Seltsam leicht der fledermausflug glücklich wer sie flattern sieht über die balkonkante durchs vogelhaus bricht dämmerung du bist ein stern geworden über dir himmel tinten blau buchstabiere die rätsel neu und die zeichen des grossen bärs
frozen yoghurt
ein herz wie gefrorenes yoghurt tapfer lächelt die vekäuferin ringt eine freundlichkeit nieder und sieht plötzlich alt aus im halben gesicht sie trägt plastik handschuhe gut signalisiert die zwei meter marken zum vorrücken mit korb oder einkaufswagen eine kundin drängelt jugendbonus im rock argwöhnischer blick wie gefrorenes yoghurt wer hat’s wer kriegt’s wen nimmt’s angst essen seelen auf
Postkarte
ich hatte lange geschlafen mit rilke unter dem kopfkissen doch als ich erwachte war er weg und grüsste mich aus dem wallis mit einer postkarte sei erde jetzt demütig sei schrieb er was ich mir gern zu herzen nahm dann wandte ich mich nach osten
Aufräumen
man räumt auf macht sauberen tisch etwas fällt darunter vielleicht man selbst man schliesst ab die alte Sache das konto rennt man führt name um name der vergessenheit zu bleibt auf der strecke gerät ins hintertreffen
da ein sauberer tisch voller spuren gekritzel magische zeichen eingekerbt
ameisenlaufen in den händen irgendwo lauert ein chaos
Hans Gysi ist 1953 in Arosa geboren und aufgewachsen. Schulen und Ausbildung hat er in Arosa, Schiers und an der Uni Zürich gemacht. 1976 Sek.-Lehrer Phil I. Von 1982-85 Schauspielakademie Zürich. Seit 1985 zwei Jahre als Schauspieler tätig beim Kitz und später freischaffend als Schauspieler, Regisseur, Theaterpädagoge und Autor mit verschiedenen Theatergruppen (Theater Katerland; Theater Zwei- Ge, Bilitz). Hat den Förderpreis des Kantons Thurgau erhalten, einen Werkpreis der Pro Helvetia und einen Förderpreis des Kuratoriums Aargau. Den Rilkepreis für das Buch «pocket songs» im Verlag edition 8. Lebt in Kreuzlingen Thurgau. Verheiratet. Vater von drei Kindern. Seit Januar 04 leitet er das theaterbureau, das kleinste Theater im Kanton Thurgau in Märstetten.
Ich mag eigenartige Bücher. Der zweite Roman nach „Leo war mein erster“ reizte meine Neugier fast bis zur letzten Seite aus. Was will mir ein Roman sagen mit einem Lenz in roten Jeans, Black und Red, zwei aufreizend gekleideten Begleiterinnen und einem orangen Lamborghini mit angehängtem Wohnwagen? Regula Wenger verpackt die Frage nach dem Sinn in einen schrägen Roadtrip.
Lenz ist 45 Jahre alt. Die Betonung liegt auf den drei betonschweren Buchstaben ALT. Von Frühlingsdüften keine Spur mehr. Lenz Leben ist in der Tristesse parkiert, auf einem sperrigen Gamersessel und reichlich Bier in Griffnähe. Selbst seine Kinder und seine Frau schaffen es nicht, das parkierte Leben wieder in Fahrt zu bringen, dieses im Schlick festgefahrene Auslaufmodell. Lenz hat das Aufschieben längst zu seinem Programm erklärt, seine Träume beerdigt, nicht aber seine Frau und seine Freunde.
Es ist, als ob der Zwist mit seinem Freund Finn, der die beiden vor einem Jahr im Streit auseinanderbrachte, etwas in Lenz blockiert hätte, was kein Rütteln und Schütteln mehr in Fahrt brachte. Finn und er waren beste Freunde. Bis Finn sein halbes Bier im Streit stehen lassen musste, weil Lenz ihn aus seinem Haus jagte. Lenz ist mit leckem Tank parkiert. Nicht nur seine Frau, auch seine Freunde wissen, dass Lenz nur mit List aus seiner Lethargie zu katapultieren ist. Deshalb legen sie alle zusammen und schenken ihm einen Tripp mit jenem Auto, das als Modell auf seinem Regal steht, zusammen mit zwei Frauen, die aus Teufels Küche entsprungen scheinen: Black und Red.
Auch wenn der Tripp nicht jener ist, den sich Lenz zu Beginn erhofft, denn die beiden Frauen lassen ihn aus versicherungstechnischen Gründen nicht ans Steuer und setzen ihn, weil ihm die Beine auf dem schmalen Rücksitz (auch der Lamborghini ist nicht genau der, der auf dem Regal unter Staub begraben liegt) einschlafen, in den engen kleinen Wohnwagen, der doch eigentlich nichts am Heck eines Sportwagens verloren hat. Auch die beiden Frauen halten sich in dieser Woche streng an einen Fahrplan, zaubern einen Gutschein nach dem andern aus ihren engen Ausschnitten und konfrontieren Lenz mit einer ganzen Reihe von skurrilen Situationen, als wäre Don Quichotte für einmal nicht mit einem lahmen Gaul unterwegs.
Regula Wengers wilde Geschichte erinnert an Fellini, David Linch und ein wenig Heinz Rühmann. Auch ihr zweiter Roman hat in der Schweizer Literaturszene kaum Verwandte. Als ob Regula Wenger einen Ton treffen würde, Bilder evozieren kann, die an Leichtigkeit, Heiterkeit, subtilem Humor ihres- und seinesgleichen suchen. Zugegeben; der Roman verunsichert, nicht nur inhaltlich, weil er sich wie ein Rätsel liest, sondern auch in seiner Konstruktion. Denn es braucht die sieben Tage Schöpfung, um dem „armen“ Lenz zu zeigen, wie er zurück ins Paradies findet. „Lamborghini Görlz“ ist eine köstliche Parabel mit viel Witz und einem übervollen Mass an Schrägem. So viel, dass der sperrige Wohnwagen den schnittigen Lamborghini manchmal zu überholen droht. „Lamborghini Görlz“ ist der quicklebendige Beweis dafür, dass sich Literatur nicht zwangsweise in Selbstzerfleischung und raumgreifender Ernsthaftigkeit suhlen muss.
Vielleicht ist „Lamborghini Görlz“ auch ein modernes Märchen, von einem Mann, den man wie Hans im Glück auf eine lange Reise schicken muss.
Regula Wenger wuchs im Laufental im Kanton Baselland auf (früher Bern). Heute lebt sie mit ihrer Familie in Basel. Sie arbeitet als freie Journalistin, Autorin und Texterin, veröffentlichte Kolumnen und Kurzgeschichten. Ihr Romandebüt «Leo war mein erster» ist im Waldgut Verlag, der 2021 seine Geschäftstätigkeit eingestellt hat, in vier Auflagen erschienen. Neu ist es bei edition 8 erhältlich.
Benjamin Berton, Julia Deck, Doris Dörrie, Tomás González, Luke Haines, Christoph Höhtker, Barbara Hundegger, Kim Hye-jin, Boris Kerenski, Ana Marwan, Hanspeter Müller-Drossaart, Andreas Niedermann, Paul Renner, Edgar Selge, Lea Streisand, Paulina Stulin – und ein nach Literatur dürstendes Publikum.
Nach zwei Jahren, während derer man gezwungen war, die Veranstaltungen bloss digital durchzuführen, wurde die 20. Ausgabe des Internationalen Literaturfestivals „Sprachsalz“ zu einem Fest weit über das Jubiläum hinaus. Wer weiss denn schon, wie lange und wie befreit man solche Veranstaltungen geniessen kann, bevor sich wieder eine Welle der Angst über den Globus ergiesst.
„Sprachsalz“ ist ein Festival der Nähe. Es gibt keine Tische, an denen sich nur Eingeweihte, Eingeladene, LiteratInnen treffen und man sich als Besucher kaum in die Nähe traut, keine VIP-Zonen, obwohl grosse Namen neben Geheimtipps auftreten, nirgends Gehabe, auch wenn wie vor drei Jahren eine Nobelpreisträgerin an der Festivalbar sitzt und an einem Glas Wasser nippt (Herta Müller). „Sprachsalz“ ist ein Festival der Grosszügigkeit. Getragen von einem breiten Feld von Sponsoren ist der Eintritt frei, die Festivalleitung unkompliziert und ganz offensichtlich auch für die Eingeladenen eine „Bereicherung“.
Wer regelmässig solche Festivals besucht, ist neugierig auf Begegnungen, auch auf die Chance, ein Leseerlebnis mit einer realen Auseinandersetzung zu verbinden; einem Gesicht, einer Stimme, einem kurzen oder längeren Gespräch, Augenblicken, die sich einbrennen. Unvergessen bleiben werden mir jene mit der Slowenin Ana Marwan und mit dem Kolumbianer Tomás Gonzáles. Ich werde ihre Bücher nach Hause tragen, in meiner Bibliothek einordnen – und wenn meine Blicke in Zukunft auf ihren Buchrücken hängen bleiben, wird etwas von dem aufblitzen, was mich am „Sprachsalz“ in Verzückung brachte.
Als ich Ana Marwans Debüt „Der Kreis des Weberknechts“ im Herbst 2019 über den Sonderling Karl Lipitsch las, war die Lektüre eine Offenbarung, als hätte sich ganz unerwartet ein Tor zu einem grossen Geheimnis geöffnet. Ein Lesegefühl, das sich nur ganz selten einstellt. Da schrieb jemand ganz sanft, fein beobachtend, mit schneidendem Witz und höchster Präzision. Als Ana Marwan im Sommer 2022 am Bachmannpreislesen den mit 25000 Euro dotierten Hauptpreis gewann, war das mehr Bestätigung als Überraschung. „Die Autorin führt die deutsche Sprache, als hätte sie nie in einer anderen Sprache gelebt. Sie treibt das Deutsche vor sich her“, meinte Klaus Kastenberger, Jurymitglied, bei der in Klagenfurt gehaltenen Laudatio.
Dass Ana Marwan mit ihrem zweiten Roman im März 2023 Gast, mein Gast im Literaturhaus Thurgau sein wird, freut mich nach der Begegnung in Hall noch viel mehr. Sie liest und diskutiert am Donnerstag, den 23. März im schmucken Literaturhaus in Gottlieben TG!
Ein zweites Highlight mit viel Vorfreude war die Begegnung mit Tomás Gonzáles. Einem Grossen, der trotz vieler Fürsprecher ein Geheimtipp geblieben ist. Ein Schriftsteller, der mit seinem Schreiben nicht in die „Kategorie“ Magischer Realismus verortet werden kann, denn seine Themen, sein Personal, seine Kulissen sind immer ganz nahe an der Realität, oft im Spannungsfeld zwischen Schmerz und Schönheit. Deshalb darf der Tiel seines aktuellen Erzählbandes „Die stachelige Schönheit der Welt“ durchaus als Programm seines Schreibens gesehen werden.
Ich lernte die Bücher des Autors 2012 schätzen, als ich ihn mit „Das spröde Licht“ zu lesen begann, einer Geschichte, mit der er das langsame Sterben seiner an MS erkrankten Frau literarisch verarbeitete. Doch Tomás Gonzáles rapportiert nicht einfach den Leidensweg seiner Frau, sondern transformiert sein Erleben in eine fiktive Familie, in der der älteste Sohn nach einem Unfall, der ihn vom Hals abwärts lähmt, in seinen Schmerzen eine ganze Familie, die Liebe an einen Abgrund reisst.
„Glühwürmchen“, eine der dreizehn Erzählungen aus 30 Jahren in „Die stachelige Schönheit der Welt“, erzählt von Atilano und Jesús, einem Paar, zweier Männer, zweier Künstler, der eine weg, wegen eines Stipendiums in Florenz, der andere in Queens. Beide entfernen sich, Jesús nach Italien in die Fremde, eine andere Welt, Atilano in die Wut, den Schmerz, die Enttäuschung und Verzweiflung eines Zurückgelassenen. Die Sprache ist glasklar. Es sind keine Geschichtchen. So nah der Schriftsteller seinen Personen kommt, so fern ist ihm jegliches Moralisieren.
Schreiben sei keine Schmerztherapie, sondern die Erschaffung von etwas Neuem, eine Umwandlung, die den Schmerz vielleicht leichter machen kann, meinte Tomás Gonzáles im Gespräch mit seinem Übersetzer und Mentor Peter Schultze-Kraft. Tomás Gonzáles lebte fast zwei Jahrzehnte im freiwilligen Exil in Florida und New York. Seine Sprache war damals das einzige, was er aus seiner Heimat mitnehmen konnte, aus jener Welt, die er zurücklassen musste. Schreiben wurde zu einer Art Wiedererschaffung seiner Heimat, ein Weg, seine Sehnsucht zu überwinden.
Peter Stamm sagte über ihn: «González schreibt einen sehr trockenen, aber zugleich unglaublich atmosphärischen Stil. Die Geschichten sind dunkel, aber es ist, als leuchteten sie von innen.» „Die stachelige Schönheit der Welt“ von Tomás Gonzáles ist ein wunderbares Tor in den Kosmos eines Grossen!
Paul war in einem Alter, wo die Schönheit keine so grosse Rolle mehr spielte und die Erfahrungen einen langsam dahin brachten, die noch verbleibende Zeit zu geniessen oder mindestens ohne grossen Druck zu verbringen. Was wollte man noch erreichen? Welche Stadt noch besuchen? Welche Pläne noch zur Ausführung bringen? So ungefähr lauteten die Fragen, die Paul an sich selbst richtete. Dennoch beschäftigte ihn sein Alter so sehr, dass er, wenn er nachts erwachte, manchmal die Jahre nachrechnete und es nicht recht fassen konnte, dass er nun schon an der Schwelle seines letzten Lebensabschnitts stand. Um besser zu begreifen, was die Zahlen bedeuteten, machte er es sich zur Gewohnheit, die Jahre in seiner Vorstellung wie eine Landschaft aus Kurven und Hyperbeln neben sich auf der Fläche seines Bettes auszulegen und sie gewissermassen von der Seite zu betrachten. Vielleicht war seine Seele irgendwo dort im Gelände unterwegs. Er stellte sich vor, dass die Episoden sei- nes Lebens kleine Täler bildeten, Mulden und Diagramme, die eine fremde und schöne Landschaft beschrieben, welche er einst bewohnt haben mochte. Dadurch gewann sein Leben etwas Fassbares und zugleich etwas Künstliches, sodass er bald nicht mehr wusste, ob er in seinen eigenen Erinnerungen kramte oder in einem fremden Buche las.
2
Paul hatte Kathrin. Kathrin hatte Paul. Sie war freundlich und klug. Und sie hatte noch viele andere Qualitäten, von denen Paul kaum sprach. Sie war etwas bekümmert wegen Pauls Gesundheit. Paul war ihr nicht gleichgültig, das spürte er immer häufiger. Manchmal lachte sie ansteckend und hell. Dann wieder war sie ganz still in sich gekehrt. Die Gefühle bestimmten ihre Befindlichkeit. Auch Paul war ein Gefühls- mensch, gelegentlich ganz nah am Wasser gebaut. Er passierte ihm, dass er weinend im dunklen Kino sass, sich seiner Tränen leicht schämend. So fuhren ihre Gefühle Achterbahn: sie an der steilsten Stelle und er in gemächlicher Ebene oder umgekehrt. Mit den Gefühlen kam die Ungleichzeitigkeit, und sie wurde ein ständiger Begleiter. Kathrin hatte den Eindruck, dass Paul sich zu viel auflud. »Und man weiss«, sagte sie, »dass dieses Alter gefährlich ist: Die Kräfte lassen nach und die Anforderungen steigen!« Paul versuchte, eins nach dem andern anzupacken, vorsätzlich ruhig und nüchtern, doch im Grunde wusste er, dass sie recht hatte. Er konnte sich ein Leben ohne Kathrin nicht vorstellen. In den langen Jahren war sie zu einem Teil von Pauls Da- sein geworden, körperhaft. Ob sie sich nach einer eventuellen Wiedergeburt nochmals zusammentäten, darüber hatte sich Paul keine Gedanken gemacht. Er glaubte nicht an die Wiedergeburt in diesem Sinne. Kathrin hatte viele Vorzüge, das wusste Paul. Zum Beispiel konnte man ihr kaum etwas vormachen, ausser man überraschte sie wie ein lahmer Zauberer mit einer vergessenen Taube aus dem Zylinder. Dass sie vergesslich war, schätzte Paul besonders. Er hatte es nötig.
3
Bevor Paul zur Arbeit ging, prüfte er mit einem schnellen Blick seine Silhouette im Spiegel und dachte an manch eine seiner Gesten, die eine ungeschickte bis fahrige Form annahmen. Manchmal fluchte er leise über ein Missgeschick oder einen Fehlgriff. Da fiel ihm ein Behälter aus der Hand und zu Boden, dort trat sein Fuss nicht mehr sicher auf, was ihn leicht schwanken liess. Das Schwanken konnte er mit et- was Glück in ein sportliches Wippen verwandeln. Vielleicht, dachte er bei sich, war der kritische Punkt überschritten, wo mit täglichem Training und grosser Disziplin etwas auszurichten war. Absurd. Paul war noch nicht so weit, wusste aber, dass man die eigene Unfähigkeit verdrängte und über grösser werdende Defizite hinwegsah, solange man sie kompensieren oder mit Aktivitäten überdecken konnte. Wie ein Feldforscher, der sich für seltene Käfer interessiert und sie auf Nadeln aufspiesst, so fühlte sich Paul, wenn er an sich selbst Ticks und Gewohnheiten beobachtete: Das waren ähnliche Nadelstiche, die ihn unbeweglich zu machen drohten. Häufiger erinnerte ihn sein fahriges Grinsen, eine schiefe Kaubewegung oder ein Kratzen am Kopf und eine selbstvergessene, unbewegte Miene an Bildeinstellungen, die er von seinen älter werdenden Eltern gespeichert hatte. Es graute ihn vor einem Alter, wo ihm Nasenpopel am Hemd kleben würden oder Sabber aus dem Mund rinnen in Selbstvergessenheit und aus Unachtsamkeit. Seine eigene Schusseligkeit nahm zu, da half nichts. Vielleicht sollte er einen Hut tragen, dachte Paul etwas hilflos.
4
Paul hatte Arbeit, er war Lehrer. Zu einem Satz von vierzig Prozent war er eingestellt. Daneben arbeitete er frei fürs Theater. Als Teilzeitlehrer hatte er grosse Träume, weil er viel Zeit mit ihnen verbringen konnte. Er liebte es, in der Stunde Schiefertafeln vollzuschreiben. Wichtige Eckdaten und Zahlen konnte man darauf wieder finden. Paul dachte: Der Unterrichtende hat ein Gedächtnis, aus dem zieht er das Nötigste ans Trockene, wie ein Fischer die Netze einholt. Was beim Fischer die Netze, sind bei ihm die Kreidestifte und der grüngraue Belag der Wandtafeln. Die Tafeln kann er aufklappen, aber er hat kein Recht, alle Tafeln zu füllen, auch das Stehenlassen von Textpartien ist nur in Ausnahmefällen erlaubt. Denn ein Teilzeitlehrer ist Gast in den bereitgestellten Zimmern. Was Paul schrieb, verbündete sich am Schluss der Stunde mit dem Wasser des Tafelschwamms und rann davon. Die Quintessenz seiner Lektionen versammelte sich im Schwamm und am untern Rand der Tafel in trüben Pfützen. Das war das Sichtbare des Bleibenden und gleichzeitig ein schönes Bild für die Vergeblichkeit, das Verschwinden der Erkenntnis. In leichter Melancholie betrachtete er das weisslich-graue Wasser und dachte: Die Schule ist eine Attrappe, die sich in der Weltgeschichte verliert.
…
Der Protagonist dieser melancholisch-witzigen Prosaminiaturen ist ein Mensch mit ambivalentem Innenleben, das vielen bekannt vorkommen könnte. Paul ist Lehrer, unterrichtet routiniert seine Klassen und ist in einem Alter, «wo die Schönheit keine so grosse Rolle mehr spielt». Er beobachtet gerne Menschen, die ›Comédie humaine‹ regt ihn zu Betrachtungen an, er schreibt Bücher und hat auch etwas Erfolg damit. Kurz: Er scheint im Leben angekommen zu sein, hat sich eingerichtet. Da ist aber auch ein Zaudern, ein Zweifeln, eine innere Unruhe, die ihn den Boden unter den Füssen verlieren lässt. Gefangen im «Dickicht der Pflichten», «festgezurrt von Vorbild und Gewohnheit», sucht Paul nach Auswegen aus seinem Alltag, misst sich an seinen Träumen – und bricht auf. Hans Gysis Texte bestechen durch den nachdenklichen Grundton mit stets präsentem Humor, die fein gezeichneten Beobachtungen und die überraschenden Wendungen, die in einem Finale voll tiefsinnigem Nonsens gipfeln.
Hans Gysi ist 1953 in Arosa geboren und aufgewachsen. Schulen und Ausbildung hat er in Arosa, Schiers gemacht und studiert an der Uni Zürich gemacht. 1976 Sek.-Lehrer Phil I. Von 1982-85 Schauspielakademie Zürich. Seit 1985 zwei Jahre als Schauspieler tätig beim Kitz und später freischaffend als Schauspieler, Regisseur, Theaterpädagoge und Autor mit verschiedenen Theatergruppen Viele Inszenierungen vom Frühlingserwachen bis zur Kleinbürgerhochzeit, u.a. auch mit Andreas Schertenleib «Ich habe eine grosse Sache im Grind», ein Glauserabend. Hat den Förderpreis des Kantons Thurgau erhalten, einen Werkpreis der PRO HELVETIA und einen Förderpreis des Kuratoriums Aargau. Den Rilkepreiserhielt er für das Buch «pocket songs» im Verlag edition 8. Weitere Lyrikbände bei edition 8: «Zettel und Litaneien», «Ein Tag mit Chili Geschmack», lebt in Kreuzlingen Thurgau.
Soll ich denn wirklich von dem kleinen Mädchen schreiben, das ich einmal war? Zeigt es sich mir? Auf Fotos ja, in der Erinnerung kaum. Deshalb erfinde ich jetzt ein sechs-jähriges Mädchen. Es heisst „Es“. So wurden damals Mädchen genannt: „Es“ , das Mädchen. Ich aber nenne es Vreneli. Vreneli hat eine zwei Jahre ältere Schwester. Diese lebt in einer ganz anderen Welt, obschon im gleichen Dorf, an der gleichen Adresse mit der gleichen braunen Haustüre, deren Türfalle nicht mehr richtig schliesst, im gleichen roten Mietshaus mit der gleichen traurigen Grossmutter in der Küche am Herd, die ein feines Essen aus immer den gleichen wenigen Lebensmitteln zaubern muss. Das Mädchen, ich, hat viele Ämtlein in der Küche und beim Einkaufen im Dorf. Brot holen zum Beispiel. Von dieser Duft-Wunderwelt in der Backstube hat niemand sonst eine Ahnung. Und auch nicht von der noch warmen goldenen Kruste dank der ich den kurzen Heimweg ad libitum verlängern kann, bis das Brot nackt aussieht und Grossmutter verärgert. Jeden Tag aufs Neue. Und jeden Tag schmeckt die warme Brot-Rinde einfach köstlich.
Und jetzt, mein kleines Vreneli? Freust du dich auf die Schule? Erstklässlerin bist du dann mit einem richtigen Schulweg. Weiter noch als bis zum Bäcker. Dem Dorfbach entlang und vorbei an den zwei breiten Schaufenstern des Schuhgeschäfts. Dort werden auch Schultornister verkauft, jedoch deinen hast du vom Götti aus der Stadt bekommen. Viel lieber hättest du den roten aus dem Schaufenster gehabt. Er liegt noch immer dort zum Verkauf.
Mein brauner Schultornister – was für ein Wort! – ärgert mich jeden Tag mehrmals. Am Morgen daheim und später erst recht im Schulzimmer, wo wir alle unsere Theks leeren und in einer Zimmerecke in gerader Linie aufreihen müssen. Wäre meiner rot gewesen statt sch…braun hätte ich immer mal wieder liebevoll zu ihm hingeschaut. Aber so?
Aus meiner Fantasie kommt Hilfe in der Not. In Gedanken färbe ich ihn. Rot. Ein schönes Dunkelrot. Nein, nicht so dunkel!! Vielleicht tomaten- oder geranienrot mit einem silbrig glitzernden Schnappverschluss und….
„Vreneli, was träumst du in den Tag hinein? So geht das nicht in der richtigen Schule, weisst du!“ Ich zeige mich zerknirscht, freue mich aber umso mehr auf den Heimweg, wo ich einen langen Umweg mache an der Kirche vorbei und dem angrenzenden Friedhof. Aber dort renne ich schnell, kann nichts anfangen mit einem Friedhof. Könnte ja eigentlich mal die Grossmutter fragen, die muss es ja wissen, sie hat schon weisse Haare. Ich dafür einen roten Thek! Glattleder. Nicht wie die Buben, die ein Kuhfell darauf haben. Wären sie nicht Buben, hätte ich vielleicht etwas Mitleid erübrigen können.
Wieder daheim erschrecke ich die Grossmutter. „Was um Himmels-Härdöpfelswillen ist mit deinem Thek passiert?“ „….“ „So so, ein bisschen waschen im Bach wolltest du ihn?!“ „Ja, und dann ist halt auch ein bisschen Schlamm draufgekommen. Ist ja egal, ich hasse ihn.“
Seit Schulanfang darf ich in ein Heft alles schreiben was ich möchte. Die Fröilein Zürcher hat es mir geschenkt. „Weil du doch so eine berühmte Mutter hast, die Bücher schreibt. Da willst du sicher auch immer mal wieder etwas aufschreiben.“ „Ist Mutti berühmt? Was ist berühmt?“ Ich schreibe jeden Tag in mein Heft. Bin stolz. Es liegt immer unter meinem Kissen. Niemand darf es lesen. So also wird man berühmt! Mutti schreibt immer Nachts im Bett, raucht dazu ihre Parisienne-Filter, Vati schläft daneben und die voll geschriebenen Blätter fliegen im Zimmer herum.
Die Schule gefällt mir. Aber sie gefällt mir auch nicht. Es ist langweilig, die Buben sind so dumm und rotzig und frech. Ich will nie einen Bruder, oder doch, ja, ein grosser Bruder wäre mein Traum, einer, der mir immer hilft auf dem Pausenplatz und schon heimlich Zigaretten raucht.
Verena Uetz-Manser, * 1937 Georen und aufgewachsen in Bassersdorf. Ausgebildet als Musikpädagogin, verheiratet, zog eine Schar Kinder auf, eigene und Pflegekinder. Mit dem Schreiben begann Verena Uetz-Manser, als die Kinder aus dem Haus waren. Texte in Anthologien («Wörterknistern» und «Dreiundsechzig», KaMeRu 2015) und in «mein Magazin». Verena Uetz-Manser war auch Keramikerin mit eigener Werkstatt und in vielen Bereichen Kursleiterin.
„Grösser als du“ ist mit ‹Geschichten› untertitelt. Aber wie schafft es ein „Geschichten-Buch“ in die Shortlist des Schweizer Buchpreises? Veronika Sutter Buch ist alles andere als harmlos. Weder inhaltlich noch sprachlich. Wie gut, dass es auch in der dritten Reihe leuchtet, blitzt und funkelt!
Geschichten bekam ich von meiner Mutter vorgelesen, wenn ich krank war. Wahrscheinlich glaubte meine Mutter an deren heilende Wirkung. Selbst ich glaube an die heilende Wirkung von Literatur, auch wenn Veronika Sutters Geschichten so gar nichts gemein haben mit den Geschichten, die immer ein gutes Ende hatten, wenn meine Mutter sich an mein Bett setzte und vorlas. Veronikas Geschichten sind alles andere als Geschichtchen. Und ob sie heilsam waren, zumindest für mich, weiss ich nicht, denn sie lösten einiges aus, nicht zuletzt eine ganze Portion Wut.
„Grosser als du“ sind 16 Erzählungen (Geschichten als Bezeichnung ist zu harmlos!) die alle zwischen den Jahren 1991 und 2019 spielen, zwischen den beiden grossen Frauenstreiks. 1991 nahmen Hunderttausende an jenem Streik teil, der für viele, nicht bloss für Frauen, zu einer Zäsur wurde, war es doch erst 20 Jahre her, seit die Männer in der Schweiz über das Frauenstimmrecht abstimmten und noch immer ein Drittel dieser Männer dafür gewesen wäre, es besser beim Alten zu lassen. 20 Jahre, in denen wohl das Frauenstimmrecht funktionierte, aber von gleichen Rechten keine Rede sein konnte. Dass damals Hunderttausende auf die Strasse gingen, nicht nur in Zürich, machte vielen Mut, nicht zuletzt jenen, die in ihrer eigenen Geschichte noch weit davon entfernt waren, sich auf Augenhöhe mit der Männerwelt zu behaupten. Frausein muss immer noch Selbstbehauptung sein, auch wenn es mittlerweile, ein halbes Jahrhundert später, Männer gibt, die sich von der Wucht der Weiblichkeit überrumpelt und bedroht fühlen.
In Veronika Sutters Buch sind aber nicht 16 lose Erzählungen aneinadergefügt, die alle irgendwie mit den beiden Streiks, mit Frauenschicksalen zu tun haben. Wer zu lesen beginnt, merkt nach und nach, dass die Erzählungen miteinander verknotet sind, dass es Momentaufnahmen im Leben von Gloria, Karo und Helen oder Aldo und Walter sind, die miteinander verwoben sind. Momentaufnahmen, die zeigen, wie weit Frauen und Männer bis in die Gegenwart voneinander entfernt sind, wie tief Verletzungen sind und wie sehr sich Menschen hinter ihrem Schweigen, hinter Fassaden und ihren ungestillten Sehnsüchten verstecken.
Was bleibt, wenn man nach einer Flucht aus einer übergriffigen Beziehungen, in die man fast bewusstlos hineinrutschte? Was passiert, wenn sich perfekte Missverständnisse wie Druckwellen ausbreiten? Wenn sich fremde Welten für einen Augenblick nicht wirklich begegnen, dafür sich umso mehr in diesem einen Moment abstossen? Wenn der Tod so kalt wird wie die Gurkensuppe, in der das Gesicht der Mutter liegt. Wenn sich Syphillis in die Seele frisst. Wenn die Enkelin Gloria am Sterbebett ihrer Grossmutter Annie sitzt und sich abhängen lassen muss von der Urgewalt ihrer Junkiemutter Selma.
Veronika Sutters Bilder, die Szenerien ihrer Geschichte gehen unter die Haut, lösen Emotionen aus, bei mir im ersten Teil des Buches sogar Wut. Männer sind fast ausnahmslos Monster, trunkene Schläger, blinde Grobiane. Ich mache der Autorin keinen Vorwurf. Mein Problem, ich bin ein Mann. Und weil Veronika Sutter in ihrer Brotarbeit wohl immer wieder mit Schicksalen, Frauenschicksalen konfrontiert wird und es unbestreitbar wichtig ist, dass man(n) darüber schreibt, sind Erzählungen wie diese von Veronika Sutter Notwendigkeit, wenn man(n) sich nicht vor Tatsachen und Schicksalen verschliessen will.
Aber auch sprachlich ist Veronika Sutters Buch eine Kostbarkeit, auch wenn sich Helvetismen in den Text eingeschlichen haben, für die mir Erklärungen fehlen.
Fazit: „Grösser als du“ hat die grosse Bühne verdient. Nicht nur, weil das Buch mit wichtigen Themen der Gegenwart und jüngeren Vergangenheit aufrüttelt, sondern weil das Buch klug konstruiert und die Dramatik des Buches Lesern in die Knochen fährt!
Veronika Sutter, 1958 geboren und im Sihltal aufgewachsen, arbeitete Veronika Sutter als Buchhändlerin, Kulturveranstalterin und Journalistin. Seit dem Studium in Kommunikationsmanagement ist sie in der Öffentlichkeitsarbeit für Non-Profit-Organisationen tätig. Sie engagierte sich im Vorstand der Stiftung Frauenhaus Zürich und bei Greenpeace. Sie lebt mit ihrem Partner in Zürich. «Grösser als du» ist ihr erstes Buch.
Verfolgen sie das Rennen um den Schweizer Buchpreis? Beeinflusst dieses Rennen ihr «Literatur-Konsumverhalten»? Lesen sie eines oder mehrere der Bücher, die im Rennen sind? Alleweil gut ist der Preis für Überraschungen. Und immer wieder ist die Hoffnung da, dass sich all die Zwänge der Gegenwart nicht in die Auswahl einmischen?
Bis zur Verleihung des Schweizer Buchpreises in Basel am 7. November 2021 mische ich mich immer wieder in die Frage «Welches Buch muss es sein?». In der Menüleiste links finden sie einen Link, der Sie direkt zu den entsprechenden Artikeln führt!
Sie kennen Christian Kracht nicht? Er war schon einmal Träger des Schweizer Buchpreises und ist mit jedem seiner Bücher im Gespräch, sei es unter Rezensent:innen, Feuilletonist:innen oder engagierten Leser:innen. Ein Mann, der einem förmlich zur Auseinandersetzung zwingt. Dass er das auch mit seinem neuen Roman «Eurotrash», ja sogar mit dem Titel alleine schafft, lässt einem staunen. Für die einen ist Christian Kracht eine Lichtgestalt im helvetischen Literaturhimmel, auch wenn an ihm und seinem Schreiben so gar nichts Helvetisches ist. Wäre Christian Kracht nicht für den Schweizer Buchpreis nominiert, hätte ich sein Buch wohl nicht gelesen. Denn eines braucht sein Buch mit Sicherheit nicht: meinen Senf. (Christian Kracht «Eurotrash», Kiepenheuer & Witsch)
Schon ein bisschen anders verhält es sich mit Martina Clavadetscher und Michael Hugentobler Schon alleine deshalb, weil beide schon meine Gäste waren, sei es in einer moderierten Lesung oder bei «Literatur am Tisch», einer ganz intimen Veranstaltung. Martina Clavadetschers erster Roman «Knochenlieder», mit dem sie schon einmal für den Schweizer Buchpreis nominiert wurde, schlug bei mir ein wie eine Bombe. Nicht weil die Geschichte in einer möglichen Zukunft spielt, nicht weil ich gerne Dystopien lese, sondern weil Martina Clavadetscher schon damals formal ein Experiment wagte. Ihre Romane sind schon alleine visuell anders, mäandern zwischen Prosa, Theater und Lyrik, versuchen eigene Wege zu gehen. Ihr neuester Roman «Die Erfindung des Ungehorsams» verfeinert das, was die Schriftstellerin schon im Roman davor begonnen hat. Ihr Roman ist ein vielstimmiges und vielschichtiges Epos, wieder in einer nicht allzu fernen Zukunft. (Martina Clavadetscher «Die Erfindung des Ungehorsams», Unionsverlag)
Michael Hugentobler ist ein Reisender. Dass er, der nun sesshaft geworden ist und Familie hat, 13 Jahre auf Reisen war, das spürt man seinem Schreiben an. Wahrscheinlich ist sein Reservoir an Bildern und Geschichten unerschöpflich, was seinen Lesern nur recht sein kann, denn Michael Hugentobler macht Türen auf. Als Reisender nach Innen und nach Aussen, nach unzähligen Reportagen für namhafte Magazine nimmt mich Michael Hugentobler mit auf eine Reise nach Südamerika, spürt einem Indianerstamm nach, von dem nur ein Buch mit Wörtern übrig geblieben ist. Schon sein erster Roman «Louis oder Der Ritt auf der Schildkröte» riss mich mit ins 19. Jahrhundert, zuerst ins Wallis, dann zu den Aborigines in Australien und am Ende zum Finale nach London. Dorthin, wo auch sein zweiter, nun nominierter Roman «Feuerland» seinen Ursprung hat. Bilderstarke Literatur! (Micheal Hugentobler «Feuerland», dtv)
Überraschend, zumindest für mich, sind die Nominierten Veronika Sutter und Thomas Duarte. Veronika Sutter erschien bisher gar nicht auf meinem Schirm (was nichts heissen soll) und von Thomas Duarte hörte ich nur, weil sein literarisches Debüt 2020 mit dem Studer/Ganz-Preis für das beste unveröffentlichte Debüt ausgezeichnet würde (was noch kein Grund gewesen war, das Buch zu besorgen). Da sind also ganz offensichtlich Versäumnisse meinerseits nachzuholen. Veronika Sutters Erzählband «Grösser als du» zeichnet Menschen, «die mit einem Geheimnis leben, weil Scham oder Verleugnung sie daran hindern, über das zu sprechen, was hinter ihren Wohnungstüren passiert. Ohne es zu wissen, teilen sie die Erfahrung von Abhängigkeit, Gewalt und Unterdrückung. Sie stehen aber auch in Beziehung zueinander, ob als (Ex)Partner, Freundinnen, Nachbarn oder Verwandte. Sie biegen sich ihre Realität zurecht, um ihr Verhalten zu rechtfertigen, sei es despotisch, übergriffig oder duldsam.» Veronika Sutter «Grösser als du», edition 8)
Und von Thomas Duarte’s Debüt «Was der Fall ist» heisst es: «Ein Mann erscheint mitten in der Nacht auf einem Polizeiposten und erzählt, wie sein bislang eintöniges Leben aus den Fugen geraten ist. Jahrzehntelang hat er für einen wohltätigen Verein gearbeitet, jetzt wird er plötzlich wegen Unregelmässigkeiten bei der Geldvergabe verdächtigt. Und nicht nur das: Im Hinterzimmer seines Büros, in dem er zeitweise selbst hauste, lässt er neuerdings die illegal arbeitende Putzfrau Mira wohnen. In seinem wahnwitzigen Bericht, dessen Charme und Menschlichkeit aber selbst den Polizisten nicht kaltlassen, entsteht das Portrait eines modernen Antihelden, der einen überraschend fröhlichen Nihilismus zum Besten gibt.» (Thomas Duarte «Was der Fall ist», Lenos)
Spannend! Ich freue mich auf die Lektüre. Spannend, weil die fünf Finalist:innen unterschiedlicher nicht sein könnten; ein Schwergewicht, zwei Perlen und zwei Debüts! Vielleicht auch ein ungleicher «Kampf».
Wolken, Unwetter, dunkle Welten – Drohungen oder Visionen? Die Wege sind verschattet. Umrisse scharf in dieser Millisekunde, bevor das Gewitter sich entlädt. An den Bildern des Unwettermalers Adolf Stäbli riss sich jedenfalls mein Auge auf, als ich sie das erste Mal sah.
Ihretwegen fahre ich Monate später wieder zurück, dieses Mal ist Brugg durch das Stadtfest wie verwandelt, ich finde mich nicht mehr zurecht vor lauter Schildern, die hinführen zur Kletterwand, Swingroom, zu Barbecue, thailändischen Nudeln und tibetischen Momos … Zwar sehe ich schon die Gemäuer der Altstadt, finde jedoch keinen Zugang. Eine Frau nimmt mich mit, wir gehen hinter einem Kinderkarussell unter einem steinernen Bogen hindurch. Die Gassen winden und krümmen sich, dass ich bald die Orientierung verliere, und nein, ins Legionärsmuseum Vindonissa möchte ich nicht, sondern eben ins Stadtmuseum, das aber kennt sie nicht. Ob Brugg überhaupt ein solches hätte? Sie wohne auf der anderen Seite der Aare, woher ich denn käme? Ein paar Schilder und Häuserecken weiter stehen wir vor dem Museum.
Wegen Adolf Stäbli sei ich hier, sage ich.
Sie wohne am Stäbli-Platz, welch ein Zufall, aber nein, das Museum, der Maler interessieren sie nicht, antwortet sie, als ich sie frage, ob sie nicht mit hineinkommen möchte.
Still ist es im Stäbli-Saal. An blauen Wänden hängen 33 Bilder. Wie zufällig trete ich vor die drei Porträts: der junge Adolf Stäbli mit rötlichem Haar, das Gesicht frei; später im Alter sind die Wangen gefleckt, der Bart schimmert rötlich. Der Blick des Mannes auf dem dritten Gemälde aus dem Jahr 1893 ist einer, der vom Leben nicht mehr allzu viel erwartet, die Augen haben schon zu viel gesehen.
Und mit diesen Augen im Kopf gehe ich an den Bildern entlang und versuche zu sehen, was Adolf Stäbli gesehen hat, versuche zu verstehen, warum das Unwetter ihn anzog, die düsteren, flachen Landschaften, über denen sich Wolken aufbäumen und am Bildrand entladen, die Welt auf jedem Bild unterzugehen droht.
Neben den Porträts hängt ein „Kruzifix am Weg“. Efeu rankt daran empor, der helle Himmel darüber, so scheint mir, wurde mit einem Spachtel glattgestrichen, nur oben am rechten Bildrand düstert es noch dunkler. Dagegen können auch die weißen Punkte – sind es Margeriten? – und die blauen – Enziane? – nicht ankommen, sie verschwinden fast in dem dunklen Gras.
Weite Steppe und davor eine Birke, die seit Jahren vergebens dem Wind trotzt, nun gebeugt von diesem Kampf; der Blick geht hinaus in ein weites Land, folgt dem Weg durch die Felder, die sich bis zu einem See erstrecken – oder ist’s ein Meer? Und dahinter, darüber wieder diese Wolken, die sich stauen, jagen oder als wachten sie darüber, dass unter ihnen alles so weit und flach bleiben möge, wo sie selbst oben schon den nächsten Windstoß erwarten. Kein Mensch, nirgends, auch kein Tier, nicht einmal Vögel, die doch sonst den Himmel bevölkern und zirpen und kreiseln, wenn ein Unwetter aufzieht. Das Bild „Weites Land“ erzählt nicht viel von dem, was fehlt.
Auf einem der nächsten Bilder grellt der Schnee in den Bergflanken, so dunkel ist der Grat, der Wald, und unten fettes, grünes Land, Wald und Blumen und Gräser, vom Wind aufgefächelt. So als bräuchte auch das Unwetter in Stäblis Welt einmal eine Pause, vielleicht hat er sie in der „Gebirgslandschaft bei Patenkirchen“ gefunden?
Immer wieder öffnet sich Tür, quietscht in ihren Angeln, ein Kommen und Gehen von Stadtfestgängern, niemand verweilt länger als fünf Minuten, es quirrt der ganze Raum, wenn oben die Menschen zwischen den Vitrinen umhergehen, fast unheimlich ist dann der Blick in den Saal, der nun leer ist, wo unter der Woche und an Samstagen gern geheiratet wird. Leise und beständig surrt nur die Klimaanlage. Ich schaue hinaus zu den Geranien, wie sie prall vor den Fenstern hängen, zu den Fensterläden, die schräg gestellt sind, um die Hitze auszusperren, und ich stehe wieder vor den Bildern und suche nach etwas, das ich nicht finde.
Eine Zeichnung sieht aus wie der flüchtige Versuch, den Wald, die Büsche, das Gewaltvolle zu fassen. Mich erinnert sie an die Baumtempel des Angkor Wat, wo Tempelruinen, Wurzeln, Steinblöcke in einer Weise ineinander übergehen, dass einem das Auge überfließt und der Verstand erst recht. Man bewegt sich dort wie in einem Fluidum, und wären der Saal und das Stöhnen des ganzen Hauses unter den Schritten der Menschen nicht, könnte es hier in der Welt des Adolf Stäbli ähnlich sein.
In der „Flachlandschaft“ steht eine Rinderherde am Himmel, wirft sich übereinander, drängt sich wie auf einem Schlachtfeld.
Vorwärtsdrängende
Rinderherde am Himmel
den Süden im Aug
Und immer wieder weites flaches Land, über das der Wind hinwegfegt und das Gebüsch, auch Häuser sich ducken, Felsen gar. Ich habe das Lied von Jacques Brel im Ohr: „Le plat pays“, suche dort nach den Worten, die mir hier fehlen. Auch bei ihm kämpft das flache Land gegen Wasser und Wind, der Mensch schüttet Dämme auf und kann doch nichts ausrichten. Und die Weite wird zur Wüste, wo der Teufel seine Krallen nach den Wolken streckt, während er sich im geborstenen Gemäuer versteckt.
„Überschwemmung“ heißt ein Gemälde, Baumstämme umwirbelt vom panzergrünen Strom, die Welt kämpft hier gegen den Untergang, ragt entkräftet empor, Weiden, Grasinseln, wie lange noch? Regenfäden am Horizont, die Welt regnet sich ein, hell ist’s über der Baumgruppe, vielleicht doch ein Streifen Zuversicht inmitten der Trostlosigkeit?
Sandkuhlen, Heidekraut und Felsen in der „Regenlandschaft im Harz“. Würde die Sonne scheinen, ein angenehmer Ort, der einen weiten Blick erlaubt, so aber unter wüstgrauen Wolken? Die Platane beugt sich im Wind, der von Osten weht – wenn der rechte Bildrand denn Osten ist? Wie verhält es sich überhaupt mit Windrichtungen auf Gemälden? Wo zieht das Gewitter auf? Woher kommen die Wolken, wohin ziehen sie?
Viel Unruhe ist in den Gemälden, aber sie sind auch still, totenstill, trotz der Lichtstreifen, auch sie fast auf jedem Bild, hängt der Himmel durch, die Natur ist verloren, der Mensch ohnehin?
Ich denke an chinesische Landschaftsmalereien, wo alles in sich zu ruhen scheint, jedes Element an seinem Platz und somit Harmonie gewährt ist. Das Wetter bei Stäbli hat nichts Erhabenes, er verschmäht alles Liebliche, Ordnungen werden bedroht durch Wolkenexzesse, ein Aufruhr, ein innerer oder auch ein Weltenaufruhr, ein Wüten gegen die Welt – als wollte er sich durch das Malen von der Weltendüsternis befreien. Gleichzeitig spricht eine unsägliche Traurigkeit aus den Bildern, Trauer über eine untergehende Welt? Ist Stäbli also nicht nur ein Wettermaler, sondern auch Prophet, spürt er, welche Unwetter über Europa aufziehen? Und zerbricht darüber.
Der Mensch hat in solchen Welten jedenfalls nichts zu gewinnen. Ein Wettersturz enthebt den Menschen all seiner Funktion und seiner Überlegenheit. Es ist die durchkomponierte und variierte Aussichtlosigkeit, die mich Schritt um Schritt überwältigt, herumwirbelt in diesem aufkochenden Gewölk. Vielleicht ist es doch an der Zeit, wie Kant einst im „Streit der Fakultäten“ schrieb, dass die Menschen von der Bühne treten müssen? Was, wenn die Natur von der Menschheit verlange, ihren exklusiven Platz aufzugeben und an andere Lebewesen abzutreten?
Alice Grünfelder «Die Wüstengängerin», Edition 8: Die Sinologiestudentin Roxana reist Anfang der 1990er Jahre die Seidenstrasse entlang, um noch unbekannte buddhistische Höhlenmalereien in der Provinz Xinjiang im Nordwesten Chinas zu erforschen. Sie will zeigen, dass die Region nicht immer islamisch war, sondern buddhistische Wurzeln hat. Roxanas jahrelange Recherchen führen nicht zum erhofften Erfolg, doch mit leeren Händen will sie nicht nach Europa zurück, zumal es nichts gibt, wofür es sich lohnen würde heimzukehren. Ihr Aufbruch in die Fremde verliert sich im Sand der Wüste Taklamakan, der ›Wüste ohne Rückkehr‹.
20 Jahre später reist die schwerkranke Linda für ihr letztes Entwicklungsprojekt nach Xinjiang. Doch die Behörden verweigern die zugesicherte Zusammenarbeit. Im Gästehaus zur Untätigkeit verdammt, stösst Linda auf die Aufzeichnungen, welche die verschollene Roxana zurückgelassen hat, und sie folgt deren Spuren.
Vor dem Hintergrund des Widerstands der UigurInnen gegen die chinesische Regierung in Xinjiang, der spätestens seit 2009 auch im deutschsprachigen Raum Schlagzeilen macht, verstrickt sich das Schicksal der zwei eigenwilligen Frauen. Erstmals wird aus europäischer Perspektive von der Geschichte und Gegenwart einer wenig beachteten Region erzählt. Feinfühlig und kenntnisreich zeichnet die Autorin ein Panorama der Schicksale von Menschen, die in China an den Rand gedrängt werden.
Alice Grünfelder, geboren im Schwarzwald, aufgewachsen in Mutlangen, studierte nach einer Lehre als Buchhändlerin Sinologie und Germanistik in Berlin und Chengdu (China). Sie arbeitete jahrelang als Lektorin, betreute u.a. die Türkische Bibliothek im Unionsverlag, führte eine eigene Agentur für Literaturen aus Asien, übersetzte aus dem Chinesischen und gab mehrere Erzählbände heraus. 2018 ist ihr erster Roman «Die Wüstengängerin» erschienen, der in Xinjiang spielt. Nominiert für den Irseer-Pegasus-Literaturpreis 2019. Werkjahr der Stadt Zürich 2019.
Dies ist Auszug aus Dragica Rajčić Holzners Theatertext «Glück» in der Reihe Stückbox. Regie führte Ursina Greul, gespielt wurde es in Basel und Zürich.
Ana Jagoda, die Protagonistin, erzählt in Umgangsdeutsch die Geschichte ihrer Liebe. Es ist zugleich auch die Geschichte einer Suche nach Wahrhaftigkeit des Schmerzes und der Gewalt in einer durch und durch patriarchalischen Welt.
Glück
Ganze Abend verflog wie im Halbtraum. Mein Mund trocken. Ich schmige meine Arme an Igor Arm weil es kälter wurde, ich bin übermutig und noch von einer unbestimmte einzige Absicht durchzogen.
Bin ich das Mädchen mit der tragischen und schönen Idee der Wel?. Sie ist in der Musik und unter dem Mantel des Rauchs versteckt erste, erste, letzte Liebe Jetzt.
Igors Hand um meine Schulter. – Gehen wir ausser Glück, Igor gab mir seiner Hand. Wir stolperten wie zwei von Ertrinken gerettete einander umklammert durch den steinigen Weg zur kleine Wiese mit dem Heuschober um sich dort auf Heu niederzulegen. Meine Zunge ist schwer, diese am Film gesehener filmischen Kuss verlor etwas an seine Filmigkeit weil wir nicht wussten wann hört man richtig auf, wo endet die Sehnsucht und beginnt Wirklichkeit. Heimlich wollte ich mich aus der Umarmung herausschleichen aber hatte Angst das Igor womöglich diesen Wunsch sieht. Igor zu halten ohne das sich Zeit bewegt, das Glück stehen lassen in der Brust, in den Händen.
«Volim te» Wie weiss man das ?
Eingeboren ist es sagte Igor und hielt etwas länger seine Hand unter meinen Pulover am Rücken. Ist es gleich mit Vögeln, Katzen, Bearen, Schafen?
Sternwirklichkeit macht kein halt von Botanik und Zoologie, hast du nie gehört Ana das Gott Liebe ist?
Ja, von don Lilo, meinem Prister. Igor fragte nicht nach.
Schreib auf für später Ana so, gut so.
Alles was ich unter meiner Kopfhaut hatte, meinen Haaren, meinen Fingern, löste mich auf, dort wo es eine andere als mich geben könnte, mit diesen erträumten ersten Kuss kam ich schwindelfrei in die Glücke und entfernte die Unglücke von mir wischte sie mit dem Atem, seinem, meinem, weg von mir, einender einatmen, wiederholend, dort wo wir miteinander oder jeder allein gehen könnte, ausgeholt, überholt von Herrlichkeit des nicht Sprechens, du aus allen Poren der Welt kriechendes Uhrzeiger des Schikals berührt meine Haare, drückte meine Schulter an sich herein, diese unbedingte Rettung vor der ganzen Welt, nein, vorübergehend war nichts, ewig ist es klang es im Kopf, ich untersuchte nichts, ein unerhörter Zustand, in welchem niemand sich befand außer uns, dort wo sich die Umstürze der Sterne ereigneten, waren wir.
Alfred Schlienger, NZZ Redaktor, schreibt: «Warum beglückt diese Inszenierung von Dragica Rajčić «Glück» in der Reihe Stückbox so sehr und so innig? Denn erzählt wird ja eigentlich der schmerzhafte Verlust von Glück. Aber da ist ein Text, der raffiniert mit Sprache spielt und gleichzeitig subtil unsere Emotionen entfacht und einfängt. Und da ist mit Monika Varga eine junge Hauptdarstellerin, die diesen Text und diese Figur mit jeder Faser trägt. Mit Charme und Trauer, Verletztheit und Wut, Sehnsucht und Verlorenheit. Das entwickelt im Spiel eine unglaubliche Präsenz und Wahrhaftigkeit, die einen von Anfang bis Schluss in Bann schlägt. Und da ist nicht zuletzt die souveräne Regie von Ursina Greuel, die all diese Mittel sehr gezielt und dosiert einsetzt. Kein falscher, rührseliger Ton, kein Zuviel und kein Zuwenig. Zauberhaft auch der intimäae Einbezug von Musik und Gesang. Keine Spur von Balkantümelei. Präzis verankert und dadurch universell. Ein rares, kleines, grosses Theater-Glück.»
Am 27. November 2019 ist Buchpremière im Literaturhaus Zürich.
Dragica Rajčić Holzner, geboren 1959 in Split (Kroatien), lebt seit 1978 in St. Gallen. Hier Gelegenheitsarbeiten als Putzfrau, Büglerin, Heimarbeiterin, Aushilfslehrerin. Verheiratet, drei Kinder. 1988-1991 Kroatien: Gründung der Zeitung «Glas Kasela»; journalistische Arbeit. Nach Kriegsausbruch Flucht mit den Kindern in die Schweiz; Öffentlichkeitsarbeit über den Krieg in Ex-Jugoslawien. Bücher: «Halbgedichte einer Gastfrau» 1986 und 1994; Lebendigkeit Ihre züruck, Gedichte 1992 (vergriffen); Nur Gute kommt ins Himmel, Kurzprosa 1994 (alle eco Verlag); Theaterstücke: Ein Stück Sauberkeit, 1993; Auf Liebe seen, 2000.
Bei der Lesung der Grande Dame der Holländischen Literatur Margret de Moor sassen eine Mutter mit ihrer Tochter in der Reihe vor mir, beide mit Brillen im Haar, die Junge mit schulterfreier, weisser Bluse. «Ich bin masslos enttäuscht. Ich habe geschrieben und angerufen. Aber alle hatten sie eine Ausrede. Ich bin enttäuscht von meiner Generation.»
Ich konnte mich ihrer lautstarken Entrüstung nicht entziehen. Die Lesung würde gleich beginnen. Sie, die junge Frau vor mir, wetterte weiter in Richtung ihrer Mutter. «Hast du gesehen, wer hier ist und wer hier fehlt? Meine Generation. Jene, die dauernd hausieren, was sie alles gelesen haben. Ich bin enttäuscht.» Nicht viel hätte gefehlt, und ich hätte mich eingemischt, hätte der Enttäuschung der jungen Frau beigepflichtet. Nicht um sie zu beschwichtigen, sondern um Öl ins Feuer zu giessen.
Die junge Frau hat recht. Auch wenn die Organisatorinnen und Organisatoren der 40. Solothurner Literaturtage nicht einmal in den Windeln waren, als das Festival vor 40 Jahren ins Leben gerufen wurde, sind die Besucher und Besucherinnen durchschnittlich deutlich im Rentenalter; durchaus frisch und jung geblieben, beweglich und offen. Aber ganz offensichtlich die aussterbende Generation derer, die sich von der Literatur aus der Komfortzone locken lassen. Keine Generation las so viel wie die junge heute. Aber es scheint nicht zu reichen für die Geheimnisse der Literatur.
Dabei sind sie da, die Stimmen, die Aktualität mit Literatur verbinden. Auch in den frischen Stimmen der Schweizer Literatur. Zwei Beispiele:
Alice Grünfelder, einst Buchhändlerin, dann Studium der Sinologie und Germanistik in Berlin und China, arbeitete lange beim Unionsverlag Zürich als Herausgebende der «Türkischen Bibliothek». Ihre Leidenschaft ist Asien. Eine Leidenschaft, die sie einen ersten Roman schreiben liess – «Die Wüstengängerin».
Anfang der 90er Jahre reist die Studentin Roxana entlang der Seidenstrasse, um unbekannte buddhistische Höhlenmalereien zu erforschen als Beweis dafür, dass die Region dort nicht «immer» islamisch war. Zwanzig Jahr später reist Linda wegen eines Entwicklungsprojekts ebenfalls nach Xinjiang und stösst dabei auf die Spuren Roxanas.
So sehr das Schicksal der Uiguren aus dem Bewusstsein des Westens gefallen ist, so leidenschaftlich verpackt die Autorin die letzten zwanzig Jahre Geschichte eines Volkes, das vergessen von der Weltöffentlichkeit um seine Rechte kämpft. Das Gebiet der Uiguren war über Jahrhunderte immer wieder Durchgangsland, sowohl wirtschaftlich wie militärisch. Die chinesischen Repressalien heute und in den vergangenen Jahrzehnten sind strategisch. Die Gegend muss «ruhig» bleiben, um all die geopolitischen Absichten Chinas durchzusetzen.
Alice Grünfelders Auftritt im schmucken Stadttheater Solothurns hat Eindruck gemacht. Nicht nur weil das orange Vorsatzpapier ihres Romans, das textile Buchzeichen, ihr pelziger Fingerring und die orange Hose mit chinesisch anmutenden Stickereien Ton in Ton zueinander passten. Eine Wüstengängerin erzählt von «der Wüstengängerin», eine leidenschaftliche Frau von einer leidenschaftlichen Frau. Ein Roman, der eine politische Dimension beinhaltet, ohne zu belehren, der nicht nur dokumentieren will, ebenso unterhalten. Ein Roman, der fasziniert und mehrfach erstaunt.
Auch bei der 1979 geborenen Regula Portillo ist das Stadttheater proppenvoll. Ob Heimspiel, weil sie im Kanton Solothurn aufwuchs oder angelockt vom Mut einer jungen Frau, die ein Stück Geschichte Lateinamerikas aus der Sicht von Schweizern erzählt, bleibe dahingestellt.
Eine Parallelerzählung von Eltern und Töchtern, von einem zehnmonatigen Aufenthalt eines Ehepaars in Nicaragua während der Revolution, den Kämpfen zwischen Sandinisten und von den USA unterstützten Contras. Und den Töchtern, die nach dem Tod der Eltern das Haus räumen und erst da entdecken, dass die Eltern in ihrer verschwiegenen Vergangenheit ganz andere Leben führten. Sie entdecken die Hinterlassenschaft zweier Brigadisten aus der Schweiz, eines Paars, das in einer ganz anderen Welt an den Umständen von Revolution und Zerrissenheit zu zerbrechen drohte.
Viva Nicaragua! Viva la Revolución! Eine Mission voller Enthusiasmus, die an der Wirklichkeit zu scheitern drohte. Eine zehnmonatige Reise der Eltern in den 90ern in ein Land, in dem Umsturz, Revolution und neue Ideen das erreichen sollten, was in vieler Hinsicht nicht einmal im Heimatland zu erreichen war.
«Warum verschwand Jahrzehnte später das, was zuvor eine ganze Generation beschäftigte?», war eine der Motivationen der jungen Autorin Regula Portillo. 800 Schweizerinnen und Schweizer zogen damals nach Nicaragua, in der Absicht, sich an historischen Prozessen zu beteiligen. Eine Revolution, die in Lateinamerika stattfand, aber in den Herzen eingeschlossen in viele Länder zurückgetragen wurde, eingehüllt von Enttäuschung und Kränkung.
Nicht einfach ein Roman über die Revolution in Nicaragua! Wie weit dürfen wir uns in die Geschicke eines «fremden» Landes einmischen? Was nehmen Eltern mit dem Sterben mit ins Grab? Wo bleiben all die Geschichten, die unwiderruflich dem Vergessen drohen? Auch ein Roman über die Rolle der Frau, über ein Paar, das sich aussetzt, das Scheitern, über den Tod.
Ich bin nicht enttäuscht. Aber im Grunde genauso ratlos wie die junge Frau im Landhaussaal in der Reihe vor mir. Während Solothurn unter der Vorsommersonne voll mit jungen Menschen ist, die am Ufer der Aare ihre Seele baumeln lassen, bleiben die «Alten» unter sich. Und wenn die Solothurner Literaturtage dereinst auch das Pensionsalter erreichen sollten, bleibt die Frage existenziell, wie die jungen Generationen von Literatur erfolgreich infiziert werden sollen.
Titelbild: Alice Grünfelder und Moderatorin Bernadette Conrad