Michael Stavarič «Gretchen», Plattform Gegenzauber

Gleichwohl mich mit dem Fräulein Gretchen neuerdings wieder gelegentliche und im sommerlichen, ja sommerlichst sich gebärdenden Gastgarten vor sich hinplätschernde Gesprächsfetzlein verbanden, konnte dieser Umstand nicht darüber hinwegtäuschen, dass ich keinerlei wie auch immer beschaffenen Boden gegenüber anderen herausgeputzten, geschniegelten und -striegelten Stammgästen gewann, im folgenschwereren, ja substanzielleren Sinne schien ich keinesfalls dazu erkoren, mich in Fräulein Gretchens Gunst über ein Mindestmaß an kalkulierten, einstudierten Höflichkeiten und sachtem, wenn nicht gar sachtestem Schultergeklopfe hinauszubewegen, wie wohl ich eine jede sich bietende Gelegenheit, freilich ohne den damit verbundenen Aufdringlichkeiten und Schlüpfrigkeiten, denen man als Mann in solcherart Situation leicht anheim zu fallen drohen könnte, zu ergreifen wusste, welche mein ungezügeltes Bestreben, dem Fräulein Gretchen in empfindsamer und gewiss doch amikalerer Weise näher zu sein, zu befördern vermocht hätte, und welches zu befördern ich mich insgesamt äußerst entschlossen zeigte, etwa im wiederholten Erwerb gelegentlicher Lottoscheine, Rubbellose und ähnlichen Strohhalmen, gar der ordinären Teilnahme an allerlei zum gewichtigen Teil mehr denn peinlichen Preisausschreiben, welche mich in die Position versetzen sollten, meine angespannte, pekunäre Lage zu stabilisieren, um dem Fräulein Gretchen ein obligatorisches Mindestmaß an Prunk und Komfort bei etwaigen mir vorschwebenden Unternehmungen anzudienen,

sie etwa zu einem mehrgängingen und -stündigen Essen in ein deliziöses Haubenlokal auszuführen, sie zu einer Landpartie oder entsprechend gelagerten Aktivitäten einzuladen, insbesondere nach ihrer unglücklich, gewiss unglücklichst verlaufenen Bindung und Scheidung vom vermeintlichen Traummanne, ein Umstand, der meine demütigen und zarten Avancen ohnedies für geraume Weile im Keim erstickte, freilich meine ich damit nicht etwa die überstürzte Trennung der einstigen Turteltäubchen, die mich aus einer ohnedies von Hinder- und unliebsamen bis unliebsamsten Vorkommnissen gepflasterten Bahn warf, selbstredend beziehe ich mich auf das vorschnelle, Hals über Kopf um- und mir in der Gaststätte vorgesetzte Heiratsgeplänkel, welches seinerzeit meinen fragilen Geist, diesen in pechschwarze und pechschwärzteste Löcher einer plötzlich über mir einstürzenden Gegenwart versenkend und ihn in Höllenglut ertränkend und schwenkend, regelrecht überrollte,

und doch ging es selbst nach einem solchen Lebensab-, ja eigentlich denkbar unerquicklichsten –einschnitt weiter, das Fräulein Gretchen tauchte, nachdem sie gut zwei Jahre von der Bildfläche verschwunden blieb, eines heiteren Tages erneut in meinem mir durch die überhastete Vermählung fortan durchwegs vergrämten, ja geradezu vergällten Stammlokal auf, nunmehr vom ehelichen Hafen und den damit verbundenen Pflichterfüllungslosungen losgeeist, allmählich und sukzessive  gesündere, ihr zuträglichere Gesichtsfarbe gewinnend oder sich zulegend, und unsere gelegentlichen Unterredungen nahmen nochmalig Fahrt auf, das Bier mundete mir tatsächlich auch wieder besser, wie wohl ich nicht hätte behaupten können, in jener schmählichen Unzeit, in der sich das Fräulein Gretchen verschwunden zeigte, weniger Alkohol konsumiert zu haben, doch trat ich meinen ungebrochen geregelten Gang in die Gastwirtschaft nunmehr abermals zügiger und leichteren Schrittes an, eines im Wesentlichen nicht unverdienten Tages sogar mit einem gewonnenen Preisausschreiben in der Hand wedelnd, einen luxuriöseren, dreitägigen Aufenthalt in einer Suite für zwei Personen in Hallstatt am gleichnamigen See im Hotel Grüner Baum hätte ich eingeheimst, es stand dort schwarz auf weiss protokolliert,

woraufhin ich das Fräulein Gretchen bei der nächsten sich bietenden Gelegenheit hierzu invitierte, freilich unentwegt beteuernd, ja nahezu beeidigend, dass sie im Falle einer Zusage als Reisebegleitung selbstredend ein ganzes Gemach für sich allein zur Verfügung gestellt bekäme, ich selbst würde in besagter Suite schon noch ein Sofa oder anschmiegsames Kanapee auffinden, im geräumigen Vor- oder, wie bei begüterten, ja betuchtesten Gästen in solchen Etablissements üblich, Empfangsraum zweifelsohne, zur Not gäbe es gewiss auch zwei, drei schaumstoffgepolsterte und wohlparfümierte Liegen am Balkon, ich schliefe überaus gerne an der frischen Luft und wüsste auch sonst niemanden, den ich zu einer solchen Ausflugsfahrt und Sommerfrische hätte mitnehmen können, ich versicherte dies glaubhaft und in aller Ausführlichkeit, und bevor ich zu weiteren, noch umfangreicheren Schilderungen, An- und Lobpreisungen der Vorzüge jener noblen, grünbäumlichen Residenz und des unleugbar weltmännischen Aufenthaltes in Hallstat ansetzte, erwiderte sie freudig schnurrend, dass sie schon immer einmal die dortige, historisch unersetzliche Altstadt samt Beinhaus hatte auf- und besuchen wollen, und sie sich recht problemlos ein paar Tage in der Gastwirtschaft freinehmen könne, sofern ich dies nicht überall herumposaune, darüberhinaus sei sie sich gewiss, dass ich durchaus ein zwar legerer, allerdings restlos Gentleman sei, meine hervorquellende Belesenheit und grundsätzliche Pfiffigkeit käme ja nicht von ungefähr … was ich alles nicht mehr so im Detail wahrnahm, wo ich doch bereits in einer sich selten genug einstellenden Glückseligkeit schwelgte, meinen oft genug von widrigen und widrigsten Lebensumständen gepeinigten Geist darin tauchte, ich und das Fräulein Gretchen als künftige Reisegesellschaft, es war nicht auszudenken und demnach den vermaledeiten Preisausschreibungsfirlefanz und Lottoschwachsinn wert gewesen,

gleichwohl ich dieses spielsüchtige Verhalten bereits wochenlang stark in Zweifel gezogen und auf den auschweifenderen Alkoholkonsum zurückgeführt hatte, ich meine, als ob ich je vom Glück verfolgt oder sonstwie bevorzugt gewesen wäre, nichts und niemand hatte mir zeitlebens je etwas geschenkt, noch hatte ich jemals etwas Nennenswerteres gewonnen (einmal einen Kanarienvogel bei einer drittklassigen Tombola), vielmehr war ich misstrauisch beäugt und aufs Widerlichstwidrigste angemotzt worden, beinahe schien es mir wie von Sara Baume in ihrem Büchlein Die kleinsten, stillsten Dinge beschrieben, denn wo immer ich auch ging und stand, dort war es für gewöhnlich so, als würde ich gar nicht recht existieren, als befände ich mich auf der Oberfläche eines nur von Staub- und Giftmikroben bevölkerten Trabanten irgendeines vollkommen in Vergessenheit geratenen Planeten,

nicht einmal einen Raum-, vielmehr einen sterilen, antiseptischen Asbestanzug trug ich vorneweg, der mich in hinterhältiger und hinterhältigster Art und Weise vom übrigen Kosmos absendierte, der perfide, ja perfidest verbarg und ausdrücklichst negierte, was für eine liebenswerte Existenz ich an der Seite der richtigen Frau, ja in irgendeiner mir gewogener Umgebung, hätte sein können, anstatt mein unnützes, desperates Dasein in einem hermetischen Asbestanzug fristen zu müssen, welchen ich, wenn ich stampfend, schwankend und mit den Armen rudernd meinen Weg voranging, selbst nicht mehr gewahrte und mich wunderte, dass selbst gestandene Männer mit dichten Bärten und noch dickeren Bäuchen lieber in den Rinnstein auswichen, ihr Schuhwerk freiwillig in das dort nach Regengüssen lang sich sammelnde und noch länger stehende Schmutzwasser tunkten, ich meine, alles war den Menschen augenscheinlich lieber, als von mir und meinem Asbestanzug gestreift zu werden, und wer wollte und sollte es ihnen jemals verdenken, ein Phantom blieb ich durch und durch,

selbst wenn ich mich im diskontesten aller Supermärkte in eine Kassenschlange reihte, drückte die Kassiererin, wie auf direktem Befehl aus einer mir nicht einsehbaren Schalt- und Waltzentrale, auf die neben sich plötzlich übellaunig aufblinkende Klingel und verschwand zur Toilette, und selbst wenn ich mich an einem mickrigen, ja mickrigsten Spielplatz vorbeischleppte, gab es fast immer eine entrüstet ihre porzellanigen Nasenlöcher aufblähende Mutter oder irgendein pickelgesichtiges, zeterndes Au-Pair-Mädchen, das sich meine Visage einzuprägen versuchte, und säße ich erst im Automobil, sie würde sich das Kennzeichen aufnotieren, um mich bei der nächstbesten Gelegenheit einer zuständigen Behörde zu melden, und selbst wenn ich irgendwo über das Wasser schreiten oder ein noch größeres, wahrlich verfickteres Wunder vollbrächte, etwas mit Blitzen und Graupel zum Beispiel, würde man sich nicht die Zeit nehmen, mich auch nur zum belanglosesten Bewerbungsgespräch, etwa bei den innerstädtischen Wasser- und Elektrizitätswerken, einzuladen, selbst wenn ich, mit solchen und ähnlichen Gaben gesegnet, wahre Wunder an der Menschheit hätte vollbringen können,

und nun also die herandräuende Sommerfrische, ein kleines, feines, keinesfalls unverdientes Glück allemal, jedenfalls, die vor uns liegende Reise nach Hallstatt dürfte durchaus eine Kehrtwende in meinem Leben darstellen, gewiss eine spektakuläre, wenn nicht gar spektakulärste Abwechslung seit langem, ein mir mithin fremd gewordenes, beschwingtes Amüsement, freilich in allem gebotenen und vorab ausführlich definierten Rahmen, als wäre der unabkömmlich scheinende Asbestanzug schlagartig von mir abgefallen, als lägen die Fechtmasken, die sei je her mein Gesicht verdeckten, nunmehr am Boden, als zeigten sich die Fliegengitter vor meinen Facettenaugen von einem lichten Hoffnungsschimmer aufgeschlitzt und alle Fliegen, welche dahinter ihr Dasein hatten fristen müssen, schwärmten aus, dahin, in die luftigen, sorglosen Weiten meiner sich entfaltenden Wahrnehmung,

gleichwohl wir zunächst in einem restlos überfüllten Großraumwagen der österreichischen Bundesbahnen vergeblich nach einer Sitznische Ausschau hielten, welche sich unserer verschwitzter Häupter hätte annehmen können, und selbiges procedere nach der Ankunft am unscheinbaren, ja unscheinbarsten Bahnhof Hallstatt, der freilich selbst in Anbetracht des unfassbaren Gedränges ausreichend Lücken zwischen den ausströmenden Menschenmassen zuließ, vornehmlich eine Klientel  asiatischer Herkunft wohlgemerkt, die sich beflissentlich einen recht schmalen Pflasterpfad abwärts zum Seeufer wälzte, zu einer dort von Mückenschwärmen eingekesselten und geduldig vor Anker liegenden Fähranbindung, sodass uns in jenem Moment kaum anderes verblieb, als mit diesem Strome mitzuschwimmen, um sogleich in einer gut hundert Meter langen Warteschlange anzustehen, deren oberstes Ziel es zu sein schien, denkbarst schnell auf das Deck des tatsächlich viel zu klein wirkenden Fährgefährts zu gelangen, dessen hehre Aufgabe es sein würde, uns Passagiere, mittlerweile von starker Sonneneinstrahlung in Mitleidenschaft gezogen, überzusetzen, also ins selige, ja seligst wirkende Hallstatt zu transportieren, wohlgemerkt nach einer kurzweiligen Seequerung, die sich bald im wahrsten Sinne des Wortes als schändliche, ja schändlichste Sardinenfahrt entpuppte,

es ergo auch niemanden sonderlich zu verwundern brauchte, dass zwei der gefühlt achthunderneununddreissig asiatischen Mitmenschen an Bord (jener auf Hallstatt getauften Nusschale), welche ich in keinster Weise einer bestimmten Nationalität hätte zuordnen können, in all dem frenetischen Geschiebe und fanatischen Pre-View-Hallstatt-Gewimmele plötzlich ins blaugrüne Wasser abplumpsten, markerschütternd und entrüstet kreischend, radebrechend sich erzürnend, und wohl auch in mir unbekannten Landessprachen fluchend, ich meine, ausdrücklichst fluchend, wie man uns später seitens des kundigen Bordpersonals zuraunte, uns, mir und dem Fräulein Gretchen, den einzigen augenscheinlich weißhäutigen Daseinsformen am Schiffe, denen das Wort aufpudeln ein Begriff sein könnte, welches nämlich zuvor noch der Hallstätter Kapitän (samt beider Leichtmatrosen) in den Mund genommen hatte, di solln si net so aufpudeln, is jo nix gscheng,

was im Übrigen als Zwischenfall tatsächlich kaum einen der anderen Reisegäste davon abhielt, diverse technische Gerätschaften zu zücken und diese auf die Silhouette von Hallstatt auszurichten, klickende Fotoapparate und surrende Filmwürfel vornehmlich, doch selbst Drohnenexemplare wurden aus diversen Markentäschchen und –köfferchen unverzagt von der Leine gelassen, welche fortan wie hummelbäuchige Flugknäuel vom Schiff aus auf Hallstatt zupreschten, um ihren jeweiligen Eigentümern die exklusivsten Luftbilder und Luftblickwinkel auf das altehrwürdige Stadtgemäuer zu gewähren, wohingegen die angenervte Mannschaft, die beiden Unglücksraben inzwischen aus den Fluten bergend, ihre Berufswahl spontan in Frage stellte, nichts desto trotz einen Mann mittleren Alters und eine jüngere Frau erretend, welche die überhandgenommene und munter drauf los grassierende Teilnahmslosigkeit der anderen Mitreisenden nicht fassen und darob nur die Köpfe schütteln konnten, man verfrachtete sie auch lieber unverzüglich unter Deck, flösste ihnen aus einer ausgebeulten, wenn nicht gar der ausgebeultesten Thermoskanne, die ich je gesehen hatte, etwas Flüssigkeit ein, und setzte die Fahrt alsdann fort, nicht ohne via blechernst knisternder Bordlautsprecher endlich darauf zu bestehen, dass das Aussetzen und die Inbetriebnahme von Drohnenluftvehikeln vor, in und über Hallstatt unter Strafe und behördlich verboten sei,

was freilich niemanden weiter zu bekümmern schien, mag auch sein, der im breiteren, salzkammergutschen Dialekt vorgetragene und in ein holpriges, ja holprigstes Englisch übertragene Appell blieb zum Leidwesen der sich echauffierenden, nautischen Verantwortlichen unverständlich, womit die gut fünfzehn gestarteten Quadrocopter erst nach dem Anlegemanöver und beim allmählichen Verlassen des Schiffes wieder zur Landung genötigt werden konnten, all dies freilich bereits unmittelbar vor der Hallstätter Promenade mit ihren altehrwürdigen Kirchtürmen, was das Fräulein Gretchen kurzum darüber mutmaßen ließ, ob wir nicht bei unserem Aufenthalt ein vermehrtes Augenmerk auf diverse Flugroboter richten sollten, nicht, dass uns eines dieser Ungetüme noch auf die Köpfe stürze, nicht, dass dieses auch den hübschen Postkartenhimmel mit sich reisse, fügte ich augenzwinkernd hinzu, allemal schien jedoch vieles darauf hinzudeuten, die Augen offen zu halten,

was wir auch nach dem Bezug unserer Zimmersuite im lieblichen, ja durchaus lieblichsten Hotel Grüner Baumbeherzigen sollten, wohlgemerkt nach einer äußerst harmonisch verlaufenen Zimmeraufteilung vor Ort, das Fräulein Gretchen logierte im lichtdurchfluteten Balkongemach in einem großflächigen Doppelbett, ich wiederum bettete mein Haupt gut situiert auf ein äußerst formidables und sich tatsächlich gut in die weiteren Räumlichkeiten einfügendes Kannapee im Foyer, einem entspannten Miteinander stand sogesehen nichts im Wege, und wir zogen unmittelbarst wieder los, um uns die holprigen Gassen und Gässchen des pittoresken, wenn nicht gar pittoreskesten Städchens des Salzkammergutes zu erschließen, das Fräulein Gretchen erstrahlte merklich über das ganze Gesicht und verfiel allmählich in eine mir bis dato bei ihr unbekannte, wildfremdeste Urlaubsstimmung, derer ich im üblichen Biotop des Gaststättengastgartens freilich nie gewahr geworden war, und dies auch schwerlich jemals werden würde,

frei nach den Schriften Michael Ondaatjes in seinem mir nur ansatzweise geläufigen Werk Kriegslicht, wonach ein Fisch, der sich im Schatten tarne, nicht mehr ein Fisch, vielmehr bloß ein Teil einer Landschaft sei, was allerdings auch linkisch-triste Gedankengänge in meinen Ganglien auf den Plan rief, welchen zufolge das Fräulein Gretchen in der mir wohlvertrauten Gaststätte gleichermaßen kein eigentliches Individuum darstelle (und auch nie dargestellt hatte), vielmehr handele es sich dort bei ihr um eine Art gegenständliches Interieur einer interaktiven Bewirtungsmaschinerie, deren Tarnung als Servierkraft eine zutiefst verfluchte Existenz kaschiere, welche ich bislang so nicht zu be- und greifen gewusst hatte, wo ich mich doch, wie die anderen in ihrer Wahrnehmung eingeschränkten und limitierten Schnapsbrüder, vornehmlich mit mir und meinen Eigenheiten auseinandersetzte, in vom unmäßigen Alkoholkonsum eingetrübten Landschaften wandelte und solche in einen unübersichtlich werdenden Makrokosmos zu verwandeln wusste, von Fischen und allem rührig Kreatürlichen längst keine Spur mehr darin,

vielleicht mit der Ausnahme von in mich regelmäßig nahezu willkürlich hineinlaufenden und sich zwischen und unter den Hosenbeinen verwickelnden Hunden, deren Zick-Zack-Laufwege ich niemals doch, selbst im enthaltsamsten Zustande, abzuschätzen wusste, und die sich einen diebischen Spaß daraus zu machen schienen, mich in gefährliche Schieflagen zu manövrieren, womit ich ein jedes Mal, die Umstände anprangernd und über diese ausgiebigst lästernd, an Wölfe in fernen Wäldern denke musste, die sich seit je her in geraden, ja geradesten Linien aufmachten, sie spurten und waren in ihren Fährten eben dadurch von einem jeden Hund unterscheidbar, der in seinem unsteten Stöckchenholdasein seine Degeneriertheit hinlänglich durch die Art der Fortbewegung dokumentierte,

doch blieb keine Zeit mehr, um mich weiter mit dieser fast schon philosophischen Misere auseinanderzusetzen, weil mich das Fräulein Gretchen kurzum wie eine nicht allzuschwere und bereits etwas vergilbte Einkaufstasche um ihren vom Serviergehoppse gestählten Unterarm ge- und eingehängt hatte, sie zog mich unversehens wie ein zielstrebiger Raubfisch vulgo Wolf auf direktestem Wege zur katholischen Pfarrkirche Maria am Berge und seinem hinlänglich bekannten Beinhaus, welches zu meinem Erstaunen, von keinerlei Menschenmassen bestürmt, förmlich auf uns zu warten schien, in trauter Zweisamkeit traten wir nach der Entrichtung eines unwesentlichen Obolus in das der sommerlichen Hitze trotzende Gemäuer, zwei durchwegs beherzt Lebende, fortan ein Weilchen vor den blanken Augenhöhlen der ruhenden Toten schaulaufend, auf und ab die bunt bemalten Schädelreihen musternd, dort das Eichenlaub als Zeichen des Ruhmes, hier der Lorbeer als Zeugnis des Sieges, ein wenig Efeu noch als Symbol des Lebens und natürlich die obligaten Rosenblüten, oppulent aufgemalte Pflanzengärten zur Veranschaulichung einer ewig währenden und über den Tod sich erhebenden und bestehenden Liebe, womit die auf leisen Pfoten sich anschleichende Vorstellung, den eigenen Kopf auf die eingelagerten, säuberlich in einer Formation dämmernden Schädel abzulegen, nahezu ein Gebot der Stunde darzustellen schien.

(Textstudie zu einem neuen Romanprojekt, das aus nur einem Satz bestehen soll)
 

Michael Stavarič wurde 1972 in Brno (Tschechoslowakei) geboren. Er lebt als freier Schriftsteller, Übersetzer und Dozent in Wien. Studierte an der Universität Wien Bohemistik und Publizistik/Kommunikationswissenschaften. Über 10 Jahre lang tätig an der Sportuniversität Wien – als Lehrbeauftragter fürs Inline-Skating. Zahlreiche Stipendien und Auszeichnungen, zuletzt: Adelbert-Chamisso-Preis, Österreichischer Staatspreis für Kinder- und Jugendliteratur. Lehraufträge zuletzt: Stefan Zweig Poetikdozentur an der Universität Salzburg, Literaturseminar an der Universität Bamberg.

Rezension zu «Fremdes Licht» auf literaturblatt.ch

Beitragsbild © Yves Noir

Franz Hohler «Fahrplanmässiger Aufenthalt», Luchterhand

Franz Hohler ist ein Reisender in Sachen Literatur, einmal als Minnesänger, dann als Beobachter, als Erzähler, als Mahner, als Unterhalter und nicht zuletzt als eine der Identifikationsfiguren der Schweizer Literatur. In den vergangenen Jahren leuchtete der Stern Franz Hohler immer heller und wurde zu einem Fixstern, unübersehbar, als wäre er schon immer da gewesen.

Viele Geschichten aus seinem neuesten Erzählband sind auf Lesereisen weit weg und ganz nah entstanden; Sarajevo, Odessa, Kiew genauso wie Hessental, Appenzell und Tübingen. Begegnungen mit Menschen und Orten, Situationen und der Geschichte – und immer mit sich selbst. Franz Hohler ist kein Stänkerer, kein Meckerer, kein Sezierer und schon gar kein Analyst. Er richtet den Blick auf die Welt und beschreibt sie so, wie sie ihn erreicht, wie er ihr gegenübersteht, nach fast achtzig Jahren Leben und einem übergrossen Mass an Wohlwollen und Respekt. Er zeigt, was Weltanschauung bedeuten kann, wenn sie durchsetzt ist von Liebe und Empathie. Und immer, wie für einen Bühnenmann wichtig, voller Einsichten, Witz und tiefgründigem Humor; was das Alter und Altern mit einem macht, wenn einem die Endlichkeit nicht mit Schrecken in die Glieder fährt, sondern mit einem tief empfundenen Gefühl der Dankbarkeit erfüllt. Eine Dankbarkeit, die nicht ausgesprochen werden muss, die aber in seinen Geschichten, seinen Erzählungen überdeutlich wird. 

Franz Hohler «Fahrplanmäßiger Aufenthalt», Luchterhand, 2020, 112 Seiten, CHF 27.90, ISBN 978-3-630-87639-9

Manchmal sind es nur Augenblicke, Momentaufnahmen, ausserplanmässig, wenn ein Zug im Nirgendwo 15 Minuten stehen bleibt und Franz Hohler in der Viertelstunde Suche nach einer heissen Tasse Tee mit dem Schrecken des 20. Jahrhunderts konfrontiert wird. Oder in der Stadt Odessa am Schwarzen Meer im Süden der Ukraine, wo er an einem Literaturfestival eingeladen unweigerlich mit dem Krieg konfrontiert wird, genauso wie am Maidan-Platz in Kiew, oben die Fotos jener, die bei den Unruhen im Winter 2013/2014 umgebracht wurden, darunter Einkaufsmeile mit Hochglanz und Überfluss, Begegnungen in einer zerrissenen Gesellschaft. 

Oder in Kenia, wo einer der Söhne eine Kenianerin heiratete und sich Franz Hohler mit einem Mal in seiner Funktion als Stammesältester bewusst wird und der künftig bei Langstreckenläufen nicht mehr mit derselben Vergeblichkeit auf einen schweizer Triumph hoffen muss.
Es sind bei aller Überraschung, die der Autor noch immer zu erzeugen weiss, wenn es um Pointen und Wendungen geht, noch immer die ganz typischen Hohler-Geschichten. Wer den Autor jemals auf der Bühne, bei einer Lesung, im Radio oder im Fernsehen hörte, wird beim Lesen den Sound seiner Stimme mitschwingen hören und staunen, mit wieviel Leichtigkeit und Selbstverständlichkeit er zu erzählen und zu schildern weiss. Nie verkopft, untermalt mit sanfter Moral, im Licht seiner ganz eigenen Freundlichkeit.

Wenn es Geschichten gibt, mit denen auch Erwachsene einschlafen wollen, dann sind es die Geschichten von Franz Hohler, die unbedingt eine Weile auf dem Nachttischchen liegen müssen!

«Schreiben ist eine Lebensform.»
Interview mit Franz Hohler

Nicht wenige von deinen Geschichten handeln vom Tod. Wenn du von deinem Vater erzählst, der 101 wurde, als er starb und dir im hohen Alter noch das Gefühl überliess, Vollwaise zu sein, ein Gefühl, dass jede(n) beschleicht, wenn Mutter und Vater gegangen sind. Oder bei all den Reisen in Länder, die durch Krieg und Unruhen mit dem Alp von Mord und Misshandlung gepeinigt sind. Ist es im Umgang mit Sterben und Tod immer jene Ruhe und Gelassenheit, die du und dein Schreiben ausstrahlen oder mischt manchmal nicht doch ein bisschen Angst mit?
Selbstverständlich habe ich Angst vor dem Tod, fast mehr vor dem Tod der anderen als meinem eigenen. Den Tod als Begleiter unseres Lebens wahrzunehmen und zu beschreiben, macht wohl gelassener als ihn totzuschweigen. 

Du bist ein grosser Erzähler. Wer dir irgendwann einmal zuhören kann und darf, dem wird diese Sprachreise unvergessen bleiben. Kein Wunder füllen sich Säle, wenn sich Franz Hohler ankündigt. Aber du bist weit mehr als ein Unterhalter, denn in deinen Geschichten mischt auch eine politische Überzeugung, einiges an Moral und ein festes Rückgrat mit. Deine Haltung in der aktuellen Flüchtlingsfrage ist unüberhörbar. Beschleicht dich zuweilen nicht die Resignation?
Doch, täglich. Gestern lagen in meinem Briefkasten 10 Bettelbriefe, in Worten zehn, von lauter Organisationen, die versuchen, unsere Welt zu verbessern. Alle leisten gute Arbeit. Die weltweite Bekämpfung der Armut macht, wenn man den Statistiken der Weltbank trauen darf, Fortschritte, die des Hungers auch, aber es wachsen auch die Rüstungsausgaben, es wächst überhaupt der ganze Problemberg, an dessen Fuss wir uns sehr klein und ohnmächtig vorkommen. Doch als denkende Menschen haben wir gar keine Wahl: Wir müssen uns auf die Seite des Lebens schlagen, täglich. Der Gesang der Amseln und das Lachen der Kinder helfen mir dabei.

Wenn ich mir den Reisenden Franz Hohler vorstelle, dann ist er immer ein Wanderer, ein langsam Reisender, der beobachtet, sinniert und schaut. Wenn du von Odessa, Kiew, Kenia und Moskau erzählst, fällt es mir beinahe schwer, mir einen Franz Hohler vorzustellen, der sich durch ein Gate ins Flugzeug kämpft und nach drei Stunden aus der Druckkabine steigt, in einem anderen Land. Wie sehr schmerzt die Anpassung an den Takt der Zeit?
Das Flugzeug besteige ich nur für die fernen Ziele, und jedesmal bin ich beeindruckt, dass Fliegen möglich ist und dass man derartige Distanzen in so kurzer Zeit zurücklegen kann und freue mich darüber. Allerdings beginnen sich die Länder auch immer mehr zu gleichen, und das schmerzt eigentlich mehr als die leichte Erreichbarkeit. Im «Carrefour» von Abu Dhabi findet man das ganze Sortiment der «Ricola»-Täfeli, in den Warenhäusern von Krasnojarsk wetteifern Hugo Boss und H&M um die Kundschaft, und österreichische Schneekanonen machen die Skipisten befahrbar.

Du veröffentlichst seit 50 Jahren fast ausschliesslich beim Luchterhand Verlag, einem Verlag, der sein Antlitz in diesen fünf Jahrzehnten stark veränderte. Dass ein Schriftsteller einem Verlag über so lange Zeit treu bleibt, ist immer seltener, genauso selten wie Paare, die fünf Jahrzehnte beieinander bleiben. Ist Treue ein Lebensprinzip? Und wie sehr rettet es dich?
Mein Deutschlehrer Ludwig Storz, mit dem ich ein Leben lang befreundet blieb, sagte einmal den schönen Satz: «Ich bin für lange Freundschaften gemacht.» Das gilt auch für mich. Je mehr mein Vorrat an Zukunft schmilzt, desto kostbarer werden die Verbindungen zu Menschen, die über lange Zeit Bestand hatten. 

Mit meinem Verlag bin ich durch etliche Ups and Downs gegangen und habe mich immer fürs Bleiben entschieden, auch wenn heute niemand aus der Crew von 1970 mehr dabei ist. In den letzten Jahren sind dort meine gesammelten Erzählungen («Der Geisterfahrer»), meine gesammelten kurzen Texte («Der Autostopper») und meine gesammelten Gedichte («Sommergelächter») herausgekommen. Das empfinde ich als eine Art Ernte. 

„Ich bin gerne Dichter“, steht ganz am Schluss des Buches. Du scheinst auch nicht den Willen zu bekunden, dich „pensionieren“ zu lassen, wie andere SchriftstellerInnen, die das Schreiben irgendwann einstellen, wie zum Beispiel Philipp Roth, der sich eines Tages „vom Schreiben zurückzog“. Was bedeutet das Schreiben für dich über meine Annahme hinaus, dass es längst Lebensnotwendigkeit in mehrfacher Hinsicht geworden ist?
Schreiben ist eine Lebensform. Ein Chefarzt eines Spitals wird mit 65 pensioniert, auch psychologische Praxen haben eine Altersgrenze. Diese Menschen hatten Freude an ihrer Tätigkeit, und auf einmal dürfen sie sie nicht mehr weiter ausüben, das fällt den wenigsten leicht. Dass ich niemanden zu fragen brauche, ob ich mich noch vor mein Laptop setzen darf, empfinde ich als grosses Privileg, und damit aufhören kann ich, wann ich will. Oder muss.    

Franz Hohler wurde 1943 in Biel, Schweiz, geboren. Er lebt heute in Zürich und gilt als einer der bedeutendsten Erzähler seines Landes. Hohler ist mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet worden, zuletzt mit dem Alice-Salomon-Preis und dem Johann-Peter-Hebel-Preis. Sein Werk erscheint seit über vierzig Jahren im Luchterhand Verlag.

Franz Hohler liest aus «Fahrplanmässiger Aufenthalt»

«Enten» Kurzgeschichte von Franz Hohler 

Webseite des Autors

Melitta Breznik «Mutter. Chronik eines Abschieds», Luchterhand

Eine Chronik ist eine geschichtliche Prosadarstellung, die die Ereignisse in zeitlicher Reihenfolge geordnet darstellt. Die österreichische Autorin Melitta Breznik (Jahrgang 1961) gibt ihrem neuen Roman «Mutter» den vielsagenden Untertitel «Chronik eines Abschieds». Geordnet, aber keineswegs emotionslos erzählt sie über das langsame Sterben der eigenen Mutter.

Gastbeitrag von Cornelia Mechler

Die Mutter wohnt in einer Kleinstadt in der Steiermark. Die Autorin, die auch als Ärztin in der Schweiz tätig ist, reist an, um die Mutter auf ihrer letzten Reise nicht allein zu lassen. «Der Tod braucht Zeit, er duldet keine Eile, er duldet nichts anderes neben sich.» Und so vergehen mehrere Wochen, intensive Stunden und Tage, in denen die Autorin in nüchterner Sprache die Veränderungen beschreibt, die sie sowohl an ihrer Mutter als auch an sich selbst wahrnimmt. Die Berichte über den jeweils tagesaktuellen Gesundheits- und Gemütszustand der Mutter gleiten in Erinnerungen ab. Eine Familiengeschichte wird erzählt, die bis zu den beiden Weltkriegen zurückreicht. Die Mutter verlor einen ihrer beiden Söhne – er starb mit nur 18 Jahren an einem Hirntumor. Dieser Verlust prägt alle übrigen Familienmitglieder, auch wenn die Autorin selbst zum Zeitpunkt des Todes noch ein kleines Kind ist. Es tauchen Fragen nach Schuld und Vergebung auf, und nach dem, was bleibt, wenn jemand stirbt. 


Melitta Breznik «Mutter. Chronik eines Abschieds», Luchterhand, 2020, 160 Seiten, CHF 27.90, ISBN 978-3-630-87506-4

Deutlich tritt auch ein weiterer, noch immer nicht abgeschlossener Konflikt zutage: Einst zwang die Mutter die damals 17-jährige Tochter zu einer Abtreibung…
Das Gegengewicht zu diesen noch immer aktiven «Gespenstern der Vergangenheit» findet sich in Beschreibungen von persönlichen, ja intimen Momenten der Zweisamkeit einer im Sterben begriffenen Mutter und ihrer Tochter, die ihr – den einstigen Ereignissen zum Trotz – liebevoll zugetan ist. «Als sie mir gute Nacht wünschte, lehnte sie mit Tränen in den Augen in den Kissen. Die Tage mit mir seien traurig, aber auch schön. Dann fiel sie zufrieden in einen stillen Schlaf.»

Man leidet als Leserin schmerzhaft mit bei all den Versuchen der Autorin, es der Mutter recht zu machen, ihr ein würdiges Ende vorzubereiten. Auch die alltagspraktischen und medizinischen Schwierigkeiten einer Sterbebegleitung werden nicht ausgelassen. «Die schnelle Wirkung der Tablette verblüfft mich, und gleichzeitig frage ich mich, ob es richtig ist, Mutter mit einem Medikament davon abzuhalten, ihren Sohn zu suchen, Vielleicht hätte sie ihn ja gefunden, wie er sie im Jenseits erwartet, ihr seine Hand reicht.» Irgendwann ist die Grenze des Erträglichen für die Autorin erreicht. Die körperliche und seelische Erschöpfung lässt sie nach mehr Hilfe von aussen suchen. Eine Pflegerin unterstützt sie folglich in den letzten Wochen, in denen die Mutter zu einem Schatten ihrer selbst wird. 


Gewiss: Es existieren bereits einige gute Bücher, die sich mit der Thematik des langsamen Abschieds von einem Elternteil beschäftigen – man denke beispielsweise an Michael Lentz’ «Muttersterben2 (2002) oder an Arno Geigers «Der alte König in seinem Exil» (2010). Melitta Brezniks Buch beeindruckt vor allem durch die gekonnte Darstellung der schwierigen Selbstpositionierung der Autorin. Sie ist Tochter, sie ist Ärztin und sie ist die Pflegerin der eigenen Mutter. Mal verliert sie sich fast sehnsuchtsvoll in den Erinnerungen an gemeinsame Erlebnisse mit der Mutter, mal beschreibt sie in einer vom ärztlichen Fachjargon geprägten Sprache ihre Hilfsmassnahmen für die sterbenskranke alte Frau. Eine schonungslose Ehrlichkeit durchdringt diesen tiefgründigen Roman, für Beschönigungen ist keine Zeit mehr.

«Es ist später als Du denkst», diese Inschrift eines Marmorsteins in Lass in Südtirol steht dem Buch als Motto voran. Unerbittlich konfrontiert uns die Autorin mit der Frage, wie wir selbst dem Tod begegnen möchten. Das Auf und Ab der Emotionen wird sich nicht vermeiden lassen. Aber es hat etwas Tröstliches zu sehen, dass man auch mit dem unausweichlichen Verlust eines nahen Menschen seinen Frieden machen kann. Ein grosser Roman – trotz eher geringem Seitenumfang.

© Peter von Felbert

Melitta Breznik, geb. in Kapfenberg, Österreich, studierte Humanmedizin und wurde zur Praktischen Ärztin ausgebildet, bevor sie sich als Fachärztin in Psychiatrie und Psychotherapie spezialisierte. Sie lebt in der Schweiz im Kanton Graubünden. Bei Luchterhand sind von ihr bisher erschienen: «Nachtdienst» (Erzählung 1995), «Figuren» (Erzählungen 1999), «Das Umstellformat» (Erzählung 2002), «Nordlicht» (Roman 2009), «Der Sommer hat lange auf sich warten lassen» (Roman 2013).

Webseite der Autorin

Beitragsbilder © Peter von Felbert

Kerstin Hensel «Regenbeins Farben», Luchterhand

Drei Frauen und ein Mann, alle im Herbst ihres Lebens, alle von der Geschichte und ihrer Geschichte an einen Ort gedrängt, der nicht jener sein soll, an dem es enden darf. Kerstin Hensels neue Novelle „Regenscheins Farben“ erzählt von der Kunst; der Kunst der Malerei, der Kunst der Selbstbefreiung, der Kunst, das Glück nicht bloss zu suchen, sondern es notfalls beidhändig zu greifen.

„Regenbein Hühnerklein! Regenbein, was soll das sein!“, ruft man der kleinen Karline schon im Mädchenalter in der Schule hinterher, weil sie anders ist, als alle andern. Vielleicht, weil sie schon anders riecht, weil Hanne Regenbein, Karolines Mutter in der Post arbeitet und dort Mehlkleister, Büroleim und Knochenleim herumsteht. Weil Vater Karl Walzenfahrer im Strassenbau ist und Karline neben Mutters Ingredienzien auch jene des Vaters dem Mädchen zum Malen und Zeichnen zur Verfügung stehen: Teer, Bitumen und Flüssigbeton. Karline beginnt bei der Post zu arbeiten, liebt aber nur die Malerei, malt im Verborgenen, erliegt ihrer unbändigen Lust, den Pinsel zu führen, auch wenn man ihr zu verstehen gibt, dass ihre Art des Malens nicht den Sehgewohnheiten der Gegenwart entspricht. 

Sie haust in einer Mansarde, weit oben, auf das Mindeste reduziert. Bis fünf Jahre nach der Wende der Fotograf Rüdiger Habich zur ihr hinaufsteigt mit Fotoapparat und Stativ und in einem letzten, überschäumenden Energieanfall von der unbekannten Künstlerin eine Porträtreihe schiesst, die in der angesagten Galerie Wettengel gefeiert wird. Seine letzte Arbeit, denn abgehängt und frustriert von der digitalen Revolution in der Fotografie packt Habich seine Apparate in den Keller, um sich künftig ganz im Schatten Karlines auszuruhen.

Karline malt weiter, auch wenn ihr Mann Rüdiger immer mehr nur noch ein Schatten seiner selbst, zum Klotz wird, zum eifersüchtigen Hüter ihres kleinen Lebens. Und weil Rüdiger sich selbst noch einmal ins Lebenszentrum seiner malenden Frau rücken will, soll vor seinem absehbaren Ableben noch einmal eine Porträtreihe entstehen, diesmal aber mit seinem Konterfei. Rüdiger stirbt. Karline trägt die Bilder in den Keller, den Mann auf den Friedhof. Es hat fast fünfzig Jahre gedauert, bis Karline ihre ersten Schritte in echte Freiheit unternimmt, wenn auch zaghaft und nicht ohne Hilfe und der stillen Drohung, selbst aus dem Grab: „Ich weiss, wo du bist.“

Aber Karlines Leben ist mit dem Tod ihres tyrannischen Gatten alles andere als vorbei. Auf dem Friedhof, dessen Grabesruhe immer wieder vom lauten Dröhnen startender Flugzeuge zerrissen wird, lernt sie Lore Müller-Killian, eine gestelzte Industriellenwitwe mit Hang zum Theatralischen, kennen und die 80jährige Kunstprofessorin Zita Schlott. Sie alle hegen und pflegen die Gräber ihrer verstorbenen Ehemänner, jede auf ihre Art, die einen mit Hacke und Erde, die andere mit Kühltasche, Kristallkelch und Piccolo.
Und alle drei schauen sie auf den grossen alten Mann mit Hakennase und tadellosem Auftritt. Auf den Galeristen Wettengel, selbst Witwer geworden, seit Jahrzehnten verzahnt mit den Biographien der drei Frauen.

Kerstin Hensel «Regenbeins Farben», Luchterhand, 2020, 256 Seiten, CHF 27.90, ISBN 978-3-630-87601-6

Kerstin Hensel erzählt die Geschichten des illustren Quartetts, wie die drei Frauen um die Gunst von Eduard Wettengel buhlen: Karline in der Hoffnung, endlich jenen Förderer ihrer Kunst zu finden, der sie an der Hand nimmt, raus aus ihrer Isolation, Zita in der Hoffnung, ihren einstigen Musterstudenten zurückzugewinnen und Lore jenen feurigen Verehrer, den sie sich in der leer und öde gewordenen Villa am See wünscht. Kerstin Hensel tut dies, ohne je in Oberflächlichkeiten abzurutschen, stets mit dem Auge der exzellenten Beobachterin und witzigen Erzählerin. Kerstin Hensel beschreibt Beziehungen, enttarnt das feine Geflecht, das sich je nach Wetterlage zu drehen vermag oder gar kippen kann.
Grossartig und gekonnt, ohne je mit einem Satz dem Palaver zu verfallen, überraschend konstruiert und mit einer Leichtigkeit erzählt, die ihresgleichen sucht. Viel mehr als bloss Unterhaltung!

Interview mit Kerstin Hensel:

Wenn Sie beschreiben, wie Karline, die Malerin, den Pinsel führt, dann ist es, als nähmen Sie mich bei der Hand, und liessen mich malen. Ich rieche die Farbe, spüre den Zug. Malen Sie selbst oder ist es tatsächlich möglich, sich durch Imagination so sehr in ein „fremdes Tun“ hineinzuversetzen?
Ich male selbst nicht, habe auch nicht die geringste Begabung dafür. Ich denke, ein Schriftsteller muss in der Lage sein, sich in eine andere (auch ihm fremde) Welt hineinzuversetzen, so dass diese für den Leser sinnlich nachvollziehbar ist. Dazu gehört: Neugierde, Lust, Begeisterung, Erfahrung und natürlich die Beherrschung des Schreib-Handwerkes. Der Rest ist Geheimnis. 

Karline Regenbein ist eine ganz eigenwillige Malerin, die sich nicht um den Mainstream kümmert. Gab es eine Künstlerin, einen Künstler, die oder der ihnen als Inspiration diente?
Das ganze Leben dient mir als «Inspiration». Alle meine Figuren sind gleichermassen erfunden, wie auch der Realität verhaftet. D.h. keine Figur ist «authentisch» oder gar entschlüsselbar, dennoch – hoffe ich – sind sie dem Leser bekannt.

Eigentlich ist ihre Novelle auch ein Wendenovelle, in der zwar Deutschlands Wende nur an den veränderten Lebensumständen der Protagonisten abzulesen ist, die aber grosse Wenden schildert, Wendungen, die überraschen und nie ins Klischierte abrutschen. Das gibt der Novelle seine erstaunliche Leichtigkeit. War da nie die Versuchung, ins Epische abzutauchen?
Auch eine Novelle gehört zur Epik, d.h. es wird erzählt, nur nicht so allumfassend bzw. kleinteilig wie es Romanen vorbehalten ist. Jeder Satz ist bei mir harte Arbeit. Der Leser darf dem Text diese harte Arbeit nur nicht anmerken. (Sie sagen es: Leichtigkeit!) 😉

In einem Gespräch zwischen dem Galeristen Wettengel und der Malerin Karline Regenbein verabschiedet sich dieser mit dem Satz „Bleiben Sie bei sich.“. Ein Satz, den die Malerin nicht verstehen kann. Ein Satz, der doch eigentlich genau das Gegenteil von dem ist, was der Malerin fast die ganze Novelle lang nicht gelingt; der Ausbruch. Ist das eigene Selbst nicht das grösste Gefängnis?
Gute Frage. Das eigene ICH kann sehr wohl ein Gefängnis sein, wenn es sich nur aus sich selbst nährt. Das gilt nicht nur für Künstler. Wenn das ICH an Erfahrungen, Gefühlen, Wissen u.s.w. reich ist, kann es strahlen und viel von sich hermachen. Ist das jedoch nicht der Fall, gerät es zur billigen/tragischen/narzistischen Ego-Show, aus der man schwer herausfindet. Andererseits: wer nicht «bei sich bleiben» kann, Angst vor dem ICH, den eigenen Abgründen und Fähigkeiten hat; wer sich nur dem Zeitgeist und dem Erfolg andient, endet ebenfalls im Leeren (in der Eitelkeit). Die Figur Regenbein reflektiert allerdings nicht auf dieser Ebene, sondern stellt ihre Lebensfragen in ihrer Kunst.

Jede der Geschichten der vier Protagonistinnen wäre Stoff für einen Roman gewesen. Vieles deuten Sie nur an, zeichnen durchscheinend und trotzdem scheint sich das Bild in Cinemascope vor mir zu entfalten. Gibt es Maximen, Regeln, Eigenheiten Ihres Schreibens, denen sie sich strickt unterwerfen?
Der «dichte» Text, d.h. die durch blosse Andeutung entstehenden Bilder (wie im guten Kino, ja!) muss Raum lassen für Fantasie und Assoziation, die jeder Leser mit eigener Erfahrung füllen kann. Allerdings ist auch dieses Mittel eine Frage des Masses, also der Fähigkeit, die Spannung genau auszutarieren.

Kerstin Hensel wurde 1961 in Karl-Marx-Stadt geboren. Sie studierte am Institut für Literatur in Leipzig und unterrichtet heute an der Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch. Bei Luchterhand sind zuletzt erschienen: die Liebesnovellen «Federspiel» der Band «Das verspielte Papier – über starke, schwache und vollkommen misslungene Gedichte» sowie der Lyrikband «Schleuderfigur». Kerstin Hensel lebt in Berlin.

Beitragsbild © Susanne Schleyer / autorenarchiv.de

Norbert Hummelt «Sonnengesang», Luchterhand

Schluss mit Kultur? – das soll nicht sein. Wenn die veranstaltete Kultur ausfällt, bleibt (wieder) Zeit zum Lesen, Hören, Schauen. Kulturstillstand? Muss nicht sein! Kaufen Sie Bücher und Musik bei den HändlerInnen Ihres Vertrauens (bloss nicht bei Amazon!). Beteiligen Sie sich bei all den Benefizaktionen in den Sozialen Netzwerken! Bringen Sie Kultur zuhause zum Leuchten!

Warum nicht eine Lesung zuhause? Lesen Sie Ihren Kindern ein Buch oder eine Geschichte vor. Oder wenn nach all dem Homeoffice, der Kinderbetreuung zuhause, der Küchenarbeit und dem Telefonat mit der Mutter oder dem Grossvater noch Energie übrig bleibt, wenn auch nur ein Fingerhut voll, dann lesen Sie ein Gedicht. Ganz für sich selbst oder der/dem anderen, die/der sich im gleichen Bett ins Kissen kuschelt. Zum Beispiel Gedichte aus dem neuesten Gedichtband «Sonnengesang» von Norbert Hummelt:

amour fou
du handelst anders als du sagtest du redest
anders als du fühlst u. deine überall
verstreuten ausziehsachen u. dein strahlen
über jedes mass .. wer bist du u. wer
bin ich sitze ich da u. warte auf nichts
warst du denn nicht eben erst hier
die zimmerluft ist noch ganz feucht von dir

die verzauberung
sonntag gehen wir beim grossen stern die leicht
geschwungenen regenfeuchten wege u. ich gehe sie
mit dir so gern. vorüber am teehaus im englischen
garten, die späte sonne leuchtet dich kurz an, du ziehst
mich leise fort an deiner hand u. fragst, was ist das,
hinter diesem weiher, was für dinge hängen da im baum?
sieht aus wie weisse fahnen oder plastikzeug; doch es
sind reiher, u. uns zu rühren trauen wir uns kaum.
sie sollen doch jetzt wegen uns nicht fliegen. sie tun
es auch nicht; alle halten still. ich sah noch nie so
viele dieser vögel in fast schon kahlen winterlichen
ästen, flüstere ich in dein heisses ohr, doch kenne ich
mich auch so gut nicht aus. das alles kommt von
unseren küssen, u. keine stille ist noch je so tief
gewesen. ich möchte mit dir bis nach schweden
gehen. du ziehst mich leise fort an deiner hand.

waldeinsamkeit
im walde ging ich in dem jungen grün sah
überall den jungen bärlauch stehen
u. will mich nach dem jungen bärlauch
bücken aber kann es nicht denn
nein es geht nicht weil ich sehe
dich ich sehe deinen rücken wie du
dich beugst gebeugt hast du
vor einem jahr ich sehe dich den
jungen bärlauch pflücken immer mehr
du bist am pflücken u. du schaust
nicht her nur ich ich stehe da
u. sehe deinen rücken u. deshalb
kann ich heute mich nicht bücken
ich kann nicht mehr den jungen
bärlauch pflücken aber möchte es so sehr

Norbert Hummelt: „Sonnengesang“, Luchterhand, 2020; 96 Seiten, 29.90 CHF., ISBN: 978-3-630-87630-6.

Norbert Hummelt bezaubert ohne zu verklären. Seine Gedichte umgarnen mich in ihrer klugen Mischung aus Beobachtung, Witz und der Prise Ironie, die alles Wülstige wegwischt. Seine Gedichte sind Augenblicke, manchmal geschrieben wie kleine Geschichten, die sich mir nie durch Geheimnistuerei verschliessen. Da ist nichts gestelzt, nichts verklärt. Norbert Hummelt nimmt mich an der Hand. Manchmal bremst er mich, zeigt mir, was ich übersehen würde, um mir gleich danach zuzuzwinkern.

Als ich meiner Frau vor dem Lichterlöschen noch ein Gedicht oder auch zwei vorlas, leise in die Nacht hinein, sachte blätternd und sie nicht wusste, ob der Gesang schon enden würde, flüsterte sie: «Noch eins, bitte.»

Norbert Hummelt wurde 1962 in Neuss geboren und lebt als freier Schriftsteller in Berlin. Für sein lyrisches Gesamtwerk wurde er 2018 mit dem Hölty-Preis für Lyrik geehrt. Zuvor hatte er u.a. den Rolf-Dieter-Brinkmann-Preis, den Mondseer Lyrikpreis sowie den Niederrheinischen Literaturpreis erhalten. Er übertrug T.S. Eliots Gedichtzyklen «Das öde Land» und «Vier Quartette» neu ins Deutsche und ist Herausgeber der Gedichte von W.B. Yeats. Bei Luchterhand erschienen zuletzt seine Gedichtbände «Pans Stunde» und «Fegefeuer».

(Alle Gedichte von Norbert Hummelt mit freundlicher Genehmigung des Luchterhand Verlags auf literaturblatt.ch veröffentlicht.)

Beitragsbild © Laura Baginski

Highlights aus den 41. Solothurner Literaturtagen

Fast gleich viele wie im letzten Jahr, als es einen neuen Besucherrekord zu verzeichnen gab! Die Solothurner Literaturtage leben, glänzen und tun genau das, was die Besuchenden an diesem Festival zu schätzen wissen.

Aber Solothurn ist auch „Familientreffen“ der kleinen Schweizer Literaturszene. Die Schriftsteller-Nationalmannschaft spielt die sich ewig wiederholende Revanche gegen Rakete Solothurn (1:1!), im Park auf der anderen Aareseite performen die alten Hasen Bänz Friedli, Patrick Tschan, Wolfgang Bortlik, Maurizio Pinarello und Franco Supino ihre Texte unter dem ausladenden Geäst der Uferplatanen, in denen sich ebenso lautstarkes schwarzes Gefieder eingenistet hat. An langen Tischen zwischen der Geburtsstädte der Solothurner Literaturtage, dem Restaurant Kreuz, in dem 1978 Autoren wie Peter Bichsel und Otto F. Walter das Festival gründeten und dem Landhaus branden engagierte Gespräche zwischen den „wilden Jungen“, den „Literaturaktivistinnen“, die sich mit Recht gegen Verkrustungen, betonierte Hierarchien und die ewig Gestrigen auflehnen und aufregen. Und zwischen allen sitzt, plaudert und pafft der ungekrönte König von Solothurn, der mittlerweile 84jährige Peter Bichsel.

Ferdinand von Schirach, Foto © Sabrina Christ und Samuel Mühleisen

Es gab sie, die grossen Namen, auch wenn die aktuelle Deutsche Buchpreisträgerin Inger-Maria Malke mit ihrem preisgekrönten Roman „Archipel“ fehlte. Ferdinand von Schirach, Judith Schalansky, Thomas Hürlimann oder der in Paris lebende Türke Nedim Gürsel oder alt gediente Säulen der Schweizer Literaturszene; Lukas Hartmann, Milena Moser, Ruth Schweikert, Klaus Merz oder die nimmer müden Ernst Halter und Beat Brechbühl.

Aber was muss unbedingt gelesen werden:
„Kaffee und Zigaretten“ von Ferdinand von Schirach. Kein Nahrungsratgeber, obwohl die beiden momentan meistverkauften Bücher im deutschsprachigen Raum solche sind. Ferdinand von Schirach verkauft seine Süchte auch nicht als Eingangstore in die grossen Erkenntnisse der Welt. Es geht in seinem Buch um die grossen Fragen des Lebens. Gibt es eine Grenze zwischen Gut und Böse? Wann gilt ein Leben als erfolgreich oder gescheitert? Ferdinand von Schirach ist verstörend ehrlich, direkt und auf seine Weise authentisch. Nach Bestsellern mit den Titeln „Tabu“ oder „Strafe“, in denen er von seinen zwanzig Jahren Erfahrung als Strafverteidiger erzählt, ist „Kaffee und Zigaretten“ sein persönlichstes Buch über eine Jugend voller Traumatisierungen. Ferdinand von Schirachs Auftritt, etwas zischen welt- und staatsmännisch und empfindsamer Scheu beschreibt exakt, was im Buch geschieht. Er breitet aus, sich und die Welt, macht kein Geheimnis aus seinen Depressionen und dem Leiden an der Welt und fordert mehr als deutlich, dass ihm ein Leben mit Respekt und deutlich gelebter Ethik überlebenswichtig erscheint.

Wild wie die Wellen des Meeres“ von Anna Stern und „Balg“ von Tabea Steiner. Wie gut, waren sie da! Zwei engagierte junge Autorinnen in so gänzlich verschiedener Lebens- und Schreibsituation. Anna Stern, eine Akademikerin, die sich in ihrem Brotberuf wissenschaftlich mit Umweltfragen beschäftigt, Tabea Steiner eine „junge Wilde“, die sich auf ganz vielen Bühnen und Wirkungsfeldern innerhalb des Literaturbetriebs bewegt. Anna Stern erzählt vom Fluchtversuch einer jungen Frau, eine Geschichte, die sich geographisch aus der Heimat entfernt und Tabea Steiner jene eines Ausgegrenzten, das eingezwängte Dasein in dörflicher Enge. Beide Bücher sind auf literaturblatt.ch besprochen. Ich würde mich nicht wundern, wenn die beiden Titel im September auf der ominösen Shortlist des Schweizer Buchpreises erscheinen würden.

Franco Supino, Foto © Sabrina Christ und Samuel Mühleisen

Auch wenn Simonetta Somaruga ihrem Mann bei seiner Lesung am Sonntag einen Besuch abstattete und ich mich einmal mehr wunderte, dass eine Ministerin in der Schweiz wie jede andere als Privatperson durch die Solothurner Innenstadt spazieren kann, ohne dass an jeder Ecke ein bis auf die Zähne bewaffneter Soldat jeden Anwesenden mit durchdringendem Blick nach seinem Gewaltpotenzial scannt und mir der neue Roman ihres Mannes ausgesprochen gut gefällt (Eine Rezension und Interview mit Lukas Hartmann folgt!), war es der Rückkehrer Thomas Hürlimann, der mit seiner ersten Lesung aus seinem vor einem Jahr erschienen Roman „Heimkehr“ den Solothurner Literaturtagen einen grossartigen Abschluss bescherte.
Thomas Hürlimann ist unbestritten einer der Grossen, nicht nur in der Schweiz, sondern in der ganzen deutschsprachigen Literatur. „Das Gartenhaus“, eine Novelle, die die Geburtsstunde des vielvermissten Ammann-Verlags bedeutete, ist genauso Eckpfeiler, wie fast alle folgenden Publikationen, Prosa oder Theater. Und jetzt, nach Krankheit, langer Abwesenheit, las Thomas Hürlimann zum ersten Mal vor grossem Publikum aus seinem Roman „Heimkehr“. Heinrich Übel, Fabrikantensohn, hat ein schwieriges Verhältnis zu seinem Vater. „Heimkehr“ beschreibt die Rückkehrversuche eines Sohnes in die verlassene Welt der Familie. Ein Autounfall katapultierte ihn aus seinem Leben, seiner Identität. „Heimkehr“ ist ein vielschichtiger Roman mit einem grossen Bruder, Max Frischs „Stiller“. Dem Tod von der Schippe gesprungen, sei alles neu gewesen, erzählte Thomas Hürlimann. Auch das Schreiben. Ein zu der Zeit fast fertiger Roman musste noch einmal neu erzählt werden. Die Frage „Bin ich oder bin ich nicht mehr?“ war in der Fassung vor der Krankheit und dem drohenden Tod nicht vorhanden. Thomas Hürlimanns Roman sprudelt vor Fabulierlust, Witz bis hin zur „Klamotte“. Ein grosses Buch!

Beitragsbild zeigt Viola Rohner © Sabrina Christ und Samuel Mühleisen

Jaroslav Rudiš «Winterbergs letzte Reise», Luchterhand

Jan Kraus ist Altenpfleger, «Soldat der letzten Hoffnung», wie in Wenzel Winterberg nennt, den er quer durch Mitteleuropa begleitet, auf seiner letzten Reise. Winterberg besucht die Friedhöfe der Geschichte, zusammen mit einem roten Büchlein, dem letzten wirklichen Baedeker Reiseführer für Österreich-Ungarn aus dem Jahre 1913. Kein Roadtripp, dafür ein Railtripp durch die Untiefen der Geschichte.

Jan Kraus ist so etwas wie Matrose auf letzter Reise. Manche Reisen dauern nur Tage, andere Monate. Als Jan Krause ans Bett von Wenzel Winterberg gerufen wird, liegt dieser apathisch in seinem Zimmer, von seiner hilflosen Tochter aufgegeben. Aber Jan Kraus bringt ihn zurück. Winterberg wird sagen, er hätte ihm das Leben gerettet, denn Winterberg müsse nicht nur diese letzte Reise tun, sondern eine wirkliche Reise antreten. Ein Reise zu den Toten, eine Reise auf der Suche nach den Verursachern, dem Mörder seiner einzigen, grossen Liebe.

Aber Winterberg macht die Reise mit Jan Kraus zur Reise an die Grenzen, quaselt in einem fort, sei es im Zug oder mitten in einer Abdankung in der Feuerhalle (Krematorium) zu Reichenberg. Den Baedeker von 1913 hat Winterberg längst verinnerlicht. Auch wenn er scheinbar liest, rezitiert er, lässt sich nicht unterbrechen, verfällt in einen stundenlangen historischen Anfall, der nicht zu unterbrechen ist. Keine Frage lässt ihn entgleisen, keine Bemerkung stoppen. Bis er mit einem Mal einschläft – „Stöpsel raus. Luft raus. Augen zu. Gute Nacht.“ Winterberg ist wie ein herrenlos gewordener Zug, er fährt und fährt, nur ein Prellbock kann ihn stoppen.

«Sie haben recht. Ich bin wirklich verrückt, ich bin krank. Ich leide an der Geschichte, ich leide an historischen Anfällen, ja, ja, doch besser Historie als Hysterie, oder?»

Ein Quaseln wie das Rattern des Zuges, um dann mit einem Mal im Schlaf zu versinken, irgendwo in einem Gasthaus am Tisch mit dem Kopf auf dem roten Büchlein. Über dem Baedeker von 1913, aus einer Zeit, in der Eisenbahn das Netz der Gegenwart war, nicht so wie heute ein unsichtbares, undurchsichtiges www. Winterberg, ein Eisenbahner mit Leib und Seele, dem schon das Wort „Schienenersatzbus“ das bare Grauen auslöst, scheint auf der Suche nach seiner grossen Liebe zu sein, die er im entscheidenden Moment alleine gelassen hatte. Er reisst ihr Jahrzehnte später als Versöhnung hinterher.

„Es gibt kein Entkommen. Von seiner Geschichte. Von meiner Geschichte.“

Winterbergs letzte Reise soll auch Jan Kraus letzte Reise werden. Dann will er sich ein Schiff kaufen und wegfahren.  Auch eine Abschiedsreise von Jan, wenn auch reichlich verzögert durch die unerwartete Lebendigkeit des alten Winterberg. Eine Abschiedreise von Carla, seiner einzigen Liebe.

Im Vorsatzpapier des Buches ist der Weg der beiden auf einer Karte nachgezeichnet. Winterberg verkörpert das, was einer jungen Generation abhanden kommt. Jedes Individuum fühlt sich als Mittelpunkt der Welt, eines ganzen Kosmos, der doch eigentlich nur auf sich selbst ausgerichtet sein soll. All das, was an Geschichte passiert ist, verliert die Relevanz. Dabei ist der Boden auf dem wir uns mit aller Selbstverständlichkeit bewegen voller Toter, die in Täter und Opfer der Geschichte waren, auch der Geschichte jedes einzelnen Individuums.

«Die  Lieben und die Krisen, ja, ja, und vor allem die Kriege, wir wissen immer, wenn es vorbei ist, doch wir wissen nie, wann es angefangen hat zu bröckeln.»

Jaroslav Rudiš› neuer Roman lässt mich ratlos zurück. Zum einen fasziniert von einem, der es auf einer langen Reise richtig rattert lässt. Man sitzt im Zug und Bilder flitzen vorbei, ob man hinsieht oder nicht. Der Blick schweift ab und bleibt hängen, an den vielen kleinen, eingestreuten Perlen im Roman, wenn Jans Blick einen barfüssigen, zerlumpten Bettler mit seinem Hund trifft, der immer wieder die blutenden Stellen an den schmutzigen Füssen seines Herrchens leckt. Oder die Liebesgeschichten, jene vom alten Winterberg, die sich erst auf den letzten Seiten klärt und jene von Jan Kraus und seiner Carla, die er auf einer seiner ersten Überfahrten krebskrank bis in den Tod begleitet.

Verunsichert darüber, wie gross der Hype in den Medien rund um dieses Buch ist, über einen Schriftsteller, dessen vorangegangene Bücher mich viel mehr bewegten, die vielleicht weniger experimentell waren, mich aber wesentlich näher an die Protagonisten liessen. Verunsichert über ein Buch, in dem ich zuweilen begonnen habe, quer zu lesen, weil ich wie Jan Kraus selbst den endlosen historischen Anfällen, den Litaneien aus Geschichte, Eisenbahnhistorie nicht mehr folgen konnte.

„Durch jedes Schlachtfeld und durch jede Beziehung zieht sich der Nebel des Krieges.“

Warum soll man dieses Buch lesen? Wer bloss Unterhaltung sucht, ist schlecht bedient. Wer sich aber einem formalen Experiment aussetzen lassen will, das vom Autor in seiner ganzen Konsequenz durchgeführt wurde, wird durch Groteske und ausschweifende Intelligenz belohnt.

© Peter von Felbert

Jaroslav Rudiš (1972) ist Schriftsteller, Drehbuchautor und Dramatiker. Er studierte Deutsch und Geschichte in Liberec, Zürich und Berlin und arbeitete u.a. als Lehrer und Journalist. Im Luchterhand Literaturverlag erschienen seine aus dem Tschechischen übersetzten Romane»Grand Hotel», «Die Stille in Prag», «Vom Ende des Punks in Helsinki» und «Nationalstraße2, bei btb ausserdem «Der Himmel unter Berlin». «Winterbergs letzte Reise», der erste Roman, den Jaroslav Rudiš auf Deutsch geschrieben hat, ist 2019 für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert. 2012 erschien bei Voland & Quist seine Graphic Novel «Alois Nebel» auf Deutsch, illustriert von Jaromír 99. 2014 erhielt Jaroslav Rudiš für sein Werk den Usedomer Literaturpreis, 2018 wurde er mit dem Preis der Literaturhäuser ausgezeichnet. Seine Romane «Grand Hotel» und «Nationalstraße» sowie «Alois Nebel» wurden verfilmt.

Webseite des Autors

Beitragsbild © Sandra Kottonau

Linn Ullmann an der BuchBasel

Linn Ullmann letztes deutsch erschienenes Buch «Die Unruhigen» erzählt von ihren drei grossen Lieben. Jener zu «Hammars», dem Ort am Meer, an dem ihr Vater ein Haus gebaut hatte. Der Liebe zu ihrem Vater, dem Filmemacher Ingmar Bergmann und jene zu ihrer Mutter, der Schauspielerin Liv Ullmann. Drei Lieben, bei denen es kaum gemeinsame Liebe gab, kein Familienidyll, kein Bild von Vater, Mutter und Tochter.

Ob nacherzählt oder Fiktion, ob erinnert oder gewoben, spielt keine Rolle. «Die Unruhigen» ist ein ganz eigener Familienroman, ein behutsame Annäherungen an Menschen, die unglaublich viel Raum für sich beanspruchen. Ein Familienbuch. Das Buch einer Annäherung. Ein Buch der Tochter über ihre Liebe zu ihrem Vater, der Liebe zu ihrer Mutter, auch wenn die Liebe der beiden Eltern untereinander irgendwann abhanden kam.

«Ich bin ein vierundsiebzig Jahre alter Mann, und erst jetzt beschliesst Gott, mich aus dem Kinderzimmer zu werfen.»

Linn Ullmann nennt weder ihren Vater Ingmar Bergmann (Drehbuchautor, Film- und Theaterregisseur, 1918 – 2007) noch ihre Mutter Liv Ullmann (geb. 1938, Schauspielerin und Regisseurin) mit Namen. Nicht bloss aus Respekt, sondern weil ihr Erzählen fiktionalisiert ist. Es geht nicht darum, den voyeuristischen Blick jener zu stillen, die nach Enthüllungen gieren. Auch wenn «Die Unruhigen» kein Buch über eine «normale» Familie ist, denn der Vater ist berühmt, umgeben von Frauen, die Mutter ebenfalls berühmt und viel unterwegs, in der Kindheit des Mädchens lange nicht anwesend und die Tochter einmal da, einmal hier, umgeben von Kindermädchen, die in ihrer Not mit dem Kind die Flinte ins Korn werfen.

Am Ursprung des Buches lag ein gescheitertes Buchprojekt. Ein Buch, dass Linn Ullmann zusammen mit ihrem alt und krank gewordenen Vater schreiben wollte, ein Buch über Erinnerungen, Träume, Ängste und Bilder. Ein Buch, an dessen Beginn ein kleines Aufnahmegerät stand, dass die Fragen und Antworten zuverlässig hätte aufzeichnen sollen, Fragen, die angesichts der fortschreitenden Krankheit zu spät gestellt wurden und im Vergessen des Vaters verloren gingen. Aufnahmen, die in Nebengeräuschen zu verschwinden drohten, so unbrauchbar schienen, dass sie auf einem Dachboden vergessen gingen, bis der Zufall sie wieder in die Hände der Tochter zurückbrachte. So wie das verschwommene Foto auf dem Cover des Romans. Ein Bild, das die Autorin lange mit sich auf ihrem Mobilphone herumtrug.

«Er sagte, dass Dinge fort waren. Er sagte, dass die Worte verschwanden. Wäre er jünger gewesen, hätte er ein Buch darüber geschrieben, alt zu werden. Doch jetzt, da er alt war, schaffte er das nicht.»

So sassen Tochter und Vater in den letzten Monaten eines langen Lebens im selbst gebauten Haus auf der Ostseeinsel Fårö zusammen, um festzustellen, dass Erinnerung vergessen geht. Die Erzählerin will all die Bilder ihres Lebens nicht verblassen lassen, nicht noch unschärfer werden lassen.

«Die Unruhigen» ist komponiert, unterteilt in sechs Kapitel, wie die sechs Violoncellosuiten von Johann Sebastian Bach. So wie jede Suite ihren Ton, ihr Temperament hat, zeigt sich dies auch in den sechs Kapiteln des Romans, deren Tonarten nicht dem Zufall überlassen sind, die beweisen, wie behutsam und mit wie viel formalem Bewusstsein sich die Autorin ihrem Vater und ihrer Mutter annähern will.

«Um über wirkliche Personen zu schreiben wie Eltern, Kinder, Geliebte, Freunde, Feinde, Onkel, Brüder oder zufällige Passanten, ist es notwendig, sie zu fiktionalisieren. Ich glaube, dies ist der einzige Weg, ihnen Leben einzuhauchen. ‹Sich erinnern› heisst, sich umzuschauen, immer wieder, jedes Mal von Neuem erstaunt.»

© Agnete Brun

Linn Ullmann ist eine der bedeutendsten Autorinnen Skandinaviens. Ihre Romane sind vielfach preisgekrönt und in 30 Sprachen übersetzt. 2017 erhielt sie von der Schwedischen Akademie den Doubloug-Preis für ihr Gesamtwerk. Bei Luchterhand erschien zuletzt „Das Verschwiegene“ – unter dem Titel „The Cold Song“ u.a. auf der Jahresbestenliste der New York Times und eines der Lieblingsbücher von James Wood (New Yorker). Für „Die Unruhigen“ erhielt sie den Hörerpreis des Norwegischen Rundfunks, der Roman war für den Kritikerpreis und den Nordischen Literaturpreis nominiert. Eine Bühnenfassung wird im Herbst 2018 am Königlichen Dramatischen Theater Stockholm unter der Regie von Pernilla August ihre Uraufführung haben.

Paul Berf, geboren 1963 in Frechen bei Köln, lebt nach seinem Skandinavistikstudium als freier Übersetzer in Köln. Er übertrug u. a. Henning Mankell, Kjell Westö, Aris Fioretos und Selma Lagerlöf ins Deutsche. 2005 wurde er mit dem Übersetzerpreis der Schwedischen Akademie ausgezeichnet.

Beitragsbild © Ben Koechlin

Juli Zeh «Neujahr», Luchterhand

Ein Familienurlaub auf Lanzarote über Weihnachten und Neujahr. Henning ist mit Neujahrsvorsätzen auf einem geliehenen Rad vom Ferienhaus unterwegs hinauf nach Femés. Was als Fahrradtripp beginnt, wird zum Alptraum. Henning öffnet die «Büchse der Pandora», jenes schwarze Loch mit der Angst, damit sein ganzes Leben, seine Familie, seine Ehe aus den Angeln zu heben.

Henning ist verheiratet und hat zwei Kinder. Eigentlich geht es ihm gut, gemessen an anderen sowieso. Der Urlaub auf Lanzarote soll Aufschub gewähren vor dem, was er in seinem Leben nicht mehr abwenden zu können scheint; der zunehmende Stress in seinem Beruf, die immer enger werdenden Pflichten, all das, was er nicht mehr auf die Reihe bringt, was an Hoffnungen und Wünschen auf der Strecke bleibt.
Er und seine Frau haben sich arrangiert. Familien- und Erwerbsarbeit sind auf beider Schultern verteilt, ein kleines Studio ganz oben unter dem gleichen Dach Rückzugs- und Arbeitsort, beide verdienen ganz passabel und die Kinder gedeihen prächtig.

Aber Henning geht es nicht gut. Alles an Pflichten und Erwartungen, seien es äussere oder innere, schnüren an seiner Kehle, drücken auf die Brust. Immer häufiger springt ihn ES an, ein Gefühl, das ihm den Atem nimmt, das Herz aus dem Rhythmus bringt, den Schweiss kalt aus den Poren treibt. Panikattacken, die ihm nicht nur den Schlaf, auch Ruhe und Zuversicht rauben. Zustände, die ihn abdrängen und alles Gleichgewicht pulverisieren. Panikattacken, denen er sich immer mehr ergibt und die seine Frau immer mehr aus der Reserve locken. «Sei ein Mann. Einer, den man lieben kann.»

Aus einer Laune heraus besteigt Henning am Neujahrstag ein Mietfahrrad. Und obwohl er schlecht ausgerüstet ist, weder Wasser noch etwas zu Essen bei sich hat, das Tshirt schon bald an seiner Haut klebt und der Wind und der wachsende Schmerz in seinen Muskeln unmissverständlich machen, wie unvernünftig der Tripp ist, pedalt sich Henning in einen wahren Rausch hinauf auf einen Pass. Die wiegenden Bewegungen auf dem Rad werden zu einem Stampfen gegen alle Zwänge, der Pass oben am Horizont das Fadenkreuz seines Lebens. So sehr die Muskeln schmerzen, so sehr Hunger und Durst nagen, der letzte Schweiss aus den Poren tropft, so sehr scheint er mit der wachsenden Distanz alles hinter sich liegen lassen zu können. Erst recht, als ihn oben, völlig entkräftet, eine SMS erreicht, die ihm alles wegzureissen scheint.

Wie damals. Denn auf dem Pass, über allem, was sein Leben ausmacht, im Delirium von Unterzuckerung und totaler Erschöpfung, in der Angst, dass ihn das ES ein weiteres Mal in die Zange nimmt, trifft er an einem Ort ein Haus. Ein Haus und einen Ort, den er zu kennen glaubt, ein Déjà-vu. Mit einem Mal zerrt die verdrängte Vergangenheit einen Vorhang nieder, öffnet sich die Büchse der Pandora.

Ist das, was man sieht und fühlt, das, was wirklich ist? Juli Zeh spürt einer Existenz nach, die sich vergessen hat, beweist einmal mehr wie viel menschlichen Durchblick sie umzusetzen weiss, wie nahe sie den direkten Problemen des modernen Menschen ist. Henning ist ein männlicher Archetyp; angepasst, modern, verantwortungsbewusst, gestresst und unglücklich. «Neujahr» ist aber nicht eindimensional. Henning stellt sich weder der Gegenwart noch der Vergangenheit. Erst wenn ihn die Konfrontation dazu zwingt – dann aber umso heftiger! «Neujahr» schmerzt beim Lesen, weil Juli Zeh von frühkindlichen Verletzungen erzählt, dessen seismischen Folgen  unaufhörlich Hennings Leben erschüttern. «Neujahr» erfrischt beim Lesen, weil Juli Zeh glasklar erzählt. Juli Zeh ist ein literarisches Ereignis!

© Peter von Felbert

Juli Zeh, 1974 in Bonn geboren, studierte Jura in Passau und Leipzig. Schon ihr Debütroman «Adler und Engel» (2001) wurde zu einem Welterfolg, inzwischen sind ihre Romane in 35 Sprachen übersetzt. Ihr Gesellschaftsroman «Unterleuten» (2016) stand über ein Jahr auf der SPIEGEL-Bestsellerliste. Juli Zeh wurde für ihr Werk vielfach ausgezeichnet, u. a. mit dem Rauriser Literaturpreis (2002), dem Hölderlin-Förderpreis (2003), dem Ernst-Toller-Preis (2003), dem Carl-Amery-Literaturpreis (2009), dem Thomas-Mann-Preis (2013), dem Hildegard-von-Bingen-Preis (2015) und dem Bruno-Kreisky-Preis (2017) sowie dem Bundesverdienstkreuz (2018).

Rezension «Unterleuten» auf literaturblatt.ch

Webseite der Autorin

Beitragsbild © Sandra Kottonau

Jonas Karlsson «Das Zimmer», Luchterhand

in einem meiner Lesezirkel besprochen.

Jonas Karlssons Roman «Das Zimmer», der als neue literarische Stimme Schwedens gepriesen wird, ist ein Kammerstück menschlicher Abgründe, meisterlich inszeniert in den Tiefen eines Grossraumbüros, jenem sensiblen Kosmos, in dem sich Archetypen verschiedenster Färbung unfreiwillig nahe kommen.

Björn tritt eine neue Stelle in einer Behörde an, von Beginn weg möglichst schnell einer jener werdend, auf die es ankommt. Björn richtet sich am Doppeltisch, Hakan gegenüber, ein. Er beobachtet und filtert alles in seiner grandiosen Selbstüberschätzung. Er arbeitet kaum, legt sich allerhöchstens etwas zurecht, hängt seinen Gedanken nach, lauernd. Schnell scheint ihm klar, einer, wenn nicht der Cleverste zu sein, ohne zu merken, wie sehr sich die Stimmung im Grossraumbüro seit seinem Arbeitsbeginn zu seinen Ungunsten verändert. Kein Grund zur Selbstreflexion! Viel mehr Zeichen dafür, wie entschlossen Björn für eine neue Ordnung einstehen muss.

Und dann ist da das Zimmer. Eine Tür zwischen Aufzug und Toilette. Ein kleines Zimmer ohne Fenster, ein Tisch in der Mitte, ein Computer, ein mit Ordnern gefülltes Regal, ohne Staub, alles in Reih und Glied, aufgeräumt, vorbereitet, auf ihn wartend. Björn klinkt sich immer häufiger in dieses Zimmer aus, sein Refugium, holt dort Kraft, findet dort jene Ruhe, die ihm das Grossraumbüro verweigert. Nur ist Björn der einzige, der von diesem Zimmer weiss. Er vermutet ein Geheimnis. Doch als sich die Zeichen im Büro immer unmissverständlicher 042_87460_164198_xxlgegen ihn richten, man ihm zu verstehen gibt, für wie verrückt man ihn hält, jedes Gespräch verstummt, wenn Björn auftaucht, erzählt Björn vom Zimmer, jenem Raum, der immer mehr zu seiner Mitte wird. Aber niemand an seinem Arbeitsort, nicht einmal Margareta, der Björn während einer steifen Weihnachtsfeier im Büro im Zimmer nahe zu kommen glaubt, bestätigt die Existenz dieses Zimmers. Nicht einmal der Tür zwischen Aufzug und Toilette. Man beginnt Björn zu denunzieren, wenn er völlig weggetreten an der Wand zwischen Aufzug und Toilette lehnt. Björn nimmt den Kampf gegen die «Dummheit der Menschen auf, gegen Einfalt, Verleugnung und Inkompetenz». Björn, ein Ungetüm an Selbstbewusstsein und Selbsterhöhung. Er, ein offener, argloser Mann, im Kampf gegen Windmühlen, Er, den man doch ganz offensichtlich systematisch wegmobben will, der doch deutlich sieht, wie ein himmelschreiender Komplott geschmiedet wurde. Erst recht, als er aus dem Zimmer gestärkt Arbeiten abliefert, die bis hinauf in die Etagen der Direktion entzücken.

Grossraumbürowelt als Verkleinerung der Arbeitsgesellschaft. Björn als Archetyp jener «Aufsteiger», die durch Erfolg ihr Wesen als Kotzbrocken zu rechtfertigen wissen, die durch Umkehrung von Tatsachen und Wahrnehmung ihren Blick auf die Welt zur einzigen Wahrheit erklären, mit der Fähigkeit zu akzeptieren, dass der ganze Rest der Welt dem Irrtum verfällt. Einsam, wenn man ständig der Einzige ist, der «in dieser so leicht zu täuschenden Welt die Wahrheit sieht». «Nicht weiter verwunderlich, kreative Menschen sind schon immer auf Widerstand gestossen. Es ist ganz natürlich, dass einfach gestrickte Personen Angst vor Sachkenntnis haben.»

Gibt es dieses Zimmer? Oder ist das Zimmer bloss Björns leere Seele? Jonas Karlssons 170 Seiten starker Roman liest sich leicht und reisst einem mit. Und uns in unserem Lesekreis in eine heftige Diskussion, heftigste Bestätigung und die Überzeugung, ein eindringliches Buch gelesen zu haben!

img_0104Jonas Karlsson, 1971 in Södertälje in der Nähe von Stockholm geboren, ist eine der vielversprechendsten literarischen Stimmen Schwedens. Die New York Times lobte «Das Zimmer» als «meisterhaft», die Financial Times nannte es «brillant». Das Buch brachte Karlsson den internationalen Durchbruch. Der 45-Jährige zählt zu den angesehensten Schauspielern seines Landes und wurde bereits zweimal mit dem schwedischen Filmpreis ausgezeichnet. Karlsson hat bislang drei Kurzgeschichtensammlungen, zwei Romane und ein Theaterstück veröffentlicht.

img_0115Und was lesen wir im Lesezirkel bis im kommenden Januar? Noch beeindruckt von einer Lesung bei der BuchBasel 2016, bei der Michael Kumpfmüller aus seinem Roman «Die Erziehung des Mannes» las und erzählte, lesen wir seinen 2011 erschienen Roman «Die Herrlichkeit des Lebens», über Franz Kafkas letzte grosse Liebe.