KultBau St. Gallen: Amsél & Miriam Spies – Zwei Frauen in Marokko

Der KultBau St. Gallen lädt am Dienstag, den 15. Februar um 20 Uhr zu einer Doppellesung ein. Unter dem Titel «Zwei Frauen in Marokko» entführen sie die beiden Autorinnen Miriam Spies und Amsél begleitet vom Moderator Florian Vetsch auf die andere Seite des Meeres.

Miriam Spies lebt als Autorin und Verlegerin in Mainz – sofern sie nicht gerade durch die Welt tingelt, um literarische Psychogramme über die Gattung Mensch zu erstellen. In ihrem Gonzo Verlag hat sie u.v.a. Titel von Pablo Haller, Hadayatullah Hübsch, Susann Klossek und Enno Stahl verlegt. Bei Conbook, Neuss, ist 2019 ihr marokkanischer Roadtrip «Im Land der kaputten Uhren» erschienen. Darin zeigt sie, dass in Marokko Wunder an jeder Ecke lauern. Per Anhalter, im Nachtbus oder zu Fuss findet sie märchenhafte Geschichten direkt vor sich auf der Strasse…

Amsél lebt als Fotografin und Autorin in Zürich und Tanger. Ihre Fotobücher «Tanger Tance» (Benteli, Sulgen 2010) und «Jbala» (Till Schaap, Bern 2020) führen tief in die diverse Wirklichkeit Marokkos hinein. Amséls preisgekrönter Roman «Wiedersehen in Tanger» (Brotsuppe, Biel 2016) erzählt von dem lebenserfahrenen Tarik, der Erleuchtung sucht, der Ornithologin Chaya, die einen seltenen sibirischen Zugvogel sucht, und der Botanikerin Thelma, die meint, nichts mehr suchen zu müssen… Aber dann geht die Abenteuer- und Liebesgeschichte erst los…

Manch einer mag einwenden, dass es nicht die cleverste Idee ist, alleine als Frau in einem islamischen Land mit zwei wildfremden Marokkanern quer durch das Königreich zu brettern. Aber mein Bauchgefühl sagte mir, dass das immer noch besser war, als mir die Nacht in den Strassen von Nador um die Ohren zu hauen und auf den ersten Bus nach Tanger zu warten. Und wenn ich in den letzten Monaten auch nicht viel gelernt hatte: Dass ich ein ausgezeichnet funktionierendes Bauchgefühl habe, hatte ich schmerzlich herausgefunden. Und dass Menschen, die dich belügen und betrügen, nicht zwingend wildfremde Kriminelle auf verruchten Flughafenvorplätzen arabischer Provinzstädte sein müssen, sondern durchaus langjährige Weggefährten sein können.
Also gut, Koffer bei besagtem Bruder in den Kastenwagen geworfen, reingesprungen, mich kurz mit ihm darüber verständigt, dass wir uns leider nicht verständigen können, und los ging die Reise. Die zwei Brüder, die sich seit anderthalb Jahren nicht gesehen hatten, lachten unaufhörlich. Ich wusste zwar nicht, worüber, machte aber auch nichts, die Wiedersehensfreude war ansteckend, und ich genoss es einfach nur, dass diese ganze Herzlichkeit auch auf mich überschwappte. Als die erste euphorische Welle verebbt war, drehte sich der Heimkehrer von seinem Beifahrersitz zu mir nach hinten um und streckte mir die Hand entgegen: «Ich bin Wassim, und das ist Dulamah, mein grosser Bruder. Und wie heisst du?»
(aus Miriam Spies «Im Land der kaputten Uhren – Mein marokkanischer Roadtripp» Conbook. Neuss 2019)

Später berichteten Einheimische, Touristen und Wüstentrecker, die sich zu jenem Zeitpunkt auf halber Höhe des Hohen Atlas, jedenfalls über dem Sandnebelmeer, befunden hatten, in diversen Blogs, sie hätten am Himmel über der Hamada eine schwarze Wolkenwand auffahren sehen. Mit hoher Geschwindigkeit habe sie sich auf den Nordrand der Sahara zubewegt. Ein Triangel Zugvögel und zarte Schlieren seien ihr voran geschwebt, fast wie Bannerträger, die eine Prozession ankündigen. Bald darauf sei der Himmel erzittert. Man habe phantastische Blitze gesehen, die sich zuhauf über der Ebene entladen hätten, gefolgt von ohrenbetäubendem Donnerschlag, der einem bis ins Gebirge hinauf einen Schauer über den Rücken gejagt habe.
Im Schritttempo erreichten Chaya und Tarik den Platz vor dem Ksar Kulshi, dessen Umrisse diffus zu erkennen waren. Unter den Pneus knirschte Kies, als Chaya durch die Nebelsuppe auf einen Sandplatz fuhr, den ein schiefes Schild am Eingang als Parkplatz kennzeichnete; bis auf zwei Kastenwagen von Hertz war er leer. In dieser Minute schob sich eine dunkle Wolkenwand von Norden herkommend vor die Sonne – und jäh verwandelte sich jetzt alles in eine düstere Unterwelt. Chaya stellte den Motor ab und knipste das Notlämpchen an.
«Ich habe dich gewarnt», klagte Tarik, «wir hätten im Hotel bleiben sollen.»
(aus Amsél «Wiedersehen in Tanger» Verlag Die Brotsuppe. Biel 2016)

KultBau St. Gallen

Beitragsfotos: Miriam Spies © Nora Scheffel / Amsél © Abdenbi Sarroukh