„Lichtungen“ ist die Geschichte von Kato und Lev, eine zarte Liebesgeschichte, die Iris Wolff überraschend erzählt, nämlich in neun Kapiteln vom Ende her erzählt. Haben Liebesgeschichten ein Ende? Jene von Kato und Lev nicht, Iris Wolffs Roman nicht, denn der Schluss des ersten Kapitels ist die Frage „Wohin fahren wir?“. Der Anfang ist ein Schluss ist ein Anfang.
Schon in ihren Romanen zuvor ist die Qualität in Iris Wolffs Erzählen die Zartheit ihrer Sprache, dieses filigrane Netz aus Wahrnehmungen, Empfindungen, das Sichtbarmachen des Unsichtbaren. „Lichtungen“ ist die Geschichte einer Freundschaft, zweier Charakteren, die sich wie ein Doppelplanet umkreisen, bis der eine aus dem Gravitationsfeld ausbricht und damit auch die Umlaufbahn des andern zerreisst. Kato reist in den Westen, bricht auf. Lev bleibt im Dorf, bis ihn eine Karte aus Zürich erreicht: „Wann kommst du?“.
Kato und Lev wachsen in Ceaușescus Rumänien auf, das Mädchen Kato mehr oder weniger alleine, zusammen mit einem alkoholkranken Vater, getrieben vom Wunsch auszubrechen, Lev bei seiner Mutter Lis und seinen Grosseltern, seinen beiden Halbgeschwistern, als jüngster Spross einer Familie, in einem kleinen, grauen Ort. Beide sind Aussenseiter, Lev schwächlich, ohne Antrieb, bei all dem Rudelgehabe in der Schule und im Dorf eine Rolle zu spielen, Kato von fast allen gemieden, nicht zuletzt, weil sie sich mit Stift und Papier von all dem absetzt, was die Interessen aller anderen ausmacht. Und weil man Kato dazu verdonnert, dem kranken Lev die Hausaufgaben ans Bett zu bringen, wächst zwischen den beiden etwas, was mit den Jahren immer mehr zu einer Freundschaft wird, die alles andere zusammenzuhalten scheint.
Dass Iris Wolff Malerei studiert hat, zeigt sich nicht nur, weil ihre Protagonistin Kato Künstlerin, Zeichnerin, Malerin ist. Iris Wolff hat eine ganz eigene Fähigkeit zu sehen. Sie schreibt aus den Augen ihrer beiden ProtagonistInnen, ohne in ihre Figur hineinzuschlüpfen. Kato entwickelt ihre ganz eigene Art des Sehens, so wie die Autorin selbst. Auch Lev ist ein Sehender, ein Beobachtender, einer, der mehr wahrnimmt als andere und doch das Gefühl nicht wegbekommt, aussen vor zu sein. Ein Gefühl, das ihn restlos einnimmt, als ein Fremder in Fahrradmontur im Dorf auftaucht und Kato dazu bringt, mit ihm das Dorf mit unbestimmtem Ziel zu verlassen. Kato entschwindet und Lev bleibt. Bis er es nicht mehr aushält und ein kläglicher Versuch eines Ausbruchs ihn wieder zurück ins Dorf spült. Bis Lev Jahre später die Karte aus Zürich erhält und endlich aufbricht.
Vielleicht beschreibt der Titel „Lichtungen“ auch die Art der Freundschaft der beiden. So wie das, was zwischen Kato und Lev über die Jahre entstanden ist, genau das, was „Lichtungen“ in seinem Leben ausmacht. Für Lev ist Kato die Tür zur Welt, für Kato Lev ein Stück Zuhause, etwas, das ihr im Vergleich zu allem anderen nicht genommen werden kann.
Lev, der die Schule abbricht, als Soldat nur schwer zurechtkommt, als Waldarbeiter in die Tiefen der rumänischen Wälder geschickt wird und nur überlebt, weil er Freundschaft mit Imre schliesst, einem Mann, der sich dort selbst bestraft und in dessen Sägerei er später Arbeit findet, wird durch ein Leben geschoben. Kato, die sich ihre Welt mit ihrem Stift, mit Pinsel oder Kreide macht, die mit ihrer Leidenschaft immer am Fenster zur Welt steht, zieht es weg. Eine Freundschaft in Gegenseitigkeit. Eine Freundschaft, die in Liebe eingetaucht ist, in die sich Leidenschaft mischt, die aber immer zuerst Freundschaft bleibt, bis zu diesem einen Satz „Wohin fahren wir?“.
Ihre Strategie, die Geschichte von Kato und Lev in ihrer Chronologie zurückzuerzählen, scheint experimentell. Aber ein Blick zurück, auf ein Leben, eine Geschichte, auch auf die Geschichte eines Landes, jener Ecke Rumäniens, die die nationale Zugehörigkeit immer wieder wechseln musste, ist immer ein Blick zurück. Nur die meist gewählte Erzählrichtung liegt in der Gegenrichtung. Aber während des Lesens von „Lichtungen“ erschliesst sich Schicht um Schicht, erklärt sich Bild um Bild.
Warum „Lichtungen“ ein ähnliches Lesegefühl wie „Die unendliche Leichtigkeit des Seins“ von Milan Kundera bei mir auslöst, weiss ich nicht wirklich. Aber beim Lesen, ich las den Roman gleich zweimal hintereinander, war da das Gefühl, an etwas Besonderem teilhaben zu dürfen.
Interview
Ich bin begeistert und schwer beeindruckt. Zum einen ist es eine Geschichte, in der viele Themen eingebunden sind. Aber genauso deine Art des Erzählens, die Zartheit deiner Sprache, die mich ans Zeichnen erinnert. Es sind keine opulenten, mit Öl gemalten Bilder, sondern Zeichnungen in Pastellfarben, ohne je rührselig oder kitschig zu wirken, fein skizziert, mit vielen Zwischenräumen, Zeichnungen in der perfekten Mischung aus Schmeichelei und Herausforderung. Wie passiert Schreiben bei Iris Wolff? Was sind die Zutaten, dass es klappt? Gibt es Dinge, die du um jeden Preis vermeidest?
Die wichtigste Zutat ist Stille. Sprachliche Äußerungen deuten Wirklichkeit, reduzieren sie, verfehlen sie manchmal haarscharf. Es ist schwer, etwas wirklich Neues zu denken und zu schreiben; nicht immer dieselben Erfahrungen zu machen, weil sich die Zukunft aus den Mustern der Vergangenheit wiederholt. Er wolle malen, was er sehe, und nicht, was er wisse, soll William Turner formuliert haben – dabei ist es geradezu unmöglich, die Welt zu sehen, wie sie an sich ist, weil sich alles immerzu in unsere Gedanken einfärbt. Was mir hilft ist Stille. Dort sind Dinge und Erfahrungen noch nicht beurteilt, zergliedert, analysiert. Sie sind einfach da; sie sind groß, überwältigend, mitunter widersprüchlich. Aus dieser Kraft heraus sind Sätze möglich, die jene Balance halten zwischen Präzision und Offenheit, zwischen Gesagtem und Angedeuteten. Was ich unbedingt vermeiden möchte: Meine Figuren festnageln, ausdeuten ins grellste Licht zerren. Ich möchte ihnen möglichst unvoreingenommen begegnen; sehen, was sich verbirgt, zeigen, was ungesagt ist, aber doch auch gleichzeitig das Verborgene, ihr Geheimnis hüten.
Die Freundschaft zwischen Kato und Lev ist ein feinmaschiges Geflecht, das den beiden ganz unterschiedliche Positionen erlaubt. Obwohl es zwischendurch ganz ordentlich knistert und Eros schon früh mitspielt, lassen sich die beiden nie bis zur letzten Konsequenz auf den anderen ein. Weil sie ahnen, dass Leidenschaft Leiden schafft?
Mir war es wichtig, in der Schwebe zu lassen, ob es Liebe oder Freundschaft ist. Jeder Freundschaft ist Liebe beigemischt, und jeder Liebe Freundschaft. In der Malerei gibt es in der Moderne die Tendenz, den Rand freizulassen. Es wird nicht etwas gezeigt, sondern das Bild zeigt sich. So wie in Katos Skizzen die Strichführung sichtbar ist, ihre Spontaneität, Wucht, Feinteiligkeit, möchte ich auch in der Literatur mit offenen, unbeschriebenen Rändern schreiben – einen weiten Raum öffnen. So können sich Leserinnen und Leser zu einer Geschichte in Beziehung setzen (mit ihren Fragen, inneren Bildern) und letztlich selbst entscheiden, was das zwischen Lev und Kato ist.
Weder Lev noch Kato wachsen in klassischen Familien auf, in Familien, die einem Muster entsprechen. Beide fühlen sich nie ganz und gar zuhause, sicher, aufgehoben. Da ist bei beiden die Sehnsucht nach mehr. Nur manifestiert sich diese Sehnsucht ganz unterschiedlich. Bei üblicher Erzählweise frage ich gerne, ob während des Schreibens der Weg oder gar das Ende klar vor Augen war. Du erzählst zuerst den Schluss. Warum diese Strategie?
Ich habe Lev im Bett liegend kennengelernt, als kleinen Jungen, der nach einem Unfall seine Beine nicht mehr bewegen kann. In dieser reduzierten Welt, bestehend aus Bett, Haus und Familie, aus Geschichten und Geräuschen, war alles enthalten. Ich wusste: Sein Leben wird rückwärts erzählt, denn so begegnen wir einander auch im „echten Leben“. Man lernt jemanden kennen, und wenn sich die Begegnung verstetigt, erfährt man nach und nach, was denjenigen zu dem Menschen gemacht hat, der er heute ist. Die Form setzt den Rahmen für bestimmte Fragen. „Jedes Jetzt enthält das Vergangene“ – das ist eine Erkenntnis, die Lev in Zürich, am Anfang des Romans hat. Ich habe mir gewünscht, dass er die Traumata seiner Kindheit eines Tages hinter sich lassen und dass er neu beginnen kann. Ohne Kato wäre ihm das nie gelungen. Erzählerisch war diese Strategie eine Herausforderung, und habe mir vorgenommen, es mir beim nächsten Buch leichter zu machen 😉
Man muss sich aufmachen. Kato und Lev tun es. Du tust es mit jedem Buch. Du machst dich auf in dein Herkunftsland, eine Geschichte, in „fremdes“ Leben. Angesichts der aktuellen Geschichte, der Probleme, die ungelöst anstehen, scheint mir die einzig wirksame Losung zu sein, sich aufzumachen. Weder in der aktuellen Politik noch in Klimafragen spüre ich diesen unbedingten Willen. Vielleicht deshalb meine Überzeugung, dass die Literatur, die Kunst, dieses Aufmachen initieren kann. Wer liest, macht sich auf in andere Welten, öffnet sich. Oder ist Schreiben doch nur Selbstzweck?
Diese Frage berührt den Kern des Buches. Lev und Katos Geschichte ist als Reise in die Vergangenheit angelegt, weil Erkenntnis am leichtesten rückwirkend geschehen kann. Umso frustrierender, wenn wir merken, dass der Mensch anscheinend nicht fähig ist, aus den vergangenen Jahrhunderten mit seinen Kriegen und Diktaturen zu lernen. Der Blick zurück ist wichtig. Aber wahre Veränderung ist nur möglich, wenn man sich traut, radikal neu zu denken. Es kommt mir vor, als laborierten wir an Systemen herum, die grundsätzlich nicht mehr taugen. Nehmen wir das Beispiel Klimaschutz oder unser Umgang mit der Tierwelt. Wir gehören zur Natur, sind abhängig von anderen Lebewesen. Aber die menschliche Gier setzt sich über diese Einsicht hinweg. Dabei haben wir eine gemeinsame Geschichte, eine Übereinkunft: dass das Leben nur im Verbund möglich ist. Aber statt eine neue Tier-Ethik aufzustellen oder den Mut zu haben, Klimaschutz als oberste Priorität zu setzen, werden nur ab und an (oft genug nicht einmal das) Gesetze verabschiedet, die etwas verbessern sollen. Man könnte, wenn man hier in die Tiefe geht, leicht verzweifeln. Was Bücher auf einzigartige Weise können ist: Empathie erzeugen. Weil wir mit Büchern die Welt aus den Augen eines anderen Menschen sehen. Das gilt generell für Kunst: Wir weiten – für die Dauer eines Films, eines Buchs, eines Musikstücks – die Grenzen unseres fest gefügten Selbst und begreifen vielleicht, wie sehr alles miteinander verbunden ist.
„Lichtungen“ ist auch ein Buch der Auslassungen, der Ungewissheiten. Du leuchtest die Szenerien nicht aus. Dein Roman will nicht erklären. Es sind „Lichtungen“, die du beschreibst. So wie die eine Szene im Wald, der Kampf zwischen zwei Wölfen. Eine Szenerie, die nicht verdeutlicht, aber eine Stimmung erzeugt, eine Ahnung, Diskussionsstoff für ganz viele Leserunden, die sich mit deinem Buch zusammensetzen. Wie sehr ist dein Schreibprozess, dieses Buch, der Spiegel deiner ganz eigenen Prozesse? Oder wie sehr öffnest du dich im Schreiben der Einmischung und Beeinflussung?
Jedes Buch ist wie ein weiterer Jahresring eines Baums. Bücher sind Wachstumsprozesse. Es kann mitunter befremdlich sein, aus früheren Werken zu lesen; ein wenig so, als würde man alte Fotoalben durchblättern. Jeder neue Text verhandelt Fragen und bezeugt sicher auch Veränderungen der Weltwahrnehmung. Ich habe in Lichtungen mit Lev gelernt, dass das Gegenteil von Sprechen nicht Schweigen ist, sondern Hören. Dass es wichtig ist, ab und an zu überprüfen, ob Glaubenssätze und Selbstbilder einen am Gehen hindern. Und was den Schreibprozess anbelangt: Ich habe das Manuskript lange für mich behalten, weil ich Angst hatte, dass mir jemand das Rückwärtserzählen ausreden wird. Gleichzeitig bin ich immer offen für Einmischung. Die besten Hinweise begegnen einem zufällig. Wenn man auf „Empfang“ gestellt ist, arbeitet das Leben, der Zufall, die Natur, andere Menschen an der Geschichte mit.
Iris Wolff, geboren 1977 in Hermannstadt, Siebenbürgen, studierte Germanistik, Religionswissenschaft, Grafik und Malerei. Sie ist Mitglied des internationalen Exil-PEN und erhielt zahlreiche Auszeichnungen, darunter den Marieluise-Fleißer-Preis und den Marie-Luise-Kaschnitz-Preis für ihr Gesamtwerk. Für «Die Unschärfe der Welt» (2020) erhielt unter anderem den Solothurner Literaturpreis. Ausserdem wurde der Roman sowohl von deutschen als auch von Schweizer Buchhändlern zu einem der fünf beliebtesten Bücher gewählt. Iris Wolff lebt in Freiburg im Südwesten Deutschlands.
Deutschand kurz vor dem Mauerfall. Paul studiert Philosophie in Berlin, spürt dass sich etwas zusammenbraut und hat das unbedingte Bedürfnis, ein Teil dieses Etwas zu sein. „Liebe und Revolution“ beschreibt eine, aus der Gegenwart betrachtet, fast unwirklich erscheinende Zeit des Aufbruchs.
Die Gegenwart ist unbarmherzig, das Gefühl einer kollektiven Machtlosigkeit scheint sich wie ein lähmender Virus auszubreiten. Mit den Protestbewegungen in Ostberlin vor dem Mauerfall, dem Mauerfall selbst, den Befreiungskämpfen in Nicaragua und El Salvador damals, glaubte man noch an die Macht der Revolution, die Macht der Liebe für eine Sache. Auch Paul nimmt diese Kraft mit und entschliesst sich im Sog von konspirativen Lesekreisen und aktivistischen Zirkeln nach Nicaragua zu reisen, um bei Aufbauprojekten mitzuarbeiten. Es ist der unbedingte Wunsch, Teil einer Bewegung zu werden, dazuzugehören, nicht bloss Zuschauer zu sein. Obwohl er mit Beate in Berlin zum ersten Mal das Gefühl hatte, etwas vom Gefühl der grossen Liebe gelebt zu haben, fliegt er ins Land der sandinistischen Revolution, nicht mit der Absicht, eine Waffe in die Hand zu nehmen, sondern bei Bau- und Aufbauprojekten mitzuhelfen.
«Er lebte mit der schmerzlichen Gewissheit, mit allem zu spät zu kommen, vor allem aber mit dem Begreifen.»
Nach einem halben Jahr kommt er zurück, ein Stück weit desillusioniert und von vielen seiner Hoffnungen verloren. Nicht nur, dass die Revolution in jenem fernen Land längst sandinistischen Sand im Getriebe hatte, man sich in Positionen eingegraben hatte, Parolen zu leeren Floskeln wurden. Jene Frau, die er dort kennen und lieben lernt, die im Gegensatz zu ihm zu allem entschlossen ist, die er im Bus wenigstens ein Stück weit näher an die Front begleitet, wird umgebracht und Paul, nur durch Zufall der Katastrophe entronnen, nimmt das Trauma dieser Bluttat mit zurück nach Deutschland.
Aus Nicaragua zurück trifft er Beate wieder. Mittlerweile arbeitet sie bei der FAZ und versucht möglichst nahe an jenem Geschehen zu sein, dass Berlin kurz vor dem Mauerfall in ein brodelndes Epizentrum verwandelt. Aber so sehr Paul von den Geschehnissen in der Hauptstadt mitgerissen wurde, konfrontiert ihn Beate mit dem, was er mit seiner Reise nach Mittelamerika zurückgelassen hatte. Er, der aufbrechen, er, der sich einbringen wollte, verliess unwissend eine schwangere Frau. Beate, entschlossen, sich nicht zu einer Zurückgelassenen machen zu lassen, liess das Kind in ihrem Bauch wegmachen, eine Nachricht, die Paul erschüttert. Einmal mehr fühlt er sich nicht dort, wo man ihn gebraucht hätte, nicht bei Beate damals, nicht bei jenem Kind, aber auch nicht dort, am Nerv des Lebens.
«Dies war eine Zäsur, ein Schnitt durch die Zeit, durch den Raum. Die Mauer war ein Raumteiler aus Beton, aber auch ein Damm gegen das Verstreichen der Zeit, ein erzwungener Stillstand…»
„Liebe und Revolution“ ist eine Liebesgeschichte, eine Liebesgeschichte, die fast alle Ernüchterungen mit einschliesst. Eine sehnsüchtige Liebesgeschichte eines Mannes auf der Suche nach dem unmittelbaren Leben, nach einem Mittelpunkt, einem Platz im Leben. Paul ist auf der Suche nach dieser Liebe. „Liebe und Revolution“, auch wenn es noch nicht einmal ein halbes Jahrhundert her ist seit den Geschehnissen, in die der Roman eingebette ist, ist ein historischer Roman. So wie der Aufbruch damals in Mittelamerika längst geglättet ist, so ist vom Aufbruch mit der Wende nur noch wenig zu spüren. Was damals wabberte, ist institutionel verschraubt. So wie der Aufbruch in einer Liebe schnell von Gewohnheiten in Form gebracht werden will. Jörg Magenaus Roman verschränkt nicht nur im Titel zu seinem neuen Roman Liebe und Revolution, Revolution und Liebe.
Bestechend an Magenaus Roman ist auch die Nähe, die er erzeugt. Magenau spinnt ein feines, mehrschichtiges Erzählnetz, setzt sein Geschehen sowohl in grosse, äussere Zusammenhänge, wie in jene einer ganz engmaschigen, labilen menschlichen Psyche. Man erkennt im Roman die Betroffenheit des Autors deutlich. Magenau erzählt nicht aus distanzierter Abgeklärtheit. Es ist, als ob der Roman ein 300 Seiten langer Erklärungsversuch ist; Was passierte damals? Was ist geblieben? Wenn es Wenderomane gibt, dann ist Jörg Magenau mit „Liebe und Revolution“ ein ganz besonderer gelungen!
Interview
Ich bin von ihrem Roman schwer beeindruckt. Klar, es ist ein Roman über Auf- und Umbrüche, ein Liebesroman, ein grossfomatiges Zeitbild. Aber sie tauchen in einer Art und Weise mitten ins Geschehen, die mich selbst taumeln lässt. Die mich auch ziemlich heftig reflektieren lässt, wie sehr ich im Laufe meines Lebens an meine „kleinen“ Probleme gebunden war und gar nicht erfasste, was um mich herum geschah und geschieht. Ist der Roman auch ein ganz persönlicher Versuch des Ordnens und Einordnens? Jedes Erzählen ist ein Versuch, nachträglich zu ordnen, zu sortieren, zu konstruieren. Es kann gar nicht anders sein, weil jede Erzählung einen Anfang und ein Ende in der Zeit setzt und dazwischen nur das zur Sprache bringt, was irgendwie zur Sache gehört. Alles andere, also fast alles, wird ausgeblendet. Da das Erzählen immer erst im Nachhinein einsetzt, ist zumindest die zeitliche Distanz zum Geschehen vorausgesetzt, also eine Art Draufsicht. Das gilt auch dann, wenn die Erzählinstanz das verhindern möchte und, wie in meinem Roman, so dicht bei der Hauptfigur bleibt, dass sie nur ganz selten über deren unmittelbares Erleben hinaussieht. Eines der Themen, um die es mir geht, hat damit zu tun: Paul ist einer, der in der Zeitgeschichte drinsteckt, der dabei sein will, der aber immer im jetzt gerade gegenwärtigen Moment gefangen bleibt, ohne zu verstehen, was geschieht. Weder in der Nacht des Mauerfalls am 9. November 1989 in Berlin, noch im Jahr 1987 in Nicaragua begreift er, was um ihn herum vor sich geht und wohin das alles führen wird. Aber genau darin, in diesem Nicht-Erkennen, besteht zu weiten Teilen das menschliche Dasein, auch wenn wir uns gerne vormachen, den Überblick zu bewahren und wenigstens aufs eigene Leben bezogen Superchecker zu sein. Dabei verschlägt es einen im Leben immer wieder ganz woanders hin, als man gedacht hätte, und meistens kapiert man die politischen Zusammenhänge, in denen man existiert, erst zehn Jahre später und hat nochmal zehn Jahre später wieder eine ganz andere Einschätzung. Trotzdem leben wir unsere Leben unausweichlich in der nichtdurchschauten Gegenwart. In revolutionären Situationen wie in meinem Roman, in denen die Verhältnisse in Bewegung geraten, ist das besonders deutlich spürbar.
Paul hadert mit dem Gefühl, nicht dazuzugehören, irgendwie ausgeschlossen, aussen vor zu sein. Ist das nicht ein Problem ausschliesslich der Menschen des sogenannten Informationszeitalters? Mit der Individualisierung scheint der Mensch immer mehr an seiner Bedeutungslosigkeit zu leiden. Weshalb sind wir sonst gezwungen, dauernd Selfies von uns zu machen und uns auf allen (un)möglichen Kanälen einzumischen.
Das stimmt. Mit den Möglichkeiten des Informationszeitalters wachsen auch die Illusionen der Zugehörigkeit und die Freude an narzisstischer Selbstinszenierung. All die „Freunde“ oder „Follower“, die man auf den Social Media-Kanälen gewinnt, erzeugen eine virtuelle Gemeinschaft, die nicht völlig irreal ist und die ein enormes Suchtpotential besitzt, weil sie Aufmerksamkeit verschenkt. Da zerfliessen die Grenzen zwischen sehr persönlichen und öffentlichen Angelegenheiten, und es entsteht etwas Neues, das sich in seinen Folgen auch noch nicht wirklich begreifen lässt. Vielleicht in zehn Jahren. Wie verändert sich das Denken einer Menschheit, die lieber twittert als komplexe Bücher zu lesen? Sich lieber mit Einzelerregungen befasst als mit grösseren Sinnzusammenhängen? Das Gefühl der Unzugehörigkeit aber war in den 80er Jahren bestimmt nicht kleiner als heute. Für Paul, der als Student nach Westberlin kommt, ist die Unzugehörigkeit in der Stadt ebenso wie in der riesigen Freien Universität aber selbst gewählt. Diese Unzugehörigkeit ist der Ausgangspunkt für all das, was damals „Engagement“ hiess. Unzugehörigkeit bedeutet ja auch Ungebundenheit, Freiheit. Und aus dieser Freiheit heraus wächst sein Bedürfnis, an etwas Teil zu haben und die Welt zu verändern. Das gelingt ihm nicht zu Hause in Berlin, sondern in der Ferne, in Lateinamerika. Dort kann er Revolution als Teilhabe erleben, egal wie sinnvoll oder sinnlos das ist, was er tut. Das Ende des Sozialismus, das vielleicht weniger Revolution als Konkurs eines Staatsunternehmens war, kommt ihm dagegen als etwas Fremdes entgegen, das er wie ein Jahrmarktspektakel betrachtet.
Liebe ist genauso wenig Zustand wie Revolution. Das wurde mir mit der Lektüre ihres Romans mehr als bewusst. Beide brauchen Feuer, die brennen und Hitze erzeugen. Aber kein Feuer brennt ewig. Wie viel Ernüchterung schwingt in ihrem Roman mit?
Gar keine. Ich finde, es ist ein optimistischer Roman. Dass etwas schiefgeht, in der Liebe genauso wie in der Politik, ist ja kein Argument dagegen, es zu probieren. Was Paul ausmacht, ist – bei aller Zögerlichkeit und Ahnungslosigkeit, die ihn charakterisieren – seine Bereitschaft, sich einer Situation auszusetzen, etwas zu erleben, zu lernen. Diese Offenheit zeichnet ihn aus. In Nicaragua lernt er, dass die Sache mit der Weltveränderung nicht so einfach ist, dass er aber, indem er dort ist und mitwirkt, sich selbst verändert, und dass die Selbstveränderung ja auch eine Form der Weltveränderung ist – vielleicht sogar die einzige, auf die es wirklich ankommt. So erlebt er auch die Liebe, weil zu lieben nichts anderes bedeutet als die Bereitschaft, sich verändern wollend verändern zu lassen.
Angesichts der globalen Probleme ist die fehlende Bereitschaft, wirkliche Veränderungen herbeizuführen, erstaunlich. Sei es bei gesellschaftlichen, politischen oder ökologischen Herausforderungen. Paul erscheint mir dabei exemplarisch. Paul reist nach Nicaragua, will Teil einer Bewegung werden. Wann wird aus Entschlossenheit Selbstzweck?
Paul ist gar nicht entschlossen. Das schützt ihn vermutlich. Er ist im Unfertigen, im Provisorischen, im Werden beheimatet. Aber er bewundert Entschlossenheit bei anderen in seiner Nähe, wahrscheinlich deshalb, weil sie ihm fehlt. Beate und Sigrid, die beiden Frauen, die ihn faszinieren, sind sehr viel konsequenter als er. Hartmut, der Chef der Brigade, auch. Der ist nun wahrlich ein Mann der Tat. Die Gefahr bei allen Veränderungsbemühungen, in der Liebe ebenso wie in der Revolution, besteht in der Erstarrung, im Beharren auf festen Positionen, in der Ritualisierung der eigenen Handlungen. Das erleben wir derzeit zum Beispiel bei den Klima-Aktivisten, die sich auf Strassenkreuzungen festkleben. Wenn das Ziel die Mittel rechtfertigt, ohne sie in Frage zu stellen, dann schlägt das Engagement in Selbstzweck um. Oder noch schlimmer: in Selbstbefriedigung. Dann macht man weiter, auch wenn man ahnt, dass sich das eher kontraproduktiv auswirken wird. Weil es sich besser anfühlt, etwas zu tun, als nichts zu tun. Und vielleicht stimmt das ja sogar.
Ich kann mir sehr gut vorstellen, dass ihr Roman in ihrem Umfeld ziemlich Wellen geschlagen hat. Die Generation, die beim Mauerfall zwischen zwanzig und dreissig war, ist heute im Pensionsalter. Wellen der Erinnerung, Wellen der Rechtfertigung. Warum wurde nicht, wofür man damals kämpfte!
Dafür muss man sich nicht rechtfertigen. In der Menschheitsgeschichte ist es noch nicht vorgekommen, dass das Resultat einer Bewegung den zugrundeliegenden Absichten entsprochen hätte. Das ist eben der Lauf der Geschichte, dass die Einzelnen Dinge in Gang setzen, jeder etwas anderes will, das Ergebnis aber nie dem Einzelwillen und auch nicht der schlichten Summe aller Willensanstrengungen entspricht. Was Nicaragua betrifft, so ist aus der sandinistischen Revolution die Herrschaft eines korrupten Familienclans geworden, das Land befindet sich heute in einer fürchterlichen Lage und gehört nach wie vor zu den ärmsten Ländern der Welt. Das spricht aber keineswegs gegen die internationale Solidarität und die Unterstützung der Linken in den 80er Jahren. Nur lag deren Bedeutung auf einem anderen Feld, weniger im politischen als im sozialen. Dass Solidarität dort spürbar wurde, dass Freundschaften entstanden und teilweise bis heute hielten, dass Gemeinschaft erlebbar wurde, das ist für alle Beteiligten eine wichtige Erfahrung gewesen. Paul erlebt das als Liebe zu Land und Leuten. Das ist nicht wenig, auch wenn das politische Experiment grandios gescheitert ist. Das gilt übrigens genauso für die Bürgerbewegung in der DDR und der Nachwendezeit. Auf solchen Erfahrungen lässt sich dann in anderem Kontext wieder aufbauen. In meinem Roman kommt immer wieder die „Ästhetik des Widerstands“ von Peter Weiss vor als zentrale Lektüre in jenen Jahren. Weiss beschreibt gut marxistische Geschichte als Geschichte von Klassenkämpfen und als endlose Kette von Niederlagen der Unterdrückten. Und er fragt danach, warum trotzdem aus allen Niederlagen so etwas wie Hoffnung resultiert. Das hat, meine ich, etwas mit der Erfahrung der Gemeinschaftlichkeit zu tun, mit Zusammengehörigkeit, mit Solidarität. Oder, individuell betrachtet, eben mit Liebe. Deshalb heisst das Buch auch so, „Liebe und Revolution“. Die Liebe steht dabei ausdrücklich an erster Stelle.
Jörg Magenau, geboren 1961 in Ludwigsburg, studierte Philosophie und Germanistik in Berlin. Er ist einer der bekanntesten deutschen Feuilleton-Journalisten und schrieb u. a. Biographien über Christa Wolf, Martin Walser und die Brüder Ernst und Friedrich Georg Jünger. Bei Klett-Cotta erschien die literarische Reportage «Princeton 66» und zuletzt sein erster Roman «Die kanadische Nacht» (2021).
Die eine Sekunde, die eine Entscheidung, bringt das Leben des Fischers Mustafa in eine Richtung, die sein ganzes Leben zu zerstören droht. Eine Sekunde, eine Entscheidung, die eigentlich zum Guten führen sollte. So wie es überall Entscheidungen gibt, die kurzfristig gesehen ihr Gutes haben, ihre katastophale Wirkung erst später zeigen.
Zülfü Livaneli schreibt nicht einfach gute, spannende, unterhaltsame Geschichten. Dafür ist er viel zu sehr in die Geschehnisse seines Landes, der ganzen Welt miteingebunden, dafür hat sein Wort zu viel Gewicht und seine Bücher zu viel Bedeutung. „Der Fischer und der Sohn“ ist daher viel mehr als ein Roman über einen Mann, dessen naiver Reflex ihn an den Rand seiner Existenz bringt. „Der Fischer und der Sohn“ liest sich wie eine grosse Metapher über den Zustand der Welt, einer Welt, die aus dem Gleichgewicht geraten ist, in der es längst nicht mehr reicht, in naiver Kleinräumigkeit zu glauben, das Gute würde schon irgendwie siegen.
„Das Meer ist sein Ernährer, es ist Leben, es ist Geliebte, es ist grausam und still, liebevoll und zornig.“
Mustafa Sılacı ist Fischer, so wie es seine Vorfahren auch schon waren, auch wenn sie von Kreta an die türkische Küste fliehen mussten. Mustafa und seine Frau Mesude führen ein stilles, trauriges Leben, eines, das im Trott einer Trauer gefangen ist, die die Zeit nicht zu lindern vermag. Ihr einziger Sohn Deniz starb mit sechs Jahren, als das Boot des Vaters im Sturm kenterte. Das Meer schluckte den Sohn, die einzige Freude im kargen Leben der Fischersleute. Bis Mustafa mit seinem kleinen Boot die Leiche einer jungen Frau aus dem Wasser zieht und wenig später jene eines jungen Mannes an einem Seil ins Schlepptau nimmt. Mustafa weiss um die Dramen, die sich vor seiner Küste abspielen. Aber noch nie berührte ihn die Katastrophe so nah wie an diesem Tag. Erst recht, als er noch am gleichen Tag in den Wellen ein kleines Schlauchboot sichtet, eines, wie für kleine Kinder. Dort drin findet er einen Säugling, blau angelaufen, am kleinen Boot festgebunden. Mustafa nimmt ihn, säubert ihn, benetzt seine Lippen, spürt das Leben, das in den kleinen Jungen zurückkommt. Zurück an Land übergibt er die beiden Toten den Beamten und bringt den kleinen Jungen ungesehen in sein Haus über dem Meer. Musafa, seine Frau, zerfliesst gleichermassen wie sie die drohende Katastrophe ahnt. Aber Mustafa ist wild entschlossen, den kleinen Jungen als Geschenk des Meeres zu sehen, erst recht als ihm im Traum ein „Vaterdelphin“ erscheint.
„Alles, was am Festland geschieht, spielt sich gleichermassen im Meer ab.“
So wie der kleine Junge alles in dem kleinen Haus der kinderlos gewordenen Familie Sılacı ins Wanken bringt, so sehr haben die Flüchtlingsboote, die Touristen, wirtschaftliche Interessen; Fischfarmen, Goldabbau an der Küste bis hin zu Fischen, die noch vor wenigen Jahren nicht im Mittelmeer heimisch waren, die einheimische Fischarten verdrängen und die immer weniger werdenden Fischer vor scheinbar unlösbare Probleme stellen, die bisher so genügsamen und stillen Küstenmenschen in Wallung bringen. Alles wankt. Das kleine Dorf fühlt sich von allen Seiten bedroht.
„Ich glaube, das Baby hat mir den Verstand geraubt.“
Erst recht Mustafa, der in seiner immer unmöglicher werdenden Situation jeden Tritt verliert und sich immer tiefer ins Dilemma hineinmanövriert. Da ist die Liebe zu diesem Kind, das er aus dem Wasser rettete. Da ist die wieder aufkeimende Wärme und Zuwendung in der erloschen geglaubten Ehe mit Mesude. Da sind die Nachbarn, die Ungereimtes wittern und ein Staatsanwalt, der Fragen stellt. Und als den beiden mitgeteilt wird, dass in einer nahen Klinik eine aus den Fluten gerettete Frau aus dem Koma erwachte und nach ihrem verlorenen kleinen Sohn Samir schreit, im Streit mit seiner Frau Worte und Gesten ausbrechen, die nicht zurückzunehmen sind, scheint das Boot im Sturm erneut zu kentern.
„Ein Raubvogel schien in seinem Inneren mit den Flügeln zu schlagen.“
Zülfü Livaneli bannt mich von der ersten bis zur letzten Seite. Da ist nicht nur der Kampf eines Fischers gegen die Kräfte der Natur. Da kämpft ein Mann, der in dieser einen Sekunde, mit dieser einen Entscheidung glaubte, etwas Gutes zu tun, mit Nachwirkungen, die immer unkontrollierbarer werden. „Der Fischer und der Sohn“ ist eine einzige Metapher über den Zustand einer Welt, die zu kippen droht. Zülfü Livaneli komponiert diese Geschichte derart raffiniert und nah an seinen ProtagonistInnen, dass das Geschehen während der Lektüre immer wieder sprunghaft die Richtung wechselt. Nichts an der Geschichte ist vorhersehbar, nur das drohende Gewitter am Himmel.
Was für ein Buch! Zülfü Livaneli nimmt mich und taucht meinen Kopf mitten in das trübe Wasser seiner Geschichte!
Zülfü Livaneli wurde 1946 in Konya-Ilgın (Türkei) geboren. In den 70er Jahren war er wegen seiner politischen Anschauungen gezwungen, die Türkei zu verlassen, erst 1984 kehrte er zurück. Zülfü Livaneli ist einer der bekanntesten Künstler der Türkei, der mit seinen Liedern, und Kinofilmen international grosse Erfolge feierte. Einige Jahre war er Mitglied des türkischen Parlaments, besonders setzte er sich dabei für die türkisch-griechische Aussöhnung ein. Für sein breites Werk erhielt er zahlreiche Auszeichnungen, darunter den Orhan-Kemal-Literaturpreis.
Johannes Neuner, geboren 1975, Diplomübersetzer für Türkisch und Französisch, studierte Volkswirtschaftslehre. Übersetzt aus dem Türkischen und unterrichtet am Sprachlehrinstitut der Universität Freiburg Türkisch. 2012 Förderpreis des Tarabya-Übersetzerpreises. Neben seiner Tätigkeit als Übersetzer arbeitet Johannes Neuner auch als Schachtrainer an verschiedenen Grundschulen.
Raphaela Edelbauer schrieb sich in einen Rausch. „Die Inkommensurablen“ ist eine flirrende Momentaufnahme in der Metropole Wien kurz vor Ausbruch des 1. Weltkriegs. Bestechend virtuos begleitet sie vier Leben, die in diesen Tagen schicksalshaft miteinander verschlungen werden, in einer Stadt, die in den Wirren der Zeit kocht.
Inkommensurable – eigentlich ein Begriff aus der Mathematik; nicht messbar, nicht vergleichbar.
Am 28. Juni 1914 starb bei einem Attentat das deutsch-österreichische Thronfolgerpaar in Sarajevo. Nachdem Russland eine Teilmobilmachung anordnete, Österreich-Ungarn am 28. Juli Serbien den Krieg erklärte und wenig später Russland die Generalmobilmachung erliess, wuchs die Spannung in Europa bis zum Überlaufen. In Wien wartete man elektrisiert auf die unmittelbaren Auswirkungen der Spannungen zwischen den Grossmächten.
In einer Stimmung aus Euphorie, Umbruch, Ausgelassenheit und Fatalismus steigt am Wiener Hauptbahnhof ein junger Mann aus dem Zug. Hans hat ein Inserat in der Zeitung gelesen. Das Inserat einer Psychoanalytikerin, einer Frau, von der er sich Klärung verspricht. Dass Hans, der im Tirol Pferdeknecht war, und mit seinem Verschwinden auf dem Hof eine Rückkehr unmöglich macht, in eben jenem Wien auftaucht, das zu kippen beginnt, ist Zufall. Hans, der ungewohnt belesen ist und durchaus weiss, was sich auf dem Kontinent abspielt, hat keine Ahnung, in was für eine Stadt er eintaucht. Er war noch nie in Wien. Er war überhaupt noch nie weg, nur immer bei seinen Pferden, von denen er sicher war, dass sie ihn besser verstehen als alle andern auf dem Hof.
Zielsicher, aber mit kaum mehr Geld in der Tasche, findet er das Haus der Psychoanalytikerin Helene Cheresch, kann sie überreden, ihn kurz anzuhören und Hans erzählt. Hans ist davon überzeugt, dass er Dinge träumt, von denen andere danach erzählen, dass seine Gedanken mit deren anderer in unerklärlicher Verbindung sind – inkommensurabel, ein Begriff, von dem nicht nur Hans keine Ahnung hat. Nach seiner kurzen Audienz bei der Psychoanalytikerin trifft er Klara und Adam, von denen er förmlich mitgerissen, mitgespült wird. Klara und Adam sind PatientInnen von Helene Cheresch, Klara eine junge Mathematikerin und Adam Sprössling einer Offiziersfamilie. Klara ist kurz davor, ihr Studium in Mathematik zu beginnen als eine der ersten Frauen in Wien und Adam weiss, dass seine Familie mit aller Selbstverständlichkeit erwartet, dass er sich als Freiwilliger meldet, um mit der gleichen Selbstverständlichkeit in einem heldenhaften Einsatz zum schnellen Sieg zu helfen.
Zu dritt sind sie im Gewusel der brodelnden Grossstadt unterwegs, zuerst zu einem Diner in Adams Elternhaus, das wie erwartet im Desaster endet, später dorthin, wo Klara aufwuchs, in die Gosse, einem Ort, dem Hans mit der gleichen Abscheu begegnet wie das Adams Elternhaus. Hans als Knecht, der an Ordnung glaubt, Adams Eltern, die an eine gottgegebene Ordnung glauben, die ihnen sämtliche Privilegien zugesteht, die ihnen schon seit Generationen versprochen sind.
Ein Dreigespann in einer kochenden Menschensuppe. Hans, der Knecht, Klara, das Mädchen aus der Gosse und der Adlige Adam, durch „Zufall“ zu SchicksalsgenossInnen vereint. Ein ganzes Land, eine Stadt in einem fiebrigen Zustand, weil alles spürt, dass eine Zeitenwende alles verändern wird. Eine ganz ähnliche Situation wie in der Gegenwart, wo jeder, der nicht blind und abgeschottet lebt, genau spürt, dass diese fiebrigen Zustände an Intensität zunehmen.
Raphaela Edelbauer hat jene Tage im Sommer 1914 ausgesucht, eigentlich bloss 24 Stunden, in denen gleich mehrere Welten zu implodieren drohen. Ganz bestimmt das Resultat einer gross angelegten Recherche. Aber die Recherche dient nicht der blossen Staffage. In Raphaela Edelbauers Buch tauche ich in die Tiefen jener Zeit. Ihr Roman will jedoch kein Abbild sein, so wie der Maler, selbst wenn er „realistisch“ malt nie die Realität abbildet. „Die Inkommensurablen“ ist Destillat, im Brennglas betrachtet, schrill und doch glasklar. „Die Inkommensurablen“ ist ein Sprachkunstwerk mit Untiefen, Verzerrungen, Doppelböden und Verschränkungen mit Mathematik und Philosophie. Kein einfaches Lesevergnügen – aber selbst das orientiert sich an Zeiten wie damals und heute.
Raphaela Edelbauer, geboren in Wien, studierte Sprachkunst an der Universität für Angewandte Kunst. Für ihr Werk «Entdecker. Eine Poetik» wurde sie mit dem Hauptpreis der Rauriser Literaturtage ausgezeichnet. Ausserdem wurde ihr der Publikumspreis beim Bachmann-Wettbewerb, der Theodor-Körner-Preis und der Förderpreis der Doppelfeld-Stiftung zuerkannt. Ihr Debütroman «Das flüssige Land» stand auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises, für ihren zweiten Roman «DAVE» erhielt sie den Österreichischen Buchpreis. Raphaela Edelbauer lebt in Wien.
Spanien war 2022 Gastland an der Frankfurter Buchmesse, der grössten europäischen Buchmesse. Zum ersten Mal wieder «nach» Corona machten ein Dutzend AutorInnen auf ihrem Heimweg von Frankfurt zurück nach Spanien Halt in Zofingen. So wurden die Literaturtage in Zofingen zu einem Brennpunkt spanischer Geschichte und Geschichten.
Man kennt Spanien hierzulande als Ferienland. Spanien und die Schweiz verbindet wenig, auch wenn in der Vergangenheit die Schweiz für viele Gastarbeiter ein Land der Hoffnung war und Spanien für manch einen Schweizer während des Bürgerkriegs gegen die Francodiktatur Schauplatz für den ganz eigenen Kampf gegen Diktatur und Willkür. Aber Spanien ist wie die Schweiz ein Vielsprachenland. Neben dem Spanischen, das man dort als Castellano bezeichnet und offizielle Landessprache ist, wird galizisch, katalanisch und baskisch gesprochen. Ein Umstand allerdings, der im Gegensatz zur Schweiz, Ursprung für viel Zwiespalt ist und war.
Spanien, ein moderner Industrie- und Agrarstaat, über weite Teile entvölkert, Jahrzehnte gespalten durch extreme Unterschiede zwischen Land- und Stadtbevölkerung ächzt noch immer unter den Nachwirkungen einer Geschichte, die in Bürgerkriegen vielfach zerrissen wurde. Geschichte, die noch lange in die Literatur, in die Geschichten dieses Landes einwirken wird.
Ray Lorigas preisgekrönter Roman „Kapitulation“ erzählt als Dystopie die Geschichte einer Flucht. Zehn Jahre sind seit dem Ausbruch eines Krieges vergangen. Der Erzähler hadert und weiss noch immer nicht, wofür seine im Krieg verschollenen Söhne überhaupt gekämpft haben. Er und seine Frau befolgen Befehle und bewirtschaften ihren Hof, bis angeordnet wird, dass alle Bewohner der Gegend ihre Häuser verbrennen und nichts zurücklassen sollen und in die neue Hauptstadt umziehen müssen.Diese Stadt erscheint zunächst als wahres Paradies. Unter einer atemberaubenden Glaskuppel findet sich ein endloses Gewirr aus durchsichtigen Strassenzügen, Gebäuden und Geschäften. Für alles Lebensnotwendige ist gesorgt, und die Frau des Mannes lebt sich schnell in ihr neues Leben ein. Doch der Mann findet keine Ruhe in dieser vollkommenen Transparenz, in der es weder Geheimnisse noch blickdichte Mauern gibt. Wer gegen die unausgesprochenen Regeln verstösst, muss mit den schlimmsten Konsequenzen rechnen, wie der Erzähler bald feststellt. Ein einfacher Mann, der zu verstehen, der zu entschlüsseln versucht. Sinnbildlich für den Zustand der gegenwärtigen Welt. Ray Loriga schrieb den Roman 2017. Er liest sich wie durch die Gegenwart hindurch in eine mögliche Zukunft, sind wir doch mit all dem, was an Überwachung und „Transparenz“ unternommen wird, nicht weit von einer gläsernen Welt entfernt.
Der Roman „Aufruhr“ von José Ovejero ist eine zärtliche Liebesgeschichte zwischen Vater und Tochter, die nicht mehr miteinander reden können, weil sie in verschiedenen Welten leben, weil die Tochter diesen einen Vater nicht haben will und einem Vater, der seine Tochter verloren hat. Eine Tochter, die sich um jeden Preis emanzipieren will und von zuhause abhaut. Anna will ganz in der Gegenwart leben. Der Vater hingegen will die Gegenwart nur überleben, will und muss sich anpassen, das Unrecht mit Lügen, mit Unwahrheiten kompensieren. Anna will aufbrechen. Während Anna sich einem anarchistischen Leben verschreibt, verlieren sich Vater und Tochter immer mehr in Welten, die sich in nichts zusammenfügen. Anna schreibt Gedichte, Signale an einen Vater, die einzige Form der (einseitigen) Kommunikation: „…Papa, noch hast du Zeit: Entsteige diesem Sarg, in dem du schläfst; leg den Vampirumhang ab; setz dich der Sonne aus, auch wenn sie dich versengt…“ José Ovejero interessiert sich für Risse und Spannungen. Was sind Gründe und Ursachen, dass junge Menschen in besetzten Häusern nach neuen Lebensentwürfen suchen? Warum muss Leben zu einem Protest werden? Ovejero recherchiert tief, schlüpft nicht in die Personen, die er beschreibt, sondern in ihre Welt, ihre Umgebung, ohne blosser Tourist ihrer Existenz zu sein.
„Die Wunder“, der Debütroman von Elena Medel führt in die Vorstädte Spaniens. Am 8. März 2018 fand in ganz Spanien ein Frauenstreik statt. Frauen sämtlicher Generationen und gesellschaftlicher Schichten riefen auf Spaniens Strassen lautstark nach ihren Rechten. Sie machten sich im Kampf zu Schwestern, Millionen von Schwestern. Dieser Streik bildet den eigentlichen Erzählrahmen, aus dem die junge Autorin ihre Geschichte, ihre Geschichten erzählt. Ein Motiv des Romans ist die Frage, wie sehr Geld Leben beeinflusst. Zwei Frauen, Enkelin und Grossmutter, die einander nicht kennen, deren Wege sich nie kreuzten. Zwei Frauen am Existenzminimum, deren Geldsorgen ihr ganzes Leben durch und durch dominieren. Zwei Frauen, eine älter, die sich kämpferisch zeigt, eine Frauengruppe gründet und sich im Streik engagiert und eine junge Frau, angepasst, in ihrem Leben eingeschnürt. Zwei Leben, die sich in ihrem Ausdruck genau entgegengesetzt zur traditionellen Vorstellung spiegeln, fixe Vorstellungen, über die ich als Leser immer wieder stolpere. Elena Medels Roman überzeugt durch grandiose Beschreibungen und Feinanalysen der spanischen Gesellschaft, jener Menschenschicksale, denen das Geld nie reicht.
Vincente Valero lebt und wirkt als Schriftsteller, Essayist, Lyriker, Journalist und Lehrer auf der „Ferieninsel“ Ibiza. Eine grosse europäische Stimme, deren Klang es aber bisher nur ganz zaghaft über spanische Grenzen schaffte, trotz der wunderschönen Bücher, die der Berenberg Verlag vom Autor herausgibt. Durch Vincente Valero wird Ibiza das, was Ibiza eigentlich ist, weit mehr als eine Urlaubs- und Rambazamba-Insel im Mittelmeer. Ibiza war beispielsweise lange Sehnsuchtsort Generationen von Kunstschaffenden, vielen Schriftstellerinnen und Schriftstellern. Vincent Valero, der sich zuerst als Lyriker einen Namen machte, schreibt erst seit einigen Jahren Prosa, weil es, wie er erzählte, Geschichten gibt, die unbedingt erzählt werden müssen. Seit 2014 widmet sich Vincente Valero nun der Prosa, einer konzentrierten Kulturgeschichte des 20. Jahrhunderts mit dem Fokus auf die spanische Provinz, die Insel Ibiza. Sein Roman „Krankenbesuche“ ist weniger Roman als eine geschichtliche Betrachtung über den Zustand des Krankseins, einen Zustand, der in vielen Fällen damals mehr „Auszeit“ zu sein schien als „Angstzeit“. Ein heiteres Buch mit langen, kunstvoll mäandernden Sätzen eines Autors, der mit grosser Lust und Freude in den Wellen der Sprache badet. Demokratie und Tourismus haben Spanien im 20. Jahrhundert völlig verändert. Vielleicht hat der Tourismus die Demokratie in Spanien sogar begünstigt und unterstützt, war Spanien unter der Diktatur Francos weit weg vom kosmopolitischen Charakter des Landes heute. „Krankenbesuche“ ist ein betörender Roman über eine Insel, von der wir alle wissen, dass sie schön ist. Vincente Valero aber gibt ihr jene Schönheit, die nichts mit den Hochglanzfotos von Reisführern zu tun hat.
Miqui Otero, der sich auch als Journalist einen Namen machte, bezeichnet sich als Chronist Barcelonas. Er schreibe Geschichten seit er sechs Jahre alt ist, erzählt der Autor auf der Bühne der Zofingen Literaturtage. „Simón“ erzählt die Geschichte zweier Cousins am Rande Barcelonas, von der Kindheit bis tief ins Erwachsensein, vom Paradies bis zur totalen Desillusionierung. Zwei Cousins, die das Tor zur Welt in Büchern suchen und finden. Die beiden verstehen Bücher als „Liebesbriefe“ an das Leben. Simón bekommt antiquarische Bücher von seinem zehn Jahre älteren Cousin Rico, Bücher, in denen immer wieder Textstellen unterstrichen sind. Textstellen, die für Simón zu Wegzeichen werden, lange über den Moment hinaus, als Rico aus dem Leben Simóns verschwindet. Die beiden Cousins sind zwei grosse Schwindler. So wie Literatur immer Schwindel ist. Wahrheiten werden verschoben, ohne dass sie damit zu Unwahrheiten werden, auch dann wenn Wahrheit Fiktion ist. Der Erzähler wendet sich an mich als Leser, der Erzähler im Buch aber auch an Miqui Otero, den Autor. So entsteht ein Geflecht aus Stimmen, Kommentaren, Hinweisen und Versprechungen. Der Erzähler zwinkert mir zu und Miqui Otero klammert sich an mich, ihn mit aller verfügbaren Ironie ernst zu nehmen. „Simón“ ist ein literarisches Panorama, eingetaucht in überbordende Fantasie und Fabulierlust, prägnanter Charakteren , verschlungener Biographien und schillerndem Humor, gespickt mit grandiosen Wahrheiten.
Was für ein Literaturfest in Zofingen! Vielen Dank allen im Organisationsteam: Sabine Schirle, Julia Knapp, Daniel Huber, Urs Heinz Aerni, Aleksandra Janz und Mike Wacker.
„Hinter mir lag ein schlechtes Ende und vor mir ein Abschied.“ Jörg Magenau, bekannt geworden mit seiner literarischen Reportage „Princeton 66“, über die Gruppe 47, ein „Gipfeltreffen der deutschsprachigen Literatur an der Ostküste der USA“, schrieb mit „Die kanadische Nacht“ einen eindringlichen Roman über das Woher und Wohin, über den stillen Raum zwischen Vergangenheit und anbrechender Zukunft.
Ein Mann fährt alleine durch die kanadische Prärie. Sein Vater, mit dem er über Jahrzehnte nur noch via Mail sporadisch Kontakt hatte, liegt krank im Sterben. Den Mann erreichte in Deutschland ein Anruf: „Kannst du kommen? Du kannst mich doch hier nicht so liegen lassen.“ Also fliegt und fährt er hin. An einen Ort, den er nicht kennt, zu einem Vater, den er verloren glaubte, im Ungewissen darüber, ob er es rechtzeitig schaffen würde. Vor sich die Ungewissheit, hinter sich lauter lose Enden, die sich in keine Ordnung fügen.
„Denn was heisst Schreiben anderes, als die Dinge schöner zu machen, als sie sind?“
Vater- und Mutterbücher sind ein unendlich scheinendes Reservoir an Geschichten und Auseinandersetzung. Kaum eine Kunstgattung scheint sich derart ausgiebig an dieser Thematik abzuarbeiten wie die Literatur. Die ersten Jahre eines Lebens prägen ganze Biographien, lassen episch schleifen, kämpfen, hadern und wegstossen. Und doch bleibt der Vater, die Mutter. Sie brennen sich ein, lagern sich in den Sedimenten der eigenen Geschichte ab. Und wer selbst solcher oder solche wird, weiss sehr schnell, wie unsäglich gross das Minenfeld an möglichen Fehlern, Fehltritten, Fehlentscheidungen und misslichen Reaktionen ist.
„Wir schreiben es hin, doch nichts von dem, was wir erlebten, geht im Geschrieben auf.“
Jörg Magenau erzählt von einem in die Jahre gekommenen Sohn, der sich ans Sterbebett seines Vaters auf der anderen Seite des Ozeans aufmacht. Es ist eine lange Reise. Mit Sicherheit in Sachen geografischer Distanz. Aber nachdem der Vater vor Jahrzehnten Deutschland verliess und in Kanada eine neue Existenz begann, nachdem er sich neu verheiratete und alle Bande zu seiner alten Heimat kappte, wäre er wohl auch gestorben, ohne dass sein Sohn vom Sterben erfahren hätte. Aber da war dieser Anruf: „Kannst du kommen? Du kannst mich doch hier nicht so liegen lassen.“
Ein Anruf, der die Entscheidung leicht machte, in ein Flugzeug zu steigen und den Weg ins Ungewisse auf sich zu nehmen. Ein Anruf, der eigentlich im richtigen Augenblick kam, denn als Schriftsteller musste er sich aus den Schlingen eines missratenen Buchprojektes lösen, aus der Nähe zu einer Geschichte, die er Jahre mit sich herumgetragen hatte. Und seine zweite Frau, die einen Sohn mit in die Ehe brachte, zwang ihn immer mehr, sich mit seiner unfreiwilligen Rolle als „Vater“ auseinanderzusetzen. So wurde der Ruf zu dieserReise ins Ungewisse zu einem Schlüssel, einem Schlüssel in die Vergangenheit und einem Schlüssel in die Zukunft.
„Eine Idee ist wie ein Papierdrache an einer dünnen Schnur hoch über den Wolken.“
Während der Mann durch die Weiten Kanadas fährt, tauchen Bilder aus der Vergangenheit auf, Bilder seines Vaters, der damals gemeinsamen Geschichte. Sie verweben sich mit den Auseinandersetzungen rund um sein letztes Buchprojekt, in dem eine Malerin ihn bat, eine Biographie über ihren verstorbenen Gatten, einen Dichter zu schreiben. Es hätte ein Buch über ein Künstlerpaar werden sollen, ein Buch, das von der Leidenschaft einer Künstlerliebe hätte erzählen sollen, ein Buchprojekt, in dem die greise Malerin zur eigentlichen Ghostwritern wurde, weil sie sich immer intensiver und bestimmender in das Schreiben einmischte. Bis zu dem Moment, als sie sich nach Jahren der beiderseitig intensiven Auseinandersetzung endgültig aus dem Projekt zurückziehen wollte, dem Schriftsteller die Veröffentlichung untersagte.
„Der Tod ist das Gebirge des Seins, der Schrein des Nichts, der Sprung in den Abgrund, der Punkt jenseits, auf den das Leben zuläuft, ohne ihn je zu erreichen, weil es dann, wenn es dort ankommt, schon nicht mehr ist.“
Jörg Magenau will aber nicht einfach die Geschichte eines Sohnes, die Geschichte eines „Abgeschnittenen“ erzählen. Jörg Magenaus Schreiben, die Auseinandersetzung zwischen Vater und Sohn und jene mit der Malerin sind durchsetzt mit Gedichten von Friedrich Hölderlin. Hölderlin feierte letztes Jahr seinen 250. Geburtstag. Hölderlin gibt den Auseinandersetzungen in der sich der Erzählende befindet eine ganz besondere Stimme. Der Erzähler in „Die kanadische Nacht“ stellt Fragen. Genauso wie es Hölderlin in seinen formvollendeten Gedichten auch tat, wenn auch nicht mit Fragezeichen. „Die kanadische Nacht“, ein Buch über das Schreiben, den Nachhall von Geschichten.
„Was bleibet aber, stiften die Dichter.“ Hölderlin
Jörg Magenau, geboren 1961 in Ludwigsburg, studierte Philosophie und Germanistik in Berlin. Er ist einer der bekanntesten deutschen Feuilleton-Journalisten und schrieb u. a. Biographien über Christa Wolf, Martin Walser und die Brüder Ernst und Friedrich Georg Jünger. Zuletzt erschien von ihm «Bestseller: Bücher, die wir liebten …» und bei Klett-Cotta die literarische Reportage «Princeton 66». «Die kanadische Nacht» ist sein erster Roman.
Es gibt Lesemomente, die einem das Gefühl geben, an etwas ganz Besonderem teilzuhaben. Das passierte schon bei Iris Wolffs dritten Roman „So tun als ob es regnet“. Noch intensiver war der Sprachschauer bei der Lektüre ihres aktuellen Romans „Die Unschärfe der Welt“. Ein Leseerlebnis, das sich einbrennt. Ein Buch, das man nicht gerne weglegt. Eine Geschichte, die tief berührt und Sprache, die deutlich macht, wie Handwerk zu Kunst wird.
Im Banat, einem Gebiet im Westen Rumäniens, leben die Banater Schwaben, eine Deutsch sprechende Bevölkerungsgruppe, ein Bergland, in dem Iris Wolff aufwuchs. So wichtig die ProtagonistInnen, so wichtig ist in den Romanen der Autorin dieses Kulturgebiet. In Iris Wolffs Romanen wird eine Gegend zu einem Protagonisten. Auch darum, weil dieses Gebiet mit intensiven Emotionen aufgeladen ist. Auch darum, weil sich dieses Gebiet über Grenzen hinaus nach Serbien und Ungarn erstreckt. Und nicht zuletzt darum, weil das Banat immer wieder Konfliktgebiet der Geschichte war.
„Es gab eine Zeit, die vorwärts eilte, und eine Zeit, die rückwärts lief. Eine Zeit, die im Kreis ging, und eine, die sich nicht bewegte, nie mehr war als ein einzelner Augenblick.“
Iris Wolff erzählt die Geschichte einer Familie. Wie Hannes, der junge Pfarrer im Dorf und seine Frau Florentine eine Familie werden. Wie der kleine Samuel aufwächst und schon von Beginn weg ein Sonderling ist, zuerst lange stumm, dann still, später einer, der wie kaum andere zuhören kann. Die Geschichte von Hannes Eltern, von seiner Mutter Karline, die der jungen Familie zur Hand geht und für Samuel ein Anker, eine Insel wird. Die Geschichte einer spektakulären Flucht, langer Jahre in der Fremde und einer Liebe, die sich wiederfindet. Von Stana, einem Mädchen, das mit Samuel gross wird und hin- und hergerissen ist zwischen dem Sanftmut ihres Freundes und der Strenge ihres Vaters, den permanent schwelenden Konflikten, den Übergriffen, seien sie auch bloss seelischer Natur. Stanas Vater ist ein Zudiener der Diktatur, mit Geschenken und Zuwendungen käuflich. „Die Unschärfe der Welt“ ist die Geschichte eines Dorfes, etwas vergessen von der Geschichte, im Schatten der grossen Ereignisse in den letzten Jahren der Ceaușescu-Diktatur und den darauffolgenden Wirren in einem Land, das sich nur schwer aus den Klauen jahrzehntelanger diktatorischer Strukturen befreien konnte.
Jede Geschichte passiert auf hunderte mögliche Weisen, und alle waren gleich wahr und nicht wahr.“
Was das Überragende dieses Romans ausmacht, ist nicht die Geschichte. Auch wenn sie raffiniert erzählt und gekonnt konstruiert ist. Das grosse Kunststück dieses Romans ist dessen Sprache. Was die Sprache in mir als Leser erzeugt. Iris Wolffs Blick in die Geschichte, ihr Erzählen ist kein fotografisches, filmisches. Iris Wolff öffnet einen Spalt breit, lässt die Tür mehr verschlossen, geheimnisvoll offen und erzeugt bei emphatischen LeserInnen dafür umso mehr innere Bilder, einen regelrechten Sinnenrausch. Sie beschreibt nicht, was sie sieht, sondern, was ihre Eindrücke in ihr erzeugen, das Echo des Geschehens. Ihre Sätze sind unterlegt, sagen weit mehr als sie vordergründig erzählen. Es ist, als würde man stets eine vielfach gespiegelte, weit detailreichere Realität dahinter, darunter oder darüber mitlesen, obwohl die Autorin nur einen Spalt breit die Tür öffnet.
„Vielleicht war getäuscht zu werden die grösste Sehnsucht von allen.“
„Die Unschärfe der Welt“ schärft den Blick auf die Welt. Auch auf das politische Geschehen Rumäniens, den Zusammenbruch, die Wirren nach der Hinrichtung des Diktators und seiner Frau, einer Flucht und den krassen Gegensätzen damals zwischen Rumänien und Deutschland und die Öffnung gegen Westen. Ein ungeheuer vielschichtiges, vielstimmiges und tiefgründiges Buch.
Für Anfänge musste man sich nicht entscheiden, Enden kamen von allein, wenn man sich nicht entschieden hatte.“
„Die Unschärfe der Welt“ ist eine Perle. Eine, die auch in Zukunft ihren Glanz nicht verlieren wird.
Ein Interview mit Iris Wolff:
„Die Unschärfe der Welt“ ist die Geschichte von Samuel und den Fixsternen im Leben Samuels. Nimmt der Titel des Romans auch Bezug auf die Art deines Erzählens? Du leuchtest nicht aus, du erklärst nicht. Dein Blick auf die Welt ist nicht der durch ein Okular. Der Titel hat sich aus einem Satz heraus entwickelt, den Stana im vierten Kapitel sagt: “Sprache konnte nicht mehr sein als ein Anlauf zum Sprung.“ Es geht für die Figuren immer wieder darum, sich auf die Wirklichkeit ihrer Erfahrungen einzulassen – ohne vorgefertigte Deutungen und Konzepte. Es ist nicht ausreichend, ein Leben einzeln zu betrachten. Der Blick des Buches gleicht eher einem Kaleidoskop, in dem sich die einzelnen Teile immer wieder neu zusammensetzen, in dem es (für Menschen, Meinungen und Ideen) immer nur ungefähre Aufenthaltsorte gibt. Für mich als Schreibende liegt in dieser Unschärfe, Wandelbarkeit eine grosse Freiheit.
Dein Roman ist ein Fenster in das Land deiner Herkunft; Rumänien im 20. Jahrhundert. Ein Land, das Jahrzehnte vom Machtapparat eines Diktators geprägt wurde. Kann man überhaupt einen Roman schreiben, der in diesem Jahrhundert spielt, in dem der Diktator Ceaușescu direkt oder indirekt keine Rolle spielt? In der Schweiz werden nur wenige Romane geschrieben, in denen Politik eine Rolle spielt. Ich mag es, mich mit geschichtlichen Themen auseinanderzusetzen, Zeiten und Umstände zu recherchieren, die nicht die meinen sind. Aber mir sind meine Figuren immer dann besonders nah, wenn sie aus der Zeit fallen. Sei es, dass sie den Mut finden, ihr eigenes Glück einem grösseren Zusammenhang unterzuordnen – wie Samuel, der viel aufgibt, um seinen Freund Oz zu retten. Die Gewalt- und Diktaturgeschichte des 20. Jahrhunderts hat Spuren in den Lebensläufen der Menschen hinterlassen. Als politische Autorin sehe ich mich jedoch nicht. Es geht mir immer um die Figuren, um die Plausibilität ihrer Welt, um eine grösstmögliche Nähe zu den Leserinnen und Lesern.
Die Nobelpreisträgerin Olga Tokarczuk sagte in ihrer Nobelpreisvorlesung, was für ein Alptraum es sei, die Frage gestellt zu bekommen, ob das denn alles so passiert sei. In deinem Roman sagt jemand: „Jede Geschichte ist auf hunderte mögliche Weisen passiert, und alle waren gleich wahr und nicht wahr.“ Haben wir es in Zeiten von Fakenews verlernt, aus den Geschichten die ihr eigene Wahrheit zu filtern? Welch schöne Frage. Mir als Schreibende wird eine gewisse Weite, eineOffenheit der Komposition immer wichtiger. Trotz der Komplexität des Romans ist alles nur ein Ausschnitt, die erzählte Welt setzt sich imaginär über den Bildraum fort. Das versetzt die Lesenden in eine aktivere Rolle, sie werden zu Fährtenlesern, die die Verbindungen suchen. „Der wahre Leser muss der erweiterte Autor sein“, schreibt Novalis. Die Freiheit der eigenen Deutung ist wichtig, und ebenso die Fähigkeit, Widersprüchlichkeiten zuzulassen, Mehrdeutigkeiten, Ambiguität. Ich will als Autorin keine Wahrheit verkünden, sondern Wahrnehmung zur Verfügung stellen.
Samuel ist einer, der „mit Worten umging, als würden sie sich durch übermässiges Aussprechen abnützen“. Er lebt in krassem Gegensatz zu all jenen, die sich permanent in den sozialen Medien kommentieren müssen. Spricht da deine Sehnsucht? Für meine Protagonisten gibt es keine Sicherheit jenseits des eigenen Erlebens. Für alle sprachlichen Äusserungen, für alle Ideen und Vorstellungen gibt es immer nur einen Grad der Gewissheit, eine Wahrscheinlichkeit. Ich finde das befreiend, vor allem in einer Welt, die von Gewissheiten und Meinungen bestimmt ist, in der oftmals die Deutung vor der Erfahrung, das Urteil vor der Begegnung kommt. Die Stille ist (ebenso wie die Poesie) da ein heilsames Gegengift.
Du schaffst es, Sätze zu schreiben, die sich einbrennen. Sätze, die mich neidisch machen, weil ich weit weg bin von einer solchen Quelle. Sätze, die zeigen, dass sich die Literatur, die Kunst schon in einem einzigen Satz offenbaren kann. Musst du dich in einen „Schreibzustand“ versetzen, damit dir solche Sätze und Bilder einschiessen? Ich muss in meinen Geschichten das Land meiner Herkunft berühren. Etwas geht davon aus, etwas führt immer wieder dahin zurück. Eine gute Freundin sagte einmal, dass eine bestimmte Sprache an einen bestimmten Ort geknüpft ist. Meine Sprache, die Melodie der Sätze, die Bildhaftigkeit entwickelt sich bislang nur, wenn ich von Siebenbürgen oder wie jetzt in meinem aktuellen Roman, aus dem Banat ausgehe – diesem faszinierenden Landstrich, in dem verschiedene Kulturen über Jahrhunderte zusammenlebten. Ich glaube, das ist meine Quelle.
Iris Wolff, geboren 1977 in Hermannstadt, aufgewachsen im Banat und in Siebenbürgen. 1985 Emigration nach Deutschland. Studium der Germanistik, Religionswissenschaft und Grafik & Malerei in Marburg an der Lahn. Langjährige Mitarbeiterin des Deutschen Literaturarchivs Marbach und Dozentin für Kunst- und Kulturvermittlung. Bis März 2018 Koordinatorin des Netzwerks Kulturelle Bildung am Kulturamt in Freiburg. Mitglied im Internationalen Exil-PEN. Lebt als freie Autorin in Freiburg im Breisgau.
Erklären konnte ich es mir nicht. Ich nahm es hin, wie das Geräusch unseres Atems, wie das Sirren der Mücken, das Hämmern eines Spechts, das Knirschen unserer Schritte auf dem Weg. Wie die fliegenden Spinnfäden, die Tautropfen auf den Farnen, das honigfarbene Harz der Tannen (das ich nie unterließ zu berühren). Dieses Licht, das zwischen den Bäumen aufleuchtete, wenn wir lange in den Bergen blieben, tröstlich, ahnungsvoll, wie das Lodern eines Leuchtturms in der Dämmerung. Ein Fixpunkt am Horizont, der die Dunkelheit der Wälder erhöhte. Auf einer unserer Erkundungen fragte ich meinen Vater, was das für ein Licht war, und warum es immer leuchtete, wenn wir in den Bergen waren. Vater blieb stehen, zündete sich eine Zigarette an und wandte sich der dunklen Flanke der Berge zu, die jetzt so abweisend dalagen, kein Umriss einer Tanne war zu sehen, kein Weg. Auf unserer Seite zögerndes, violettes Abendlicht. Er sagte, es sei ganz einfach: Hinter diesen Wäldern sei ein Fluss, an diesem Fluss stünde ein Haus, in diesem Haus säßen zwei Freunde. Sie waren es, sie zündeten ein Licht an, weil sie die Schritte zusammenzählten, die wir am Tag gegangen waren. Es leuchtete mir augenblicklich ein. Ein Fluss. Ein Haus. Zwei Freunde, die unsere Schritte zählten.
Ich glaubte lange an diese Geschichte. Irgendwann war sie fort. Wie die mit Kartoffelstärke behandelte Bettwäsche, die mein Bruder und ich übermütig rieben, um sie wieder weich zu machen. Meine Aufpasserdienste, wenn mein Bruder sich mit einem Mädchen traf, und ich ihn danach heimlich ins Haus ließ, sobald ein Steinchen gegen die Fensterscheibe flog. Die aufgeschichteten Matratzen im Zimmer der Großmutter, die aus einer Zeit stammten, da jederzeit Gäste zu erwarten waren, und die in meiner Erinnerung bis zur Decke reichten; nur eine Handbreit bis zum Plafond. Großmutter, die erkannte, aus welchem Brunnen im Dorf wir Wasser geholt hatten, das beste Paprikasch zubereitete, und, wenn sie die Entmutigung ankam, die oberste Matratze nahm, sie auf die Terrasse schleifte und unter freiem Himmel schlief. Sie warnte uns Brüder, keine Grimassen zu schneiden, das Gesicht bliebe sonst so, und sie sagte auch, wir sollten nicht so viel trinken vor einer Mahlzeit, sonst bekämen wir Frösche im Bauch. Und an diese Frösche glaubte ich ebenso wie an die beiden Freunde.
Schönheit kann sich nicht so gut verbergen wie die Wahrheit, sagte Vater. Er sagte es, wenn wir durch die Berge streiften, und er sagte es auch, wenn er vor Mutters Bild innehielt, das auf der Kommode neben der Eingangstür stand. Ein helles Gesicht, wellige, glänzende Haare, ein gerader, schmaler Mund. Ich fragte mich, ob er mit ihr auch so wenig gesprochen hatte. Er sehnte sich am Ende jedes Arbeitstags nach der Stille der Berge. Er konnte dem unendlichen Monolog eines Vogels zuhören, und vergessen, dass jemand bei ihm war. Beneidete jeden Fels, jede Pflanze um ihr Schweigen.
Ich bin immer durch die Türen gegangen, die offen standen. Ob es die richtigen waren, weiß ich nicht. Eine Tür führte mich in den Westen. Durch eine Tür kam Julie, und durch eine andere ging sie fort. Manche Türen blieben verschlossen, zu manchen Träumen fand ich den Eingang nicht. Manche Leute sagten, ich sei klug. Andere, ich sei egoistisch. Wiederum andere hielten mich für zugänglich. Das waren allerdings Freunde. Harro lernte ich auf einer Tagung kennen. Er setzte sich neben mich, sah aus, als bräuchte er ein frisches Hemd und gute vierundzwanzig Stunden Schlaf. Wie sich herausstellte, sah er immer so aus, als hätte er nicht geschlafen, wirres Haar, blasse Haut, Ringe unter den Augen, wasserglasgroß. Dazu die eindringlichste Stimme, tief, kratzig, melodiös, und die Gabe, das, was gesagt wurde, und das, was gesagt werden würde, zusammenzufassen oder vorwegzunehmen, je nachdem. Die Wahrheit zieht es vor, sich zu verbergen. Vielleicht tut sie uns damit einen Gefallen, vielleicht hält sie uns damit bei Laune. Sie verbirgt sich in Geschichten (auch jene, die man sich selbst gern erzählt), Glaubenssätzen, Anschuldigungen – die man nicht zurücknehmen kann, wie sehr man es auch möchte. Man meint, man sei ihr als Erwachsener näher denn als Kind. Hexen ziehen aus dem Wald aus, Gespenster aus dem Schrank, Frösche mögen keine Mägen. Karla war lange Zeit mit Anlauf ins Bett gesprungen, aus der fixen Idee heraus, es könne sich jemand darunter versteckten und nach ihren Fesseln greifen. Jona behauptete, er könne sich durchs Schlüsselloch in andere Zimmer stehlen, wenn er Hausarrest hatte. Zuletzt gehen die Dinge ineinander über, wie in das Aprilabendlicht der Berge getaucht. Hell und Dunkel sind nicht so leicht voneinander zu unterscheiden, das Überflüssige rückt fort.
Ich erinnere mich, wie Vater beim Glockenläuten an den Seilen hochgezogen wurde. Wie Großmutter die Schuhe meines Bruders versteckte, damit er abends nicht aus dem Haus konnte. Wie Polizisten die Luft aus meinen Fahrradreifen ließen und die Ventile mitnahmen, weil ich Julie auf dem Lenker ausgefahren hatte. Wie ich mit Harro an einer Bar saß, wir tranken und sahen einander kaum an. Wie Jona am Flughafen vergaß, sich umzudrehen, und Karla im letzten Moment die Hand zum Abschied hob. Ich spüre, wie lahm die Zunge im Mund lag, weil sie sich in einer anderen Sprachfärbung zurechtfinden musste, und erkenne, dass ich Vater über die Jahre ähnlich geworden bin. Die Sehnsucht nach dem Wald ist groß, dem Gleißen, Glühen, Flimmern, dem Rauschen, Summen, Vibrieren, das es nur in den Bergen gibt. Leise, weil es nicht mich meint, laut genug, um die Gedanken zu besänftigen.
Ob man mit etwas davonkommt, ist fraglich. Ich warte noch immer auf das Geräusch des Steinchens an der Fensterscheibe. Großmutter liegt auf der Terrasse und sieht in den Sternenhimmel. Wenn ich die Hand ausstrecke, berührt sie den Plafond. Julie sitzt lachend auf dem Lenker. Karla und Jona verlangen eine Geschichte. Harro füllt unsere Gläser auf. Vater betrachtet die dunkle Seite der Berge und raucht. Und wenn es Abend wird, hinter den Wäldern, zünden die beiden Freunde ein Licht an und zählen meine Schritte. Deine auch?
Iris Wolff, geboren 1977 in Hermannstadt, aufgewachsen im Banat und in Siebenbürgen. 1985 Emigration nach Deutschland. Studium der Germanistik, Religionswissenschaft und Grafik & Malerei in Marburg an der Lahn. Langjährige Mitarbeiterin des Deutschen Literaturarchivs Marbach und Dozentin für Kunst- und Kulturvermittlung. Bis März 2018 Koordinatorin des Netzwerks Kulturelle Bildung am Kulturamt in Freiburg. Mitglied im Internationalen Exil-PEN. Lebt als freie Autorin in Freiburg im Breisgau.
Während der Zeit des Nationalsozialismus wurden in den USA über 10 000 Deutsche oder deutschstämmige AmerikanerInnen als «Enemy Aliens» klassifiziert und zeitweise interniert. Ulla Lenze liess sich vom Schicksal ihres Grossonkels Josef Klein inspirieren und schrieb einen mitreissenden Roman über einen deutschen Auswanderer, der in seiner Naivität in die Netze von Geheimdiensten gerät.
«Der Empfänger» ist weder Thriller noch Geschichtsdrama. Keine aufgeblasene Handlung, keine coolen HeldInnen, keine versteckten Fallgruben und heimtückischen Labyrinthe.
Josef Klein will 1925, während Deutschland in eine Wirtschaftskrise hineinschlittert, zusammen mit seinem Bruder Carl in die USA ausreisen, ins Land der unbegrenzten Möglichkeiten, dort endlich eine Existenz beginnen, die frei von Not und Bedrängnis ist. Aber weil Carl bei einem Arbeitsunfall ein Auge verliert, macht sich Josef alleine auf in das Land auf der anderen Seite des Ozeans. Ein Land, in dem er am liebsten verschwinden möchte, wirklich neu beginnen. Ein Land, das ihm den Einstieg aber alles andere als einfach macht. Josef vermag sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser halten, findet aber kaum Anschluss im Nabel der Welt, in New York. Einziges Vergnügen des jungen Mannes ist sein selbst gebautes Funkgerät in seiner kleinen Wohnung in Harlem, sein Tor zur Welt, einer Welt, in der Rang und Name keine Rollen spielen. Sein Empfänger bringt ihm Stimmen in seine Nähe, die ihm in der Grossstadt verwehrt bleiben.
Aber Josef Kleins technische Fähigkeiten bleiben anderen nicht verborgen. Und weil ihn Geldsorgen empfänglich für scheinbar leicht verdientes Geld machen, sitzen mit einem Mal zwielichtige Gestalten regelmässig in seiner kleinen Wohnung, von der er verschlüsselte Mitteilungen senden muss, deren Inhalte für ihn verborgen bleiben. Mitteilungen aus den Reihen eines deutsch-, nazifreundlichen Abwehrnetzes, das sich in ihrem patriotischen Kampf für ihren Führer im aufstrebenden Deutschland bereit macht für die Weltherrschaft.
Durch Naivität, latente Vereinsamung, ewigen Geldmangel und sein Bedürfnis, sein Können als Funker unter Beweis zu stellen, verstrickt sich Josef Klein immer tiefer in ein Geflecht, das ihm die Ruhe nimmt. Selbst als er durch den Äther eine junge Frau kennenlernt, die wie er Amateurfunkerin ist, sie zu treffen und zu lieben beginnt. Lauren aber, die wie er die Bande zur Vergangenheit kappen will, bleibt nicht verborgen, dass sich Josef immer tiefer im Sumpf verheddert. In den Kinos werden Nachrichten von Landesverrätern in den USA gezeigt, die auf dem elektrischen Stuhl hingerichtet werden. Josef Kleins Traum von einem ungebundenen, freien Leben scheint sich zwischen den Fronten zu zerreissen.
Ulla Lenze erzählt die Geschichte aus verschiedenen Zeitebenen. 1939 in New York, während das Misstrauen jedem Deutschsprechenden gegenüber immer grösser wird, 1949 in Neuss, als er nach Jahren in amerikanischen Internierungslagern in die Heimat abgeschoben wird, in die eng gewordene Wohnung seines Bruders Carl, wo er seine illegale Rückreise nach Amerika plant und 1953 in Costa Rica, müde geworden nach einer langen Reise, die ihn nie dorthin brachte, wo die Hoffnung ihn hinzog.
Ulla Lenze erzählt die Geschichte eines kleinen Mannes im Strudel der Geschichte. Darüber wie sich die giftigen Fäden der Geheimdienste von Kontinent zu Kontinent ausbreiten, wie Grossmachtträume von Herrenmenschen selbst den Niedergang des Deutschen Reiches nur als Zwischenstation hin zur Weltherrschaft deuten und Exnazis in Argentinien unter Perón sich nach dem Krieg neu zu formieren versuchen.
Ulla Lenze bleibt immer bei Josef Klein, der auf seiner stillen Reise auf der Suche nach seinem Glück alleine bleibt.
Interview mit Ulla Lenze
Wir haben sie alle, die Grossonkel und Grosstanten, die Urgrossmütter und Urgrossväter, die langsam aus dem Familienbewusstsein verschwinden. Bei Ihrem Grossonkel ist es nicht so. Sie haben ihn vor dem Verschwinden gerettet, obwohl er es, so ist es zumindest im Roman erzählt, nichts lieber wollte, als zu verschwinden. Was hat Sie dazu gedrängt, diesen Roman zu schreiben? Der familiäre Bezug als solcher spielte tatsächlich gar keine Rolle, ich bin in dieser Hinsicht recht unemotional. Aber über die Familie verdankte sich natürlich das direkte Fenster in eine ferne Welt, nämlich aufgrund der Briefe, Fotos und der Erzählungen meiner Mutter. Was mich an dem Stoff sofort fesselte, waren die aktuellen Bezüge. Themen wie Migration, Heimat, Nationalismus, Populismus waren damals bereits etabliert, wenn auch mit ganz anderen Protagonisten (etwa: Deutsche, die aufgrund wirtschaftlicher Not nach Amerika auswanderten). Jede historische Situation ist jedoch singulär. Und gerade durch die leichten Verschiebungen, etwa Nazis vor Wolkenkratzern, ergibt sich ein neuer Blick wie durch den Brechtschen Verfremdungseffekt. Ausserdem wurde dieses Thema bei uns bislang nicht behandelt, in der Wissenschaft besteht sogar ein Forschungsdefizit. Es reizte mich sehr, diese Lücke zu füllen.
Man nannte sie in den USA „Enemy Aliens“. Feind allein hätte schon genügt. Sie wurden kollektiv verurteilt, interniert und abgeschoben. Im Einwanderungsland schlechthin (zumindest damals) ein Schicksal, das die Deutschen und Deutschstämmigen mit den Japanern nach Pearl Harbor teilen mussten. Feindbilder haben stets Konjunktur, sei es gestern oder heute, seien es die USA, Deutschland oder die Schweiz. Sind es bloss Ängste, die dahinterstecken? Manche Ängste sind ja begründet. Das Schüren von Ängsten stört uns meist dann, wenn wir die politischen Ziele nicht teilen. Angst vor kultureller Überfremdung oder vor dem Verlust nationaler Identität scheint mir zum Beispiel substanzlos, die Angst vor den aufsteigenden Rechtspopulisten wiederum berechtigt. Zugleich stört mich heute der inflationäre Gebrauch des Wortes «Nazi», denn das verharmlost die Nazis von damals. Überhaupt: Beschimpfungen und Polemik helfen meist nicht, vernünftige Argumentation vielleicht manchmal doch.
Josef Klein las nicht viel, aber von Henry David Thoreau „Walden“. Josef wäre am liebsten einfach ein Mensch gewesen, der atmet, isst, schläft, arbeitet, manchmal mit Frauen flirtet. Einfach sein. Aber er merkt, dass das schwierig ist, umso mehr im Schmelztiegel New York. Warum ist Josef Klein nicht in die Wälder Nordamerikas gezogen? Der Roman-Josef, ähnlich wie der echte Josef Klein (die natürlich nicht identisch sind), bewegt sich in New York zwischen Entwurzelung und Freiheit. Er flieht als junger Mann 1925 vor der Armut und dem Chaos der Weimarer Republik nach New York. Er lebt einfach, auch bindungslos, und kann sich dadurch gut durchschlagen. Er versucht, seinen deutschen Akzent zu verbergen, denn er will nicht der Deutsche sein, sondern einfach ein Mensch. Er scheint auf seinem Recht zu beharren, unpolitisch sein zu dürfen, was in politischen Zeiten aber nicht möglich ist. Man kann vielleicht sagen, das hindert ihn, die verhängnisvolle Situation rechtzeitig zu erkennen. In den Wäldern wäre er diesen Verstrickungen sicherlich entgangen, aber er hätte es insgesamt schwerer gehabt. Auch Thoreau ist ja nach zwei Jahren wieder zurückgekehrt. Und ausserdem ist die Weltstadt New York ja auch eine Art Wildnis.
Josef Klein sitzt irgendwann in einem FBI-Gebäude. Ihm wird bewusst, wie naiv er war, wem er aufgesessen war, wie sehr er sich benützen liess. Und doch mobilisiert Josef Klein die Kraft, an einen Ausweg zu glauben, auch wenn es Jahrzehnte dauert. Ist ihr Grossonkel mit dem Schreiben ein anderer geworden? Ich habe im Laufe des Schreibens immer besser verstanden, warum mich gerade Josef Klein als Figur so interessiert. Anfangs war ich einfach von dem abenteuerlichen Leben des Grossonkels fasziniert, den drei Identitäten; Josef, Joe und dann Don José, auch von den exotischen Orten. Nachdem ich mich durch die Recherche immer tiefer in das Thema eingearbeitet hatte, wich meine anfängliche Nachsicht dann doch einer kritischen Distanz, auch Unverständnis. Warum liess gerade er, der in Amerika dank der Presse alles über das verbrecherische Hitlerregime wissen konnte, sich in den Dienst für Hitlerdeutschland einspannen? Aber Menschen wie er, gerade wegen ihrer Durchschnittlichkeit, sind für die Erkenntnis eigentlich noch interessanter. Josef ist eben kein brutaler Nazi, kein abstossender Rassist, der einem die Möglichkeit gibt, sich überlegen zu fühlen und die schöne Gewissheit zu haben, man selbst hätte damals bestimmt auf der richtigen Seite gestanden. Verstrickung und Schuld fangen viel früher an, und das gilt sicher auch in unserer komplexen globalen Welt heute. Man muss sich nicht gross anstrengen, um schuldig zu sein.
Vergangenheit lässt sich nicht abschütteln, auch nicht auf einem anderen Kontinent. Die erste Szene in ihrem Roman beschreibt, wie Josef Klein 1953 in Costa Rica einen Brief seines Bruders Carl erhält, der begeistert von einerSTERN-Reportage über dieAktivitäten des deutschen Geheimdienstes in Amerika berichtet. Er ist kein Held. Auch kein Opfer, aber nie irgendwo angekommen. Ein Verlorener? Das möchte ich tatsächlich nicht beantworten. Die Frage, wer er ist, und wie schuldig er ist, diese Frage umkreist der Roman permanent und auf indirekte Weise durch die wechselnden Schauplätze und auch mittels des übrigen Romanpersonals. Es gibt nahestehende Menschen, die ihn konfrontieren, prüfen, korrigieren, und auch verraten. Mir war dabei wichtig, Josef aus der Zeit selber heraus zu schildern, möglichst ohne das Mehrwissen von heute, ohne unsere Verurteilungsreflexe, aber auch ohne Verteidigung. Der Rest ist dem Leser überlassen. Literatur ist ja immer eine Einladung, selber zu entdecken und zu einem Urteil zu finden.
Ulla Lenze, 1973 in Mönchengladbach geboren, studierte Musik und Philosophie in Köln und veröffentlichte insgesamt vier Romane, zuletzt «Der kleine Rest des Todes» (2012) und «Die endlose Stadt» (2015). Für ihre Arbeiten wurde sie mehrfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Jürgen-Ponto-Preis für das beste Debüt 2003, dem Rolf-Dieter-Brinkmann-Förderpreis und dem Ernst-Willner-Preis beim Bachmann-Wettbewerb. 2016 erhielt Ulla Lenze für ihr Gesamtwerk den Literaturpreis des Kulturkreises der deutschen Wirtschaft. Für ihren neuen Roman «Der Empfänger» hat sie die Lebensgeschichte ihres Grossonkels fiktional verarbeitet. Ulla Lenze lebt in Berlin.