Katja Lange-Müller «Drehtür», Kiwi

Eigentlich hatte ein japanisches Sprichwort als Motto dem neuen Roman «Drehtür» von Katja Lange-Müller vorausstehen sollen: «Lass dir aus dem Wasser helfen oder du wirst ertrinken», sagte der freundliche Affe und setzte den Fisch in einen Baum.

Asta Arnold strandet auf dem Münchner Flughafen Franz Josef Strauss vor einer Drehtür, nach Jahrzehnten Pflegearbeit weggemobbt von ihren «Kollegen» an der letzten Stelle in einem Krankenhaus in Managua. Zum Warten gezwungen, weil ihr Koffer nicht mit ihr den Zielflughafen erreichte. Sie steht da, raucht eine Zigarette nach der anderen aus der Duty-free-Zigarettenstange, betrachtet die Gesichter der Wartenden und Reisenden und lässt sich wegtragen von Geschichten aus ihrem Leben als Krankenschwester.

Katja Lange-Müller verriet in einem Interview mit dem ungekrönten Literaturkritiker-König des Deutschen Fernsehens Denis Scheck, dass noch vor dem Beginn des Schreibens ein immer wiederkehrender Traum stand. Sie, die selbst lange Jahre Krankenschwester war, sei spät nachts in der Psychiatrischen Klinik an der Arbeit und wisse nicht mehr, ob sie bereits gekündigt oder einen noch gültigen Arbeitsvertrag habe. Glücklicherweise sei sie jedes Mal schweissgebadet aufgewacht, aber immer mit der Frage, was aus ihr geworden wäre, wäre sie Krankenschwester geblieben und nicht in die Schriftstellerei geflohen.

Asta, die gestrandete Krankenschwester, eigentlich schon im Pensionsalter, erinnert sich. Zum Beispiel an die ehemalige Kollegin im rumänischen Temeswar, die nebenbei leidlich schrieb und mit einer Geschichte über eine Nähmaschinistin an der Frankfurter Buchmesse einer indischen Autorin auffiel. Tamara reiste eingeladen nach Kalkutta, wo ihre Geschichte aber nicht in einer Botschaft oder vor einer schicken Zuhörerschaft Gefallen fand, sondern in einem riesigen Wellblechverhau einer Menge von Kochbenzin verunstalteter Frauen vorgetragen wurde. Zurück in Deutschland sollte sie eine Schiffsladung Nähmaschinen organisieren. Man missbrauchte sie für Missbrauchte. Sie hat helfen müssen. Aber wem? Den versehrten Frauen dort oder sich selbst? Asta erinnert sich an den koreanischen Koch, dem sie von seinen Zahnschmerzen zerfressen mit Alkohol mehr als bloss helfen wollte und am Morgen danach von einer mehrköpfigen offiziellen Delegation des grossen Führers Kim Il-sung und der gesamten Koreanischen Demokratischen Volksrepublik einen Blumenstrauss überreicht bekam. Sie wollte helfen. Aber wem?

Katja Lange-Müller erzählt vom Dilemma des Helfens. Wir wollen helfen und erwarten Dankbarkeit. Den Geholfenen erscheint das Helfen aber meist als Ausgeliefert-sein, eine Machtdemonstration, eine Abhängigkeit, aus der man sich möglichst schnell herausschälen will. Niemand begibt sich freiwillig in absolutes Ausgeliefert-sein. Warum jemand hilft, ob aus omnipotentem Grössenwahn oder atheistisch-humanitärer Gesinnung oder aufs Paradies spekulierender, also nicht ganz so selbstloser christlicher Nächstenliebe, ist unwichtig; dass er nicht wegschaut, sondern die Ärmel hochkrempelt, reicht fürs erste, lässt sie Mutter Teresa sagen, die sich im Flugzeug zum nächsten starken Auftritt tragen lässt.

Katja Lange-Müller erzählt gekonnt Geschichten. Aber was sie erzählt, lässt nachdenken, lässt nicht locker. Genauso die Geschichte, als Asta einst mit einem Mann ins Kino ging und dort einen Film über den Prozess von vier KZ-Ärzten schaute. Ärzte, die grauenhafte Versuche an Häftlingen unternahmen. Drei wurden zum Tode verurteilt und hingerichtet und einer kam wider Willen mit dem Freispruch davon, weil er trotz mehrmaliger Versuche nicht fähig war, eine todbringende Injektion zu spritzen.

Wo entfernt sich Hilfe von ehrlicher Nächstenliebe? Wo beginnt sie sich zu prostituieren? Katja Lange-Müller zwingt zur Auseinandersetzung. Und das fantastisch geschrieben!

Katja Lange-Müller, geboren 1951 in Berlin-Lichtenberg. Neun Jahre Schule an der 19. Oberschule Berlin-Friedrichshain. Relegation wegen »unsozialistischen Verhaltens«. 1986 erste Veröffentlichung eines eigenen Buches: «Wehleid – wie im Leben.» bei S. Fischer Verlag”. 1986 Ingeborg Bachmann-Preis der Stadt Klagenfurt. Im Juni 2001 erhält Katja Lange-Müller für ihren Roman «Die Letzten» Aufzeichnungen aus Udo Posbichs Druckerei den Preis der SWR-Bestenliste. Das Werk steht von Oktober bis Dezember 2000 auf der Bestenliste des Südwestrundfunks. Im Jahr 2012/2013 war sie Stipendiatin der Villa Massimo, erhielt den Kleist-Preis und war 2013/2014 Stipendiatin der Kulturakademie Tarabaya Istanbul. Im Sommersemester 2016 bekam sie die Gastdozentur für Poetik an der Frankfurter Goethe-Universität.