Jo Graber ist ein stiller Mann, unauffällig. Niemand im Quartier weiss mehr als das, was Gerüchte und Vermutungen in die Welt setzen. Auch bei der Arbeit bleibt er ein Geist. Bis er mit einem Mal verschwindet und man sich fragen muss, was geschehen ist. Gina Buchers literarisches Debüt ist ein Roman über Einsamkeit und die Macht des Gerüchts.
Schon eigenartig. Da schreibt jemand ein Buch, in dem die Hauptperson von einem Nachbarn in der Siedlung „Schattengänger“ genannt wird und auch genau das im Roman selbst bleibt; ein Schattengänger. Man sieht von ihm nur die Kontur eines Schattens. Jo Graber, Einzelgänger in einem Wohnquartier mit tausend Augen, Angestellter im Bauamt der Stadtverwaltung, Abteilung Aufzugsanlagen. So unkonventionell die Erzählperspektive, so eindringlich die Stimmen, die fast alle aus ihrer eigenen Isolation erzählen. Ein Roman über die Gegenwart, über Grenzüberschreitungen, Dichtestress, Gerüchte, Fehlinterpretationen, Distanz und Ängste. Und ein Roman über das Scheitern.
Noch eine Spezialität dieses Romans ist die Erzählstrategie. Wenn sich in vielen Romanen nach und nach die Schichten einer Zwiebel lösen bis man auf den Kern gelangt, fügt sich bei diesem Roman Schicht an Schicht. Auch wenn die Zwiebel dann nicht mehr geschlossen ist, sondern offen wie eine Rose. Es dauerte, bis ich mich bei der Lektüre traute, fixe Rückschlüsse aufs Ganze zu ziehen. Gina Buchers Erzählweise provoziert meine eigenen Spekulationen, genau das, was mit den Stimmen im Buch passiert.
„Schattengänger“ ist nicht nur der Titel, sondern Programm des Romans. Wer das Buch nach der Lektüre zur Seite legt, weiss nur wenig über jenen Jo Graber, über den ein ganzes Quartier und ich als Leser spekuliere. Genau das, was in Wirklichkeit passiert. Was wissen wir von den Menschen, die uns umgeben? Was wissen wir von unseren Nächsten?

Fast ein Dutzend Stimmen erzählen; Aurel, ein etwa zehnjähriger Junge aus der Nachbarschaft, ein kindlicher Forscher und genauer Beobachter. Kris, der Nachbar, der „Verpuppte“, der Jo Graber den Schattengänger nennt, traumatisiert von seiner Familie, Kiffer, arbeitsunfähig, permatherapiert. Esmé, eigentlich Frau Kordik, Jo Grabers Ärztin, ängstlich, auch sie in gewisser Weise traumatisiert. Remigio, ein älterer Nachbar aus der Siedlung, verheiratet mit Marta, mit der Angst vor drohender Demenz seiner Frau. Renée, Grabers Chefin im Büro, durchdrungen vom Wunsch, eine gute Chefin zu sein, dauernd im Ungewissen über Nähe und Distanz. Tom, sein ahnungsloser Arbeitskollege, der mit ihm ein Büro teilt. Dennis, der ausländische Pfleger im Altenheim von Jo Grabers Mutter, der ihn bei Besuchen schätzen lernt und ihn fast zärtlich Herr Jo nennt…
Fast alle Erzählstimmen hätten das Zeug für einen eigenen Roman. Aber es wurde ein Spiegelroman. Die Geschichten der Erzählstimmen spiegeln sich im Erzählen über diesen geheimnisvollen Jo Graber. Und die Interprationen der Erzählstimmen verraten viel über die Erzählstimmen selbst.
Jo Graber ist ein Geist. So wie viele, denen es nicht darum geht, eine möglichst breite Schneise der Publizität hinter sich herzuziehen. Irgendwo im Buch steht die Wendung „das Recht auf Verschwinden“. Wie viel Gewicht legen wir auf die Präsentation dessen, was das Bild von uns sein soll? Gibt es die Freiheit, sich zu verweigern, gibt es sie vor seiner Familie, seiner Umgebung, bei der Arbeit, vor dem Staat, der Polizei?
Wir machen uns ein Bild des anderen. Wie sehr dieses Bild immer wieder durchbrochen wird, erfahren wir immer wieder, wie sehr wir uns irren, verspekulieren. Genau dort steckt eine ordentliche Portion Gesellschaftskritik in diesem Roman.

Gina Bucher, geboren 1978, aufgewachsen in Luzern, ist Autorin, freie Journalistin und Dozentin. In Zürich und Hamburg studierte sie Filmwissenschaften, Publizistik und Kunstgeschichte. Heute lebt Gina Bucher mit
ihrer Familie in Zürich und schreibt Kolumnen und erzählende Sachbücher. Zuletzt erschienen Geschichten über das Scheitern: «Der Fehler, der mein Leben veränderte» (2018) und Geschichten über die Liebe: «Ich trug das grüne Kleid, der
Rest war Schicksal» (2016). Als Herausgeberin verantwortete sie verschiedene Bücher im Kunstbereich. Seit 2021 arbeitet Gina Bucher auch als Dozentin an der F+F Kunst- und Designschule, Zürich, und seit 2017 als Schreibtrainerin am Jungen Literaturlabor JULL in Zürich.
Beitragsbild © Lucas Ziegler.