Andreas Neeser ist vielfältig wie nur wenige Schriftstellerinnen und Schriftsteller. Ob Lyrik oder Prosa, ob kurz und knapp oder episch, ob in Deutsch oder seinem ganz eigenen Dialekt, ob in Verbindung mit Musik oder für Kinder … Andreas Neeser kann alles – und zwar meisterhaft.
In „Solangs no goht chunts guet“, acht Erzählungen, drei „Stückli“ und einem halben Dutzend „Trooscht und Pfläschterli“ webt mich der Autor in eine Welt ein, die sich ganz unmittelbar gibt. Klar will der Autor unterhalten. Klar spielt er mit Wörtern, mit Sätzen, die auf ihre ganz eigene Art und Weise in mir nachhallen. Aber Andreas Neeser lädt mich ein, ein Stück mit ihm zu gehen. Sei es zum alten Vater, dem er im Übermut einen Elektroroller kauft, ein Schritt, der sich mannigfaltig rächt, zu einem Videocall während der Coronazeit mit den Eltern zuhause, mit Frau und Kind ans Meer, am Steuer eines Lasters durch den Stau… Erzählungen, die sich ganz auftun, getränkt von Ehrlichkeit und dem Bewusstsein, dass die Souveränität im Leben meist nur punktuell funktioniert. Ein Erzählton nie von oben herab oder distanziert. Da erzählt einer, als ob man nach langem Schweigen Rücken an Rücken irgendwo sitzt und genau spürt, dass es nicht darum geht, mit Klugheiten bestechen zu wollen. Manchmal ist in den Erzählungen auch eine ordentliche Portion Wut spürbar. Wut über die Kleinlichkeit, die Dummheit des Menschen. Eine Wut, die nachvollziehbar ist.
Erfischend dann, wenn der Witz durchbricht. Wenn in all der Not, in der sich die Personen in Neesers Erzählungen winden, der Schalk meinen Lesefluss ins Holpern bringt. Ein Humor, der sich nicht am Slapstick der Figuren labt, sondern an der Selbsterkenntnis des Autors. Die Erzählungen verpacken nicht den Humor. Humor blitzt auf, wie Einschliessungen, die sich mit der Lektüre in mein Bewusstsein ergiessen. Erfrischend, nie wohlweisslich!
Den einen oder die andere schreckt Mundartliteratur ab. Das kann ich nachvollziehen. Sperren sich doch die einen oder andern Dialekte nicht nur unseren Lesegewohnheiten, sondern auch unseren Sehgewohnheiten, wenn sich Wortbild und Inhalt jeder Zuordnung sperren. Andreas Neesers neuer Mundart-Erzählband lässt solche Argumentationen nicht mehr gelten. Jede einzelne Erzählung ist mit einem QR-Code versehen – und flugs liest mir der Autor selbst die Erzählung vor, ob im Zug, auf dem Sofa, dem Hometrainer oder beim Zahnarzt. Aber warum das Buch kaufen, wenn ich mir die Erzählungen vorlesen lassen kann. Weil das Lesen und Hören gleichzeitig einen ganz speziellen Genuss ausmacht. Es ist, als würde man die Texte doppelt gleichzeitig geniessen. Sie breiten sich aus, der Genuss scheint intravenös zu funktionieren, bewusstseinserweiternd.
Wer beides gleichzeitig geniesst, das Buch und des Autors Stimme (Andreas Neeser ist ein vortrefflicher Vorleser!), dem ist nicht nur Kammerpiel-Kopfkino garantiert, sondern das seltene Gefühl, an etwas Besonderem teilhaben zu können.
Auch wenn Andreas Neeser nicht mit der grossen Geste zu überzeugen versucht – dieses Buch ist ein Mundart-Meisterwerk!
Und dann noch das eine: Auch wenn ich ganz und gar kein Freund von Paperback-Ausgaben bin. Umschlag und Erzählungen sind illustiert mit Bildern und Collagen der Basler Künsterin Marianne Büttiker, die auch schon frühere Mundartprosawerke des Autors bebilderte. Wunderbar schlichte Bilder, die in ihrer Offenheit und Verknappung die Texte Andreas Neesers auf ganz spezelle Weise spiegeln. Ein schönes Buch, trotz all dem eingepackten Schmerz!
Andreas Neeser, geboren 1964, studierte Germanistik, Anglistik und Literaturkritik an der Universität Zürich. Von 2003 bis 2011 Aufbau und Leitung des Aargauer Literaturhauses Lenzburg. Seit 2012 lebt er als Schriftsteller in Suhr. Für sein formal und inhaltlich vielfältiges Werk wurde er mit zahlreichen Auszeichnungen und Preisen bedacht. «Nachts wird mir wetter» (2023) Kurzprosa und Lyrik, «Alpefisch» (2020) Mundartroman, «Wie wir gehen» (2020) Roman, «Nüüt und anders Züüg» (2017) Mundartprosa
Beitragsbild © Ayse Yavas