Noa Theobaldy «Tunnelblick», Die Brotsuppe

Fahren Sie mit dem Zug zur Arbeit? Kämpfen Sie auf dem Nachhauseweg manchmal mit Fragen über die Sinnhaftigkeit ihres Tuns – und mit dem Schlaf? Dämmern sie manchmal weg und schrecken auf, weil der Zug einfährt, wo sie aussteigen sollten? Noa Theobaldy zieht mich mit ihrem Debüt «Tunnelblick» ins Unterbewusste, in die dunklen Zonen menschlichen Seins.

Ein Mann fährt Zug, von der Arbeit nach Hause, müde. Nicht nur müde von einem langen Arbeitstag, sondern von einem ganzen Leben, das nicht in die Gänge kommt. Er freut sich auf seine Ruhe, sein Bier und dämmert kurz vor dem Endbahnhof, seinem Wohnort im Zug weg. Als er wieder aufwacht, rattert der Zug durch einen Tunnel. Obwohl es dort, wo er wohnt, keine längere Tunnels gibt. Aber er sitzt in diesem Zug, sieht sein Spiegelbild in der Schwärze des Fensters und wundert sich. Der Zug ist fast leer. Er steht auf, sucht nach anderen, nach Personal, während vor den Fenstern nichts darauf hinweist, dass der Tunnel zu Ende gehen würde.

Zugegeben, als ich mit der Lektüre der Erzählung „Tunnelblick“ begann, erinnerte mich das Gelesene so stark an die Erzählung Friedrich Dürrenmatts, dass ich das Buch beinahe weggelegt habe. „Der Tunnel“, eine Kurzgeschichte des damals noch jungen Dürrenmatts, die mich in meiner Begeisterung für ihn nachhaltig beeinflusste. Ausgerechnet! Aber glücklicherweise verselbständigt sich Noa Theobaldys Erzählung sehr schnell, denn wer spielt im nebulösen Halbschlaf Zug fahrend nicht zuweilen mit dem Gedanken, was wäre wenn. Silvan, um seine Feierabendruhe gebracht, macht sich auf im Zug, findet ein Mädchen allein in einem Abteil, das mit einer Fledermaus spielt, eine Schaffnerin, die sich wegen seines fehlenden Fahrscheins wohl kulant zeigt, sonst aber nur wenig zur Klärung seiner Fragen beiträgt, eine Handvoll Passagiere, vornehmlich ältere Menschen und mit Dauer der Fahrt immer mehr Fragen. Bis der Zug mitten im Tunnel stoppt. Das Mädchen hängt sich an Silvan, die Schaffnerin glaubt, Vater und Tochter vor sich zu haben. Die Fledermaus ist durch einen Spalt im Fenster entflogen. Man heisst die Passagiere des Zuges wegen technischer Probleme aus dem Zug auszusteigen. Die Schaffnerin führt das Grüpplein zwischen Zug und Tunnelwand zur Spitze des Zuges. Der Lokführer spricht von grösseren Problemen, die Schaffnerin von einem Sammelraum weiter vorne, wo man sich hinbegeben solle.

Noe Theobaldy «Tunnelblick», Die Brotsuppe, 2022, 96 Seiten, CHF 26.90, ISBN 978-3-03867-037-7

Noa Theobaldys Szenerie in ihrer Erzählung entfernt sich mit fortlaufender Lektüre immer weiter von einem realen Geschehen. Es gibt Fenster, die man nicht öffnen sollte, Vorhänge, die geschlossen bleiben sollten, lange Gänge ohne Licht, hinein in ein Dunkel, das einem bei der Lektüre klaustrophobische Gefühle beschert, ein Mädchen, das mit einem Mal verschwindet und Mitreisende, die sich durch nichts aus der Ruhe bringen lassen. Silvan sinkt in das Geschehen, lässt sich aufsaugen. Der Wunsch, so schnell wie möglich aus diesem Tunnel zu kommen, eine Erklärung für ein alleine gelassenes Mädchen zu finden, schwinden hinter dem Bemühen, den nächsten Schritt, den nächsten Moment zu verstehen. Der Mann vergisst sich, verliert sich. Genau das macht den Reiz dieser Erzählung aus und verweist auch auf den Titel der Erzählung. Da ist die Kulisse, dieser Tunnel, die Schwärze, die Enge, das Dunkel, fehlendes Licht, fehlende Distanz. Und ein Mann, der nur noch den Moment zu überstehen versucht. Ich fühle mich gespiegelt in Momenten meiner eigenen Biographie, in denen mein Leben in einem Tunnel zum Stillstand kam, in denen mich nichts und niemand aus den klaustrophobischen Gefühlen einer Ausweglosigkeit befreien konnte. 

Mag sein, dass sich die Erzählung aus meiner Sicht etwas zu sehr ins Traumhafte, ins Alptraumhafte begibt und den Schluss der Erzählung in meinem Kopf viel zu früh provoziert. Aber das verzeihe ich der Erzählung, weil Noa Theobaldy so eigenwillig zu erzählen vermag. Ich lese eine Erzählung in einem ganz eigenen Sound, einer Sprache, die sich erfrischend von allem anderen abhebt. Eine Erzählung, über die man sich in einer Leserunde lange auseinandersetzen könnte, die mehr offen lässt, als sie erklären will.

Interview

Schon über den Titel „Tunnelblick“ könnte man sich vertiefen. Zum einen wichtig, um sich zu fokussieren, zum andern blendet er alles aus, was sich auf die Fokussierung des scheinbar einzigen Lichts am Ende des Tunnels entzieht. Ist der Titel bei dir mehr positiv oder negativ besetzt? Ist das Schreiben selbst nicht auch ein Tun, das einen gewissen Tunnelblick voraussetzt?
Bei mir ist der Titel eher positiv besetzt, denn zwar geht der Protagonist anfangs mit einem Tunnelblick durch die Welt, der ihm viele tiefe Begegnungen und Erlebnisse verwehrt, ihn stattdessen innerhalb des Tunnels der Oberflächlichkeit hält. Doch ich sehe dabei immer auch das Licht. Ein Tunnel ist nicht endlos, irgendwann kann sich der Blick öffnen. Vielleicht brauchte der Protagonist sogar den Tunnelblick, um mit seinem schweren Herzen leben zu können, bis die Zeit und der Mut gekommen sind, den Blick zu öffnen und eine ganze Fülle an Eindrücken, erschütternden wie befreienden, zuzulassen.
Ich würde nicht sagen, dass das Schreiben dieser Erzählung einen Tunnelblick voraussetzte, denn mir war nur der Anfang von Anfang an klar, wie es ausgehen würde, war für mich noch nicht fassbar. Ich bin daher nicht mit Scheuklappen auf ein bestimmtes Ziel zugesteuert. So habe ich die Handlungsstränge eher erhascht, die Figuren und Gestalten sind erschienen, erst im Dunkeln, dann klarer umrissen. Es war eine Annäherung eher vom Offenen ins Konkrete statt umgekehrt.

Silvans Herz ist voll mit Enttäuschungen, steht ganz am Anfang deiner Erzählung. Er ist müde, nicht nur vom Arbeitstag. Du gehst aber fast nicht oder nur andeutungsweise auf das ein, was Silvan hinter sich lässt, erzählst mir mit einem Minimum an Erklärungen. Das ist Absicht, das spüre ich. Ist das nicht ein Wagnis, mich als Leser derart (wörtlich) „im Dunkeln“ zu lassen?
Für mich war es nicht relevant, was Silvan zu schaffen macht, ich wollte ein Grundgefühl vermitteln, das ihn umgibt. Dieses bricht nach und nach auf, und was ihm tatsächlich die Energie entzieht, liegt sehr lange zurück. 
Ich habe auch mich als Schreibende im Dunkeln gelassen, was mich beim Verfassen neugierig gemacht hat. Ich war gespannt darauf, was es zu sehen gäbe, wenn ich meinen Protagonisten nach und nach ausleuchten würde. 

Das Personal bewegt sich im Dunkeln, in Gängen, die kaum ausgeleuchtet sind, tief im Berg. Das Unterbewusstsein?
Ich habe es mir so vorgestellt, dass das Innere des Berges gleichsam das Innere von Silvan widerspiegelt. Trotzdem könnten die Figuren wahrhaftig sein, denn wer entscheidet über die Wahrheit – ist sie das, was man sieht, oder eher das, was dahinter verborgen ist? Anouk, das Mädchen, das in der sogenannten Realität am Ende der Geschichte nochmals auftaucht, verknüpft die beiden Welten. Sie hat für mich etwas Engelhaftes, eine Gestalt, die erscheint und weiterhilft, ohne etwas zu fordern, einfach indem sie da ist. Die Schaffnerin ist für mich jemand, die so tut, als würde sie das Innere von Silvan kennen und könnte ihn führen, doch tatsächlich muss er selbst aus den Irrungen rausfinden und sich in diesem Prozess von den Figuren lösen, die es scheinbar besser wissen.

Man begegnet in deiner Erzählung real scheinenden Menschen, die theatral wirken, manchmal bloss Stimmen, an einer Stelle scheint es der Tod selbst zu sein. Deine Erzählung passt in eine Zeit, in der man sich wie nie zuvor mit der Frage beschäftigt, was nun wirklich wirklich, wirklich wahr, wirklich real ist. Muss dieses Bewusstsein, wie sehr sich Wahrnehmung von Wahrheit entfernen kann, nicht Angst machen?
Damit möchte ich auf all die Fakes, Heilsbringer und Besserwisser eingehen, die uns alle mal einflüstern, mal in die Ohren schreien, jeder mit seiner Wahrheit. Gab es doch einmal eine Zeit, in der man das Gefühl hatte, es würde eine Wahrheit geben. Auch diese Heilsbringer und Besserwisser wirken sehr oft theatralisch, sind wirkungsvoll inszeniert. Auch dort stülpt sich ein Tunnelblick über die Menschen, die Objektivität mehr als nur vernebelt.
Mir macht dieses Bewusstsein weniger Angst, seit ich für mich akzeptiert habe, dass es keine eine Wahrheit gibt. Ein Reiz, den das Schreiben auf mich ausübt, ist genau dieses Spiel mit der Wahrheit. Ist das Erfinden von Geschichten ja einerseits der Inbegriff von nicht wahr, und doch steckt für viele Menschen eine Menge Wahrheit in einem fiktiven Text. Und so soll sich jeder Lesende das herausnehmen, was für ihn stimmt oder eben: Wahr ist. 
Ich möchte noch einmal auf die Schaffnerin zurückkommen: Sie ist am ehesten die Heilsbringerin, die einiges anstösst, und doch auf Silvans Nachfragen am Ende zugibt, dass sie nie etwas zu sagen hatte: „Ich bin nur Zugbegleiterin. Es ist Ihre Reise.”

Du bist Lehrerin, ein Beruf, der alles abverlangt, je länger je mehr. Ein Beruf, der einen gänzlich ins Hier und Jetzt stellt. Wie schaffst du es, dir Zeit und Raum zu nehmen, dich literarisch in eine derart „jenseitige» Welt zu begeben?
Tatsächlich bin ich nach einem intensiven Schultag oft zu erschöpft zum Schreiben. Es kann aber auch dabei helfen, abzuschalten, wenn ich noch zwei, drei Sätze schreibe, bevor ich zu Bett gehe. An den Wochenenden oder einem freien Tag kann es sehr schön sein, ganz abseits des Alltags in eine andere Welt hinein- oder hinabzusteigen. Allerdings schreibe ich eigentlich nie länger als zwei Stunden am Stück, meistens weniger und am liebsten in einem schönen Café. Daran, dass der Kaffee dabei kalt wird, habe ich mich gewöhnt und er schmeckt mir unterdessen trotzdem. Ich bleibe nie allzu lange hängen und bin, wenn ich aufblicke, sofort im Hier und Jetzt, sehe die anderen Gäste und höre das Stimmengemurmel. Um ein neues Projekt zu entwickeln, brauche ich etwas mehr Raum, da eignet sich zum Beispiel die lange unterrichtsfreie Zeit im Sommer oder, im Fall des Tunnelblicks, die Zugfahrt von und zur Schule. 

Noa Theobaldy, 1985 in Basel geboren, lebt in Bern und arbeitet als Primarlehrerin. «Tunnelblick» ist ihre erste Veröffentlichung.

KultBau St. Gallen: Amsél & Miriam Spies – Zwei Frauen in Marokko

Der KultBau St. Gallen lädt am Dienstag, den 15. Februar um 20 Uhr zu einer Doppellesung ein. Unter dem Titel «Zwei Frauen in Marokko» entführen sie die beiden Autorinnen Miriam Spies und Amsél begleitet vom Moderator Florian Vetsch auf die andere Seite des Meeres.

Miriam Spies lebt als Autorin und Verlegerin in Mainz – sofern sie nicht gerade durch die Welt tingelt, um literarische Psychogramme über die Gattung Mensch zu erstellen. In ihrem Gonzo Verlag hat sie u.v.a. Titel von Pablo Haller, Hadayatullah Hübsch, Susann Klossek und Enno Stahl verlegt. Bei Conbook, Neuss, ist 2019 ihr marokkanischer Roadtrip «Im Land der kaputten Uhren» erschienen. Darin zeigt sie, dass in Marokko Wunder an jeder Ecke lauern. Per Anhalter, im Nachtbus oder zu Fuss findet sie märchenhafte Geschichten direkt vor sich auf der Strasse…

Amsél lebt als Fotografin und Autorin in Zürich und Tanger. Ihre Fotobücher «Tanger Tance» (Benteli, Sulgen 2010) und «Jbala» (Till Schaap, Bern 2020) führen tief in die diverse Wirklichkeit Marokkos hinein. Amséls preisgekrönter Roman «Wiedersehen in Tanger» (Brotsuppe, Biel 2016) erzählt von dem lebenserfahrenen Tarik, der Erleuchtung sucht, der Ornithologin Chaya, die einen seltenen sibirischen Zugvogel sucht, und der Botanikerin Thelma, die meint, nichts mehr suchen zu müssen… Aber dann geht die Abenteuer- und Liebesgeschichte erst los…

Manch einer mag einwenden, dass es nicht die cleverste Idee ist, alleine als Frau in einem islamischen Land mit zwei wildfremden Marokkanern quer durch das Königreich zu brettern. Aber mein Bauchgefühl sagte mir, dass das immer noch besser war, als mir die Nacht in den Strassen von Nador um die Ohren zu hauen und auf den ersten Bus nach Tanger zu warten. Und wenn ich in den letzten Monaten auch nicht viel gelernt hatte: Dass ich ein ausgezeichnet funktionierendes Bauchgefühl habe, hatte ich schmerzlich herausgefunden. Und dass Menschen, die dich belügen und betrügen, nicht zwingend wildfremde Kriminelle auf verruchten Flughafenvorplätzen arabischer Provinzstädte sein müssen, sondern durchaus langjährige Weggefährten sein können.
Also gut, Koffer bei besagtem Bruder in den Kastenwagen geworfen, reingesprungen, mich kurz mit ihm darüber verständigt, dass wir uns leider nicht verständigen können, und los ging die Reise. Die zwei Brüder, die sich seit anderthalb Jahren nicht gesehen hatten, lachten unaufhörlich. Ich wusste zwar nicht, worüber, machte aber auch nichts, die Wiedersehensfreude war ansteckend, und ich genoss es einfach nur, dass diese ganze Herzlichkeit auch auf mich überschwappte. Als die erste euphorische Welle verebbt war, drehte sich der Heimkehrer von seinem Beifahrersitz zu mir nach hinten um und streckte mir die Hand entgegen: «Ich bin Wassim, und das ist Dulamah, mein grosser Bruder. Und wie heisst du?»
(aus Miriam Spies «Im Land der kaputten Uhren – Mein marokkanischer Roadtripp» Conbook. Neuss 2019)

Später berichteten Einheimische, Touristen und Wüstentrecker, die sich zu jenem Zeitpunkt auf halber Höhe des Hohen Atlas, jedenfalls über dem Sandnebelmeer, befunden hatten, in diversen Blogs, sie hätten am Himmel über der Hamada eine schwarze Wolkenwand auffahren sehen. Mit hoher Geschwindigkeit habe sie sich auf den Nordrand der Sahara zubewegt. Ein Triangel Zugvögel und zarte Schlieren seien ihr voran geschwebt, fast wie Bannerträger, die eine Prozession ankündigen. Bald darauf sei der Himmel erzittert. Man habe phantastische Blitze gesehen, die sich zuhauf über der Ebene entladen hätten, gefolgt von ohrenbetäubendem Donnerschlag, der einem bis ins Gebirge hinauf einen Schauer über den Rücken gejagt habe.
Im Schritttempo erreichten Chaya und Tarik den Platz vor dem Ksar Kulshi, dessen Umrisse diffus zu erkennen waren. Unter den Pneus knirschte Kies, als Chaya durch die Nebelsuppe auf einen Sandplatz fuhr, den ein schiefes Schild am Eingang als Parkplatz kennzeichnete; bis auf zwei Kastenwagen von Hertz war er leer. In dieser Minute schob sich eine dunkle Wolkenwand von Norden herkommend vor die Sonne – und jäh verwandelte sich jetzt alles in eine düstere Unterwelt. Chaya stellte den Motor ab und knipste das Notlämpchen an.
«Ich habe dich gewarnt», klagte Tarik, «wir hätten im Hotel bleiben sollen.»
(aus Amsél «Wiedersehen in Tanger» Verlag Die Brotsuppe. Biel 2016)

KultBau St. Gallen

Beitragsfotos: Miriam Spies © Nora Scheffel / Amsél © Abdenbi Sarroukh

Regina Dürig ist die erste Weinfelder Buchpreisträgerin!

Regina Dürig ist mit ihrer Novelle «Federn lassen» erste Trägerin der Weinfelder Buchpreises. Der von der BuchhändlerinKatharina Alder  initiierte Weinfelder Buchbuchpreis wurde erstmals übergeben. Der Preis ehrt die Qualitäten eines besonderen Buches und zugleich das Engagement einer leidenschaftlichen Bücherfreundin!

Hier veröffentlicht literaturblatt.ch die fünf Texte der Jury zu den Büchern, die nominiert waren.

Zum Siegerbuch von Regina Dürig «Federn lassen», Droschl:
Schwarz-weiss gestreift wie eine Vogelfeder, dazu noch lang und schmal, kommt dieses Buch daher. Es irritiert auf den ersten Blick, wenn es in der Hand liegt. Ein besonderes Format für ein Buch. Und auch die ersten Wörter sind ungewöhnlich. Verrissene Sätze und Absätze hindern den Lesefluss. Doch das stockende Lesen stört keineswegs das Verständnis der Geschichte. Es ist gewollt und gekonnt. Der Verzicht auf jegliche Interpunktion und die individuelle Interpretierbarkeit von Enjambements verleihen den Textabschnitten unzählige Varianten des Verstehens. Auf der Buchvorderseite steht Novelle, doch die Zeilen hören sich eher nach lyrischer Prosa an. Die Stimme hinter den Sätzen wurde nie erhört. Durch das Niederschreiben bricht wird ein Tabu gebrochen, das unerhörte Ereignis in doppeltem Sinn. Die Kategorie Novelle könnte also nicht treffender sein.

Die Geschichten handeln vom Alltäglichen. Ein namenloses Du erzählt rückblickend von Schweigen, Scham, Stille und Starre. Von der Kindheit bis ins Erwachsenenalter werden wir Zeuge von Grenzüberschreitungen und Übergriffen, von physischer, psychischer und sexualisierter Gewalt.
Die Erzählerin schildert ihr Überhörtwerden bei der Arbeit, wie sie ihre Freunde bei kleinen Dingen nicht ernstnehmen. Aber auch, dass sie körperliche Nähe erfährt, die sie so nicht möchte und nicht einfordert. Es sind Dinge, die einer Frau tagtäglich passieren. Mit dieser Novelle ist Regina Dürig eine eindrückliche Gesellschaftskritik geglückt.

Und dann ist da noch diese Angst. Sie ist universal, sie ist allgegenwärtig und bestimmend. Diese Angst, dass es immer noch schlimmer kommt. Die Beschreibungen davon sind bedrückend und deprimierend. Die Federn werden fliegen gelassen – gerupft und nackt steht die Erzählerin da und hat uns ihr Innerstes offenbart.

Regina Dürig ist mit «Federn lassen» eine mutige und feministische Novelle gelungen, die aufrüttelt und an der innersten Sicherheit kratzt. Schonungslos und ungeschönt kommen sie Sätze daher. Sie verheimlichen nichts und gewinnen durch ihre Mehrdeutigkeit eine grosse Wucht.

Regina Dürig wurde 1982 in Mannheim geboren und lebt in Biel. Sie ist Autorin, Performerin und Dozentin für Literarisches Schreiben und hat Miniaturen, Kurzgeschichten, Hörspiele, Kinderbücher, Jugendromane und unsichere Übertragungen veröffentlicht. Für ihre Arbeiten hat Regina Dürig zahlreiche Auszeichnungen erhalten, u. a. den Peter-Härtling-Preis, den Literaturpreis Wartholz und den Literaturpreis des Kantons Bern

Judith Keller «Oder?», Der gesunde Menschenversand
Judith Kellers Oder? ist kurzweilig. Das liegt einerseits an den vielen Seiten, die nur mit ein paar wenigen Sätzen bedruckt sind und andererseits am flüchtigen Plot. Die Rahmenerzählung um zwei Schwestern, die ihren eigenen Autor finden wollen, weil sie sich „schlecht erzählt“ fühlen, bleibt so vage wie das Abtauchen ins mythologische Griechenland oder die Zusammenhänge der einzelnen Episoden. Ein bisschen veräppelt fühlt man sich da bei der Lektüre schon. Und gerade das ist immer wieder sehr unterhaltsam. So beispielsweise, wenn Keller sich im Roman etliche Male selbst zitiert – aus Werken, die in Zukunft erscheinen werden. Oder wenn es immer wieder um die nie stattgefundene Entführung von Roger Federer geht. Veräppelt werden nicht nur die Lesenden. Der Text macht sich über den gesamten Literaturbetrieb lustig und ist am Ende – genau so, wie es auf der ersten Seite steht – „überhaupt kein Roman“: Dieser Text ist das Ringen mit dem Roman, den es nicht gibt. Was man da in den Händen hält, ist nicht einmal ein Manuskript. Es ist eine Sammlung von Miniaturen und Notizen zu einem Roman, den Keller vielleicht einmal schreiben wird. Und darauf kann man hoffen, denn das Potenzial dieses Textes geht weit über den Schalk hinaus.

Judith Keller, 1985 in Lachen (SZ) geboren, lebt in Zürich. Sie hat Literarisches Schreiben in Leipzig und Biel sowie Deutsch als Fremdsprache in Berlin und Bogotá studiert. Für ihr Debüt «Die Fragwürdigen» wurde Judith Keller mit Anerkennungspreisen von Stadt und Kanton Zürich ausgezeichnet.

Seraina Kobler «Regenschatten», Kommode
In ihrem Debütroman inszeniert Seraina Kobler ein Zürich der nahen Zukunft. Geprägt von Dürren, steigendem Meeresspiegel und Waldbränden schafft Kobler die Atmosphäre einer nahen Dystopie. Und inmitten dieser kaputten Welt entsteht neues Leben: Der Roman verdichtet das Geschehen auf einen einzigen Tag im November, an dem Anna ohne jegliche Hilfe ein Kind zur Welt bringen wird. In einer Rückblende erzählt sie von sich und David, dem Baby, dass sie erwarten und dem Problem, dass nicht David, sondern ein guter Freund der Vater ist. Vom Verlassenwerden und der Frage, ob sie das Kind behalten oder abtreiben soll. Zugleich berichtet die Ich-Erzählerin von einem Feuersturm, der am Zürichberg wütet und die Stadt in Panik versetzt. Kobler verschränkt gekonnt die Geschichte einer Frau und ihrer Schwangerschaft mit der einer Klimakatastrophe. Die Geburtsszene bestimmt die Dramaturgie des Romans und über viele Seiten gelingt es Kobler die unterschiedlichen Ebenen und Motive stimmig miteinander zu verknüpfen. Erst gegen Ende franst das Nebeneinander von Persönlichem und Allgemeinem aus und die Erzählfäden sind nur noch lose bis gar nicht miteinander verknüpft und der Schluss wirkt abrupt. Dennoch gelingt es Kobler übers Ganze eine Atmosphäre zu kreieren, die überzeugt.

Seraina Kobler ist Journalistin und Autorin, arbeitete sie als Redakteurin bei verschiedenen Tages- und Wochenzeitungen, bevor sie sich mit einem eigenen Schreibatelier in der Zürcher Altstadt selbstständig gemacht hat. Sie ist Mutter von vier Kindern. «Regenschatten» ist ihr erster Roman. Ihr literarisches Schaffen wurde von verschiedenen Stiftungen, sowie dem Bundesamt für Kultur unterstützt.

Anaïs Meier «Über Berge, Menschen und insbesondere Bergschnecken», mikrotext
Anaïs Meiers erste Kurzgeschichtensammlung mit dem Namen «Über Berge, Menschen und insbesondere Bergschnecken» ist ein buntes Sammelsurium. Gerade so gut könnte dieses Buch «Über Hindelbank, Verhütung und insbesondere Essiggurken», oder «Über Bünzli-Ferien, Crazy Ellipsen und insbesondere Emmentaler Schildkröten» heissen. Nichtsdestotrotz ist der erste Titel treffend. Über Berge geht es im ersten Text und von Menschen handeln fast alle von Meiers Geschichten. Genauer gesagt von Menschen aus der Schweiz. Auf sie richtet Meier einen Blick, der in seiner Unaffektiertheit und vermeintlichen Arglosigkeit nur umso härter mitten in die ‘Conditio Svizzera’ trifft. Schweizerische Kleingeistigkeiten, Essgewohnheiten und sonstige Entgleisungen werden aufs genaueste analysiert und entlarvt, zwar immer wieder aufgelockert mit absurden Einfällen und zielgenauem Humor, aber das Lachen bleibt einem allzu oft im Hals stecken (wie eine zu grosse Essiggurke). Meier ist eine abgeklärte Erzählerin und wache Beobachterin der Schweiz, die trotzdem nie Allwissenheit über ihr Sujet vorzutäuschen braucht. Und was hat es mit den ebenfalls titelgebenden Bergschnecken auf sich? Diese Antwort bleibt Anaïs Meier den Lesenden schuldig. Sie scheinen mysteriöse und unergründliche Wesen zu sein – genauso wie wir Schweizerinnen und Schweizer.

Anaïs Meier, geboren 1984 in Bern, studierte Film und Medien an der Filmakademie Baden-Württemberg in Ludwigsburg und Literarisches Schreiben am Schweizerischen Literaturinstitut in Biel. Monatliche Kolumne “Aus dem Réduit” in der Fabrikzeitung, Zürich. 2013 Mitbegründerin von Büro für Problem und 2018 von RAUF. Im August 2020 erscheint der Kurzgeschichtenband «Über Berge, Menschen und insbesondere Bergschnecken» bei mikrotext, im Herbst 2021 der Roman “Mit einem Fuss draussen” bei Voland & Quist.

X Schneeberger «Neon Pink & Blue», Verlag Die Brotsuppe
«Wer erzählt, hat überlebt», schreibt Schneeberger. Tatsächlich scheint das gesamte Buch im Bewusstsein dieser makabren Realität entstanden zu sein. Alles muss erzählt werden, und das so schnell wie möglich. In gedrängten Sätzen und dem rastlosen Stil der indirekten Rede zeichnet Schneeberger das flackernde Portrait einer prekär lebenden Hauptfigur. Deren Fluidität zeigt sich hinsichtlich ihrer eigenen Identität, ihres Namens, ihrer Sexualität und sozialen Existenz. Schneeberger schildert Auseinandersetzungen mit dem Staat ebenso wie Auseinandersetzungen mit diversen Liebhaber:innen, Erfahrungen von sexueller und körperlicher Gewalt, Abhängigkeiten, Todesangst, aber auch Rausch, Parties, Lust, Ekstase. In den weniger düsteren Passagen ist «Neon Pink & Blue» schrill, humoristisch, schelmenhaft. Genauso vielschichtig wie die Biografie und Psychologie der Hauptfigur sind die wilden musikalischen und literarischen Referenzen, die sich kreuz und que(e)r durch den Text ziehen. X Schneeberger ist damit ein beeindruckendes Portrait gelungen und eine Geschichte, die gleichsam unglaublich und allzu glaubwürdig erscheint.

X Schneeberger, Christoph Schneeberger wird 1976 im Aargau geboren und wächst in Vogelsang und Birr auf. Er studiert zunächst am Schweizerischen Literaturinstitut in Biel und schliesst 2018 den Master in Literarischem Schreiben an der Hochschule der Künste Bern ab. Christoph Schneeberger verknüpft die verschiedenen Bereiche der Kunst und ist in vielseitigen Formen und Identitäten aktiv. Als X Noëme – so heisst er als Dragqueen – performt er etwa eine Lesung seines preisgekrönten Romans «Neon Pink & Blue».

Begleitbild © Christoph Heer 

Johanna Lier «Wie die Milch aus dem Schaf kommt», die brotsuppe

Selmas Grossmutter, bei der sie aufwuchs, eine starke Frau mit einer Geschichte, über sie sie nie sprach, stirbt. Selmas Sohn verabschiedet sich zu seinem Vater, von dem Selma schon lange getrennt lebt und Selmas Liebe droht endgültig an die Seite einer anderen Frau abzudriften. Ein Leben gerät aus den Fugen und Selma will Antworten auf bohrende Fragen. Eine Reise beginnt.

Johanna las zum ersten Mal in jenem Kanton am Bodensee, in dem ein Teil ihres gross angelegten Romans spielt. Ein Epos über Generationen, ein gewichtiger Roman über das, was den Menschen ruhig werden lässt; über Liebe, Freundschaft, Familie und die Sehnsucht angekommen zu sein. Ein sprachgewaltiges Panorama von der Ukraine, von Israel, von Chile bis nach Donzhausen, einem kleinen Ort unweit des Bodensees.

Aber «Wie die Milch aus dem Schaf kommt» ist auch die Geschichte von Flucht und der Suche nach Herkunft und eigener Geschichte. Selma, der Dreh- und Angelpunkt des Romans macht sich auf die Suche ihrer Herkunft, ihren jüdischen Wurzeln, die sich bis zum Tod ihrer Grossmutter Pauline versteckten und hinter einer Mauer des Schweigens verbargen. «Wie die Milch aus dem Schaf kommt» ist ein Roman über den Versuch einer Assimilation, die nicht einmal mit dem Wechsel eines Namens, nicht einmal mit der Taufe gelingen kann, erst recht dann nicht, wenn sie von einer Obrigkeit oder der feindseeligen Umgebung eingefordert wird. Ein Roman über Hunger und Not in der Ukraine im beginnenden 19. Jahrhundert, über den Kanton Thurgau, der sich aus seinem eidgenössischen Untertanenstatus nach der napoleonischen Neuordnung wiederfinden musste und zwischen Fremdenfeindlichkeit, dem verzweifelten Machthunger einer Kirche und wellenartiger Hungers- und Wirtschaftsnöte zu behaupten hatte. Und es ist der Roman einer zwischen Kartoffelbauern entstehenden Teigwarendynastie, einer Lebensart, die sich nicht mehr so sehr abhängig machen will von der oft entfesselten Natur, von Überschwemmungen, Missernten und anderer Gewalten.

Johanna Lier taucht mit Selma tief in das Gewirr einer feindseligen Vergangenheit. Selma findet nach dem Tod ihrer Grossmutter eine ganze Kiste voller Dokumente, die ihr offenbart, wer ihre Grossmutter wirklich war, woher sie kam und was sie zu der werden liess, die sie bis zu ihrem Tod war; eine unbeugsame, selbstbestimmte, eigenwillige und energische Frau, deren Lebensplan sich wohl nicht so entwickelte, wie sie sich es einmal gewünscht hatte, die aber immer eine Kämpferin blieb. Auch wenn ihre absoluten Äusserungen Selmas Mutter gegenüber, ihrer Tochter, die sich wenige Jahre nach Selmas Geburt absetzte und die Erziehung ihrer Tochter der Grossmutter überliess, vernichtend und endgültig waren. Pauline, früh Witwe geworden, kämpfte, so wie ihre Vorfahrinnen vor ihrer Zeit. Selma erfährt, dass Pauline für  die Rechte von Arbeiterinnen kämpfte, eine Sozialversicherung schuf und als erste in der Schweiz eine Pensionskasse.

Selma begleitet ihre aus der Schweiz ausgewiesene Freundin nach Israel und forscht auch dort nach ihren Wurzeln, interviewt Juden aller Couleur, will wissen, welches Blut in ihren Adern fliesst. Sie fährt mit dem Zug in die Ukraine, besucht jene Orte, die damals der Anfang einer langen Flucht waren, einer Reise voller Strapazen und Anfeindungen, in die sich ein satter Mitteleuropäer kaum mehr hineinversetzen kann.
Aber der Roman ist auch das Protokoll eines verzweifelten Versuchs, Ordnung in ein Leben voller ungestillter Sehnsüchte zu bringen, als Tochter, Mutter, Liebende nicht zu scheitern.

Mit ihrem 500 Seiten Epos hat sich Johanna Lier viel vorgenommen und verlangt von mir als Leser auch einiges ab. Erst am Schluss des Buches heisst es mehrfach «Mehr will sie nicht». Solange Selma sucht, ist sie wie ein Schwamm für alles gewesene und werdende Unglück. Sie versucht Ordnung in ihre Sicht der Welt zu bekommen. Eine Hoffnung, die sich immer wieder in Ängsten und Zweifeln Selmas zerstäubt.

Dass der Verlag die Schriftstellerin als Dichterin bezeichnet, dass «Wie die Milch aus dem Schaf kommt» bei weitem nicht die erste Veröffentlichung Johanna Liers ist, spürt man dem Text an. Johanna Lier lotet den Klang von Wörtern und Sätzen aus. Sie schreibt sich nicht nur in Szenen und Geschichten hinein, sondern tief in die Emotions- und Gefühlswelten der Protagonistin. «Wie die Milch aus dem Schaf kommt» ist ein Tauchgang in die tiefsten Schichten des Lebens.

© Mara Truog

Johanna Lier studierte Schauspiel und absolvierte einen Master of Arts in Fine Arts. Nach jahrelanger Tätigkeit als Schauspielerin lebt sie als Dichterin und freie Journalistin in Zürich und unterrichtet kreatives Schreiben an der Kunsthochschule Luzern.

Webseite der Autorin

Beitragsbild © Bettina Schnerr (Lesung im Eisenwerk Frauenfeld)

Text und Musik im Theater 111, St. Gallen: Noëmi Lerch und Sound von Berger/Doppler

Zusammen mit dem Musiker Christian Berger organisiere ich eine ganz besondere Lesereihe im Theater 111 in St. Gallen. Eine Lesereihe mit jungen Schweizer Autorinnen in Verbindung mit improvisierter Musik der Musiker Christian Berger und Dominic Doppler.

Samstag, 12. Januar, 2019, 20 Uhr, Theater 111:
Noëmi Lerch liest aus ihrem Roman „Grit“.
Noemi Lerch, 1987 geboren, Schriftstellerin und Älplerin, arbeitet seit 2014 zusammen mit der Cellistin Sara Käser im Duo Käser & Lerch. 2015 erschien ihr erstes Buch «Die Pürin», für den sie den Terra-Nova Schillerpreis für Literatur 2016 erhielt. Ihr zweites Buch »Grit« erschien 2017. Eine Hütte am Rande einer kargen Ebene. Im Innern der Hütte ein Kessel. Am Kessel eine junge Frau, sie rührt mit der Harfe die Milch. Wenig Licht kommt durch das Fenster, wo eine alte Frau im Offiziersmantel steht und raucht. In dieser Stille die beiden Frauen, deren Leben kaum unterschiedlicher sein könnte. Die Ältere hat studiert und in der Politik Karriere gemacht, die Jüngere umsorgt einen kleinen Hof und zwei Kinder. Trotz ihrer Verschiedenheit sind die beiden Frauen durch ein starkes Band verbunden, sie sind Mutter und Tochter.

„Wortklang“ definiert an sechs Abenden die Begegnung zwischen Wort und Klang, zwischen Literatur und Musik neu. Das Gegensätzliche verschmilzt und lässt Harmonisches in Spannungen um Aussagen ringen. Jeder Abend ein Unikat und einmaliges Erlebnis, das Hörerinnen und Hörer begeistern soll!