Fahren Sie mit dem Zug zur Arbeit? Kämpfen Sie auf dem Nachhauseweg manchmal mit Fragen über die Sinnhaftigkeit ihres Tuns – und mit dem Schlaf? Dämmern sie manchmal weg und schrecken auf, weil der Zug einfährt, wo sie aussteigen sollten? Noa Theobaldy zieht mich mit ihrem Debüt «Tunnelblick» ins Unterbewusste, in die dunklen Zonen menschlichen Seins.
Ein Mann fährt Zug, von der Arbeit nach Hause, müde. Nicht nur müde von einem langen Arbeitstag, sondern von einem ganzen Leben, das nicht in die Gänge kommt. Er freut sich auf seine Ruhe, sein Bier und dämmert kurz vor dem Endbahnhof, seinem Wohnort im Zug weg. Als er wieder aufwacht, rattert der Zug durch einen Tunnel. Obwohl es dort, wo er wohnt, keine längere Tunnels gibt. Aber er sitzt in diesem Zug, sieht sein Spiegelbild in der Schwärze des Fensters und wundert sich. Der Zug ist fast leer. Er steht auf, sucht nach anderen, nach Personal, während vor den Fenstern nichts darauf hinweist, dass der Tunnel zu Ende gehen würde.
Zugegeben, als ich mit der Lektüre der Erzählung „Tunnelblick“ begann, erinnerte mich das Gelesene so stark an die Erzählung Friedrich Dürrenmatts, dass ich das Buch beinahe weggelegt habe. „Der Tunnel“, eine Kurzgeschichte des damals noch jungen Dürrenmatts, die mich in meiner Begeisterung für ihn nachhaltig beeinflusste. Ausgerechnet! Aber glücklicherweise verselbständigt sich Noa Theobaldys Erzählung sehr schnell, denn wer spielt im nebulösen Halbschlaf Zug fahrend nicht zuweilen mit dem Gedanken, was wäre wenn. Silvan, um seine Feierabendruhe gebracht, macht sich auf im Zug, findet ein Mädchen allein in einem Abteil, das mit einer Fledermaus spielt, eine Schaffnerin, die sich wegen seines fehlenden Fahrscheins wohl kulant zeigt, sonst aber nur wenig zur Klärung seiner Fragen beiträgt, eine Handvoll Passagiere, vornehmlich ältere Menschen und mit Dauer der Fahrt immer mehr Fragen. Bis der Zug mitten im Tunnel stoppt. Das Mädchen hängt sich an Silvan, die Schaffnerin glaubt, Vater und Tochter vor sich zu haben. Die Fledermaus ist durch einen Spalt im Fenster entflogen. Man heisst die Passagiere des Zuges wegen technischer Probleme aus dem Zug auszusteigen. Die Schaffnerin führt das Grüpplein zwischen Zug und Tunnelwand zur Spitze des Zuges. Der Lokführer spricht von grösseren Problemen, die Schaffnerin von einem Sammelraum weiter vorne, wo man sich hinbegeben solle.
Noa Theobaldys Szenerie in ihrer Erzählung entfernt sich mit fortlaufender Lektüre immer weiter von einem realen Geschehen. Es gibt Fenster, die man nicht öffnen sollte, Vorhänge, die geschlossen bleiben sollten, lange Gänge ohne Licht, hinein in ein Dunkel, das einem bei der Lektüre klaustrophobische Gefühle beschert, ein Mädchen, das mit einem Mal verschwindet und Mitreisende, die sich durch nichts aus der Ruhe bringen lassen. Silvan sinkt in das Geschehen, lässt sich aufsaugen. Der Wunsch, so schnell wie möglich aus diesem Tunnel zu kommen, eine Erklärung für ein alleine gelassenes Mädchen zu finden, schwinden hinter dem Bemühen, den nächsten Schritt, den nächsten Moment zu verstehen. Der Mann vergisst sich, verliert sich. Genau das macht den Reiz dieser Erzählung aus und verweist auch auf den Titel der Erzählung. Da ist die Kulisse, dieser Tunnel, die Schwärze, die Enge, das Dunkel, fehlendes Licht, fehlende Distanz. Und ein Mann, der nur noch den Moment zu überstehen versucht. Ich fühle mich gespiegelt in Momenten meiner eigenen Biographie, in denen mein Leben in einem Tunnel zum Stillstand kam, in denen mich nichts und niemand aus den klaustrophobischen Gefühlen einer Ausweglosigkeit befreien konnte.
Mag sein, dass sich die Erzählung aus meiner Sicht etwas zu sehr ins Traumhafte, ins Alptraumhafte begibt und den Schluss der Erzählung in meinem Kopf viel zu früh provoziert. Aber das verzeihe ich der Erzählung, weil Noa Theobaldy so eigenwillig zu erzählen vermag. Ich lese eine Erzählung in einem ganz eigenen Sound, einer Sprache, die sich erfrischend von allem anderen abhebt. Eine Erzählung, über die man sich in einer Leserunde lange auseinandersetzen könnte, die mehr offen lässt, als sie erklären will.
Interview
Schon über den Titel „Tunnelblick“ könnte man sich vertiefen. Zum einen wichtig, um sich zu fokussieren, zum andern blendet er alles aus, was sich auf die Fokussierung des scheinbar einzigen Lichts am Ende des Tunnels entzieht. Ist der Titel bei dir mehr positiv oder negativ besetzt? Ist das Schreiben selbst nicht auch ein Tun, das einen gewissen Tunnelblick voraussetzt?
Bei mir ist der Titel eher positiv besetzt, denn zwar geht der Protagonist anfangs mit einem Tunnelblick durch die Welt, der ihm viele tiefe Begegnungen und Erlebnisse verwehrt, ihn stattdessen innerhalb des Tunnels der Oberflächlichkeit hält. Doch ich sehe dabei immer auch das Licht. Ein Tunnel ist nicht endlos, irgendwann kann sich der Blick öffnen. Vielleicht brauchte der Protagonist sogar den Tunnelblick, um mit seinem schweren Herzen leben zu können, bis die Zeit und der Mut gekommen sind, den Blick zu öffnen und eine ganze Fülle an Eindrücken, erschütternden wie befreienden, zuzulassen.
Ich würde nicht sagen, dass das Schreiben dieser Erzählung einen Tunnelblick voraussetzte, denn mir war nur der Anfang von Anfang an klar, wie es ausgehen würde, war für mich noch nicht fassbar. Ich bin daher nicht mit Scheuklappen auf ein bestimmtes Ziel zugesteuert. So habe ich die Handlungsstränge eher erhascht, die Figuren und Gestalten sind erschienen, erst im Dunkeln, dann klarer umrissen. Es war eine Annäherung eher vom Offenen ins Konkrete statt umgekehrt.
Silvans Herz ist voll mit Enttäuschungen, steht ganz am Anfang deiner Erzählung. Er ist müde, nicht nur vom Arbeitstag. Du gehst aber fast nicht oder nur andeutungsweise auf das ein, was Silvan hinter sich lässt, erzählst mir mit einem Minimum an Erklärungen. Das ist Absicht, das spüre ich. Ist das nicht ein Wagnis, mich als Leser derart (wörtlich) „im Dunkeln“ zu lassen?
Für mich war es nicht relevant, was Silvan zu schaffen macht, ich wollte ein Grundgefühl vermitteln, das ihn umgibt. Dieses bricht nach und nach auf, und was ihm tatsächlich die Energie entzieht, liegt sehr lange zurück.
Ich habe auch mich als Schreibende im Dunkeln gelassen, was mich beim Verfassen neugierig gemacht hat. Ich war gespannt darauf, was es zu sehen gäbe, wenn ich meinen Protagonisten nach und nach ausleuchten würde.
Das Personal bewegt sich im Dunkeln, in Gängen, die kaum ausgeleuchtet sind, tief im Berg. Das Unterbewusstsein?
Ich habe es mir so vorgestellt, dass das Innere des Berges gleichsam das Innere von Silvan widerspiegelt. Trotzdem könnten die Figuren wahrhaftig sein, denn wer entscheidet über die Wahrheit – ist sie das, was man sieht, oder eher das, was dahinter verborgen ist? Anouk, das Mädchen, das in der sogenannten Realität am Ende der Geschichte nochmals auftaucht, verknüpft die beiden Welten. Sie hat für mich etwas Engelhaftes, eine Gestalt, die erscheint und weiterhilft, ohne etwas zu fordern, einfach indem sie da ist. Die Schaffnerin ist für mich jemand, die so tut, als würde sie das Innere von Silvan kennen und könnte ihn führen, doch tatsächlich muss er selbst aus den Irrungen rausfinden und sich in diesem Prozess von den Figuren lösen, die es scheinbar besser wissen.
Man begegnet in deiner Erzählung real scheinenden Menschen, die theatral wirken, manchmal bloss Stimmen, an einer Stelle scheint es der Tod selbst zu sein. Deine Erzählung passt in eine Zeit, in der man sich wie nie zuvor mit der Frage beschäftigt, was nun wirklich wirklich, wirklich wahr, wirklich real ist. Muss dieses Bewusstsein, wie sehr sich Wahrnehmung von Wahrheit entfernen kann, nicht Angst machen?
Damit möchte ich auf all die Fakes, Heilsbringer und Besserwisser eingehen, die uns alle mal einflüstern, mal in die Ohren schreien, jeder mit seiner Wahrheit. Gab es doch einmal eine Zeit, in der man das Gefühl hatte, es würde eine Wahrheit geben. Auch diese Heilsbringer und Besserwisser wirken sehr oft theatralisch, sind wirkungsvoll inszeniert. Auch dort stülpt sich ein Tunnelblick über die Menschen, die Objektivität mehr als nur vernebelt.
Mir macht dieses Bewusstsein weniger Angst, seit ich für mich akzeptiert habe, dass es keine eine Wahrheit gibt. Ein Reiz, den das Schreiben auf mich ausübt, ist genau dieses Spiel mit der Wahrheit. Ist das Erfinden von Geschichten ja einerseits der Inbegriff von nicht wahr, und doch steckt für viele Menschen eine Menge Wahrheit in einem fiktiven Text. Und so soll sich jeder Lesende das herausnehmen, was für ihn stimmt oder eben: Wahr ist.
Ich möchte noch einmal auf die Schaffnerin zurückkommen: Sie ist am ehesten die Heilsbringerin, die einiges anstösst, und doch auf Silvans Nachfragen am Ende zugibt, dass sie nie etwas zu sagen hatte: „Ich bin nur Zugbegleiterin. Es ist Ihre Reise.”
Du bist Lehrerin, ein Beruf, der alles abverlangt, je länger je mehr. Ein Beruf, der einen gänzlich ins Hier und Jetzt stellt. Wie schaffst du es, dir Zeit und Raum zu nehmen, dich literarisch in eine derart „jenseitige» Welt zu begeben?
Tatsächlich bin ich nach einem intensiven Schultag oft zu erschöpft zum Schreiben. Es kann aber auch dabei helfen, abzuschalten, wenn ich noch zwei, drei Sätze schreibe, bevor ich zu Bett gehe. An den Wochenenden oder einem freien Tag kann es sehr schön sein, ganz abseits des Alltags in eine andere Welt hinein- oder hinabzusteigen. Allerdings schreibe ich eigentlich nie länger als zwei Stunden am Stück, meistens weniger und am liebsten in einem schönen Café. Daran, dass der Kaffee dabei kalt wird, habe ich mich gewöhnt und er schmeckt mir unterdessen trotzdem. Ich bleibe nie allzu lange hängen und bin, wenn ich aufblicke, sofort im Hier und Jetzt, sehe die anderen Gäste und höre das Stimmengemurmel. Um ein neues Projekt zu entwickeln, brauche ich etwas mehr Raum, da eignet sich zum Beispiel die lange unterrichtsfreie Zeit im Sommer oder, im Fall des Tunnelblicks, die Zugfahrt von und zur Schule.
Noa Theobaldy, 1985 in Basel geboren, lebt in Bern und arbeitet als Primarlehrerin. «Tunnelblick» ist ihre erste Veröffentlichung.