Norbert Hummelt «Sonnengesang», Luchterhand

Schluss mit Kultur? – das soll nicht sein. Wenn die veranstaltete Kultur ausfällt, bleibt (wieder) Zeit zum Lesen, Hören, Schauen. Kulturstillstand? Muss nicht sein! Kaufen Sie Bücher und Musik bei den HändlerInnen Ihres Vertrauens (bloss nicht bei Amazon!). Beteiligen Sie sich bei all den Benefizaktionen in den Sozialen Netzwerken! Bringen Sie Kultur zuhause zum Leuchten!

Warum nicht eine Lesung zuhause? Lesen Sie Ihren Kindern ein Buch oder eine Geschichte vor. Oder wenn nach all dem Homeoffice, der Kinderbetreuung zuhause, der Küchenarbeit und dem Telefonat mit der Mutter oder dem Grossvater noch Energie übrig bleibt, wenn auch nur ein Fingerhut voll, dann lesen Sie ein Gedicht. Ganz für sich selbst oder der/dem anderen, die/der sich im gleichen Bett ins Kissen kuschelt. Zum Beispiel Gedichte aus dem neuesten Gedichtband «Sonnengesang» von Norbert Hummelt:

amour fou
du handelst anders als du sagtest du redest
anders als du fühlst u. deine überall
verstreuten ausziehsachen u. dein strahlen
über jedes mass .. wer bist du u. wer
bin ich sitze ich da u. warte auf nichts
warst du denn nicht eben erst hier
die zimmerluft ist noch ganz feucht von dir

die verzauberung
sonntag gehen wir beim grossen stern die leicht
geschwungenen regenfeuchten wege u. ich gehe sie
mit dir so gern. vorüber am teehaus im englischen
garten, die späte sonne leuchtet dich kurz an, du ziehst
mich leise fort an deiner hand u. fragst, was ist das,
hinter diesem weiher, was für dinge hängen da im baum?
sieht aus wie weisse fahnen oder plastikzeug; doch es
sind reiher, u. uns zu rühren trauen wir uns kaum.
sie sollen doch jetzt wegen uns nicht fliegen. sie tun
es auch nicht; alle halten still. ich sah noch nie so
viele dieser vögel in fast schon kahlen winterlichen
ästen, flüstere ich in dein heisses ohr, doch kenne ich
mich auch so gut nicht aus. das alles kommt von
unseren küssen, u. keine stille ist noch je so tief
gewesen. ich möchte mit dir bis nach schweden
gehen. du ziehst mich leise fort an deiner hand.

waldeinsamkeit
im walde ging ich in dem jungen grün sah
überall den jungen bärlauch stehen
u. will mich nach dem jungen bärlauch
bücken aber kann es nicht denn
nein es geht nicht weil ich sehe
dich ich sehe deinen rücken wie du
dich beugst gebeugt hast du
vor einem jahr ich sehe dich den
jungen bärlauch pflücken immer mehr
du bist am pflücken u. du schaust
nicht her nur ich ich stehe da
u. sehe deinen rücken u. deshalb
kann ich heute mich nicht bücken
ich kann nicht mehr den jungen
bärlauch pflücken aber möchte es so sehr

Norbert Hummelt: „Sonnengesang“, Luchterhand, 2020; 96 Seiten, 29.90 CHF., ISBN: 978-3-630-87630-6.

Norbert Hummelt bezaubert ohne zu verklären. Seine Gedichte umgarnen mich in ihrer klugen Mischung aus Beobachtung, Witz und der Prise Ironie, die alles Wülstige wegwischt. Seine Gedichte sind Augenblicke, manchmal geschrieben wie kleine Geschichten, die sich mir nie durch Geheimnistuerei verschliessen. Da ist nichts gestelzt, nichts verklärt. Norbert Hummelt nimmt mich an der Hand. Manchmal bremst er mich, zeigt mir, was ich übersehen würde, um mir gleich danach zuzuzwinkern.

Als ich meiner Frau vor dem Lichterlöschen noch ein Gedicht oder auch zwei vorlas, leise in die Nacht hinein, sachte blätternd und sie nicht wusste, ob der Gesang schon enden würde, flüsterte sie: «Noch eins, bitte.»

Norbert Hummelt wurde 1962 in Neuss geboren und lebt als freier Schriftsteller in Berlin. Für sein lyrisches Gesamtwerk wurde er 2018 mit dem Hölty-Preis für Lyrik geehrt. Zuvor hatte er u.a. den Rolf-Dieter-Brinkmann-Preis, den Mondseer Lyrikpreis sowie den Niederrheinischen Literaturpreis erhalten. Er übertrug T.S. Eliots Gedichtzyklen «Das öde Land» und «Vier Quartette» neu ins Deutsche und ist Herausgeber der Gedichte von W.B. Yeats. Bei Luchterhand erschienen zuletzt seine Gedichtbände «Pans Stunde» und «Fegefeuer».

(Alle Gedichte von Norbert Hummelt mit freundlicher Genehmigung des Luchterhand Verlags auf literaturblatt.ch veröffentlicht.)

Beitragsbild © Laura Baginski