Mareike Krügel «Sieh mich an», Piper

Ein Mann, der nicht da ist, eine Tochter mit ADHS, Barbie und Ken in der Stube, zwei ausgebüxte Ratten, ein abschnittener Daumen im Schnee und ein brennender Trockner – Katharina hätte genung am Hals, wenn da nicht auch noch das eine wäre, das sie nicht über die Lippen bringt.

Zugegeben, es brauchte eine Weile, bis ich in den Roman eintauchen konnte. Obwohl schon der erste Satz verrät, worum es in diesem Roman wirklich geht. Aber weil der zweite Satz hiess «Schultüren sind der Eingang zur Hölle» und ich eben ein Interview mit dem Philosophen David Precht gehört hatte, spürte ich eine ordentliche Portion Widerwillen. David Precht würde die Schulen am liebsten abschaffen, hängt ihnen an, in ihnen wehe noch immer der preussische Geist des Drills. Sie seien Mühlen, in denen brave, funktionierende Staatsbürger zugeschiffen werden. Da ich ebenfalls unterrichte, war es nicht ganz einfach weiterzulesen.

Aber Mareike Krügel hat keinen Antischulroman geschrieben. Die Schriftstellerin zeichnet Katharina und ihren verzwickten Alltag. Ein Alltag, der es schwer macht, sich neben all den zwingenden Kleinigkeiten auf das Wesentliche zu konzentrieren. Katharinas Tochter Helena, von allen Helle gerufen, ist elf und eine Rabauke. Da verwundert es auch nicht, dass Katharina sie von der Schule holen muss, weil sie mit unstillbarem Nasenbluten den Teppichboden im Sekretariat versaut, dass Helles Freundinnen ordentlich was abbekommen, Pferde durchbrennen und sie bei einer Freundin übernachten will, wo bei einer Party schon ordentlich gebechert wird. Dass Helle den Stempel ADHS mit sich trägt, hilft Katharina am wenigsten. Helles grosser Bruder ist 17 und das erste Mal an ein Mädchen vergeben, von dem die Nachbarn Theo und Heinz meinen, sie sei ein Volltreffer. Alex ist das genaue Gegenteil seiner quirligen Schwester. Für Katharina allerdings kein Ersatz für ihren Mann Costas, der die Woche über in der Hauptstadt arbeitet und nur an den Wochenenden in «den Schoss der Familie» zurückkehrt. Katharina ist dieser Schoss, das Epizentrum der Familie. So sehr ins Geschehen eingepasst, dass es für die Erschütterungen in ihrem eigenen Leben kaum Platz hat. Auch da türmt sich Schicht um Schicht. Eine Mutter, die sie verlor, ein Vater, der resignierte, eine Schwester, die nicht nur örtlich auf der andern Seite des Planeten wohnt. Da sind Fragen um das eigene Leben, um das verlorene Leben ihrer zweiten Tochter, eine Ehe, die abhanden kommt und diese Knoten in ihr, die von ihr Besitz ergreifen.

«Es gibt mich noch.»

«Sieh mich an» ist mehr als ein Familienroman. Aber ein Roman, der die Familie zum Schauplatz macht, der die grossen Gesten, die grossen Fragen in das Kleingefüge «Familie» setzt. Mareike Krügel beschreibt einen einzigen Tag, der alles widerspiegelt, was das zugepappte Leben Katharinas ausmacht. Eine Minikatastrophe reiht sich an die nächste. Kein Platz für die grosse Katastrophe, die in Katharina wächst. Für Katharinas grosse Angst findet sich weder Platz noch einoffenes Ohr. Da ist auch der ehemalige WG-Freund, der sich abends angemeldet hat, nicht der Richtige. Ein Gesellschaftsroman über modernes Leben, duchgestylt scheinendes Reiheneinfamilienhausdasein. Wie sehr sich die Familie in die Modeströmungen einspannen lässt. Wie sehr man sich knechten lässt von den Errungenschaften des modernen Lebens. Ein Frauenroman? Mit Sicherheit auch, denn die grossen Abwesenden in diesem Roman sind die Männer. Selbst die hilfsbereiten Nachbarn Theo und Heinz sind genetisch keine Männer. Und Costas, Katharinas Mann, weit weg in Berlin, abends an einer Firmenfeier in einem Berliner Hotel, während Katharinas Leben zu entgleisen droht. Ein Roman nur für Frauen? Bei weitem nicht. So erhellend wie hundert Ratgeber. So spannend wie ein Krimi. So einfühlsam, wie sich eine Frau den Mann wünscht. So direkt, dass es einem bei der Lektüre manchmal fast den Atem nimmt. «Sieh mich an» ist eine Aufforderung, so wie das Buch. Aber ganz ohne Mitleid, dafür mit Wirz, Ironie und Schalk.

Ein kleines Mail-Interview mit Mareike Krügel:

In Ihrem Roman «Sieh mich an» ertrinkt Katharina fast in ihren Pflichten, ihren Aufgaben, ihren Sorgen und Nöten. Das wird auch der Grund sein, warum sich viele, vornehmlich Leserinnen, von diesem Roman wiedererkannt und verstanden fühlen. Ist doch aber eigentlich paradox; Wir leben in einer hoch technisierten und durchorganisierten Welt. Und doch scheint Familienleben nicht einfacher zu werden. Muss man akzeptieren?
Ja, das lässt sich, glaube ich, nicht ändern. Mehr Technik und Organisation sind der nicht Schlüssel zu mehr Gelassenheit, und wenn es etwas gibt, das sich in den Familienstrukturen in den letzten Jahrzehnten verändert hat – meiner Einschätzung nach -, dann sind es die Beziehungen. Weil es wenig Vorbilder gibt, schießen viele Eltern damit etwas übers Ziel hinaus, aber grundsätzlich halte ich es für eine der besten Veränderungen des westlichen Abendlandes: Der Versuch, zu seinen Kindern echte Beziehungen aufzubauen, sie wahrhaftig zu begleiten, sie nicht nur irgendwie durchzubringen. Das ist kompliziert und mitunter überfordernd.

«Sieh mich an» ist eine Aufforderung. Da hätte auch noch ein Ausrufezeichen gepasst. Während Costa in Berlin vor der Firmenfeier an der Kravattenfrage scheitert, gibt es für seine Frau Katharina nur den Angriff nach vorn. Ist das der Mutterinstinkt, der verhindert, dass Katharina lange nicht tut, wonach es in ihrem Innern schreit?
Der Mutterinstinkt, dessen genaue Definition ich nicht kenne, spielt vermutlich in den ersten Lebensjahren der Kinder eine übergeordnete Rolle und mag in dieser Zeit dazu beitragen, dass Mütter sich selbst zurücknehmen oder sogar ihre Bedürfnisse hintanstellen. Danach aber vermute ich als Ursache für Katharinas – und vieler anderer Frauen – Selbstverleugnung die immer noch gültige unsägliche Sozialisierung der weiblichen Mitglieder unserer Gesellschaft.

Sie mobilisieren in Ihrem Roman viele Urängste. Die Angst, vor seinen Kindern zu sterben, nicht zu wissen, wohin und wie ihr Weg verläuft. Die Angst, vor lauter Aufgaben sich selbst zu vergessen und zu verlieren. Die Angst, sich selber untreu zu werden. Steckte in diesen Ängsten eine der Motivationen, diesen Roman zu schreiben?
Ängste können ein wunderbarer Wegweiser beim Schreiben sein. Ich versuche, beim Schreiben der Angst und der Freude zu folgen. Die Grundmotivation für diesen Roman war aber eher, mich mit den Verstrickungen auseinanderzusetzen, die sich in Familien mitunter ergeben.

Helle, Katharinas Tochter, hat die «Diagnose» ADHS. Aktueller könnte das Thema nicht sein, nachdem ein Professor für Neurobiologie in einer ZDF-Nachrichtensendung die Behauptung aufstellte, ADHS gäbe es nicht, nur in der Köpfen der Pharmaindustrie. Ich weiss sehr gut, wie entlastend eine solche Diagnose sein kann, wenn Eltern annehmen dürfen, dass sie nicht einfach bei der Erziehung versagt haben. Aber Helle zwingt ihre Mutter Katharina an eine Wand. Trösten Sie?
Ich finde, Katharina hält sich ziemlich gut. Und da sie auch die negativen Gefühle ihrer Tochter gegenüber zulässt und nicht kleinzureden versucht, hat die große Liebe und Bewunderung, die sie ihr gegenüber ebenso empfindet, auch eine Chance, sich zu voller Größe zu entfalten. Dabei kann solch eine Diagnose besonders hilfreich sein, weil sie die Eltern von ihrem schlechten Gewissen entlastet und zusätzlich sehr gut nachvollziehbare Erklärungsmodelle anbietet. Und wen man versteht, der zwingt einen auch nicht so leicht an die Wand.

Ihre Verlagschefin Felicitas von Lovenberg pries Ihr Buch schon im Vorfeld, andere stempeln es zum Frauenbuch. (Ich bin überzeugt, dass es Frauenliteratur nicht geben kann. Nur Bücher, die zur Literatur zählen und solche, die allenfalls zur Unterhaltung genügen.) Warum sollen Männer dieses Buch lesen?
Hätten Frauen immer nur Bücher gelesen, die nur für sie gedacht waren, so hätte kein Autor auf diesem Planeten je von seinem Beruf leben können. Wenn sich also Frauen noch nie um diese Kategorien geschert haben, warum sollten Männer das dann tun? Wäre das nicht ein bisschen engstirnig? Und was würde ihnen entgehen. Ein Roman ist eine der wenigen Möglichkeiten, die wir Menschen haben, wirklich einmal «in den Schuhen eines anderen zu gehen».

Liebe Frau Krügel, vielen Dank!

Mareike Krügel, 1977 in Kiel geboren, studierte am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig. Seit 2003 hat sie drei Romane veröffentlicht. Sie lebt bei Schleswig. Mareike Krügel erhielt zahlreiche Stipendien, u.a. in der Villa Decius in Krakau, und ist Mitglied im PEN Deutschland. Im Jahr 2003 bekam sie den Förderpreis der Stadt Hamburg und wurde 2006 mit dem Friedrich-Hebbel-Preis ausgezeichnet.

Mareike Krügel liest u. a. am 17. Oktober in Konstanz in der Buchhandlung Osiander an der Rosengartenstrasse.

Ein Gespräch mit Mareike Krügel beim NDR

Webseite der Autorin

Titelfoto: Sandra Kottonau

Ein Abend unter dem Mond mit Marianne Künzle

„Lesen geht durch den Magen – gestern Abend zum Beispiel auf Einladung von literaturblatt.ch. Die unvergessliche Candle-light-Dinner-Lesung im Bistro Cartonage in Amriswil. Die kulinarischen Höhenflüge wie Brennnesselchips, Hagebuttencrème, Senfkraut auf Randenrisotto, Kräuterschnaps zum Abrunden. Das aufmerksame Publikum, die überraschenden Gespräche, die tolle Moderation. Und der satte Vollmond hinter Regenwolken. Schön war’s!“ Marianne Künzle

Fotos: Sandra Kottonau

Christine Fischer «Der Zweifel, der Jubel, das Staunen», orte-Verlag

Kein Roman, keine Erzählung, kein Gedicht. Vielleicht philosophische Prosa. Ganz sicher Gedanken über die Hintergründe der Dinge, die abgewandten Seiten, die Unterböden, auf denen wir stehen, die aber fast immer unsichtbar sind. Ein Büchlein wie ein Brevier. Aber nicht so einfach hingebetet, keine Litanei, keine Allgemeinheiten.

Christine Fischer interessiert sich für Innenwelten. In ihren Büchern beschreibt sie Menschen in ihren Zweifeln, Abgründen, geht ihnen ganz nah. Dieses Büchlein blickt von Innen nach Aussen. Es bildet ab, was die Autorin denkt, fühlt und sieht; Das Denken um die Welt, das Fühlen einer Empfindsamen, das Sehen einer Frau, die weit über den eigenen Nabel, die eigene Nasenspitze hinaussieht. Fast hundert kurze und kürzeste Gedankenfenster mit den Kapitelüberschriften «Anrufungen», «Mutmassungen», «Anfechtungen», «Behauptungen», «Bedachtsamkeiten», «Begründungen» und «Lobpreisungen». Begriffe, die aus der Zeit gefallen scheinen, für die es sonst keine Verwendung mehr zu geben scheint. Ein Büchlein, das in der Buchhandlung in kein Regal passt, nicht zu Lyrik, nicht zu den Ratgebern, kein Reiseführer. Aber genau das ist es, was den Reiz dieses Büchleins ausmacht. Christine Fischer muss nichts mehr beweisen. Am allerwenigsten, dass sie schreiben kann, dass sie denken kann, dass Sprache ein Instrument ist, das ebenso Klang wie Wirkung erzeugt.

Das rosa Büchlein (Die Farbe vertrage ich auch in diesem Fall nur schlecht. Keine Ahnung, wie der Verlag zu dieser Farbe kommen konnte! Kein Deut von einer rosa Brille! Auch kein Wohlfühlbüchlein!) lag ein paar Tage auf meinem Nachttischchen. Christine Fischers kleine Texte begleiteten mich in die Nacht, an den Schlaf heran, dort, wo Gedanken sich freimachen. Einmal nahm ich das Büchlein mit in den Zug, las darin im Stehen gleich neben der Tür, weil der Zug so voll war. Irgendwann spürte ich die Blicke auf mir und dem kleinen rosa Büchlein. Nicht nur die Farbe verunsichert, manchmal tun es auch die Texte. Sie beschwört die Müdigkeit, bei ihr zu bleiben, den Zorn und die Fäulnis. Sie mutmasst, ob es tote Dinge wirklich gibt, was Pflanzen täten, wenn sie Wetterprognosen lesen würden. Christine Fischer nimmt die Nacht ins Visier, weiss, dass sie Nacht am Gürtel ein Messer trägt, mit dem sie Taue kappt, die einem mit dem Ufer der Gewissheit verbinden.
Kaum ein Text tut, was Morgenbetrachtungen tun. Sie schützen nicht, klären nicht, trösten nicht und beschwichtigen nicht. Sie rütteln und trotzen, sie zerren und stossen. Christine Fischer mischt sich ein, tut dies mit Poesie und Sprachgewalt.

behauptungen, Jan Kaeser

Die Graphit-Zeichnungen wurden vom St. Galler Künstler Jan Kaeser eigens für dieses Buch erstellt. Er liess sich von den Texten «erschüttern und erregen». Diese inneren Bewegungen habe er gleich einem Seismographen während des Lesens direkt mit dem Graphitstift auf Papier übertragen. Im Buch sind Ausschnitte davon abgebildet. Die beiden Künstler verbindet eine jahrzehntelange Freundschaft. Etwas, das spürbar wird, wenn man sich auf Zeichnungen und Texte einlässt.

Ein Interview:

Deine Texte in deinem Buch machen ganz und gar nicht den Eindruck, als hättest du sie in eine Ordnung gebracht, Titel dazugeschrieben und sie so zu einer Einheit gemacht. Wie entstand dieses Buch? War da ein Plan, eine Absicht?
Wie so oft beim Schreiben, entstand der Anfang zufällig. Ein Schriftstellerkollege hatte mir gesagt, dass ich an den Anfang meiner Texte oft eine Behauptung stelle. Gut, dachte ich mir, so behaupte ich nun absichtlich! Und da ich in jener Zeit oft an Betten von Sterbenden wachte und ein ganz neues Verhältnis zur «Nacht» entwickelte, stelle ich als erstes Behauptungen zur Nacht auf. Nicht alle meine Gedanken konnte ich dort subsumieren, also suchte ich nach weiteren «Klarsichtmäppchen», in denen ich meine Gedanken und Überlegungen zur Wahrnehmung der Welt unterbringen konnte. Um diese Einheiten gegeneinander noch besser abzugrenzen, wählte ich für jede eine besondere sprachliche Form, vom Duktus her oder grammatikalisch, beispielsweise den Konjunktiv bei den «Mutmassungen», die biblisch anmutende Sprache bei den Textfragmenten über die Liebe in den «Begründungen», oder den immer gleichen Anfang wie bei den «Lobpreisungen». Es liegt also durchaus einiges an formalen Überlegungen und Strukturarbeit in dieser Textsammlung. Ich bekam so richtig Freude daran, subtilere Gedankengänge zu beschreiben und nach geeigneten Titeln, Wörtern, Bildern dafür zu suchen. «Subtleties», hiess der Arbeitstitel, also Subtilitäten, denn ich wusste ja auch nicht genau, was hier im Entstehen begriffen war und wie es zu betiteln wäre. Bis heute tue ich mich schwer zu erklären, was diese Sammlung enthält. «Federwolken», das war auch so ein geheimer, vorläufiger Titel. Dieser Titel weist darauf hin, wie dieses Buch entstand: Zwar aus dem Blauen hinaus sich Textwölckchen und Wölckchen entwickelnd, seine Form suchend und findend, ordentliche Reihen bildend – und sich dem Zugriff entziehend, vorläufig, flüchtig.

anfechtungen, Jan Kaeser

Wie entstanden die einzelnen Texte?
Wie bereits oben beschrieben, gab es eine initiale Sammlung von «Behauptungen zur Nacht», die aber ziemlich sofort nach weiteren Unterkapiteln rief. So entstanden parallel kurze Niederschriften auf Notizzetteln, die ich dann in der wachsenden Zahl von Titel Unterschlupf fanden, aber erst, nachdem sie sprachlich entsprechend gekämmt worden waren. Das ganze Konglomerat entstand über einen Zeitraum von etwa 4 Monaten. Ideen, Gedanken und ganze Sätze springen mich oft an im Halbwachzustand (Aufwachen, Einschlafen, Dösen), beim Spazieren oder beim Zugfahren, auch Abwaschen oder Staubsagen sind tolle Ideenbegünstiger. Der diskursive Geist muss abgelenkt werden, dann entsteht Raum für Subtileres, für «Federwolken». Ich glaube, dass jeder Mensch sich laufend ganz viele Gedanken macht zum Leben und seinen Erscheinungen, aber diese Gedanken vielleicht nicht erhascht oder sie ganz einfach nicht aufschreibt.

Die Texte lassen tief blicken, zeigen viel von dir. Wieviel Scham spielte bei der Auswahl der Texte?
Ich glaube, ich liess mich leiten vom Anspruch der Wahrhaftigkeit. Wird man ihm gerecht, ist man geschützt von Gefühlen der Scham, der Entblössung. Es gelangt dann das zur Gestalt, was Gestalt annehmen will und muss. Nicht im Sinne einer Sendung oder Mission, sondern als Ausdruck von Erkenntnissen, die mehr kollektiver als subjektiver Natur sind. Also kein Erfinden, sondern eher ein Beschreiben von tieferen Schichten der Wahrnehmung, dem eigentlich Unnennbaren. Dies als Versuch, der durchaus auch scheitern oder irren darf. 

Irgendwie erweckt dieses Buch den Eindruck, als wäre da drin Resümee, ein Statement zur Gegenwart und Zukunft. Was wünschst du dir?
Ich glaube nicht, dass man Erkenntnisse zusammenfassen kann – jedes Leben ist

mutmassungen, Jan Kaeser

ein «work in progress», alles andere wäre niederschmetternd. Für mich sind diese Texte Verlautbarungen aus dem gegenwärtigen Moment heraus. Schon ein Tag oder auch nur eine Stunde später würde es wohl anders tönen. Aber natürlich steht da Vergangenheit dahinter, erlebte Geschichte, all das, was man Lebenserfahrung nennt, aber auch Nachdenken, Nachspüren und die Lust am Spiel. Zukunftsweisend möchte und kann ich nicht sein, doch ich wünsche mir, dass wir die Gegenwart in ihrer unglaublichen Vielfalt und Feinheit besser durchdringen, uns von ihr nicht nur bedrücken, sondern auch bezaubern lassen und es ab und zu wagen, eine «Lobpreisung» zu formulieren. Dies tut unserem ernsthaften Bemühen um die Welt und ihren Fortbestand keinen Abbruch, im Gegenteil.

Christine Fischer, vielen Dank für die aufschlussreichen Antworten.

Christine Fischer, 1952 in Triengen LU geboren, studierte Logopädie am Heilpädagogischen Institut der Universität Freiburg. Sie wohnt in St. Gallen und ist als Sprachtherapeutin tätig. Veröffentlichung der Bücher «Eisland» (1992), «Lange Zeit» (1994), «Augenstille» (1999), «Solo für vier Stimmen» (2003), «Von Wind und Wellen, Haut und Haar» (2004), «Vögel, die mit Wolken reisen» (2005) und «Nachruf auf eine Insel» (2009). Ausgezeichnet mit verschiedenen Förder- und Werkpreisen.

Buchvernissage «Der Zweifel, der Jubel, das Staunen» von Christine Fischer, Donnerstag, 26.Okt. 2017, 19.00, Raum für Literatur, Hauptpost St. Gallen. Veranstalter: kleinaberfein, St. Gallen, Musik: Maya Homburger, Violine. Graphit-Zeichnungen: Jan Kaeser, Kunstschaffender. Lesung, Präsentation, Apéro, Bücherverkauf, Gespräch.

Webseite der Schriftstellerin

Webseite des Künstlers Jan Kaeser

Martina Clavadetscher «Knochenlieder», edition bücherlese

Martina Clavadetschers neues Buch «Knochenlieder» ist ein Buch der Sonderklasse. Ein Buch, das ich nach der letzten Seite sofort noch einmal zu lesen beginne, weil ich mir möglichst wenig entgehen lassen will. Ein Buch wie ein Monolith; geheimnisvoll, auffällig, sich von allem anderen absetzend. Ein Buch, das gelesen werden muss und dem ich von Herzen die ihm gebührende Aufmerksamkeit wünsche.

In einer Zeit in der Zukunft, in der die Welt nur noch im Ausnahmezustand zusammenzuhalten ist, lebt eine kleine Gruppe Menschen in einem Dorf am Hang. Mehr eine Kleinstsiedlung von Aussteigern, vier Wohnhäuser, Familie Blau, Familie Weiss, Rot und Grün. Ein Versuch im Kleinen, sich dem Grossen nicht ergeben zu müssen.

Vier Familien aus einer Zeit, in der sie noch andere Namen trugen, auch auf Papier und Pässen. Aber weil die eine Familie dann auch noch die Fensterläden rot bemalte, wurden aus den Farben Namen. Die alten Namen blieben Relikte aus der Vergangenheit, einer endgültig verlorenen Zeit. Während draussen in Städten, auf dem ganzen Kontinent, die Welt zerfällt, versuchen die vier Familien Gemeinschaft aufrecht zu erhalten und von dem zu leben, was Natur und Arbeit hergeben. Vier Familien mit Grundsätzen, hinter denen aber die Angst und der Wille zum Überleben überwiegen. Alles von aussen, selbst Medizin und Medikamente, bedroht das Zusammenleben, schlägt Keile in die wacklige Gemeinschaft. Bis sich eines Tages doch der Nachwuchs einstellt. Aber die Stachel von Misstrauen und Unterstellung sind längst tief in die kleine Gemeinschaft eingedrungen. Und als die Geburt der kleinen Rosa Grün gefeiert werden soll, eskaliert der schwelende Konflikt. Jakob schlägt zu und die Gemeinschaft zerbricht. Im zweiten Teil macht sich Pippa, die Tochter von Rosa Grün mit dem Amulett ihrer Mutter am Brustbein auf die Suche nach ihrer Mutter. Eine schnelle Fahrt auf dem Motorrad durch eine Welt wie im ersten grossen Science Fiction von Ridley Scott «Blade Runner» .

Kein Roman wie üblichen, kein Theater auf Papier, keine Lyrik und doch traumwandler-, alptraumwandlerisch. Martina Clavadetscher schreibt und dichtet, als hätte sie nie etwas anderes getan. Ihr Buch, das sich auf dem Umschlag Roman nennt, erzählt, singt, spricht, denkt, lockt und zieht mich in einen Sog, von dem ich als passionierter Leser bei jedem Buch mit Erwartung hoffe. Schon auf den ersten Seiten verspricht Martina Clavadetscher viel und schenkt im Verlaufe des Buches noch viel mehr, erst recht auf den letzten Seiten. Sie erzählt von einer nicht fremden Zeit in der Zukunft, die fast alles genommen hat, in der die letzten Reste Freiheit den Menschen leben lassen und Hoffnung fast ausschliesslich gegen innen gerichtet ist. Martina Clavadetschers Roman ist eine Offenbarung. Nicht nur weil er Stellung zur Gegenwart nimmt, sondern weil er sich Wörtern und einer Spache bedient, in der die Poesie keinen Platz zu haben scheint, als späche sie nur noch aus Wörtern und Sätzen. Wie Martina Clavadetscher in einem einzigen Satz ein grosses Bild entstehen lassen kann, wie trotz der Knappheit der Sätze Bilder in Cinemascope erzeugt werden; lange Einstellungen, kaum Bewegung mit maximalem Effekt, ist grosse Kunst. Während des Lesens streiche ich mir Passagen an, die ich später noch einmal lesen will, nicht des Inhalts, sondern der Musik wegen. Ein phantastisches Buch, ein phantastisch gutes Buch, das man nach der letzten Seite noch leicht betäubt in Händen hält, schon geschlossen, den Nachglanz geniessend. «Knochenlieder» ist ein Buch darüber, was bleibt, wenn nichts mehr ist, wie es einmal war. Auch ein Buch über Familie, die Sehnsucht nach einem Ort, wo man hingehört. Dass Martina Clavadetscher Theatermacherin ist, spürt man dem Text an, hört man, versteht man. Sie gibt nur das Nötigste vor, zwingt den Leser, das Geschehen aufzufüllen, zwingt ihn mitzugehen, mitzudenken.

Wer Mut hat, wird belohnt, auch die Jury des Schweizer Buchpreises 2017!

Ein Interview mit Matina Clavadetscher:

Ihr Roman spielt in einer düsteren Zukunft, einer Zukunft, die in der Gegenwart längst begonnen hat. Dystopien scheinen Hochkonjunktur zu haben. Und doch ist die Zukunft in ihrem Roman nicht einfach Kulisse. Wollen sie warnen, aufrütteln oder ist ihr Blick in die Zukunft Programm?
Der Blick in die Zukunft, in die nahe Zukunft, wenn man so will, ist insofern Programm bzw. Absicht, als dass ich damit gewisse gesellschaftliche, politische und technische Tendenzen weitertreiben konnte – ich konnte in eine Extreme schreiben, die beklemmt und aufrüttelt. Trotzdem scheint diese zugespitzte Sicht nachvollziehbar, in gewissen Momenten sogar vorstellbar. Und doch: selbst in einer dystopischen Zukunft bleiben ganz ursprüngliche (archaische) Ängste und Sehnsüchte erhalten – Menschlichkeit überdauert und trotzt den Umständen.

Beim Lesen ihres Romans staune ich ob der Sprache, ihrer Sicherheit und der Fähigkeit, selbst mit Wörtern und Satzfetzen aus der Computerwelt Poesie zu erzeugen. Rührt ihre Selbstverständlichkeit mit Sprache den richtigen Ton zu finden aus dem Theater, dem laut gesprochenen Wort?
Ich wollte mir sprachlich und formal für einmal keine unnötigen Grenzen setzen. Deswegen mäandriert der Roman durch das Lyrische, das Prosaische und – in den szenischen Dialogen – gar durch die Dramatik. Das laut gesprochene Wort war bei der Überarbeitung enorm wichtig – um Klang und Rhythmik zu prüfen, habe ich den Roman etliche Male laut gelesen. Gut möglich, dass ich durch meine Arbeit mit Theatertexten keine Furcht vor der sprachlichen Umsetzung ins unmittelbar Reale habe. 

Die Form ihres Romans ist eine aussergewöhnliche. Wer beim Kauf am Büchertisch die Seiten am Daumen springen lässt, wird merken, dass ihr Roman ein unübliches Gesicht hat. Zugegeben, es macht das Lesen einfacher, hilft, die Geschichte zu strukturieren. Andere Autoren schreiben ohne Punkt und Komma in Blocksatz und scheinen alles verhindern zu wollen, was mir als Leser hilft. Ihr Text lädt ein zum Rezitieren. War diese Form schon zu Beginn des Schreibens klar?
Diese Form schien von Anfang an die einzig richtige zu sein. Ich habe den gesamten Roman in einer ersten Fassung von Hand geschrieben – das Physische der Handschrift hat hierbei sicher seinen Teil dazu beigetragen. Ich erkannte, dass diese Mischform (Lyrik, Prosa, Dramatik) einen ganz eigenen Reiz besitzt: Sie erzeugt Tempo, lässt formale und inhaltliche Spielereien zu, sie ermöglicht Leichtigkeit und zugleich die Betonung des Inhalts durch die Form.
Und nicht zuletzt hat das Schreiben auf diese Weise unfassbaren Spass gemacht.

Während des Lesens waren kurze Momente der «Besinnung» unausweichlich, Gedanken darüber, wo in der Gegenwart die Zeichen «ihrer» Zukunft zu finden sind. Das ist nicht schwer angesichts der Aktualität. Sind sie Optimistin?
Mein Optimismus schwankt wöchentlich. Und obwohl es sein mag, dass «Knochenlieder» ein düsterer Roman geworden ist, sehe ich durchaus auch die wichtigen Lichtblicke darin: die Hoffung, die Liebe, die Sehnsucht nach Freiheit, die unablässig gesucht wird. Grundsätzlich bleibt mein Glaube an das Gute im Menschen – egal wie kitschig das klingen mag – sehr eisern.  

Ihr Roman ist auch ein Buch über Heimat, darüber, wonach sich Menschen sehnen, nach Familie, einem Ort, der Sicherheit schenkt. Wo ist ihre «Heimat»? Ist es das Schreiben?
Schön, dass sie das Thema «Heimat“ dem Roman entzwirbelt haben. Tatsächlich sind gefühlte Orte wie „innen“ und „aussen“ (gefangen und frei – sicher und unsicher) in jedem der Teile ganz wesentlich verankert. (Wobei das vermeindlich „schlechte“ nie wie geglaubt von aussen kommt, sondern stets von innen und aus den eigenen Reihen.) Was meine Heimat betrifft: Im Schreiben fühle ich mich sehr zu Hause. Es beruhigt mich. Meistens. Meine erschriebenen Welten sind mir Urlaubsorte, Spielwiesen und Höllen zugleich.

Liebe Martina Clavadetscher, vielen Dank für die aufschlussreichen Antworten!
Haben sie vielen Dank für die spannenden Fragen!

Martina Clavadetscher, geboren 1979, studierte Germanistik, Linguistik und Philosophie an der Universität Fribourg. Seit 2009 arbeitet sie als Autorin und Dramatikerin sowie als Radiokolumnistin. Ihr Prosadebüt Sammler erschien 2014 im Verlag Martin Wallimann. Für die Spielzeit 2013/2014 war sie Hausautorin am Luzerner Theater. 2016 wurde sie für das Theaterstück Umständliche Rettung mit dem Essener Autorenpreis ausgezeichnet, für das Manuskript Knochenlieder erhielt sie 2016 den Preis der Marianne und Curt Dienemann-Stiftung. Martina Clavadetscher lebt in der Schweiz.

Martina Clavadetschers Webseite

Titelbild: Sandra Kottonau

Literatur ist vergänglich!

Ein Nachruf

Mag sein, dass der Ruhm eine Weile hält. Ein paar Monate, vielleicht ein paar Jahre, wenn es einem als Schriftsteller gelingt nachzulegen. Aber gemessen an der schieren Menge von Neuerscheinungen allein im deutschsprachigen Raum jedes Jahr, muss der Verdrängungskampf in den Bücherregalen immens sein. So ein Bücherleben dauert in der Regel ein Menschenleben. Danach gelingt wenigen noch eine Runde, nachdem sie Aussortierung und Lagerzeit in Antiquariaten oder Brockenhäusern heil überstanden haben. Noch eine Runde, weil ein stiller Leser, eine Liebhaberin oder gar ein Sammler sich des Buches erbarmt und ihm ein neues Zuhause schenkt. Aber was heute aktuell ist, ist eine Generation später Altpapier. Worüber sich kreative Köpfe während Jahren beugten, Kämpfe um Formulierungen ausgetragen wurden und man in Endlosschleifen dem Klang von Sätzen nachstieg, wird wenige Jahre später Makulatur. Was Rezensenten, Kritiker und Moderatoren preisen, bejubeln und in den ewigen Olymp der Literatur heben, danach kräht eine Generation später kein Hahn mehr. Vielleicht bleibt eine Notiz, eine Erinnerung. Aber wer liest sie noch? Was wir Westeuropäer Weltliteratur nennen, ist männlich dominierte, meist mitteleuropäische Literatur der letzten 200 Jahre inklusiv einiger weniger Paradiesvögel, die es ins hiesige Bewusstsein schafften. Erstaunlich genug, dass es jedes Jahr wieder eine endlos scheinende Reihe Beginnender gibt, die zu hoffen wagen, für Monate, vielleicht sogar Jahre Bücherfreunde zu erfreuen. Was treibt all die Kreativen, sich über Jahre an eine Geschichte zu hängen, zu schleifen, allein an einem Tisch den langen Kampf auszufechten, der Kapitulation zu trotzen und stets zu hoffen, da wären Leserinnen umd Leser, die warten? Die Aussicht auf Ruhm und Ehre kann es nicht sein. Das ist der Schreibende Realist genug. Vielleicht die Lust, ein Stück eigene Welt erschaffen zu haben. Eine Welt mit einem eigenen Sound, eine ganz speziellen Färbung. Sie tun es immer wieder. Selbst dann, wenn ihnen der an Verkaufszahlen und Aufmerksamkeit gemessene Erfolg verwehrt bleibt. Sie tun es trotz Beruf und Familie, trotz Verzicht und Abnützung. Sie scheinen nicht müde zu werden, bis das Buch in Folie verpackt ausgeliefert wird, in welcher Auflage auch immer. Und dann, nach der Lektüre, nach medialer Missachtung oder grenzenloser Lobhudelei steht es im Regal. Vielleicht ein Menschenleben lang, bis ein nächste es in eine Kiste schmeisst, die zur Sammelstelle geführt wird. Ein paar Namen bleiben länger, gemessen an der Dauer des Abendlandes einen Moment länger, um dann in die ewigen Jagdgründen der Vergessenen einzugehen. Literatur ist vergänglich, wie alles andere auch.

Zum Bild: Aus einer Laune heraus setzte ich eines meiner aussortierten Bücher im Garten auf einer Mauer aus. Ich wollte schauen und fotografieren, wie sich dieses Buch der Witterung und den Jahreszeiten ausgesetzt verändert. Ebenso interessant waren die Reaktionen all jener, die am Buch vorbeigingen. Erst recht weil sie wissen, wie weh es mir tut, wenn einem guten Buch der ihm entsprechende Respekt verwehrt bleibt. Bücher selbst können sich nicht wehren.

Mein 38. Literaturblatt ist in Arbeit!

Vier Bücher, die mich überzeugten, zieren das neue Literaturblatt. Bücher, die hängen bleiben werden, denen in meiner Bibliothek ein spezieller Platz gebührt. Und eine Zeichnung mit dem Gesicht eines Grossen, dem ich mit einer kleinen Hommage huldige. Ein Mann, der schon in meiner Kinderstube wirkte, in meiner Jugend, in meinen Beruf, in meiner Familie und mit jedem Buch in einer eigenen Gegenwart.

Zu den vier Auserwählten: Eine Schwedin, Mutter von vier Kindern, mit einem Buch, dessen Sprache schlicht und dicht, kraftvoll und markig ist. Ein Buch, das man mit einem Bleistift hinter dem Ohr liest.
Eine Deutsche aus Bayern, die seit ein paar Jahren in Genf lebt und ihren Erstling beim Zytglogge Verlag herausbrachte. Das Buch voller Weisheit, voller Sprachmusik, intensiv und expressiv.
Eine Schriftstellerin aus Stuttgart, die mich nicht erst mit diesem Buch entzückte. Ein Buch voller Bilder mit Tiefenschärfe, voller Metaphern, Doppelbödigkeiten und sprachlicher Raffinesse.
Und ein Schweizer, der hinter den Bergen im Süden wohnt, schreibt und schreibt. So gross die Liebe zu seinem Personal ist, so tief lässt er blicken. Nicht erst dieses Buch ist ein Leseabenteuer der besonderen Art.

Und ein Bild, eine Hommage an einen Grossen der Schweizer Kultur. Ein Mann, der nie die Bodenhaftung verlor, Gross und Klein begeistert und im Frühling einen grossen Geburtstag feiert! Ein kleines Geschenk an ihn!

In der zweiten Oktoberhälfte bekommen Sie das 38. Literaturblatt zugeschickt!

Susann Pásztor «Und dann steht einer auf und öffnet das Fenster», KiWi

Karla wird an Krebs sterben. Und Fred, ehrenamtlicher Sterbebegleiter, ist wild entschlossen, wenigstens damit seinem Leben einen Sinn zu geben. Freds Sohn Phil kommt ganz gut ohne ihn zurecht. Und vom weiblichen Geschlecht sonst ist kaum mehr etwas für Fred zu erhoffen.

«Und dann steht einer auf und öffnet das Fenster» erzählt von einem ungleichseitigen Dreieck um die todkranke Karla. Karla hat Krebs und vielleicht noch ein paar Monate zu leben. Karla möchte ihre Ruhe haben. Was unbedingt sein muss, akzeptiert sie. Aber als sich dieser Mann nach telefonischer Voranmeldung an ihrer Wohnungstür in ihre Ruhe klingelt, wird diese Sehnsucht nach Ruhe gestört. Der Unruhestifter lässt sich auch durch absichtliche Unfreundlichkeiten nicht abschütteln, erst recht nicht. Der Mann an der Tür ist Fred. Fred ist ehrenamtlicher Sterbebegleiter und nimmt seine Aufgabe ernst. Er weiss, dass Vertrauen gewonnen werden muss. Fred hat mit dem Leben noch einige Rechnungen offen. Seine Ehe ist gescheitert, seine Ex in die Esoterik abgedriftet. Er als alleinerziehender Vater schmerzhaft weit weg von seinem Sohn entfernt. Auch im Büro reisst ihn nichts mehr aus seinem Trott. Jeden zweiten Mittwoch trifft sich Fred mit andern Berufenen zum Supervisionstreffen der Ehrenamtlichen im Hospiz. Dort holt er Anlauf und später Beistand für seine erste Mission. Eine Aufgabe, die auch durch Einfühungskurse und Handbücher nicht einfacher wird; Sterbebegleitung. Phil ist Freds dreizehnjähriger Sohn. Auch er einer, der sich in seiner Ruhe durch den Vater gestört fühlt. Phil schreibt lieber Gedichte, die er auf Internetforen veröffentlicht, als auf Plätzen einem Ball hinterherzurennen. Phil versteht seinen Vater kaum. Ein Vater, der ein Verlierer zu sein scheint. Einer, der sich als ehrenamtlicher Sterbebegleiter in eine Mission verrennt. Und Gudrun? Gudrun, pensioniert, lebt allein und ist als Karlas Schwester, der einzig übrig gebliebene Rest einer Familie, von der die todkranke Karla nichts, gar nichts mehr wissen will. Bis Fred alle aus ihrer Ruhe reisst.

Susann Pásztor, neben ihrer Berufung als Autorin und Übersetzerin selbst ehrenamtliche Sterbebegleiterin, gelingt es mit ihrem zugleich heiteren wie ernsten Roman ein Tor zu einem Thema zu öffnen, das nicht nur in der Literatur wenig Aufmerksamkeit findet. Zum einen erzählt Susann Pásztor vom Sterben einer Frau, der das langsame Sterben selbst schon vor dem Tod alles zu nehmen droht. Zum anderen von der durchaus ehrenvollen Aufgabe der Sterbebegleitung. Eine Aufgabe, die so ganz anders ist als alles, was wir uns sonst auferlegen. Wie soll man sich Sterbenden nähern, ohne das aus Ehrenhaftigkeit Aufdringlichkeit wird? Was tun, wenn die Signale einer Sterbebegleitung nicht ankommen, nicht so ankommen, wie sie gedacht waren? Wenn aus Übereifer Verletzungen entstehen? Wenn aus Beistand Notstand wird? Susann Pásztor beschreibt mit einem besonderen Gefühl für Feinheiten das Spannungsnetz einer solchen Extremsituation. Susann Pásztor lässt das Geschehen subtil entgleisen. Phil, Freds Sohn, soll für Karla in ihrer Küche all die Negative aus einer «Grateful-Dead-Vergangenheit» einscannen. Dabei gewinnt er unweigerlich jene Nähe, die sein Vater auch mit der Brechstange nicht zu erwirken vermag. Übermotiviert und euphorisiert nimmt Fred heimlich Kontakt zur einzigen Verwandten Karlas, zu Gudrun auf. Die Zusammenführung soll zur Weihnachtsüberraschung werden. Eine, die ihm gelingt, wenn auch gar nicht so, wie er sich das ausgemalt hatte.

Susann Pásztor erzählt kapitelweise aus der Sicht der vier Protagonisten, macht mich zum Verbündeten, zum Hoffenden, zum Zweifelnden. Zudem würzt die Autorin mit Nebenschauplätzen, die nicht verzetteln, sondern das Kerngeschehen in ein anderes Licht setzen. So wie Phils Wörterkrankenhaus für Wörter, die unheilbar erkrankt sind oder endgültig aus dem Verkehr gezogen werden müssten. Obwohl erst dreizehn entwicklt Phil ein Sensorium, das ihn dort hören lässt, wo andere überhören. Oder das durch Freds Übereifer gestörte Leben von Karlas einziger Schwester Gudrun, die eigentlich eine Kreuzfahrt geniessen will. Sie wird zur Kreuzfahrerin in eine Vergangenheit, die zugeschüttet ist. Oder Karlas Leben selbst, das nur andeutungsweise erzählt wird. Aber an den kursiv gesetzten Listen, die den Kapiteln dazwischengestellt sind, bleibe ich hängen. Sie lassen mich spekulieren, tragen mich weiter.

Und nicht zuletzt ist «Und dann steht einer auf und öffnet das Fenster» ein Roman über das Sterben. Soll man sich ergeben oder trotz Krankheit gestalten? Wann wird Hilfe und Beistand zur Belastung? Wo und wann wird angebotene Hilfe zum Selbstzweck? Muss man Ordnung machen? Susann Pásztors Roman lebt von den Erfahrungen der Autorin, von den Tiefen und Untiefen jenes letzten Lebensabschnitts.

Ein Interview

Vor der Lektüre Ihres Romans wusste ich nicht einmal, dass es ehrenamtliche Sterbebegleitung gibt. So wie Sie Sterbebegleitung beschreiben, kann der Eindruck entstehen, manche dieser Ehrenamtlichen seien ziemlich überfordert, könnten viel mehr zur Belastung einer eh schon schwierigen Zeit werden, als Entlastung.
Wenn ich ein Sachbuch geschrieben hätte, könnte ich Ihre Bedenken verstehen. Aber es ist ein Roman! Und mal abgesehen davon: Ich denke, dass jede Aufgabe, jede Interaktion mit sterbenden Menschen Momente der Überforderung bereithält, ebenso wie Momente des Glücks, der Hilflosigkeit, der Intimität. Der überwiegende Teil der Sterbebegleiter kann damit umgehen; die wenigen, die das nicht gut aushalten, hören bald wieder auf. Hier in Berlin gibt es viele, bei denen niemand am Bett säße, wenn es die Ehrenamtlichen nicht gäbe. Selbst wenn sie Fehler machen, sind sie alles andere als eine zusätzliche Belastung.

Fred sucht sich eine Aufgabe, eine schwierige Aufgabe. Eine Aufgabe, die mit dem Tod endet. Darf Sterbebegleitung zum Selbstzweck werden? Man sucht sich eine Aufgabe, um sich selbst zu helfen. Fred ist geschieden, überfordert im Zusammenleben mit seinem Sohn Phil, wenig ausgefüllt von seiner Arbeit, ziemlich isoliert.
Das ist etwas, das ich nie verstanden habe: Warum soll man keine Aufgabe übernehmen, mit der man auch sich selbst helfen kann? Jeder Mensch, der Arzt oder Feuerwehrmann oder Therapeut wird, bringt irgendetwas aus seiner Biografie mit, das man auch gegen ihn verwenden könnte. Ich finde nicht, dass es bei so einer Wahl richtige oder falsche, ehrenwerte oder schlechte Motive gibt. Entscheidend ist, wie offen man ist, wie neugierig und wie bereit, sich zu hinterfragen und dazuzulernen und an seiner Aufgabe zu wachsen.

Freds zwölfjähriger Sohn Phil ist ein besonderer Junge. Einer von der stillen Sorte. Einer der Gedichte schreibt und kranke Wörter sammelt. Nicht Fred sein Vater gewinnt Nähe zur sterbenden Karla, sondern sein Sohn Phil. Unspektakulär durch eine Arbeit in Karlas Küche. Braucht es Sterbebegleitung? Braucht es nicht viel mehr soziale Formen, in denen Sterben nicht zum Ausnahmezustand wird? Liegt nicht der Schlüssel zu solchen Menschen in Phils Art, dem Leben und Sterben zu begegnen; ganz fein, ganz still, ganz «nebenbei“?
Oh ja, solche sozialen Modelle sind schön und wünschenswert. Es gibt sie nur nicht, und wenn wir sie haben wollen, müssen wir irgendwo anfangen. Einer der Wege dorthin ist, dass die Hospizarbeit – und damit auch die Möglichkeit einer Sterbebegleitung – mehr und mehr ins Bewusstsein der Menschen dringt und immer selbstverständlicher zum Leben dazugehört. Viele, so wie Sie, wissen gar nicht, dass es so etwas gibt. Andere organisieren Protestdemos, wenn sie erfahren, dass in ihrer Nachbarschaft ein Hospiz gebaut werden soll. Wir müssen noch so viel lernen. Von daher: Ja, es braucht Sterbebegleitung, und zwar dringend.

Sterbebegleiter Fred will in seinem Übereifer die sterbende Karla mit ihrer einzigen Schwester zusammenbringen. Er will eine Versöhnung provozieren. Sie selbst sind auch Sterbebegleiterin. Braucht es Versöhnung vor dem Tod? Sind wir nicht einfach zu harmoniesüchtig, selbst wenn es um die letzte Strecke vor dem Tod geht?
Ich halte das mit der Versöhnung am Sterbebett für einen romantischen Mythos, der von verzweifelten Hinterbliebenen erfunden wurde. Oder von Schriftstellern. Das Wichtigste ist, glaube ich, mit sich selbst ins Reine zu kommen und seinen inneren Frieden zu finden. Falls das eine Versöhnung erfordert: Man kann auch innerlich um Verzeihung bitten oder verzeihen, dazu braucht es die große dramatische Geste nicht. Das gilt übrigens auch für die Hinterbliebenen.

Ich bin sicher, dass es gute Romane braucht, die Themen ins Gespräch bringen, über die man sonst nicht spricht. Ich bin sicher, dass Ihr Roman genau dies tut. Ich lese und diskutiere mit in zwei Lesekreisen. Ihr Buch scheint mir wie geschaffen dafür? Trotzdem würde ich mich nicht wundern, wenn gerade ältere Menschen bei diesem Thema » blocken». Will man sich wirklich mit dem Sterben beschäftigen?
Ich weiß es nicht. Ich kenne ja auch nicht das Durchschnittsalter der Leser dieses Buchs. Zu den Lesungen kommen jedenfalls erstaunlich viele ältere Menschen. Wenn ich raten müsste, würde ich sagen, dass es in allen Altersgruppen etwa gleich viele „Blocker“ gibt. Junge und Mittlere blocken, weil sie Angst vor dem Verlust ihrer Eltern und Großeltern haben, Alte blocken, weil sie wissen, dass sie selbst bald dran sind.

Ich danke Susann Pásztor für das kleine Mail-Interview.

Susann Pásztor, 1957 in Soltau geboren, lebt als freie Autorin und Übersetzerin in Berlin. Ihr Debütroman »Ein fabelhafter Lügner« erschien 2010 und wurde in mehrere Sprachen übersetzt. 2013 folgte der Roman »Die einen sagen Liebe, die anderen sagen nichts«. Sie hat die Ausbildung zur Sterbebegleiterin abgeschlossen und ist seit mehreren Jahren ehrenamtlich tätig.

Titelfoto: Sandra Kottonau

Tim Krohn «Erich Wyss übt den freien Fall», Galiani

Tim Krohns Romanserie „Menschliche Regungen“ ist ein fantastisches Projekt und geht mit „Erich Wyss übt den freien Fall“ in seine zweite Runde. Eine Enzyklopädie der „Menschschlichen Regungen“; Courage, Perfektionismus, Eloquenz, Geiz, Familiensinn, Zorn, Begierde, Originalität… über 65 neue menschliche Regungen. Und weil Tim Krohn immer wieder in Kontakt tritt mit jenen Menschen, die eine dieser Regungen aussuchen und mit weiteren Begriffen einbetten, ist das, was in den beiden bisher erschienenen Bänden geschah, durchaus repräsentativ dafür, was die Welt an der Röntgenstrasse in Zürich ausmacht.

Sie kennen den altmodischen, aber noch immer reizvollen Adventskalender mit den kleinen Türchen, von denen man jeden Tag eines öffnen darf und mehr oder weniger überrascht wird, von dem, was sich dahinter verbirgt. Auch der zweite Band „Erich Wyss übt den freien Fall“ ist ein solcher Kalender, ein überdimensionaler, ein ganzes Haus, in dem sich nach und nach alle Türen öffnen, nicht nur die in die Wohnungen und Zimmer. Ein städtischer Kosmos, in dem sich das Leben auf vielfältigste Weise durchaus spektakulär manifestiert.

Sonst mag ich Serien nicht. Keine Brunettikrimis, keine Netflix-Serien, nicht einmal Gesamtausgaben. Sobald ich mich geknechtet fühle, krampft sich mein Misstrauen. Und wenn wie bei bei «Game of Thrones» um Film, Buch und Autor ein wahrer Hype ausbricht, stachelt das meinen Widerwillen noch an. So ganz anders bei Tim Krohns urbanem Quartierepos. Es fliesst kein Blut, kein Drache speit Feuer, es öffnen sich keine Abgründe, selbst die Intrigen bleiben in Bodennähe. Was in dem Zürcher Mietshaus passiert, erkenne ich wieder. Es riecht und fühlt sich an wie die Wirklichkeit. Ich mag das ganz normale Personal, selbst jenes, mit dem ich in der Wirklichkeit lieber nichts zu tun haben möchte. Tim Krohn erzeugt Nähe, weil sich die Menschen, die er leben, lieben und sterben lässt, mit dem herumschlagen, was Realität ist. Die Schauspielerin Selina kämpft um ihr Filmprojekt, Julia als alleinerziehende Mutter in ihrem schlecht bezahlten Beruf als Lektorin um ihre Existenz, Pit und Petzi als Studenten und junges Paar, Moritz der Lebenskünstler und Hubert Brechbühl, die Leitfigur aus dem ersten Band als schüchterner Liebhaber um ihre Lieben, Familie Costas ums tägliche Brot (das allzu oft als Fisch auf dem kleinen Balkon brutzelt) und Erich Wyss mit seiner Frau Gerda gegen die Tücken von Alter und Familie.

Tim Krohns Personal wächst mir derart ans Herz, dass ich mir mit Sicherheit auch Band 3 nicht entgehen lassen werde. So gesehen ist das Rezept kein anderes als bei jeder anderen Serie. Ich will nichts versäumen, selbst den Schmerz darüber nicht, dass Personen ziemlich plötzlich verschwinden. So wie Paul Lutz, der als neuer Hauswart seine Stelle antritt und sich zuallererst in seine Dienstwohnung durchkämpfen muss, weil die vom Verwandtschaftsbesuch der Familie Costas annektiert wurde. Ich mochte diesen Paul, der sich mit der umtriebigen Familie anzufreunden versuchte, letztlich aber scheiterte an seinem strategischen Bemühen, im Mietshaus für Ordnung zu sorgen.

Ich leide mit! In Band 2 mit Erich Wyss, einem schon lange pensionierten Tramfahrer. Einem, der ein Leben lang nicht nur seiner Frau Gerda treu war, sondern auch seiner Redlichkeit, dem Vorsatz, ein guter Mensch zu nsein. Ausgerechnet ihm schlägt das Schicksal nicht nur in die Knie, sondern mitten ins Herz. Nach der Geburtstagsfeier seiner Frau Gerda, bei der fast das ganze Haus mitfeierte und Gerda noch einmal richtig ausgelassen tanzte, entreisst der Tod ihm seine Frau. Und als wäre das nicht genug, versuchen ein ungeratener Sohn und ein durchtriebener Enkel aus Erich Wyss einen Strohmann für dunkle Geschäfte zu formen. Aber nicht so mit Erich Wyss. Dieser schlägt zurück, nachdem er auch schon im ersten Band einiges einzustecken hatte. Erst recht, als er sich nach dem Tod seiner Frau nur noch um sich zu sorgen braucht und sein Fundament Familie zu bröckeln beginnt. So wie die einen im Haus an der Röntgenstrasse um ihre Familie kämpfen, streitet Erich gegen sie. So heftig Erich seinen Sohn Sepp vor die Türe setzen muss, so sehr wird Pit von seinem Vater vor die Türe gesetzt und ausgegrenzt. Wahrscheinlich auch dies ein Qualitätsmerkmal des Kohn’schen Kosmos. So wie „Game of Thrones“ jene Welt nicht in Gut und Böse aufteilt, zeigt Tim Krohn in seiner Romanserie keine krassen Gegensätze, aber Menschen in sehr verschiedenen, durchaus gegensätzlichen Lebenssituationen. Pit, der Philosophiestudent, der im ersten Band ziemlich ausufernd die Grenzen der körperlichen Liebe auslotete und versuchte, ist in Band 2 ein Gestrandeter, ein Verzweifelter. Ernüchtert bricht er sein Studium ab und sieht sich nicht nur wegen dieses Entschlusses mit einem übermächtigen Vater konfrontiert, der ihm seine Familie verweigert.
In „Erich Wyss übt den freien Fall“ leide ich an nichts so sehr mit wie an „Familie“! So viel Sehnsucht und magische Liebe darin steckt, so viel Schmerz, Demütigung und Bedrohung kann aus ihr erwachsen.

Was ich am Unternehmen „Menschliche Regungen“ bewundere, ist die pure Lust des Autors an Ent- und Einwicklung, die Souveränität, mit der Tim Krohn erzählt und mir immer noch eine Tür öffnet, ohne sich zu verzetteln. Auch wenn mir die Lebensentwürfe der Protagonisten im Roman nicht alle gleich nah kommen, bleiben sie realistisch.

„Erich Wyss übt den freien Fall“ ist auch ein Buch über den Weltenbruch im Jahr 2001, über 9/11 und seine Folgen. Und das Bild, das im Buchtitel durchscheint, „The Falling Man“, stimmt letztlich treffend für Erich Wyss. Sein Turm brennt. Ein Turm, der durch ein Verbrechen in Brand gerät. Ein Turm, der einzustürzen droht. Aber Erich Wyss wird nicht aufschlagen, nicht zerstört liegen bleiben.

Ich liebe viele Bilder im Roman von Tim Krohn; wenn Herr Brechbühl mit der Tuba auf dem Rücken in den Glarner Alpen Höhepunkte sucht, wenn Costas aus der Not Pornofilme mit Literatur synchronisieren, wenn im Stadttheater Solothurn telefonierende Zuschauer während der Vorstellung von Schauspielern geohrfeigt werden.
Tim Krohn bleibt nicht an der Oberfläche. So gross die Liebe zu seinem Personal ist, so tief lässt er blicken. Zum Beispiel dann, wenn Max Frischs Fragebogen zur Hoffnung beantwortet wird. Und zwar nicht einfach so. Da helfen zwei Flaschen Château Lafite und der Umstand, dass die Fragen am Telefon beantwortet werden, ohne Möglichkeit, das Gesicht zu verlieren.

Und noch ein Versprechen von mir: Geniessen Sie Band 2 „Erich Wyss übt den freien Fall“. Jedes Buch für sich ist ein Leseabenteuer der besonderen Art. Lassen Sie sich verführen, anstecken und mitreissen!

Tim Krohn ist 1965 in Nordrhein-Westfalen geboren, wuchs ab seinem zweiten Lebensjahr in der Schweiz im Glarnerland auf und wohnte danach gut zwanzig Jahre lang in Zürich, in einer sehr liebenswerten Genossenschaft. Inzwischen lebt er mit Frau und Kindern in Santa Maria Val Müstair. Er ist freier Schriftsteller. Er schrieb zuletzt die Romane „Quatemberkinder“ (1998), „Irinas Buch der leichtfertigen Liebe“ (2000), „Vrenelis Gärtli“ (2007) und „Ans Meer“ (2009), die Erzählbände „Aus dem Leben einer Matratze bester Machart“ (2014) und „Nachts in Vals“ (2015) sowie zahlreiche Theaterstücke, so auch die Vorlage zum „Einsiedler Welttheater 2013“. Er gewann unter anderem das Berliner Open Mike, den Conrad-Ferdinand-Meyer-Preis, den Preis der Schweizerischen Schillerstiftung und den Kulturpreis des Kantons Glarus.

menschliche-regungen.ch

Titelfoto: Sandra Kottonau

Nina Jäckle «Stillhalten», Klöpfer & Meyer

Otto Dix malte 1933 das «Bildnis der Tänzerin Tamara Danischewski mit Iris» kurz nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten. Wenig später vertrieb man ihn von Dresden nach Hemmenhofen an den Bodensee, nicht nur weit weg in ein Dorf, sondern in die innere Emigration. Tamara Danischewski, einst eine vielversprechende Tänzerin, ist Nina Jäckles Grossmutter.

Was die Schriftstellerin Nina Jäckle mit ihrer Geschichte, ihrem Stoff macht, ist keine Nacherzählung. «Stillhalten» ist die Abrechnung einer Gefangenen, die Geschichte eines erstarrten Lebens, eine Feldstudie der Täuschung und Lüge.

Tamara schreibt mehr als nur Zahlen in ihr Abrechnungsbuch. Sie lebt einsam und alt geworden im Obergeschoss ihres Hauses am See. Ein ehemaliger Steinbruch ihres Mannes. Mit Wasser gefüllt zum perfekten See gemacht, wie sie einst zur Ehefrau. Ein Dublikat des «Bildnis der Tänzerin Tamara Danischewski mit Iris» hängt über ihrem Schreibtisch, in den Räumen, die ihr Mann niemals betritt. Ein Bild, das sie mit einundzwanzig Jahren zeigt, als umschwärmte, junge Tänzerin, voll mit dem Brennen auf ein abenteuerliches Leben. Gemalt vom damals über sechzigjährigen Maler Otto Dix, der sie nicht nur malte, sondern in ihr ein Gefäss fand, um all die Wut und den Zorn über die Unvernunft des Menschen angesichts des beginnenden Tausendjährigen Reichs für Augenblicke loszuwerden. Damals sass Tamara Danischewski in einem schwarzen, hochgeschlossenen Kleid, das ihre Mutter genäht hatte, dem streitbaren Maler Modell, mit einer weissen Lilie in der Hand. Ein Bild, das heute in Museen der ganzen Welt hängt und im hellen Lächeln der jungen Tänzerin all die Hoffnung zeigt, die die junge Frau damals mit sich trug. Aber gedrängt von ihrer Mutter und den Wirren der Zeit heiratet Tamara einen Mann, der ihr für die Ehe das Versprechen abringt, nie mehr für fremde Augen zu tanzen und kein Wort mehr über den Schmierer und dieses Künstlerpack zu verlieren. Nach einer Totgeburt und Jahrzehnten der Anpassung, Unterordnung und versprochenen Zurückhaltung, in jenem Moment, in dem sie untrüglich spürt, dass die Existenz ihres Mannes zu wackeln beginnt, zieht die alt und einsam gewordene Tamara Bilanz. Auch wenn sie weiss, dass es letztlich kaum Einträge in der Sparte «Gewinn» geben wird.

Nina Jäckles Roman fasziniert! Was für ein Buch! Ganz nebenbei erfahre ich so viel über das Leben des Künstlers Otto Dix in Zeiten des Faschismus mit der Erinnerung an einen verlorenen ersten Weltkrieg, dass ich mich wundere, nicht längst einmal in Hemmenhofen am Bodensee oder in den Museen Stuttgarts dem Maler nachgegangen zu sein. So wie die junge Frau fasziniert war vom durchdringenden Blick und Verstand des Malers, so faszinieren mich im Anschluss an die Lektüre des Romans die Bilder und Zeichnungen des Malers Otto Dix, der sich kaum um künstlerische Strömungen und Modeerscheinungen seiner Zeit kümmerte.

Ausgerechnet eine Tänzerin erstarrt in den Blicken eines Malers zum Modell, sitzend zu einer Blumenhalterin. «Stillhalten» ist das Protokoll all jener Sitzungen in Bewegungslosigkeit beim Maler. Eine Ermahnung der allgegenwärtigen Mutter an ihre Tochter, die sich mit der Heirat Tamaras Sicherheit, Wohlstand und endlich Respekt verspricht. Diese unerträgliche Ergebenheit einer Mutter. Dieses permanente Daherbeten «Alles wird gut». Das «Sich Fügen in ein ausgemaltes Schicksal». «Stillhalten» ist auch der Zustand einer zu Stein gewordenen Ehe, des kranken Hundes im Zwinger vor dem Haus und der Situation, in der sich die alt und einsam gewordene Tamara befindet. Der kranke Jagdhund im Zwinger, seiner Bestimmung beraubt und nur seiner Krankheit wegen geduldet, wartet in seinem Geviert auf eine Ende ohne Schrecken.

Nina Jäckle überzeugt derart in Sprache, Feinheit, Konstruktion und Perspektiven, dass ich jedem das Buch mit Nachdruck empfehlen und in die Hände legen möchte. Allein die Verwandlung einer aufblühenden, jungen Tänzerin, die von ihrer Lehrerin ermuntert wird, im Tanz jene absolute Hemmungslosigkeit zu suchen, zur tief verletzten Ehefrau in einem Gefängnis der Lügen und Täuschungen, lohnt das Buch zu lesen. Eine Frau im Gnadenverliess, so wie der kranke Hund im Zwinger. Ein Buch voller Bilder mit Tiefenschärfe, voller Metaphern, Doppelbödigkeiten und sprachlicher Raffinesse. Super!

Nina Jäckle, 1966 in Schwenningen geboren, wuchs in Stuttgart auf, besuchte Sprachschulen in der französischen Schweiz und in Paris und wollte eigentlich Übersetzerin werden. Mit 25 Jahren beschloss sie aber lieber selbst zu schreiben, erst Hörspiele, dann Erzählungen, dann Romane. Ihre ersten Bücher erschienen im Berlin Verlag: »Es gibt solche«, »Noll«, »Gleich nebenan« und »Sevilla«. Bei Klöpfer & Meyer erschienen 2010 mit großem Erfolg ihre Erzählung »Nai oder was wie so ist«, 2011 ihr Roman »Zielinski« und 2014 der Roman »Der lange Atem«. Nina Jäckle erhielt zahlreiche literarische Auszeichnungen. Nina Jäckle ist Stipendiatin der Villa Massimo in Rom 2016/17.

«Der lange Atem» auf literaturblatt.ch