Andreas Neeser «Mücken», Plattform Gegenzauber

Manchmal bin ich ausser Haus. Mitten am Tag, eine halbe Stunde, öfter abends, wenn die Mücken tanzen im Schwarm. Ich gönne mir diese kleinen Abwesenheiten, ich geniesse sie mittlerweile ohne schlechtes Gewissen. Ein kurzes Austreten, eine Art Ausgang. Wenn mir danach ist, trete ich aus mir heraus, gehe ein paar Schritte, flusswärts, bis mir leichter wird, oder hinauf zum Waldrand, immer den Mücken nach. Die Nachbarn grüssen mich, als kennten sie mich, und ich grüsse zurück, obwohl sie keinen Namen haben. Früher stand es mir auf der Stirn, von weitem sichtbar, ich ging wie ein Aus-, wie ein Ausserhäusiger, auffallend licht. Längst habe ich gelernt, mich so zu verlassen, dass keinem von uns beiden etwas anzumerken ist, nicht dem Hausherr, nicht dem Spaziergänger. Wir sind absolut unverdächtig, und es stimmt, wir haben eben noch Kaffee getrunken, Wäsche aufgehängt, die Nägel geschnitten, gleich werden wir einkaufen, guten Tag, Frau Martello – und Ihnen? Die Gewissheit, auch dann als der zu gelten, der ich war, wenn ich es nicht mehr bin, macht es mir leicht, aus dem Haus zu gehen, zur Brombeerhecke, über die klingende Kuhweide, ins sumpfige, sirrende Gehölz, wo die Schwärme tanzen bis spät in den Abend, bis weit in den Herbst. Trotzdem behalte ich es für mich, wenn ich so gehe, aus Vorsicht, aus einer nicht zu verlernenden Ängstlichkeit heraus, vielleicht.

Und dann tanzen sie, am Fluss, am Waldrand, zu Hunderten. Etwas grundloses Leichtes lässt sie schweben, lose gewirkte, von innerster Absichtslosigkeit gehaltene Lebenspunkte, dunkles, taumelndes Textil. So tanzen sie, so tanzen sie mir vor. Mehr ist da nicht.

Manchmal erschrecke ich, wenn ich mich auf dem Rückweg durch die Dorfgassen in einem der sauberen Fenster sehe. Ich zögere einen Moment, bleibe stehen. Es ist jedesmal erstaunlich, wie wenig ich auf mich gefasst bin, auf den, der ich immer auch bin, wenn ich von den Mücken zurückkehre. Als schaute ich mich von aussen an, das eigene Haus. Ein unauffälliger Blick auf die unauffällige Fassade. Seltsam, heimzukommen, selbst nach so kurzer Abwesenheit, einzutreten in sich selbst wie in ein Gebäude, und so viele Zimmer, über und über voll mit abgewohntem Leben.

So komme ich zurück, wenn ich von den Mücken zurückkehre. Schritt für Schritt, mit wechselndem Mut, gehe ich auf mich zu. Aber wenn ich über die Schwelle trete, bin ich so voll und so leicht, ich könnte schweben. Und ich seh sie, von innen, ich hör sie, sie singen im Ohr.

Andreas Neeser
«Zwischen zwei Wassern»
Roman
Haymon Verlag Innsbruck 2014

Andreas Neeser, geboren 1964, studierte Germanistik, Anglistik und Literaturkritik an der Universität Zürich. Langjährige Unterrichtstätigkeit an der Alten Kantonsschule Aarau. 2003 bis 2011 Aufbau und Leitung des Aargauer Literaturhauses in Lenzburg. Seit 2012 lebt Andreas Neeser als Schriftsteller in Suhr bei Aarau.
Mitglied von Autor/innen der Schweiz (AdS), Deutschschweizerisches PEN-Zentrum und VAA. Mitglied der Jury für den Franz-Tumler-Preis.
Ein neuer Roman erscheint im Januar 2020 im Haymon Verlag Innsbruck.

Rezension zu Andreas Neesers Mundartliteratur auf literaturblatt.ch

Webseite des Autors

Andreas Neeser «Nüüt und anders Züüg», Zytglogge

Was für ein Geschenk! Was für ein Vergnügen, dieses Buch in Händen zu halten, darin zu lesen, sich ab beigelegter CD vorlesen zu lassen, Abende damit zu verbringen, im Halbdunkel der Stube, wegzudriften ins eigene Halbdunkel der Erinnerungen.

Schon das Glossar der aargauischen Mundartausdrücke, die oft erstaunlich weit von meiner ostschweizer entfernt scheinen, ist ein Fenster zum eigenen Erinnern, ermuntert mich selbst, mich auf die Suche nach Ausdrücken und Wörtern zu machen, die ich fast vergessen hätte, wenn sie nicht urplötzlich mit Hilfe eines Buches wie das von Andreas Neeser aus dem Dunkel des Vergessens  auftauchen würden. Andreas Neeser erzählt in seiner Mund-Art, spielt mit dem Klang seiner Sprache, dem Duktus seiner Sätze. Und wenn ich an einem Abend in meinem Ohrensessel sitze, dort, wo vor ein paar Jahren Andreas Neeser aus seinem letzten Roman «Zwischen zwei Wassern» las, dann ist mit der beigefügten CD, auf der der Autor selbst ruhig und kaum dramatisierend die Geschichten liest, während ich Zeilen im Buch folge, der Abend ein ganz besonderer. Erstaunlich, wie viel Wärme Andreas Neeser erzeugt, wie nah er mir mit seinem Erzählen kommt, selbst dann, wenn sie inhaltlich kaum mit meiner Welt Übereinstimmung finden. Andreas Neesers Geschichten haben das perfekte Mass an Auserzähltem und Verschwiegenem, an Gesagtem und Unterlassenem, an Witz und Ernst. Ohne dass er seine Freude am blossen Klang der Wörte auf die Spitze treibt.

Andreas Neesers neustes Buch ist ein Geschenk, auch mit den Illustrationen der Künstlerin Marianne Büttiker, die schon beim ersten Band «S wird nümme wies nie gsi isch» den Geschichten Andreas Neeser Luft gab. Pausen, denn seine Geschichten sind Konzentrate. Andreas Neesers Mund-Art bietet ein erfrischendes Gegengewicht zu all den Berner Mundart «Übergewichten». Andreas Neeser beweist, dass es an der Mischung zwischen Sprache, Klang, Konstruktion und Komposition loegt. Und nicht zuletzt trösten Andreas Neesers Geschichten, wie die titelgebende «Nüüt und anders Züüg», in der ein von seinem Lehrer Drangsalierter endlich ausholt zum grossen Rundumschlag gegen den allmächtigen Lehrer Ehrliholzer, den Tubel!

Andreas Neeser, geboren 1964, studierte Germanistik, Anglistik und Literaturkritik an der Universität Zürich. Während 13 Jahren unterrichtete er an der Alten Kantonsschule in Aarau. 2003 bis 2011 Aufbau und Leitung des Aargauer Literaturhauses in Lenzburg. Seit 2012 lebt Andreas Neeser als Schriftsteller in Suhr bei Aarau.
Mitglied von Autor/innen der Schweiz (AdS), Deutschschweizerisches PEN-Zentrum und VAA. Mitglied der Jury für den Franz-Tumler-Preis.

Andreas Neesers Webseite 

Titelbild: Sandra Kottonau, Illustration: Gallus Frei-Tomic

Ein Tipp: Andreas Neeser «Wie halten Fische die Luft an», Haymon

Warum auf dem Nachttisch nicht ein Gedichtband; ein Gedanke in die Nacht, ein Geschenk für die Seele, Balsam für den Geist!

Begegnung

Du suchst dir noch einmal
den Spiegel im Spiel
du stellst dich da hin
und du bist es, das Lächeln
zu Hause im Bild
sind die Augen ganz heute und jetzt.

Ich fahr dir durchs Haar und
du winkst dir und
winkst dir zurück;
dann sagen wir leise einander die Namen
wie Vater und Kind.

für I. M.


Menetekel

Gestern um neuen
ging mir das Licht auf
zwei Fingerbreit
über dem Wald
blutrot
das halbe Gesicht
war nicht Stern
und nicht Stirn.

Ich brannte
bis weit in die Nacht
und wusste nicht wo.

aus «Wie halten Fische die Luft an», Haymon Verlag

Der Gedichtband wurde von der Deutschen Akademie für Dichtung in Darmstadt unter die Top 10 der deutschsprachigen Lyrikbände 2015 gewählt und mit dem Prädikat „Lyrikempfehlung 2016“ ausgezeichnet! «Neesers Erkundungen im Zwischenmenschlichen, im Naturraum draussen und drinnen, im Kopf des Ichs, sind beeindruckend konzentriert, wirken wie hingetupft und nehmen doch präzise Gestalt an.» Daniela Strigl, Jurorin Lyrikliste!

Andreas Neeser lebt in Suhr bei Aarau und verfasst neben Romanen (zuletzt «Zweischen zwei Wassern» Haymon) auch Mundarttexte (nach «No alles gliich wie morn» (2009) «S wird nümme, wies nie gsi isch» bei Zytglogge)
andreasneeser.ch