Jaroslav Rudiš und Nicolas Mahler «Nachtgestalten, Luchterhand

Zwei sind nachts in den finsteren Strassen einer Stadt unterwegs, ohne Ziel, solange, bis kein Lokal mehr offen hat, bis es nirgends mehr etwas zu trinken gibt. Zwei Freunde, schon alles gesagt, schon viel erlebt – und doch gibt es Abgründe, Erinnerungen ohne Licht. Dem Schriftsteller Jaroslav Rudiš und dem Illustrator Nicolas Mahler ist ein Graphic Novel  gelungen, das vordergründig Banales, aber im Grunde von den Dramen des Lebens erzählt.

Sie sind Freunde. „Hast du eigentlich mit Hana geschlafen?“, fragt der eine. 

Oder „Gibt es Hoffnung in dieser Welt?“

Antworten gibt das Gegenüber nur dünne. Die Zeichnungen von Nicolas Mahler dafür sprechen Bände. Zwei Stadtmenschen, alt gewordene Streuner, die durch die Gassen streifen, gefangen in Desillusion und dem Trott des Immergleichen. Eine Freundschaft, die sich an Biergläsern festhält, in der man über die wirklich wichtigen Dinge des Lebens gar nicht mehr offen spricht, weil man glaubt, die Antworten des andern zu kennen.

Jaroslav Rudiš und Nicolas Mahler «Nachtgestalten», Graphic Novel, Luchterhand, 2021, 144 Seiten, CHF 27.90, ISBN 978-3-630-87638-2

„Den Wisenten kannst du vertrauen, den Menschen nicht.“ Sie sind eigentlich fertig mit der Welt, haben ihre Erfahrungen gemacht. Das Leben und die Geschichte hat ihnen recht gegeben. Und wenn dann doch noch etwas aufblitzt, dann brennt die Lunte nur bis zum nächsten Bier. „Nachtgestalten“ ist aber keine bild- und textgewordene Bierseligkeit, kein Morast, der sich nach Ernüchterung und Nüchternheit ausbreitet. „Nachtgestalten ist voller Witz und Einsicht, erzählt vom wirklichen Leben und davon, dass man es nicht sausen lassen soll.

Die beiden erzählen sich Geschichten und aus der Geschichte, wie sehr sie Geschichte und Geschichten fertig machen; ihre eigene Geschichte, die Geschichte ihres Landes, die Geschichte des Menschen. Sie sinnieren, mit langen Pausen, in denen Bier nachgegossen wird, ordentlich Bier, Geschichten, die mit steigendem Pegel immer verrückter werden.

„Eins ist sicher. Ich habe studiert, und ich verstehe die Welt nicht.“

Man muss es mehrfach lesen. So wie man immer wieder in die Kneipe einkehrt und immer wieder ein Bier trinkt. Mit jedem Glas steigt die Wirkung! Jaroslav Rudiš ist ein Magier der Geschichten. Und Nicolas Mahler sein kongenialer Zeichner. Zeichnungen, die die Wirkung des Textes vervielfachen und längst nicht nur bebildern. In kleinen Schlucken geniessen!

Jaroslav Rudiš, geboren 1972, ist Schriftsteller, Drehbuchautor und Dramatiker. Er studierte Deutsch und Geschichte in Liberec, Zürich und Berlin und arbeitete u.a. als Lehrer und Journalist. Im Luchterhand Literaturverlag erschienen seine aus dem Tschechischen übersetzten Romane «Grand Hotel», «Die Stille in Prag», «Vom Ende des Punks in Helsinki» und «Nationalstraße», bei btb ausserdem «Der Himmel unter Berlin». «Winterbergs letzte Reise«, der erste Roman, den Jaroslav Rudiš auf Deutsch geschrieben hat, wurde 2019 für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert. Für sein Werk wurde er ausserdem mit dem Usedomer Literaturpreis, dem Preis der Literaturhäuser sowie dem Chamisso-Preis/Hellerau ausgezeichnet.

© Leonard Hilzensauer

Nicolas Mahler, geboren 1969, ist Comic-Zeichner und Illustrator. Seine Comics und Illustrationen erscheinen unter anderem in Die Zeit, NZZ am Sonntag, FAZ und in der Titanic. Für sein Werk wurde er mehrfach ausgezeichnet, unter anderem 2010 mit dem Max-und Moritz-Preis als «Bester deutschsprachiger Comic-Künstler» und 2015 mit dem Preis der Literaturhäuser. Zuletzt erschien seine Comic-Interpretation «Ulysses» im Suhrkamp-Verlag. Er lebt und arbeitet in Wien.

(Zeichnung mit freundlicher Genehmigung des Verlags)

Beitragsfotos © Leonard Hilzensauer

Pascale Osterwalder «Daily Soap», Graphic Novel, Luftschlacht

Eigentlich ist er ein armer Kerl. Ein halbes Leben wartete er auf seine Bestimmung, seinen Platz, den man ihm versprochen hatte, um dann in der Bedeutungslosigkeit zu verschwinden, ein Leben unter Druck auszuhalten, nur geben zu müssen. „Daily Soap“ ist eine ganz besondere Soap, eine Seifenoper der besonderen Art.

Der Held dieser Soap wartet. Zuerst ewig lange, bis sich jemand seiner erbarmt, ihn mitnimmt und bezahlt, bis er seinen Platz gefunden hat in einer der Nasszellen in der Wohnung. Er hatte Monate ausgeharrt, zuerst ganz hinten im Regal, dann vorne, unberührt, bis man ihm eine farbige Etikette verpasste, eine Art Auszeichnung, eine Ermunterung, ihn zu nehmen, ein Entgegenkommen.

Dann steht er dort, am immer gleichen Ort, meist unbeachtet, um dann mit einem Mal hergeben zu müssen, was man hütet, sein ganzes Inneres. Für ganz kurze Momente gehört die Zuwendung ihm, wenn auch nur unter Druck, um sich nachher leer zu fühlen und wieder zu warten. Zischen all den anderen Dingen mit exakter Bestimmung.

Er ist ein Spender, ein Wohltäter, eine Institution für die öffentliche Hand. Jetzt erst recht in Zeiten von Pandemie und grosser Verunsicherung. Auch wenn am Schluss das unweigerliche Ende droht. Das Ende, dem er zuschauen kann, wenn der grosse schwarze Sack erscheint, wenn andere verschwinden, Neues dasteht.

Pascale Osterwalder haucht einem Seifenspender Leben ein, gibt dem Ding für einmal Individualität, ein empfindliches Gefühlskostüm. Die Illustratorin zeichnet mit Bleistift eine Seifenoper der ganz besonderen Art. Und weil beim Luftschlacht Verlag in Wien neben Belletristik, Kinder- und Kunstbücher auch Graphit Novels zum festen Bestandteil des Verlagsprogramms gehören und man sich nicht scheut, der gezeichneten Ästhetik auch die entsprechende Hülle, das haptische Kleid zu geben, ist „Daily Soap“ ein eigentliches Geschenk an all jene geworden, die tatsächlich mit den Augen lesen!

Interview

Wie kam es zur Zusammenarbeit mit der Zeitschrift Falter?
Ich habe letzten März, während des ersten Lockdowns unter anderem den Falter angeschrieben und mein Seifenspender-Projekt vorgestellt. Der Seifenspender ist durch die Pandemie plötzlich zu einem omnipräsenten Objekt geworden und mein langjähriges Projekt hatte schlagartig an Aktualität gewonnen. Ich hatte mich direkt an Klaus Nüchtern vom Falter gewandt, der gleich begeistert war und es an die ganze Redaktion weitergeleitet hatte. Ich dachte dann, dass sie die Serie vielleicht 5-6 Ausgaben lang behalten würden, aber nun dauert sie bereits ein Jahr lang an – die Pandemie bekanntlich leider auch.

Was war zuerst; der Seifenspender oder Corona?
Das Seifenspender-Projekt habe ich vor gut zehn Jahren begonnen und über die Jahre sind immer wieder Zeichnungen, Animationen, Texte, kleine Skulpturen dazugekommen; mit kleinen Ausstellungen und Filmscreenings. Vor ca. drei Jahren habe ich begonnen an der Buchidee zu arbeiten. Die Verlagssuche gestaltete sich aber eher schwierig, weil depressive Seifenspender lange doch eher ein Randthema waren. Da hat die Pandemie dem Projekt einen ordentlichen Schub beschert.

Sie hauchen Dingen Leben ein. Sieht jemand, der so genau schaut wie Sie, anders?
Während meiner Zeit als Artist in Residency in New York habe ich meinen verspielteren Blick auf die Welt zurückgewonnen, (Das war vielleicht das beste an dem Preis) und wieder begonnen, meine eigenen Geschichten aufzuschreiben, zu zeichnen und zu animieren. Während der Ausbildung war das oft nicht so gefragt oder kam einfach zu kurz. In meiner kleinen Wohnung in New York habe ich auch zum ersten Mal den Seifenspender als Charakter wahrgenommen. Da habe ich mich sehr frei gefühlt, ich musste nichts abliefern, kein Produkt, ich musste nichts definieren. Plötzlich war alles möglich – ich glaube, das macht auch diese Stadt mit einem – und die Dinge haben angefangen zu leben. Diese Stop-Motion-Filme sind damals entstanden: https://www.elaxa.ch/portfolio/fox-bear/ und auch dieses Projekt mit meiner erfundenen Gans: https://www.elaxa.ch/portfolio/meandmygoose/ 
Jetzt helfen mir auch meine Kinder, diesen verspielten Blick zu bewahren.
Ich weiss nicht, ob ich anders sehe. Es macht mir einfach Spass, mir vorzustellen, wie es einem Gegenstand ginge, wäre er ein Lebewesen oder hätte er Gedanken. Und so sehe ich manchmal in Anordnungen von ein paar Flaschen oder Putzmittel ganze Beziehungsdramen. Manchmal reicht eine gewisse Perspektive und das Ding wird zum Charakter.

Aus ihren Zeichnungen, aus dem ganzen Buch spricht viel Respekt, Liebe zu den Dingen. Aber nicht die Liebe eines Messis, eines Konsumsüchtigen, sondern die Liebe und der Respekt eines Menschen, der hinter die Dinge zu schauen weiss. Steckt hinter dem Buch auch eine Mission?
Es ging mir nie um eine Mission, aber ich bekomme viele Rückmeldungen, dass Leute ihre Seifenspender jetzt mit anderen Augen sehen. Und wenn das Buch dazu beiträgt, dass man Skrupel bekommt, seinen leeren Seifenspender wegzuwerfen und ihn stattdessen wieder auffüllt, dann macht mich das froh. 

Sie sind Illustratorin. Ein steiniger Weg?
Steinig würde ich nicht sagen. Ich habe es über die Jahre geschafft, neben Grafikaufträgen, immer mehr mit Illustrationen zu verdienen. (Aber ab und zu tut ein unkreativer Auftrag auch ganz gut, das kann man einfach abarbeiten.) 
In den letzten Jahren habe ich immer mehr versucht, meine eigenen Projekte voranzutreiben, was aber neben den Auftragsarbeiten, die das Geld einbringen (und Kindern), nicht so einfach ist. Der neuerliche Werkbeitrag der Ausserrhodischen Kulturstiftung im Dezember 2019 hat mir dabei geholfen. 
Es ist jetzt gerade noch ein anderes Buch im Druck, das der Zürcher Verlag everyedition.ch herausbringt. Es heisst „All I ever had, went down the drain.“, ist auf English und mit einem ziemlich dicken schwarzen Pinsel-Filzstift gezeichnet und geschrieben. Es ist inhaltlich roher und direkter. Ein gezeichneter Monolog des Seifenspenders, der den Besitzer direkt anspricht. 

(Wiedergabe der Illustrationen mit freundlicher Genehmigung des luftschlacht Verlags)

Auf der Webseite der Autorin findet man sogar animierte Kurzfilme, die nicht nur den Seifenspender bewegten!

Pascale Osterwalder «Daily Soap» Aus dem Leben eines Seifenspenders, Luftschlacht, 2021, 134 Seiten, CHF 26.90, ISBN 978-3-903081-88-8

Pascale Osterwalder, geb. 1979 in der Ostschweiz, ist selbständige Illustratorin, Grafikerin und Animationskünstlerin. Sie studierte Visuelle Kommunikation an der Hochschule für Gestaltung und Kunst Zürich und landete nach einer Artist in Residency in New York schliesslich in Wien. In ihrer künstlerischen Arbeit beschäftigt sie sich hauptsächlich mit dem Eigenleben von Alltagsgegenständen. Ihre Seifenspenderzeichnungen erscheinen derzeit wöchentlich im «Falter».

Webseite der Illustratorin

Beitragsbild © Albert Waaijenberg