Constantin Schreiber «Die Kandidatin», Hoffmann und Campe

Wenn sich ein Roman in meine Träume schleicht, wenn er mich auch tagsüber nicht loslässt, dann muss etwas bei der Lektüre passiert sein. Constantin Schreibers Roman „Die Kandidatin“ schlägt einem ins Gesicht, lässt mich ratlos, in einer Mischung zwischen Faszination und Ernüchterung zurück. Ein Leseerlebnis aber ist er mit Sicherheit.

Sabah Hussein ist vierundvierzig und Kanzlerkandidatin. Sie steht, wetzt, redet, networkt und reist vor den Wahlen, ist kurz davor das zu erreichen, was in einem Deutschland in naher Zukunft mehr und mehr logische Konsequenz wird. Sabah Hussein ist politisches Programm in Person. Ihre Eltern flohen aus Syrien, das in Krieg und Elend versank. Sabah kam in einem libanesischen Flüchtlingslager zur Welt, verbrachte die ersten sechs Lebensjahre dort, kam mit ihrer Familie über die Balkanroute nach Deutschland in eine Flüchtlingsunterkunft, fing mit acht an, Deutsch zu lernen, übersprang eine Schulklasse und begann sich früh in Gesellschaft und Politik zu engagieren, wurde Mitglied der ÖP, der „Ökopartei“ und als Sinnbild und Identivikationsfigur schnell zu einem grossen politischen Versprechen. Bis klar wurde, dass die nächste Kanzlerin feministisch, divers und moslemisch sein musste.

Constantin Schreiber «Die Kandidatin», Hoffmann und Campe, 2021, 208 Seiten, CHF 32.90, ISBN 978-3-455-01064-0

Während auf der grossen politischen Bühne China mit seiner aggressiven Wirtschaft und Politik sämtliche Systeme unterwandert, nichts mehr ohne den unzähmbaren Riesen im fernen Osten geht, Taiwan annektiert und von China überrannt wird und nichts im Internet mehr ohne den Riesen geht, rotten sich im Deutschland der Zukunft die Extreme auf den Strassen zusammen, schreien von rechts und von links, wüten wüste Strassenschlachten unter den Augen einer staatlichen Polizei, die  sich immer mehr im Einfluss rechter Kräfte verstrickt. Sabah Hussein weiss, dass sie all jene auf ihrer Seite hat, die sich weltoffen, antikapitalistisch, feministisch und antirassistisch heissen. Und seit in jenem Deutschland alle Sechszehnjährigen, auch jene mit Aufenthaltsstatus wählen dürfen, dafür die über Siebzigjährigen nicht mehr, scheint einem Wahlsieg der linken Kandidatin nichts mehr im Weg zu stehen.

Das spüren auch all jene, die mit der Politik Sabah Husseins nichts anfangen können, allen voran den Rechten und Ultrarechten, die sich nicht nur im Netz, sondern auch ganz offen nicht nur verbal bewaffnen und die Kanzlerkandidatin mit allen Mitteln in den Dreck zu ziehen zu diffamieren versuchen. Allen voran Jonas Klagenfurt, der mit anderen für das Boulevard-Magazin AKUT schreibt, einer Onlineplattform für Rechte und Rechtsextreme. Unabhängige, gedruckte Medien gibt es keine mehr. Meinungsbildung machen Blogger, YouTuber, Tritter-Stars und „Freie“ oder die offiziellen Accounts der Ministerien selbst. Während der Mob, Wutbürger und ewig Unzufriedene von allen Seiten mit Molotowcocktails aufeinander losgehen, schaut man aus der Ferne beunruhigt auf ein auseinanderbrechndes Deutschland. Auf jene menschenleere Ecke Deutschlands, wo ein Staat im Staat gedeihen soll, in dem sich unter dem Namen Neu-Gothafen rechtes Gedankengut gepaart mit evangelikal-konservativer Kirche, ein alternatives Deutschland, in dem kein einziger Nichtweisser leben darf, formiert. Während die gesellschaftliche Ursuppe kippt, kein Stein mehr auf dem anderen bleiben soll, liefern sich die Exponenten eines zukünftigen Deutschlands erbitterte Schlachten, bei denen kein Opfer zu viel sein kann.

Constantin Schreibers Szenario ist erschreckend. Erschreckend gut konstruiert, erschreckend realistisch aus der Sicht der momentanen Strukturen und Situationen, erschreckend realistisch gezeichnet und erschreckend blutleer in seiner Figurenzeichnung und einem Plot, der einem ganz einfachen Muster entspringt. Schreibers Roman schmerzt und fasziniert. Der Autor weiss, dass das Haus, das er baut, auf solidem Grund gebaut sein soll. Aber die Fassaden sind spiegelglatt und lassen keinen Blick in die Tiefe zu. Die Figuren bleiben Kontur, der Konflikt in den Protagonisten nur ansatzweise sichtbar. Ich fiebere nicht mit den Menschen, sondern mit dem Szenario. Und das Szenario ist bestechend. Die Feuer, die schon lange zu brennen begonnen haben, von denen man glaubte, sie würden sich von alleine löschen, sind unkontrollierbar geworden. Was heute wachsende Realität ist, ist in Constantin Schreibers Roman endzeitlicher Flächenbrand. All jene lesen dieses Buch gerne, die „Ich habs schon immer gesagt“ längst zu ihrer Maxime machten. All jene, die in die Tiefe schauen wollen, werden am grossen Spektakel abprallen.

Trotzdem ein wichtiges Buch, denn es bietet Zündstoff für Diskussionen!

Constantin Schreiber, geboren 1979, moderiert die Tagesschau und ist einer der besten Kenner der arabischen Welt. Für die deutsch-arabische Talkshow Marhaba – Ankommen in Deutschland, in der er Geflüchteten das Leben in unserem Land erklärt, wurde er 2016 mit dem Grimme-Preis ausgezeichnet. Mit seiner 2019 gegründeten Deutschen Toleranzstiftung setzt er sich für interkulturellen Austausch im In- und Ausland ein. Seine Bücher «Inside Islam, Kinder des Koran» und das von ihm herausgegebene Buch «1000 Peitschenhiebe» über den saudiarabischen Blogger Raif Badawi waren Spiegel-Bestseller. Bei Hoffmann und Campe erschien von ihm zuletzt «Marhaba, Flüchtling!» (2016). Schreiber lebt mit seiner Familie in Hamburg.

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Beitragsbild © Marlene Gawrisch