Romana Ganzoni «Die Taufe», Plattform Gegenzauber

An meine erste Taufe erinnere ich mich nicht. 1967, Scuol, Unterengadin. Sommer. Ich war wenige Monate alt, ein pausbäckiges Dutzendkind mit rabenschwarzen Augen. Von wem sind denn die? Auf den Fotos bettet mich meine schöne Mutter auf ihren Arm, sie trägt ein graues Deux-pièce, das man in den 60iger Jahren chic nannte, und auch meine Patin Miggi hält mich, die Halbschwester meines Vaters, die in der Familie als schön galt, in Wahrheit war sie recht gewöhnlich und dazu bösartig, aber sie war blond. In der Familie war nur sie blond. Neben Miggi steht mein Pate; er heisst Heinrich, genannt Bum-Bum, er ist Metzger, schnittlauchlang, dünne Arme, dünne Beine, mit Teigbauch, als hätte er einen dieser Sitzbälle, die später aufkamen, verschluckt, ein gutmütiger Pate, der viele Schnäpse verträgt und in der Nacht unter den falschen Fenstern singt.

Meine Taufe war, ausser dass ich in die Gemeinschaft der Gläubigen aufgenommen wurde, ein Skandal. Denn es war eine katholische Taufe, meine Mutter hatte das verlangt, aus Angst vor der Hölle, mein Vater hatte zugestimmt, mein Grossvater war auch gekommen, der alte Katholikenhasser mit dem edlen Profil. Mein Vater und mein Grossvater lachen nicht auf den Fotos. Und ich auch nicht. Ich weiss gar nicht, ob pausbäckige Kinder lachen können, die Backen, die allen als süss gelten, damit sie sie unter einem Vorwand zwicken können, belasten doch diesen kleinen Mund ungemein. Aber nicht die Nase, noch heute weiss ich, wie der reformierte Bart meines Grossvaters, den ich später Neni nannte, roch. Er roch streng. Ich liebte den Grossvater mehr als alle anderen. Ich sagte in der Primarschule: Wenn ich sterbe, holt mich der Neni ab. Das glaube ich auch heute noch.

Die zweite Taufe erlebte ich 2014 in Klagenfurt. Das ist eine Provinzstadt in Österreich. Schon wieder Sommer. Die zweite Taufe nach der ersten Taufe, die mich einst aufgenommen hatte in die Gemeinschaft der Gläubigen – fälschlicherweise sind damit die Christen gemeint. In Wahrheit wurde ich in die geschriebene und gesprochene Sprache aufgenommen, die niedergelegt ist im Alten Testament, ein ewiger Bund, dort liegt das Wort und dampft, es ist voller Zorn, voller Wucht und Kraft, es ist rücksichtslos und hart. Wo kommt es her? Von weit, du Anfängerin! – War ja nur eine Frage.

Ich war mit der ersten Taufe offiziell in die Gemeinschaft der Gläubigen aufgenommen worden, und ich wollte die Gläubigste sein von allen. Das Alte Testament nahm mich ins Wort auf, damit ich meinen Glauben ausdrücken konnte, das Evangelium nahm mich in seinen Schlepptau, und, siehe da, es erzählte die beste Geschichte von allen. Ich las und hörte zu. Ich glaubte alles, fragte mich aber, obwohl man das nicht darf: Wer erzählt hier? Wer schrieb auf? Der Meistererzähler, der Erzählmeister? Ja, ganz recht, Gott erzählt, sagte einer. Gott erzählt? Gott schreibt? Nein, nein, Gott schreibt nicht, er hat keine Hände, er diktiert nur. Aha. Das hiesse, alle Erzähler äffen ihn nach, es dürfte keine Geschichten geben. Selbst erzählen, falls das überhaupt geht, und schreiben wäre ein Verstoss. Oder aber: Gott erzählt uns alle Geschichten, wir schreiben sie nur auf? Dann blieben wir unschuldig.

Und was ist mit den schlechten Geschichten? Kommen die vom Teufel? Ja, die kommen vom Teufel oder von seiner vorwitzigen Grossmutter, sie ist die Gefährliche, weil sie so gefällig tut. Die schlechten Geschichten sind ein Hohn auf den Meistererzähler, sie äffen den Erzählmeister nach, man sollte die Ohren verschliessen, sie nie zu Ende hören oder lesen und niemals weiterempfehlen. Sind denn die schlechten Geschichten die bösen Geschichten oder was bedeutet schlecht? Schlecht bedeutet schlecht erzählt, nichts weiter. Schlecht erzählen ist des Teufels Grossmutter.

Die zweite Taufe, die in Klagenfurt am Wörthersee, war die Aufnahme in die Gemeinschaft derer, die alles aufschreiben – mit Lizenz von oben. Nennen wir die, die alles aufschreiben, die Schreiber und Schreiberinnen; es ist eine Kaste, nicht ganz oben angesiedelt und auch nicht ganz unten. Eine graue Mittelschicht aus Halbverhungerten.

Ich reiste nach Klagenfurt, weil ich in die Provinzstadt nach Österreich eingeladen worden war, im Restaurantwagen nach Salzburg ass ich drei Gänge, weil ich bald zu den Halbverhungerten gehören würde. In Klagenfurt stieg ich aus dem Zug und stand herum, ich wartete auf einen, der mich aufnehmen würde in die Gemeinschaft derer, die zum lebenslänglichen Diktat antreten wollen, die alles aufschreiben, die Geschichten erzählen, und dabei hoffen, sie seien nicht auf die vorwitzige Grossmutter des Teufels hereingefallen.

Ich wartete, aber es kam keiner, und als ich schon davon ausging, dass keiner komme, kam einer, er hiess Burkhard, er stammte aus Deutschland, das war klar, denn er sprach Deutsch und deutlich, in perfekter Intonation. Er dirigierte mich vom Bahnhof auf den Domplatz und sagte: Lesen Sie vor, was Sie geschrieben haben! Ich las vor, was dastand, und als die Geschichte zu Ende war, schaute Burkhard aus Deutschland mich böse an und sagte: Next please! Sein Wort dampfte, weil er mich Scheisse fand. Und der Gestank seines Wortes war so mächtig, dass ich auch zu stinken begann, deshalb begab ich mich gleich nach der Nichtaufnahme in die Gemeinschaft der Schreibenden in mein Hotel Zum goldenen Brunnen, um ein Bad zu nehmen, aber da ich den Hotelprodukten nicht traute, ging ich etwas benommen, aber sehr badewillig in die Kramergasse, wo ein Wunder geschah.

Adam kam auf mich zu. Er sagte, er sehe, dass ich seine Produkte brauche, er lotste mich in seinen Laden, aber ich wäre auch freiwillig mitgegangen. Als er sagte, er heisse Adam und wolle mich beraten, wusste ich, jetzt wird alles gut. Bevor ich etwas sagen konnte, hatte Adam mir die neuste Handcrème der Wundermarke Kedem angeschmiert, die er als galaktisch anpries, in Wahrheit war der Geruch aufdringlich, oberkünstlich und unangenehm, ich begriff, dass ich so richtig angeschmiert war, denn mir kam Burkhard in den Sinn, der mir die Lizenz verweigert hatte, obwohl ich die Gläubigste von allen war.

Hatte er das etwa gemerkt? War alles nur eine Prüfung? Versteckte Kamera? Hatte er Adam geschickt, um zu schauen, wie ich auf ein zweites künstliches Angeschmiertsein reagieren würde? Ich dachte nach.

Adam fragte, ob ich eine Antifaltenbehandlung wünsche. Er schaute mir tief in die Augen. Nein, danke. Adam hüpfte im Geschäft herum, die Handcrème hielt er für verkauft, statt 25 Euro 19 für die Dame. Okay. Ich sagte, ich wolle baden. Einen Augenblick und tadaaa, sagte Adam. Und schon stand dieser Tiegel mit dem goldenen Deckel Salt Scrub Peach & Honey vor mir. Um Gottes Willen, nein! Da las ich: Made in Israel.

Salt Scrub aus dem Heiligen Land. Das konnte kein Zufall sein, und auch nicht, dass es saftige 60 Euro kostete. Qualität kostet, biblische ist unbezahlbar. Adam winkte ab, wir schauen dann noch mit Preis, sagte Adam, ein Ungare, der out of the Blue sagte, es sei schwierig mit den Israelis, oioioi, sehr schwierig, geschäftlich, sagte er. Ich wollte etwas sagen und so ein bisschen in Richtung Ungarn verbinden, da stand bereits das zweite israelische Top-Produkt vor mir: Body Butter Kiwi. 60 Euro. Adam machte aus 145 Euro deren 90 und strahlte.

Ich bezahlte und hastete ins Hotel, wo ich mir ein Bad einlaufen liess. Ich legte mich ins lauwarme Wasser. Nach einer geschätzten Viertelstunde stand ich auf, ohne das Wasser abzulassen, und rieb mich mit dem Pfirsich-Honig-Meersalz ein, ich griff in die Dose und verteilte das teure Mousse grosszügig auf meinem Körper. Peeling, das muss sein, zwei Mal pro Monat, hatte Adam gesagt. Ich zog das durch mit der Schälkur. Ich rieb die ganze Dose ein, ein halbes Kilogramm. Aus Israel, dem Heiligen Land, für weniger als 60 Euro. Ich war rot wie ein Hummer. Hummer sind schöne Tiere, ich esse sie nicht.

Ich setzte mich ins Bad und tauchte unter. Ich tauchte auf und tauchte nochmals unter, ich hielt die Luft an, bis es eng wurde, dann tauchte ich wieder auf, um sehr schnell, mit halb gefüllter Lunge, wieder unterzutauchen. Ich tauchte auf und sagte: Ich taufe dich, Romana, im Namen von Ingeborg Bachmann, die dich höchstpersönlich aufnimmt in die Gemeinschaft der Schreibenden, auf keinen weiteren Namen, vergiss das mit dem Pseudonym, das ist affig, ich taufe dich, weil Ingeborg Bachmann dich für würdig befunden hat, einzutreten in die Welt der Schreibenden, als du heute Morgen ihre Gedichte lasest und weintest. Sie hat dich erkannt als grosse Gläubige. Ich ermächtige dich, Romana, das zu sagen und Geschichten zu schreiben, bis du tot umfällst. Du sollst das nicht nur tun, du musst das tun, ich befehle es dir.

Ich glaubte mir, stand auf, duschte, wusch mir die Haare mit dem Billigprodukt, das das Hotel mir überlassen hatte, und stieg aus der Wanne. Nun schmierte ich mich ein mit der Kiwibutter With Dead Sea Minerals and Shea Butter (Paraben-Free) von Kedem aus dem Heiligen Land, ich schmierte meine Seele, ich ölte mich und versiegelte meinen Leib.

Romana Ganzoniwurde 1967 in Scuol, Unterengadin, geboren, wo sie auch aufwuchs. Geschichts- und Germanistikstudium an der Universität Zürich, Aufenthalt in London. Nach zwanzig Jahren Tätigkeit als Gymnasiallehrerin widmet sie sich heute ganz dem Schreiben und lebt als freie Autorin in Celerina, Oberengadin. Seit 2013 Veröffentlichungen in Literaturzeitschriften. 2014 Teilnahme am Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb in Klagenfurt. Förderpreis des Kantons Graubünden. Seit 2015 Kolumnen in der Schweiz am Sonntagund im Kultur­Blog der Engadiner Post. «Granada Grischun» in der Reihe Edition Blau, Rotpunktverlag ist ihre erste Buchveröffentlichung.

Webseite der Autorin

Beitragsbild © Laura Giannini

Von Frankreich bis nach Paris, eine Nachlese zu den 17. Sprachsalz Literaturtagen in Hall in Tirol

So sehr es für viele ein Traum bleibt, ein Künstlerleben zu führen, so sehr versteigt man sich in der Vorstellung darüber, was und wie ein solches sein kann in romantisierten Vorstellungen, die mit der Härte der Wirklichkeit nichts zu tun haben. So sehr Japan für viele ein Land der Kirschblüten und Traditionen voller Grazie ist, so sehr ist dieses Land eines der Tabus. Marie Modiano und Durian Sukegawa sind sprachmächtige Türöffner.

Eine junge Frau zieht mit einer Theatergruppe kreuz und quer durch Europa. Später als Musikerin, Sängerin von einem Ort zum nächsten. Was mit dem Theaterensemble noch den Hauch von Nobles hatte, waren es doch Häuser mit Tradition und Hotels mit Stil, wird als Musikerin von Kleinbühne zum nächsten Spielort eine Odyssee der Trostlosigkeit. Nicht nur in seiner Kulisse, sondern weil sich im Leben der Frau die Liebe auf immer verabschiedete.

Marie Modiano und Thomas Sarbacher © Yves Noir

Er sei vor Einbruch der Dunkelheit zurück, hatte er gesagt. Valentine wartet, wartet lange. Sie blättert nicht nur in den verwaisten Schreibheften, sondern über Jahre in den Erinnerungen, in der Zeit, als ihre grosse Liebe mit seinem ersten Manuskript auf seinen ersten Erfolg als Schriftsteller wartete. Valentines Warten, aus dem sie sich in ihrem eigenen Leben längst herausgenommen hat. Die kleine Rolle, die man ihr im Ensemble gegeben und die sie über Monate zu spielen hatte, beweist ihr wie Jahre später das Singen vor fast leeren Rängen und desinteressiertem Publikum mit keine Faser, dass sie richtig lebt. Und als sich der Erfolg ihrer grossen Liebe dann doch einstellt, ist dieser diesem nicht gewachsen, er versinkt im Schmerz. Je mehr er sich von ihr physisch entfernt, desto intensiver wird die Erinnerung und das Sehnen nach jener schmalen Zeit des Glücks, irgendwo in der Vergangenheit.

«Ende der Spielzeit» ist die Geschichte einer Künstlerin, die sich mit ihrem Sehnen nach künstlerischen Ausdruck auf eine endlos scheinende Reise begibt. Mit dem Theater auf Bühnen in Lausanne, Hamburg, Zürich, Bochum, Wien oder München. Als Musikerin auch in die Provinz. Meist allein, allein mit sich selbst, unter den Scheinwerfern, auf einer Bühne, weit weg vom Publikum, ihnen allen etwas vorspielend. Eine junge Frau, die, wenn es nicht mehr zu vermeiden ist, möglichst Fragen stellt, um nicht über sich selbst sprechen zu müssen. Eine junge Frau, die in ihrer einzigen grossen Liebe, in ihrer allernächsten Nähe verletzt wurde und sich trotz Theater und Musik in sich selbst zurückzieht. Eine junge Frau, der man alles Zuhause genommen hat und die sich nur dort geborgen fühlt, wo Ruhe ist, im Schminkraum, in der Garderobe, im Hotelzimmer.

«Gewisse Momente im Leben dienen nur dazu, sich fast sofort in Erinnerungen zu verwandeln. Würde man versuchen, sie auszudehnen, verlören sie ihren Wert.»

Valentine reist von Ort zu Ort, ohne vorwärts zu kommen, in Rückblenden, die in anderer Perspektive erzählt sind. Verharrend, obwohl sie örtlich dauernd unterwegs ist. Kaum einem Menschen begegnend, ausser sie öffnet unvermittelt eine Tür, um einem fremden Leben mit uferloser Intensität ausgesetzt zu sein.
Ein unspektakuläres Buch, eine Reisebuch durch ein Leben, das mit einer Trennung aus dem Tritt geriet. Ein autofiktionaler Roman über die Härten eines Künsterlebens, der Sehnsucht nach tiefer Liebe.

Der Blick Marie Modianis während der Lesung der deutschen Stimme Thomas Sarbachers in die Runde der ZuhörerInnen, etwas wie ein Kontrollblick, ob und wie man reagiert. Sie ist amüsiert, wenn der Schauspieler dramatisiert, was die hexenähnliche Apothekerin mit den Raubvogelaugen krächzt oder der Wirt raunzt, als die Protagonistin in der Saufhalle eintrifft, wo das alte Klavier steht, dem sie Melodien entlocken soll.

Durian Sukegawa © Yves Noir

Durian Sukegawa gehört in Japan zu den ganz grossen, ist Verfasser von über 40 Veröffentlichungen, darunter Romane, Übersetzungen, Essays, Sience Fictions. Er schreibt, ist Musiker, Schauspieler, war Clown und Radiomoderator. Während einer solchen Radiosendung stiess er auf das Schicksal japanischer Leprakranker, die, selbst als sie gesund waren, von der Gesellschaft stigmatisiert mundtot gemacht, durch ein Gesetz von 1931 bis in die Neuzeit weggesperrt wurden. Nicht bloss diskriminiert, sondern hinter Hecken und Mauern eingesperrt und vergessen. Ein Tabuthema, das durch den Roman «Kirschblüten und rote Bohnen» zaghaft in das Bewusstsein der japanischen Gesellschaft eindrang, so explosiv, dass sich der Stammverlag des Autors erst weigerte, den Roman zu veröffentlichen.

«Kirschblüten und rote Bohnen», 2015 äusserst erfolgreich von der japanischen Regisseurin Naomi Kawase verfilmt, erzählt die Geschichte einer zaghaften Freundschaft zwischen dem Pfannkuchenbäcker Sentaro, der alten Tokue, die bei ihm zu arbeiten beginnt und den dahinsiechenden Laden zu neuer Blüte bringt, aber ein Geheimnis mit sich trägt, und dem Mädchen Wakana, das mehr als nur die Türen zu diesem Geheimnis öffnet.

Ich traf den japanischen Autor etwas abseits in der Hotellobby, in der das Festival stattfindet in sein Mobiltelefon vertieft. Aber als ich in bat, die beiden mitgebrachten Romane zu signieren, gehörte die dezidiert konzentrierte Aufmerksamkeit ganz mir, dem Leser, der seine Geschichten mag, die Melancholie, den nicht zu brechenden Glauben an das Gute im Menschen und das Wissen, dass wahre Grösse in den kleinen Gesten steckt. Zwei Stunden später ist der Pullover und die Jeans in Jacket und Bügelfalte getauscht, ein akkurat gefaltetes Stofftaschentuch neben dem Mikrofon platziert und die mehr als hundert Anwesenden lauschen den Geschichten um Kirschblüten und rote Bohnen. Unbedingt lesen (Buch) und schauen (Film).

Trailer zu «Kirschblüten und rote Bohnen»

Ich danke Heinz D. Heisl, Max Hafele, Magdalena Kauz, Urs Heinz Aerni, Ulrike Wörner, den Machern von Sprachsalz.

Beitragsbild: Ernst Molden © Denis Moergenthaler (Ernst Molden mit einem poetischen und musikalischen Blick auf seinen Wiener Kosmos, dem er zahlreiche Liebeserklärungen widmete.)

Franco Supino «Wie die alten Römer», Plattform Gegenzauber

Sie war hübsch, schlank, weiblich und auf den zweiten Blick weniger jung, als er angenommen hatte.
Darf ich Sie zu einem Kaffee einladen.
Nein.
Darf ich Sie ein ander Mal zu einem Kaffee einladen?

Er hielt sich für einen Mann ohne Plumpheit. Für einen, der so etwas nicht nötig hat. Wenn nicht irgendeinmal alle Frauen, die ihm in Reichweite schienen, vergeben oder verbraucht gewesen wären. Und ein Freund ihn nicht gefragt hätte: Wozu kaufst du eigentlich diese blöden Lotterielose, du weist ja, dass man nie gewinnt.
Ich glaube nicht ans Glück, sagte er sich. Aber an den Zufall. Alles ist Zufall.

Also begann der Glücklose hin und wieder auf gut Glück Frauen anzusprechen. Ohne Not. Er war nicht ungern allein und nicht ungern ungebunden. Und er fühlte sich jung.
Das musste auch die schöne Mittvierzigerin spüren. Die sich noch nie von einem Wildfremden auf einen Kaffee hatte einladen lassen. Klar. Dafür hatte er einen Sinn. Sie hatte keinen langweiligen Mann und keine lästigen Kinder zuhause. Sie kam zurecht im Leben, auch ohne ihn.
Auf einen Kaffee?
Er gab ihr seine Nummer und war sich sicher, dass sie sich nicht melden würde.

Bald hatten sie alle Schranken überwunden und wurden ein Paar.
Dass es so gekommen war: Zufall! Glück!
Sie war auch für den erfahrenen Mann aussergewöhnlich. Ihr Berufsweg beispielsweise: Nach dem Abitur Schreinerlehre (weil sie keine Erwartungen als Tochter und Frau mehr erfüllen mochte). Dann Psychiatriepflegerin. Überstürzte Heirat mit einem genialen geisteskranken Fotografen. Vier Jahre Leidenszeit mit tragischem Ende. Flucht. Reisen. Zu Fuss durch Usbekistan allein als Frau. (Das ist ganz anders, als du dir das vorstellst. Was du vielleicht über solche Länder gehört hast. Absolut ungefährlich und vor allem herzlich, menschlich bereichernd). Zurück und unklare berufliche Ambitionen. Meeresbiologie nach zwei Semestern abgebrochen. Dann Jusstudium in Rekordzeit bis zur Promotion. Arbeitete jetzt für eine Menschenrechtsorganisation in Genf. Dass sie an dem Tag in dem Tram sass: Zufall. Sie hatte eine Gastprofessur an der Uni inne, meist fuhr sie am gleichen Tag zurück. Manchmal blieb sie über Nacht in einem Hotel und fuhr erst am Morgen. Die Mutter lebte in einem Pflegeheim ausserhalb der Stadt. Deshalb dachte sie darüber nach, sich hier eine Wohnung zu mieten und zu pendeln.

Sie sahen sich wöchentlich. Manchmal an Wochenenden. Als ihr Lehrauftrag auslief, überraschte sie ihn. Sie hatte für sich eine kleine Wohnung gefunden. Die in Genf behielt sie. Sie hätte auch bei ihm einziehen können, aber das wollte sie nicht.

Er fuhr nie zu ihr. Hatte keinen Sinn. Sie hätte keine Zeit gehabt. Sie war weltweit unterwegs, stark eingebunden. Imponierend. Und dass sie trotzdem immer wieder Zeit für ihn und ihre demente Mutter fand, herfuhr. Sie war ein Juwel. Er hat einfach Glück gehabt. Nicht das Millionenlos-Glück. Das einfache, unerzwingbare Glück.

Sie war auch deshalb schön, weil sie nicht perfekt war. Ihr Busen und ihre Pobacken hingen. Wenig, aber deutlich. Es machte ihn fast verrückt vor Lust.
Er hatte immer schönere Frauen gehabt. Sportlich, durchtrainiert, wie er. Noch nie fühlte er sich körperlich so angezogen.
Er erkannte sich nicht mehr. Er musste sich nicht rechtfertigen. Sie wies ihn nicht zurück. Auch wenn er ein zweites Mal. Ausser einer Spur Ungeduld, wenn es etwas länger dauerte, meinte er nichts wahrzunehmen.
Nicht dass er das Gefühl hatte, es mache ihr Freude, sie brauche das.
Es hätte demütigend führ ihn sein können. Anstrengend. Er war sich gewohnt gewesen, Frauen auf Händen zu tragen, und doch stets das Gefühl vermittelt zu bekommen, sich nicht genug zu bemühen.
Bei ihr war es nicht so. Sie fand etwas in ihm. Irgendetwas, das sie schätzte, brauchte und dass ihn keine Anstrengung kostete. Auch wenn er nicht wusste, was es war. Es war so. Was wollte er mehr? Wozu grübeln?

Glück macht nicht misstrauisch, das weiss man. Wir passen einfach zusammen, sagte er sich. Glück macht blind und dumm? Von mir aus.

Einmal reiste er zu ihr nach Genf. Er verbrachte während einer UNO-Konferenz einen Tag in ihrer Nähe. Sie stellte ihn als Mitarbeiter vor. Sie nahm ihn zu Meetings mit. Acht zählte er bis am Abend. Es war ein sehr erfolgreicher Tag, bilanzierte sie spätabends. Zur Feier führte sie ihn in ein Sternelokal. Ich habe den ganzen Tag kaum was gegessen, sagte sie. Er schon. An jedem Meeting gab’s Essen und er langte immer zu. Sie liessen sich ein Mehrgang-Menu auftragen. Hummer, Kaviar, Gänseleber, Taubenbrüstchen. Einfach nicht zu viel von den leckeren Brötchen essen, sagte sie, sonst schläfst du schlecht. Und nicht zu viel Wein!
Er schlief misserabel. Er hatte viel zu viel gegessen.
Sie musste am nächsten Tag früh raus. Er wollte nichts Frühstücken. Er sah sie am Tisch sitzen und sich Brötchen schmieren. Ich fahre gleich heim, sagte er.
Vielleicht ein kurzer Spaziergang durch Genf?, schlug sie vor.
Vielleicht. Zum Jet d’eau. Den hat er noch nie gesehen.

Er betrachtete den Jet d’eau. Das Essen des gestrigen Tages lag ihm schwer auf.
Er sah und verstand.
Zufall? Nein.
Glück? Sicher nicht.

Als er zuhause ankam, fuhr er zu ihrer Wohnung und wühlte im Müll. Leer-Packungen von Fertigprodukten, Keksen, Schokolade.
Der Kühlschrank voll. Der Vorratsschrank voll. Der Tiefkühler voll.
Er entdeckte, was er längst wusste.
Bevor sie zu Bett kam, war immer sie immer als letzte im Bad, erinnerte er sich. Er hörte den Strahl plätschern. Das Würgen, wenn er vor die Tür stand. Erinnerte sich, wie er kehrt machte und sich wieder hinlegte. Und hörte, wie sie spülte und spülte.
Dass sie nach jedem Essen, auch auswärts, in der Toilette verschwand. Manchmal auch zwischen den Gängen.
Sie mache sich frisch, liess sie ihn glauben. Sie putze sich die Zähne.

Er überlegte. Was mache ich jetzt?

Er habe schon etwas vor, gab er vor, als sie das nächste Mal anrief und herfahren wollte.
Sie schlug vor, zusammen in den Urlaub zu fahren.
Er war einverstanden. Auch, dass sie ihn einlud.
Skiurlaub, eine Woche. Luxushotel mit Wellnessresort. Tolles Frühstück, Mehrgangmenu am Abend. Mittagessen auf der Piste.
Viel frische, kalte Luft. Viel Sex.
Seine Nerven wurden strapaziert.
Er schwieg, wenn sie nach dem Frühstück gleich wieder alles erbrach, was sie zu sich genommen hatte, und dann im Zimmer in einen vom Buffet geschmuggelten Apfel biss.
Eine Provokation?
Sie sah gut aus, sie war lieb, herzlich. Sie machte ihn verrückt.
Ach, dachte er, was soll ich tun? Sie im Klo überraschen? Blossstellen?
Er sah die Fäden im Klo, die der Magensaft hinterlässt, auch wenn sie zweimal spült und die Schüssel fest schrubbt.

Zuhause nahm er sich vor, sie darauf anzusprechen. Wenn sie das nächste Mal herfuhr. Ganz sicher. Nur schon aus Respekt sich gegenüber.

Er wolle mehr von ihr erfahren, sagte er.
Wie mehr erfahren?
Alte Fotos anschauen zum Beispiel.
Ok. Sie brachte Alben mit. Sie als Teenager.
Sie lacht auf vielen, hat verfärbte Schneidezähne.
Ja, die Zähne seien ihr Schwachpunkt.
Jetzt sind die Flecken weg. Wie ist das möglich?
Sie habe Magenprobleme. Seit jeher, sicher seit sie 13 ist. Magensaft steige oft in ihre Mundhöhle und greife die Zähne an. Deshalb habe sie sich Kissen auf die Zähne auftragen lassen. Dieser Aufbau helfe, die Zähne zu erhalten, und habe auch gleich noch kosmetische Wirkung.

So lang geht das schon so?
Er sprach ruhig, ohne eine Spur von Vorwurf. Seit du 13 bist? Du musst zum Arzt, sagte er. Dringend.
Was meinst du? fragte sie.
Was wohl! Ich halte das nicht aus. Verstehst du? Das kann man nicht aushalten.
Du irrst dich. Sie lächelt.
Es ist ihm, als würde sich das nicht zum ersten Mal zu jemandem sagen. Als sei sie gut vorbereitet.
Ich habe dir doch erzählt, dass ich Magenprobleme habe. Von klein auf. Immer, wenn ich esse, habe ich dieses saure Aufstossen. Und dann muss ich ein bisschen was rausgeben. Aber nur wenig. Ich bin deswegen auch schon in ärztlicher Behandlung. Ich bekomme mein Problem zunehmend in den Griff, sagt auch mein Arzt. Glaub‘ mir.

Er hatte einen trockenen Mund.
Und was sind die leeren Packungen in deinem Abfall? Die vollen Vorratsschränke, die überfüllte Tiefkühltruhe? Er sollte etwas trinken. Er sagte nichts. Möchte er ihr glauben?
Es ist nicht, wie du denkst, sagte sie. Lachte auf. Ich brauche keinen Finger in den Rachen zu stecken und schon gar keine Gänsefeder wie die alten Römer. Sie schüttelte den Kopf. Ist das wichtig? Liebst du mich denn nicht mehr?
Er hat immer noch diesen trockenen Mund.
Ist vielleicht besser, sagt sie, wenn du heute Nacht bei dir schläfst.
Sie wird sich Töpfe aufsetzen, Mikrowelle einschalten, sie wird essen zubereiten, kiloweise, schlingen, wieder auswerfen, dachte er auf dem Heimweg.

Reiche Römer, las er zuhause nach, sollen in ihren Villen eigentliche Vomitorien eingerichtet haben. Archäologische Nachweise fehlen allerdings. Man kann eher davon ausgehen, dass die alten Römer zum absichtlich herbeigeführten Erbrechen die Latrina verwendeten.

Franco Supino, geboren 1965 in Solothurn, wuchs als Kind italienischer Eltern zweisprachig auf. Studium der Germanistik und Romanistik in Zürich und Florenz. Heute lebt er in Solothurn und unterrichtet an der Pädagogischen Fachhochschule. Franco Supino erhielt zahlreiche Preise, u.a. den Preis für Literatur des Kantons Solothurn 2001.

Webseite des Autors

Nur ein Schritt bis zum Reptil: «Das Eidechsenkind» von Vincenzo Todisco

Was für ein Geschrei jedes Jahr um publikumswirksame Buchpreise. Dabei ist genau das die erklärte Absicht. Nur wenn Bücher ins Gespräch kommen, nur wenn über sie geschrieben, nachgedacht, gefeilscht und verhandelt wird, dann dient dem Buch sogar das Theater, der Beleidigte, der Verkannte, die Vergessene. Sei es der Schweizer, der Deutsche, der Österreichische Buchpreis, sie alle haben das Ziel, herausragenden Büchern grösstmögliche Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit zu verschaffen.

Ein bedeutsamer Aussenseiter im Rennen um den Schweizer Buchpreis 2018 ist der Bündner Vincenzo Todisco mit seinem Roman «Das Echsenkind». (Rezension auf literaturblatt.ch vom 20. Juni 2018)

In den 70er Jahren gab es für einen «Gastarbeiter» in der Schweiz drei Möglichkeiten; Er arbeitete in der Fabrik, im Gastgewerbe oder auf dem Bau. «Gastarbeiter» ist und war eine reichlich unzutreffende Bezeichnung, hatte die arbeitenden Gäste doch kaum Rechte, verdienten weniger als ihre heimischen Kollegen und waren gesellschaftlichen und politischen Anfeindungen ausgesetzt. Vincenzo Todiscos Vater arbeitete u. a. im Hotel Palace in Luzern. Wenn der Vater abends müde nach Hause kam, erzählte er von den berühmten Gästen im Hotel, erinnert sich Vincenzo Todisco. Zum Beispiel von Herbert von Karajan – und davon, wie Vincenzo und seine Geschwister einmal in der Woche in den Badewannen des Luxushotels baden durften, selbstverständlich nur durch die Hintertür.

Vincenzo Todisco bezeichnet sich selbst als Musterbürger; vorbildlich integriert, alle vier Bündner Sprachen sprechend: italienisch, rätoromanisch, deutsch und Mundart. Deutsch lernte man damals ab der vierten Klasse mit einem Lehrmittel, das «Deutsch für Ausländer» hiess. Italienisch, jene Sprache, in der Vincenzo Todisco seine ersten vier Romane veröffentlichte («Das Krallenauge», «Wie im Western», «Der Bandoneonspieler» und «Rocco und Marittimo») bezeichnet der Autor als seine «Bauchsprache», die Sprache der Erinnerung. Deutsch ist «Kopfsprache», die Sprache der Rationalität. Irgendwann, so der Autor, war da das Bedürfnis, aus der Kopfsprache eine zweite Bauchsprache zu machen.

1961. In einer abgeschlossenen Wohnung im «Gastland» misst ein kleiner Junge in der Dunkelheit die Schritte durch die abgedunkelte Wohnung, während Mutter und Vater arbeiten. Bis 2002 galt in der Schweiz das «Saisonstatut», mit dem man ausländische Arbeitnehmer unter unwürdigen Umständen amtlich zur Unterschicht stempelte. Nicht zuletzt zwang man sie mit diesem Statut, ihre Kinder vor dem Auge der Öffentlichkeit und der Ämter zu verstecken. Die Geschichte der «versteckten Kinder» tauchte im Leben Vincenzo Todiscos immer wieder auf, bis er sich dazu entschloss, sich mit dem Abschluss einer eigentlichen Trilogie dem Thema literarisch auszusetzen.

Aus dem Es, dem kleinen Kind, wird ein Junge, ein junger Mann, ein Er. Eine Geschichte im Kosmos Haus, einer Wohnung, einem Zimmer, einem Schrank, im Dunkeln eines Verstecks. Die Chronik eines Hauses, in dem «nichts» geschieht, die Chronik eines «Stillstands», alles aus der Perspektive eines Kindes erzählt und doch nicht in der ersten Person. Ein Kind ohne Vergangenheit und Zukunft, eine Existenz im Schatten des Lebens.
Der Junge wird älter und beginnt im Verborgenen über die Wohnung seiner Eltern hinaus das Haus zu erkunden. Er schleicht sich in andere Wohnungen, lernt auf seinen Streifzügen Menschen kennen; den kalten Jungen, den Professor.

«Das Eidechsenkind» überzeugt durch seine Perspektiven, die Unmittelbarkeit, die detailgenauen Nahaufnahmen, durch starke Sprachbilder aus der Sicht eines Wesens, das eingesperrt ist in einem Haus und in sich selbst. Ein Kind, das sich geräuschlos zu bewegen lernt, wie eine Eidechse, die in Ritzen verschwindet, wenn Gefahr erscheint. Ein Bild, das an Anne Frank erinnert, wenn auch in einem ganz anderen Kontext.

Vincenzo Todisco, 1964 als Sohn italienischer Einwanderer in Stans geboren, studierte Romanistik in Zürich und lebt heute als Autor und Dozent in Rhäzüns. Für sein literarisches Schaffen wurde er 2005 mit dem Bündner Literaturpreis ausgezeichnet. Im Rotpunktverlag liegen seine Romane in deutscher Übersetzung vor. „Das Eidechsenkind“ ist seine erste Buchveröffentlichung auf Deutsch.

„Stories!“

Yaël Inokai las aus „Mahlstrom“ und die Musiker Christian Berger und Dominic Doppler interagierten mit ihrem Sound auf das, was die Autorin mit ihrem Text preisgab. Ein ganz spezielle Abend in einem ganz speziellen Ort. Hier die ersten Eindrücke:

«Einen anderthalbstündigen Spaziergang in meinem Buch. Mit dabei: Christian Berger und Dominic Doppler, die musikalisch den Weg bereitet haben. Laufen, gehen, stehen bleiben, anschauen, weitergehen, staunen … ohne Fragen, ohne Erklärung. Weil Literatur auch manchmal einfach da sein muss. Werde ich nicht vergessen.» Yaël Inokai

Bilder: Sandra Kottonau

Yaël Inokai liest, Christian Berger und Dominic Doppler im musikalischen Austausch

Am Samstag, den 9. Juni 2018 liest die aus Berlin angereisende Schriftstellerin Yaël Inokai (Schweizer Literaturpreis) zusammen mit dem Musikerduo STORIES aus ihrem preisgekrönten Roman „Mahlstrom“. Die Lesung im Theater 111 in St. Gallen beginnt um 20 Uhr. Türöffnung ist um 19 Uhr.

Die Lesung mit Yaël Inokai ist die erste einer ganz speziellen Reihe, die Literatur mit improvisierte Musik verbinden will. Auch in den folgenden Lesungen agiert STORIES mit Aria Lobsiger (Jakob bleibt), Dana Grigorcea (Die Dame mit dem maghrebinischen Hündchen), Julia Weber (Immer ist alles schön) und Noëmi Lerch (Grit) über Herbst und Winter fortgesetzt (weitere Informationen hier).

Christian Berger (Saiteninstrumente) und Dominic Doppler (Percussion) sind zwei Klangforscher, die nicht bloss den literarischen Text musikalisch illustrieren. Musikimprovisation soll in einen Dialog mit dem gelesenen, vorgetragenen Text treten. Die Musik reagiert auf den Text, entgegnet ihm, Zwiespache haltend. Im Idealfall sogar soll die Musik auf das Auftreten der Autorin reagieren. Christian Berger und Dominic Doppler beschäftigen sich dabei im Vorfeld intensiv mit den gemeinsam vereinbarten Textstellen aus den jeweiligen literarischen Texten. Trotzdem bleibt viel Freiheit, viel Risiko, viel Abenteuer, sowohl für die Akteure im kleinen Theater 111, wie die Zuschauerinnen und Zuschauer, die sich dem Wagnis aussetzen werden. (Wie klingt die Musik? Hören Sie hier.)

Yaël Inokai, (vormals Pieren) geboren 1989, arbeitete als Fremdenführerin. Sie veröffentlichte in verschiedenen Literaturzeitschriften und war Hildesheimer Stadtschreiberin. Nach ihrem viel beachteten Debüt „Storchenbiss“ (2012) legte sie 2017 mit „Mahlstrom“ ihren zweiten Roman vor. Barbara, die sich mit zweiundzwanzig im Fluss ertränkt. Ihr Tod, der im ganzen Dorf die Telefone schellen lässt, bringt die anderen zum Reden. Mahlstrom erzählt die Geschichte sechs junger Menschen, die in einer dicht verwobenen Dorfgemeinschaft herangewachsen sind. Zugleich geschützt und bedroht von den engen Banden, sind sie im Erwachsenenleben angekommen und stecken doch noch knietief in ihrer Kindheit. Erst Barbaras Selbstmord bringt den Stein ins Rollen und zwingt die Übriggebliebenen, sich mehr als zehn Jahre nach dem Verbrechen dem Geschehenen zu stellen.

Beginn der Lesereihe (Lesereise) im Theater 111, St. Gallen

Am Samstag, den 9. Juni ist es soweit. Yaël Inokai liest im Theater 111 in St. Gallen aus ihrem preisgekrönten Roman «Mahlstrom». Eine Lesung, in der sich Literatur und Musik begegnen. Christian Berger (Saiteninstrumente) und Dominic Doppler (Percussion) garantieren zusammen mit der Autorin für ein besonderes Hörvergnügen!

aus der aktuellen Nummer des Ostschweizer Kulturmagazins «Saiten»

Pascale Kramer „Autopsie des Vaters“, Rotpunktverlag

Pascale Kramer zog mit 26 nach Paris. Heute zählt sie zu den grossen Autorinnen der Schweiz, trotzdem. Vielleicht gerade deshalb, weil sie den „Blick von aussen“ an sich schulte. „Eine Meisterin der Zwischentöne, des beredten Schweigens, der ‚non-dits‘. Eine, die die Zeichen der Zeit – und des Zeitgeistes – virtuos dechiffriert“, so Bundesrat Alain Berset anlässlich der Verleihung des Schweizer Grand Prix Literatur 2017.

In den Romanen Pascale Kramers geht es immer ums Ganze. Keine einfachen Geschichten, nichts Episodisches. Keine Lektüre, mit der es sich so einfach unterhalten lässt. Kein papierner Fastfood. Pascale Kramer spürt der Zeit auf den Nerv. So auch in ihrem neuen Roman „Die Autopsie des Vaters“.

Gabriel tötet sich selbst. Er schluckt Glasscherben. Seine viel jüngere Lebenspartnerin Clara findet ihn in seiner kleinen Zweitwohnung in der Stadt. Clara telefoniert Ania, Gabriels einzigem Kind, die seit Jahren den Kontakt zu ihrem schwierigen Vater verloren hat. „Ihr Vater ist heute nacht in seiner Wohnung in Monceau gestorben.“ Ania hört die Stimme und sieht auf ihren tauben Sohn, der genau zu spüren scheint, dass etwas eingebrochen ist. Ania lässt ihren Sohn in fremder Obhut und fährt nach Monceau. Ein Treffen mit Clara. Ein Treffen mit einer Fremden, die die Frau ihres Vaters war, eines Fremdgewordenen. Erst recht in den Jahren des gegenseitigen Schweigens, als sie in der Presse von ihrem Vater las. Vom langsamen Abrutschen bis zur endgültigen „Entgleisung“, als Gabriel von seinem Landhaus aus öffentlich Partei ergreift für zwei junge Einheimische, die unweit von seinem Haus einen afrikanischen Sans-Papiers brutal zusammenschlagen und ertränken. Ein Skandal.

Wider Willen kehrt Ania in ein Leben zurück, von dem sie sich schon als Kind loszureissen versuchte, von einem Vater, der sie nicht verstehen wollte und konnte. Nicht ihre Mühen in der Schule, nicht ihre Distanziertheit in der Zeit im Internat, nicht ihre Liebe und Ehe mit Novak, einem Serben und schon gar nicht ihren tauben Sohn Théo. Ania kehrt zurück in ein Leben, von dem sie sich mit aller Kraft getrennt hatte, in die Nähe eines Vaters, der sich mit seinem Freitod ganz ihrem Verständnis entzog. Die zurückgelassene Unordnung ihres Vaters hatte sich mit seinem Tod noch weiter verschoben. Als hätte ein Erdbeben in bodenloser Tiefe die Schichten darüber so sehr verückt, dass nichts mehr zusammenfinden kann, nichts.

Der Roman gipfelt in den Vorbereitungen zum Begräbnis in Gabriels Haus. Dort sammelt sich das Personal eines Dramas, als wäre es das Setting eines Film noirs. Dort prallen Welten aufeinander, die weiter nicht entfernt sein könnten. Um das Haus rottet sich der Hass, im Haus Missverständnis und tiefes Misstrauen. Und mitten im Geschehen Ania, eine zu tiefst verunsicherte Frau, die zusehen muss, wie selbst die innige Zweisamkeit mit ihrem Sohn Théo am Riff des Vaterhauses zu zerbrechen droht. Erschüttert von einer Mischung aus Hilflosigkeit und nagenden Schuldgefühlen.

Pascale Kramer schildert die Zerrissenheit einer ganzen Gesellschaft, das Gift alter Verletzungen, die Verheerungen Unausgesprochenem. Die Autorin richtet ihren Fokus genau dorthin, wo man viel zu schnell in Versuchung gerät wegzuschauen. Und das alles in einer Sprache, die mich staunen lässt. Pascal Kramer kann in einem einzigen Satz ganze Geschichten erzählen, Türen aufreissen, epische Hintergründe aufblitzen lassen. Sie beschreibt Stimmungen, Szenen und Situation derart gekonnt, dass man die sinkenden Temperaturen zu spüren glaubt.

Grosse Literatur einer grossen Autorin!

Pascale Kramer, 1961 in Genf geboren, hat zahlreiche Romane veröffentlicht, für die sie mehrfach ausgezeichnet wurde. Aufgewachsen in Lausanne, verbrachte sie einige Jahre in Zürich und ging 1987 nach Paris, wo sie auch heute lebt und arbeitet. Mit ihrem vierten Roman „Die Lebenden“ (Prix Lipp Suisse), 2000 in Frankreich und 2003 erstmals auf Deutsch in der Übersetzung von Andrea Spingler erschienen, kam der literarische Durchbruch. Im Rotpunktverlag liegt außerdem „Die unerbittliche Brutalität des Erwachens“ (2013) vor, für den ihr der Schillerpreis, der Prix Rambert und der Grand Prix du roman de la SGDL zuerkannt wurde. 2017 konnte Pascale Kramer mit dem Schweizer Grand Prix Literatur erstmals eine Auszeichnung für ihr Gesamtwerk entgegennehmen.

Zur Übersetzerin: Andrea Spingler, geboren 1949 in Stuttgart, ist seit 1980 als freie Übersetzerin tätig. Sie hat unter anderem Werke von Marguerite Duras, Alain Robbe-Grillet, Patrick Modiano, Jean-Paul Sartre, André Gide ins Deutsche übertragen. 2007 wurde sie mit dem Eugen-Helmlé-Preis für herausragende deutsch-französische Übersetzungen ausgezeichnet, 2012 mit dem Prix lémanique de la traduction. Sie lebt in Oldenburg und Südfrankreich.

Ein wunderbares Filmporträt über Pascale Kramer

Informationen zu Pascale Kramer und ihren Roman „Die unerbittliche Brutalität des Erwachens“

Titelfoto: Copyright: BAK/Corinne Stoll