie keine Ahnung haben. Dafür umso lauter. Als müsste ihr Lachen Verstärkung einfordern. Es gibt eben keine Filme über Traktoren, Düngemittel und Zuckerrüben. Gibt es nicht. Und die Stadt. Wie, wo oder was? Was ist eine Stadt? Einmal im Jahr Konstanz und einmal Winterthur. Bertheli habe ich gefragt, wann sie das letzte Mal in Zürich war? Zürich? Hat sie gefragt? Was soll ich denn in Zürich? – Haben wir eigentlich noch Schokolade?
Schokolade? Hast du vergessen, dass wir einen Garten haben?
Ich kann doch nicht, immer nur Quitten… Roh gelten sie sowieso für ungeniessbar. – Was ist jetzt? Gehen wir jetzt ins Kino, oder willst du hier versauern?
In ein Auto ohne Winterreifen? Ohne mich, da setz‘ ich mich nicht rein. – Überhaupt hast du das Wasser abgestellt, die Leitungen geleert, sind die Dachfenster zu? Das letzte Mal hat es voll in meine alte Schallplattensammlung geregnet. Ist der Sonnenschirm im Haus, die Gartenstühle? Die neuen Tulpenzwiebeln sind auch noch nicht im Boden. Und hast du nun endlich meinen Löwenzahnstecher gefunden. Ein Glück gibt es dieses Jahr keine Nüsse…
Kino, Sommerreifen, Wintergemüse! Vergiss es. Los komm! Annis Rinder sind wieder einmal durch den Hag in unseren Garten gebrochen.

2 Besuch

Wie schön ihr es hier habt! So ein prächtiger Garten! Und dann diese Aussicht!
Naja, das Restaurant ist öfter geschlossen als offen.
Wie meinst du?
Das Restaurant. Die Aussicht. Sie ist nur an knapp drei Tagen die Woche geöffnet.
Aber ihr ernährt euch doch ohnehin aus dem eigenen Garten? Also wenn ich einen solchen Garten hätte – schau nur, das Werk lobt seinen Schöpfer!
Ist das ein Zitat?
Wie du willst. – Ich habe noch nie so dralle Tomaten gesehen. Und das im November. Ein Wunder.
Ah, die Tomaten. Das war ein Kampf, sag ich dir, zuerst die Rinder, die durch den Zaun brechen, und dann die Braunfäule…
Oh, und diese Feigen! Da nehme ich mir gleich zwei, gell, ich darf mich doch bedienen? Feigen, das ist ja das reinste Paradies hier!
… hat fast alles befallen.
Was seh ich da: Letzte Himbeeren! In dieser Jahreszeit!
Ja. Himbeeren im November.
Das wäre doch ein wunderhübscher Buchtitel? Himbeeren im November. – Hier oben schreibt sich bestimmt ganz herrlich. All die kleinen Plätzchen…
Die gejätet werden müssen.
… die ihr habt. Die hat alle Peter gemacht, ja? Die Trockenmäuerchen, die lauschigen Eckchen, die poetischen Nischen?
Äh, nein, ich werkle da…
Ein Multitalent!
… wacker mit.
Wo man hinblickt, ist Idylle. So, so schön, dass du es so schön hier hast, Michèle, macht mich ganz froh. Du schreibst bestimmt in einem Mordstempo an deinem nächsten Roman, das kann ich gut verstehen, bei dieser Lage, dieser Stimmung, da kommt man unweigerlich in den Flow, das flutscht doch nur so hier, sieh nur, dort drüben das Abendrot, nein, wie schön aber auch, einfach nur schön, sag ich.
Hm, schön schon, ja.
Wann bist du fertig?
Womit? Dem Abräumen im…
Deinem Roman, womit denn sonst?
… Garten?
Garten? Einen Gartenroman! Wie schön, wann feierst du Vernissage, wann kann ich es lesen?
Lesen? Ich weiss nicht.
Wie, du weißt nicht? Wie heisst es denn, das neue Werk?
Hm. Lass mich überlegen.
So schön hier!
Vielleicht nenne ich es….
Gell, ich darf doch noch einmal, die schmecken alle so köstlich!
… Himbeeren im November.

3 Sonntag früh im Bett

Komm, machen wir das Fenster auf.
Hmm?
Hörst du den Regen?
Wmkissen?
Küssen?
Wo ist mein Kissen?
Warte, ich werde dein Kissen sein. So. Liegst du gut?
Hmm.
Hörst du wie er prasselt?
Ichhrnero.
Hm?
Ich höre nur Nero.
Ach der. Lass doch den Stier.
Sinddkatzndrn?
Hm?
Sind die Katzen drin?
Hm, hab sie vorhin gesehen, als ich aufs Klo ging. Alle drei.
Wmstduheute?
Hm?
Was machst du heute?
Heute?
Schreibst du?
Jetzt liege ich erst noch ein bisschen.
Schrbnleben.
Hm?
Wir wollten doch fürs Schreiben leben?
Ja, schon, aber… Hörst du, wie schön der Regen prasselt?
Michèle Minelli, geb. 1968 in Zürich, freischaffende Schriftstellerin, lebt und arbeitet auf dem Iselisberg. Verschiedene Auszeichnungen und Stipendien. Zuletzt erschienen „Die Verlorene“, ein historischer Roman über das Leben der Thurgauerin Frieda Keller, Aufbau Verlag 2015. 2017 erscheint die Publikation „Schreiblexikon, das:“, für das Minelli zusammen mit Peter Höner als Herausgeber zeichnet.
Peter Höner, aus Winterthur, geboren 1947 in Eupen/Belgien, freischaffender Schriftsteller, Schauspieler und Regisseur, lebt und arbeitet auf dem Iselisberg im Kanton Thurgau. 2017 erscheint im Limmat Verlag der fünfte und letzte Kriminalroman Kenia Leaks mit den beiden Ermittlern Mettler und Tetu. Und der Schelmenroman Der seltsame Ausflug des Salvador Patrick Fischer in die analoge Welt.

Shūsaku Endō «Schweigen», Septime

«Schweigen» lag 1969 zum ersten Mal in Japan zum Verkauf. Als Shūsaku Endō den Roman damals geschrieben hatte, war er 46, in der «Mitte seines Lebens». Bei seinem Tod 1996 war Shūsaku Endō einer der wichtigsten Autoren Japans und «Schweigen» ein Roman über seinen eigenen Glaubenskonflikt, darüber, dass sich Glaube und Vernunft oft kaum vereinen lassen, schon gar nicht im Denken eines katholischen Japaners. Ein Buch um Glauben und Hinterfragen.

Seit März 2017 läuft Martn Scorsese’s Verfilmung des Romans «Schweigen» in den Kinos. Weil ich Martin Scorsese Filmschaffe schätze, hätte ich den Film mit Sicherheit geschaut. Weil ich die literarische Vorlage von Shūsaku Endō nicht kannte, gibt es noch einen Grund mehr, den Roman zu lesen, vor oder nach dem Gang ins Kino.

Im Jahrhundert vor den Geschehnissen, die der Roman beschreibt, schien Japan, das Land am Ende der Welt, für die europäischen Missionare aus dem 16. Jahrhundert das Paradies zu sein und förmlich auf den «wahren» Glauben gewartet zu haben. Innert weniger Jahrzehnte zählte man Hunderttausende zum Christentum bekehrte Japaner. Es entstanden Schulen, Waisenhäuser und Ausbildungsstätten für Priester. Aber als im 17. Jahrhundert die japanische Monarchie und Oberschicht wieder erstarkte und sich gegen «fremde» Einflüsse abzuschotten begann, empfand die japanische Oberschicht den Zangengriff von spanisch-portugiesischen Katholiken und englisch- holländischen Protestanten immer stärker als abtötenden Eingriff in die eigene Kultur, in ihr buddhistisches Selbstverständnis. Drangsaliert vom eigenen Feudalsystem und der Strenge des Staatsapparates, den Steuern und dem grassierenden Misstrauen von Dorf zu Dorf schien ein Evangelium der Liebe und der Barmherzigkeit Grund genug, dass sich die neue Religion wie Wasser ausbreitete. Buddhistische Mönsche aber waren Verbündete derer, die die Bauern wie Rinder ausnutzten.

Der katholische Glaube, den der portugiesische Padre Sebastião Rodrigues im 17. Jahrhundert nach Japan bringen wollte, blieb aber eine Religion «ab der Stange», weit weg von der japanischen Kultur und Tradition.

Das Spezielle an Shūsaku Endōs Roman «Schweigen» ist neben seinem beschriebenen Kampf zwischen Glaube und Vernunft, die Perspektive, die der Autor wählte, um den Konflikt, den Endō beschreibt, noch zu vertiefen. Shūsaku Endō schildert nicht aus der Sicht eines Japaners, sondern über weite Strecken aus der des portugiesischen Padres. Sebastião Rodrigues tritt seine lange, nie endende Reise von Portugal nach Japan an, weil er nicht glauben kann, dass sein ehemaliger charismatischer Lehrer Padre Ferreira seinen Glauben in Japan verworfen habe. Am 25. März 1638 sticht sein Schiff mit drei portugiesischen Priestern an Bord in See. Schon die Schiffsreise bis zu ihrem ersten Ziel Goa an der Westküste Indiens ist aus heutiger Sicht ein Märtyrium der Entbehrung: Hunger, Durst, Seuche, Tod, Lebensgefahr und permanente Ungewissheit – all das, was in den folgenden Jahren zu ständigen Begleitern der Missionare in der Fremde werden sollte. Padre Rodrigues beschreibt in Briefen seine Reise und in einer Art Bericht sein Wirken auf Japan, das unter dem Gouverneur Inoue, dem Fürsten von Chikugo, der sich einst selbst taufen liess, durch Drohung und Folterung in seinem Land dem fremden Glauben mit aller Härte den Garaus machen will. Padre Rodrigues findet seinen einstigen Lehrer Padre Ferreira. Es kommt zu mehrmaligen Treffen, die der Inoue geschickt zu inszenieren versteht. Treffen, die den jungen Padre Rodrigues immer tiefer in eine Krise stürzen lassen.

Das Grauen vor Gottes Schweigen

Warum ein solches Buch lesen, das von Geschehnissen aus dem 17. Jahrhundert berichtet? Weil wir in einer Welt leben, die nicht weniger gespalten ist zwischen Glaube und Vernunft. Weil es in diesem Roman um das Fremdsein geht, das sich auch heute, angesicht der Migrationsströme, förmlich aufdrängt. Weil die Wahrheit hier nicht die Wahrheit dort ist. Eine Erkenntnis, die mit den globalen Bemühungen der Kirche, ihre Religion in die ganze Welt hinaustragen zu wollen schon im 16. Jahrhundert fatal war. Weil Abschottung, Verfolgung, Folter, Gewalt gegen Fremde Themen sind, die sich heute erst recht aufdrängen, Feigheit im Angesicht aller Ungerechtigkeit.

Shūsaku Endō erzählt von seinem eigenen inneren Konflikt. Von der Verzweiflung darüber, dass «sein» Gott angesichts aller Gewalt schweigt.
(1923–1996) studierte französische Literatur in Japan und katholische Literatur in Frankreich. Er gilt in Japan als einer der bedeutendsten zeitgenössischen Schriftsteller und erhielt u. a. den »Akutagawa-Preis«, den wichtigsten japanischen Literaturpreis. Seine Hauptwerke sind die Romane Schweigen, Samurai und Skandal. Letzteres erscheint 2017 ebenfalls bei Septime.

Titelbild: Sandra Kottonau

Margaret Atwood «Die steinerne Matratze», berlin Verlag

Die grosse kanadische Schriftstellerin legt mit «Die steinerne Matratze» einen Erzählband vor, der unter ihrem Namen nicht überrascht. In gekonnt starker Manier, mit dem sicheren Gefühl für die Abgründe des menschlichen Seins und der Weisheit einer Grossen, die weiss, dass alle Erkenntnis auf Missverständnissen beruht, zeigt Margaret Atwood in neun starken Erzählungen, warum ihr ein wichtiger Platz unter den Grossen der Literatur gebührt.

Als ich vor fast 30 Jahren mit «Report der Magd» zum ersten Mal einen Roman der Kanadierin las, war ich tief beeindruckt. In ihrem düsteren Roman, der die Geschichte einer Gebärmagd erzählt, malt die Autorin eine dunkle Vision einer Zukunft, die wie in der Gegenwart mit der aufgeblähten Angst des neuen us-amerikanischen Präsidenten fast klaustrophobische Gefühle erzeugt. Eine Frau, die einem Kommandanten zugewiesen, seine Kinder austragen soll, erinnert sich an eine Welt, in der das Lesen noch nicht verboten war, in der Alte und Ungehorsame noch nicht in radioaktiv verseuchte Kolonien abgeschoben wurden, in der eine Frau noch nicht Besitz einer Nation werden konnte.

In ihren neuen Erzählungen schmeichelt Margaret Atwood den Menschen nicht. Die ersten drei Erzählungen bilden eine Einheit, bilden abgesetzt ein Ganzes. Sie erzählen aus drei verschiedenen Perspektiven drei verschiedene Leben, die einst, Jahrzehnte zuvor in einem Lokal in Toronto zur schreibenden Zunft gehörten. Der eine ernsthaft mit Gedichten, die andere belächelt mit ihren Fantasy-Geschichten, einem selbst erfundenen Universum, in dem sich Jahrzehnte später ganze Generationen tummeln. Drei Leben, die aus unterschiedlichen Gründen auseinanderdrifteten, drei verschiedene Wahrheiten. Drei Erzählungen darüber, wie unterschiedlich ganz bestimmte Schnitt- und Wendepunkte aus der Sicht verschiedener Existenzen gewichtet werden können, dass Wahrnehmungen nach Innen weit weg von Objektivität sein können, wie schlecht scheinbar verheilte Verletzungen vernarben und alte Wunden wieder aufgerissen werden können.

Margaret Atwood öffnet das Verborgene, Eingeschlossene.

Ist man die oder der, der oder die, die man von Aussen zu sein scheint? In einer Familie wächst ein Mädchen auf, eine lusus naturae, eine Laune der Natur. Aber ausgerechnet für eine Laune findet sich in der Welt der Menschen kein Platz. Was sich wie ein behaartes Monster immer in den Schatten zurückzieht, wird schlussendlich mit Gewalt hervorgerissen, um zu lodern wie ein Leuchtfeuer. Von einem «Antiquitätenhändler», der Möbel zweifelhafter Herkunft zusammen mit einem Partner auf Alt aufmotzt, um sie Nichtsahnenden zu verkaufen. Der Nachlässe aufkauft und eines Tages mit einem Schlüssel eine Lagereinheit öffnet, um ein ungebrauchtes, jungfräuliches Brautkleid zu finden, Kisten ungeöffneter Champagnerflaschen, eine noch nicht angeschnittene, riesige Torte und unter Frischhaltfolien, ganz hinten in der Lagereinheit der mumifizierte Bräutigam. Eine Geschichte um Abgründe der menschlichen Seele, der Gier nach mehr, wo selbst Gauner zu Opfern werden, bis zuletzt im Glauben, sie seien Herr und Meister der Situation. Und nicht zuletzt die titelgebende Erzählung «Die steinerne Matratze», eine Erzählung, die die Autorin auf einer Schiffsreise in die Arktis begonnen und den Mitreisenden zur Unterhaltung vorgelesen hatte, eine «Rachegeschichte» um den perfekten Mord. Von einer Frau, die eigentlich den Alltag zurücklassen will, auf einer Schiffsreise in die Kälte aber einen Mann aus ihrer Vergangenheit trifft, jenen Bob, der sie als junges Mädchen schwängerte und ebenso schnell und gedankenlos fallenliess.

Foto: Jean Malek

Margaret Atwood, geboren 1939 in Ottawa, gehört zu den bedeutendsten Erzählerinnen unserer Zeit. Ihr «Report der Magd» wurde zum Kultbuch einer ganzen Generation. Bis heute stellt sie immer wieder ihr waches politisches Gespür unter Beweis, ihre Hellhörigkeit für gefährliche Entwicklungen und Strömungen. Sie wurde vielfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem renommierten Man Booker Prize, dem Nelly-Sachs-Preis und dem Pen-Pinter-Preis. Margaret Atwood lebt in Toronto.

Monika Baark lebt seit 1998 als freie Übersetzerin für englischsprachige Literatur und Kinderbücher in Berlin. Bis 2013 veröffentlichte sie unter dem Namen Monika Schmalz. Geboren 1968 in Tel Aviv. Aufgewachsen in Toronto, New York, Moskau, Bonn, Antwerpen. Studium der Anglistik und Kunstgeschichte an der Universität Heidelberg. Gastsemester an der Wesleyan University. 1995 Abschluss mit M.A. Monika Baark übersetzte viele Roman von Margart Atwood.

Mitte April erscheint bei Random House Margaret Atwoods neuster Roman «Hexensaat».

Titelbild: Sandra Kottonau

Véronique Olmi «Der Mann in der fünften Reihe», Kunstmann

Als Véronique Olmi 2002 beim Kunstmann Verlag mit «Meeresrand» ihren ersten Roman auf Deutsch veröffentlichte, hinterliess die Geschichte abgrundtiefer Verzweiflung zumindest bei mir einen unauslöschlichen Eindruck. So tief, dass auch alle ihre folgenden Romane, die sich alle um das Thema «Verzweiflung in der Liebe» drehen, zu meinen Begleitern wurden.

«Meeresrand» erzählte die Geschichte einer jungen, verzweifelten Mutter, die mit ihren beiden Kindern ans Meer fährt, um ihnen wenigstens einmal das Erlebnis zu gönnen, einmal eine Reise, einmal die Kirmes besuchen, einmal, um dann ihrem und dem Leben der Kinder, ihrer unsäglichen Verzweiflung ein Ende zu setzen. Für manche, denen ich das Buch empfahl, war die Lektüre damals unerträglich. Es gibt Themen, die so sehr an der Seele rühren, die so schmerzhaft auf den Nerv drücken, dass das Lesen schwer wird. Véronique Olmi will aber genau das; der Sentimentalität entgegnen, ohne die Liebe zu verleugnen. Es gibt sie, die Liebe. Nur erzählt Véronique Olmi nicht von der verklärten Liebe. Sie erzählt, was Verzweiflung und Schmerz, die untrennbar zu Liebe gehören, mit jenen, die sich ihr ergeben, anrichten können. Sie erkundet die Schmerzpunkte. Ganz anders als all jene, die mit rührseeligem Blick Liebesgeschichten erzählen, um einer dumpfen, unstillbaren Sehnsucht zu genügen. Véronique Olmi erzählt ohne jede Distanz, im Gefühlswirrwarr dieser Frau, unmittelbar, als wäre man Zeuge dieses inneren Desasters. Ein literarisches Abenteuer, das nur einer Könnerin gelingen kann. Ein verstörend packender Roman!

Auch in ihrem neusten Roman «Der Mann in der fünften Reihe» schreibt Véronique Olmi über die Verzweiflung. Eine Schauspielerin sitzt nachts einsam auf einer Bank im Gare de l’Est, hinauskatapultiert aus ihrem Leben, das sich hinundherquälte vom Leben zur Bühne und wieder zurück. Véronique Olmi schreibt nicht nur so, als wäre sie die Frau in ihrer Verzweiflung. Véronique Olmi schafft es, dass ich mit ihr, der Verzweifelten, mit Nelly auf die Bühne trete, zu spielen beginne und mit dem Blick auf diesen einen Mann in der fünften Reihe genau spüre, wie die Situation abzurutschen beginnt, wie der Mann «die Vorstellung verrät». Ich nehme mit eigenem Schrecken am inneren Zerfall dieser Frau teil, an deren Implosion. Nelly hatte sich vor einem halben Jahr von diesem Mann getrennt. Seinen Namen über Monate verleugnet, ohne ihn je zu vergessen. Nelly erzählt, zuerst von ihrem Schmerz, dem «Sterben» auf der Bühne. Dann zögerlich von diesem Mann, von Paul, den sie bei Freunden kennen gelernt hatte, dem verheirateten Mann. Und alles zu vergessen, was ich wusste. Alles, was wir beide wussten, in unserem Alter. Was wir an Ernüchterung, Ängsten und Scheitern angesammelt hatten. Wie sie sich in ihrer Liebe zerstörten, vorsätzlich, ohne je an ein «gutes Ende» zu glauben. Véronique Olmi schildert nicht die Liebesgeschichte, sondern, die Verheerungen, die diese Liebe anrichtet, die Leidenschaft, der Zwang, sich vereinen zu müssen.

Véronique Olmi wurde 1962 in Nizza geboren und lebt in Paris. In Frankreich wurde sie, als eine der bekanntesten Dramatikerinnen des Landes, für ihre Arbeit mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. Ihre Theaterstücke wurden in viele Sprachen übersetzt und werden in Deutschland, Österreich und der Schweiz aufgeführt. Ihre Romane stehen seit Jahren auf den Bestsellerlisten. In Deutschland erschien von ihr zuletzt «Nacht der Wahrheit» (Kunstmann 2015).

Bild: Sandra Kottonau

Grossen Namen, z. B. Judith Hermann an den 1. Weinfelder Buchtagen 2017

Zuerst war da die Zusage der Schriftstellerin Judith Hermann. Diese machte Mut und es wurden daraus die 1. Weinfelder Buchtage 2017. Katharina Alder, Organisatorin und leidenschaftliche Buchhändlerin in Weinfelden, machte das eine schon klar: «Die 1. Weinfelder Buchtage werden nicht die letzten sein!»

Für Katharina Alder sind Bücher mehr als eine Verpflichtung. Erst recht in einer Welt, die sich immer mehr vom Fremden distanzieren, am liebsten mit hohen Mauern abschotten will. Wer liest, muss neugierig sein, auch auf das Fremde. Für Katharina Alder sind Bücher ein Teil ihrer grossen Leidenschaft, die sich nicht nur in ihrer Buchhandlung Klappentext mitten in Weinfelden zeigt. Sie will sie hinaustragen, zusammen mit einem Team, zusammen mit Autorinnen und Autoren wie dem Urweinfelder Peter Stamm und den weit gereisten Judith Hermann, Takis Würger, Lukas Hartmann, Christoph Poschenrieder, Tim Krohn und anderen.

Judith Hermann reiste mit dem Zug von Berlin nach Weinfelden, weil auf dem Berliner Flughafen das Bodenpersonal streikte. Damit wurde die Reise länger als geplant, beinahe episch. Aber sie war da, hinter einem kleinen Tisch im Rampenlicht, im edlen Rathaussaal zu Weinfelden und machte schon einmal klar, nur lesen wolle sie nicht, es müsse ein Gespräch sein. Nur schon weil es Geschichten sind, die man nicht einfach hintereinander vorlesen kann. Zu allem entschlossen, selbst in der tiefsten Provinz, die sich dann aber erstaunlich aufmerksam, engagiert und präzise gab, als Judith Hermann nach der ersten Geschichte den Blick ins Publikum richtete und auf Fragen wartete.

Judith Hermann erzählte vom Schreiben, wie das Private ins Schreiben versenkt wird. Wie sie beim Schreiben von Erzählungen oft nicht weiss, wo genau ihr Schreiben hinführt. Und selbst wenn die Geschichten geschrieben und veröffentlicht sind, bleibt ein Rest Geheimnis, die Unsicherheit selbst bei ihr, wo genau der Kern einer Erzählung ist. Geschichten führen die Autorin. Die Figuren selbst sind es, die die Geschichten zum Leben bringen und damit viel Geheimnis zurücklassen. Sie bereite sich auf das Schreiben vor wie auf eine Expedition. Der schönste Moment des Schreibens aber sei der Schwebezustand, während dem man als Schreibende ganz allein mit dem dem Text ist, der Geschichte und den Personen ganz nah. Erzählungen wissen nichts mehr als ihre Leser, würden dem Leser viel mehr überlassen als ein Roman, der in der Regel abgeschlossen ist. Judith Hermann lässt den Leser gerne allein, weil sie weiss, dass nur ein übrig gebliebenes Rätsel den Leser zum Mitdenken zwingen kann.

Schriftsteller sind beneidenswert. Wer sonst kann alte Bekannte einfach so zu sich zurückholen? Wer kann Menschen, seien sie nun real oder fiktiv, so nah wie ein Schriftsteller kommen? Wer kann Erinnerungen so lustvoll erfinden? Wer kann wie ein Schriftsteller ungelöst Heikles, Rätselhaftes mit Schreiben bannen, ohne verstehen zu müssen, was genau passiert?

Judith Hermann zwang zum Nachdenken. Und das verdanke ich den mutigen Organisatoren der 1. Weinfelder Buchtage!

Webseite der Buchhandlung Klappentext in Weinfelden

Katja Lange-Müller «Drehtür», Kiwi

Eigentlich hatte ein japanisches Sprichwort als Motto dem neuen Roman «Drehtür» von Katja Lange-Müller vorausstehen sollen: «Lass dir aus dem Wasser helfen oder du wirst ertrinken», sagte der freundliche Affe und setzte den Fisch in einen Baum.

Asta Arnold strandet auf dem Münchner Flughafen Franz Josef Strauss vor einer Drehtür, nach Jahrzehnten Pflegearbeit weggemobbt von ihren «Kollegen» an der letzten Stelle in einem Krankenhaus in Managua. Zum Warten gezwungen, weil ihr Koffer nicht mit ihr den Zielflughafen erreichte. Sie steht da, raucht eine Zigarette nach der anderen aus der Duty-free-Zigarettenstange, betrachtet die Gesichter der Wartenden und Reisenden und lässt sich wegtragen von Geschichten aus ihrem Leben als Krankenschwester.

Katja Lange-Müller verriet in einem Interview mit dem ungekrönten Literaturkritiker-König des Deutschen Fernsehens Denis Scheck, dass noch vor dem Beginn des Schreibens ein immer wiederkehrender Traum stand. Sie, die selbst lange Jahre Krankenschwester war, sei spät nachts in der Psychiatrischen Klinik an der Arbeit und wisse nicht mehr, ob sie bereits gekündigt oder einen noch gültigen Arbeitsvertrag habe. Glücklicherweise sei sie jedes Mal schweissgebadet aufgewacht, aber immer mit der Frage, was aus ihr geworden wäre, wäre sie Krankenschwester geblieben und nicht in die Schriftstellerei geflohen.

Asta, die gestrandete Krankenschwester, eigentlich schon im Pensionsalter, erinnert sich. Zum Beispiel an die ehemalige Kollegin im rumänischen Temeswar, die nebenbei leidlich schrieb und mit einer Geschichte über eine Nähmaschinistin an der Frankfurter Buchmesse einer indischen Autorin auffiel. Tamara reiste eingeladen nach Kalkutta, wo ihre Geschichte aber nicht in einer Botschaft oder vor einer schicken Zuhörerschaft Gefallen fand, sondern in einem riesigen Wellblechverhau einer Menge von Kochbenzin verunstalteter Frauen vorgetragen wurde. Zurück in Deutschland sollte sie eine Schiffsladung Nähmaschinen organisieren. Man missbrauchte sie für Missbrauchte. Sie hat helfen müssen. Aber wem? Den versehrten Frauen dort oder sich selbst? Asta erinnert sich an den koreanischen Koch, dem sie von seinen Zahnschmerzen zerfressen mit Alkohol mehr als bloss helfen wollte und am Morgen danach von einer mehrköpfigen offiziellen Delegation des grossen Führers Kim Il-sung und der gesamten Koreanischen Demokratischen Volksrepublik einen Blumenstrauss überreicht bekam. Sie wollte helfen. Aber wem?

Katja Lange-Müller erzählt vom Dilemma des Helfens. Wir wollen helfen und erwarten Dankbarkeit. Den Geholfenen erscheint das Helfen aber meist als Ausgeliefert-sein, eine Machtdemonstration, eine Abhängigkeit, aus der man sich möglichst schnell herausschälen will. Niemand begibt sich freiwillig in absolutes Ausgeliefert-sein. Warum jemand hilft, ob aus omnipotentem Grössenwahn oder atheistisch-humanitärer Gesinnung oder aufs Paradies spekulierender, also nicht ganz so selbstloser christlicher Nächstenliebe, ist unwichtig; dass er nicht wegschaut, sondern die Ärmel hochkrempelt, reicht fürs erste, lässt sie Mutter Teresa sagen, die sich im Flugzeug zum nächsten starken Auftritt tragen lässt.

Katja Lange-Müller erzählt gekonnt Geschichten. Aber was sie erzählt, lässt nachdenken, lässt nicht locker. Genauso die Geschichte, als Asta einst mit einem Mann ins Kino ging und dort einen Film über den Prozess von vier KZ-Ärzten schaute. Ärzte, die grauenhafte Versuche an Häftlingen unternahmen. Drei wurden zum Tode verurteilt und hingerichtet und einer kam wider Willen mit dem Freispruch davon, weil er trotz mehrmaliger Versuche nicht fähig war, eine todbringende Injektion zu spritzen.

Wo entfernt sich Hilfe von ehrlicher Nächstenliebe? Wo beginnt sie sich zu prostituieren? Katja Lange-Müller zwingt zur Auseinandersetzung. Und das fantastisch geschrieben!

Katja Lange-Müller, geboren 1951 in Berlin-Lichtenberg. Neun Jahre Schule an der 19. Oberschule Berlin-Friedrichshain. Relegation wegen »unsozialistischen Verhaltens«. 1986 erste Veröffentlichung eines eigenen Buches: «Wehleid – wie im Leben.» bei S. Fischer Verlag”. 1986 Ingeborg Bachmann-Preis der Stadt Klagenfurt. Im Juni 2001 erhält Katja Lange-Müller für ihren Roman «Die Letzten» Aufzeichnungen aus Udo Posbichs Druckerei den Preis der SWR-Bestenliste. Das Werk steht von Oktober bis Dezember 2000 auf der Bestenliste des Südwestrundfunks. Im Jahr 2012/2013 war sie Stipendiatin der Villa Massimo, erhielt den Kleist-Preis und war 2013/2014 Stipendiatin der Kulturakademie Tarabaya Istanbul. Im Sommersemester 2016 bekam sie die Gastdozentur für Poetik an der Frankfurter Goethe-Universität.