Bussmann, Weibel, Kaufmann und die Kraft der Literatur

Je 75 Jahre Rudolf Bussmann und Peter Weibel und 10 Jahre Verlag edition bücherlese – Grund genug, um mit Büchern, Gedichten und Geschichten zu feiern!

Peter Weibel und Rudolf Bussmann

Rudolf Bussmann und Peter Weibel schreiben beide seit über 40 Jahren. Beide sind mit ihren Werken tief verbunden mit dem thurgauischen Waldgut-Verlag und ihrem Verleger Beat Brechbühl, mit dem beide mehrer Werke ihres Schaffens veröffentlichten, Lyrik ebenso wie erzählende Literatur.

Seit ein paar Jahren nun sind beide in der luzernischen edition bücherlese beheimatet, den die Verlegerin Judith Kaufmann vor einem Jahrzehnt gründete. Damals kein leichtes Unterfangen, das ein mutiges Bekenntnis zum gebundenen Buch mehr als voraussetzte und heute noch immer ein Wagnis ist. So wie Schreiben und „Büchermachen» stets ein Wagnis bleibt, wird doch seit Jahrzehnten der Totengesang des anspruchsvollen Buches gesungen.

Was in der Verlagswelt leider immer wieder geschieht und mit dem Waldgut-Verlag exemplarisch zur Kenntnis genommen werden muss, berührt Lesende in der Regel nur marginal, kann aber für Autorinnen und Autoren existenziell werden. Wenn Verlage aufgekauft werden und sich ein Verlagsprogramm mit einem Schlag radikal neu ausrichtet, wenn Verlage untergehen, weil sie es nicht schafften, sich von einer einzigen Person zu emanzipieren, wenn sich in Verkaufszahlen und Resonanz nicht einstellt, was Schreibende und Verlegende nicht nur hoffen, sondern brauchen, dann offenbart sich, wie schnell ein sicher geglaubter Hafen, ein Fels in der Brandung bröckeln kann.

Der Abend im Literaturhaus Thurgau war aber alles andere als gegenseitiges Wundenlecken und Bedauern. Die Verlegerin Judith Kaufmann genauso wie die beiden gestandenen Dichter; sie alle strahlen in der Kraft eines Tuns, das weit über Selbstverwirklichung und Selbstinszienierung hinausgeht. Sie alle beweisen mit ihrem Tun und Schaffen wie sehr Leidenschaft für ihre Kunst zum Segen all jener wird, die zu geniessen verstehen, die das Geschenk der Literatur entgegennehmen.

So las Peter Weibel aus seinem Erzählband „An den Rändern“, Geschichten, die nur jemand schreiben kann, der weiss. Keine Tinkturen, keine Rezepturen, keine Kuren und keine Therapien, sondern dass uns letztlich nur die Liebe aus diesem mehr oder minder langen Stück Leben retten kann. Und Rudolf Bussmann aus seinem Roman „Der Flötenspieler“, einem Roman, in dem einer nicht nur vor seinen Aufgaben flieht, auch vor sich selbst, all den Unerklärlichkeiten, dem Scheitern, seiner Psyche, in der er sich verliert. „Der Flötenspieler“ ist ein Abenteuer, ein literarisches, hellsichtiges Abenteuer, dem ich auch 30 Jahre nach seiner Erstveröffentlichung abenteuerliche LeserInnen wünsche!

«Es war eine wunderbar stimmige literarische Geburtstagsfeier, die das Bodmanhaus für Peter Weibel und mich bereithielt, mit Gallus Frei als wachem Moderator, einem konzentrierten Publikum und einer munteren Schar beim Apéro. Der herrliche Sommerabend tat ein Übriges, die Gäste tüchtig zu verwöhnen. Herzlichen Dank allen Beteiligten und auch der Fotografin Sandra Kottonau.» Rudolf Bussmann

«Der Abend hat mich gewärmt, die Worte, die verschiedenen Wortklänge haben mich gewärmt, und auch die langen Gespräche über Worte und zwischen den Worten. Ich habe den hellen Abend mitgenommen, vom See und vom Haus mit mir genommen, und einen Namen für unsere Verbindung auf der Wortbühne gefunden: Wahlverwandtschaften.» Peter Weibel

Beitragsbilder © Sandra Kottonau / Literaturhaus Thurgau

Das neue Programm im Literaturhaus Thurgau

Liebe Freundinnen und Freunde des Literaturhauses Thurgau

Vielleicht können Sie sich eine Vorstellung davon machen, wie viel Freude, Erwartung, Stolz und Leidenschaft die Lancierung eines neuen Programms bedeutet! Neun Autorinnen und Autoren, zwei Musiker, Künstlerinnen und Künstler aus fünf Ländern, aus Weissrussland, Österreich und Tschechien zugleich, Deutschland und der Schweiz. Ein Programm, dass sich mit Prosa, Lyrik, Sachthemen und Musik auseinandersetzt, das Lesungen, Diskussionen, Konzerte, Performances präsentiert, das Literatur in den Mittelpunkt aktueller Auseinandersetzungen führt und zusammen mit einem wachen Publikum zur Konfrontation ebenso wie zum Genuss einladen will.

Liebes Publikum, liebe Stammgäste, liebe Begeisterte für Literatur, Musik und Kunst, Sie sind herzlich eingeladen! Nehmen Sie Freundinnen und Bekannte mit! Zeigen Sie Ihnen das schmucke Literaturhaus am Seerhein! Feiern die mit uns das Sommerfest am 20. August, an dem sie nicht nur musikalisch und literarisch verwöhnt, sondern ebenso zu Speis und Trank eingeladen werden.

Mir freundlichen Grüssen im Namen der Thurgauischen Bodman Stiftung Gottlieben, der seit mehr als zwei Jahrzehnten wirkenden Stiftungssekretärin Brigitte Conrad und des Programmleiters Gallus Frei-Tomic

Peter Weibel «An den Rändern», edition büchelese

Ein Erzählband eines Schriftstellers, der ein Leben lang als Arzt arbeitet, seit Jahrzehnten in der Geriatrie, dort wo gestorben wird. Ein Erzählband, der in Bildern von Erlebnissen an den Rändern des Lebens, an den Rändern des Seins erzählt, nicht nur mit Worten. Peter Weibel malt mit feinem Pinsel, transparenten Farben Szenen, die nicht durch Kontur gewinnen, sondern durch das Fluid, das sie erzeugen!

„An den Rändern“ lag eine ganze Weile da; auf dem Nachttischen, in der Bibliothek, auf dem grossen Tisch im Wohnzimmer, am Schluss auf dem Arbeitstisch in der Gästewohnung des Literaturhauses Thurgau. „An den Rändern“ hat mich lange begleitet, weil ich die Geschichten nicht trinken wollte wie ein Glas Wasser. Viel mehr wie einen Trank, eine Art Medizin, ein Heilmittel, das mir verspricht, dass selbst dort, wo es zu Ende geht, ein Zauber sein kann, dass selbst dort etwas beginnen kann, dass es meine Sichtweise ist, die aus Grenzerfahrungen Abgründe macht.

„Manchmal muss man an die Grenzen gehen, wenn alles nur noch ein Warten auf die allerletzte Grenze ist.“

Peter Weibel «An den Rändern», edition bücherlese, 2021, 144 Seiten, CHF 31.90, ISBN 978-3-906907-44-4

Ich traf Peter Weibel im Sommer 2020 in Bern. Ich war in der Stadt und rief ihn an, ob er Zeit für ein Treffen habe, obwohl wir uns höchstens vom Hörensagen kennen. Ich wartete auf der Münsterplattform, einem kleinen Park über der Aare, bis ich ihn mit Pfeife und wildem, weissen Haarschopf und einer Tasche an den Schultern in die Menschen schreiten sah. Wir kannten uns gleich, obwohl das letzte Treffen Jahre zurücklag und am Schluss einer Lesung eine Signatur lang dauerte. Als wären wir Freunde. Peter Weibel ist unmittelbar, lässt keinen Zweifel, dass sein Bemühen das eines Mannes ist, der keine Lust verspürt, in Spielchen das Gegenüber abzutasten. So sind auch seine Geschichten; unmittelbar und direkt, ehrlich und durchtränkt von gelebter Empathie.

„Die Liebe ist der letzte Hort der Utopie.“

Was ich damals nicht wusste; Peter Weibel malt. Nicht erst, seit die Arbeit als Arzt etwas weniger geworden ist (Andere wären schon ein Jahrzehnt pensioniert!), sondern schon lange. Ein Tun, das auch in die Geschichten in seinem Erzählband einfliesst. Und Peter Weibel erzählt wie er malt. Es sind nicht Zeichnungen mit harten Konturen, klaren Linien, die abbilden, was man sieht. Es sind Aquarelle mit fliessenden Übergängen, auslaufenden Farbflächen, Farben, die ineinanderfliessen. So wie seine Geschichten, die keine Szenerie nachzeichnen wollen, sondern ein Gefühl, eine Ahnung, eine sich ausbreitende Erkenntnis.

„Nicht alles, was wir sehen, können wir greifen, und nicht alles, was wir greifen wollen, können wir sehen, aber manchmal sehen wir durch die Zeit hindurch.“

Ich las „An den Rändern“, als hätte mir der Autor seine Hand auf meine Brust gelegt, um meinen schnellen Atem, meine Ängste zu bannen. Es sind Geschichten, die nur jemand schreiben kann, der weiss. Keine Tinkturen, keine Rezepturen, keine Kuren und keine Therapien, sondern dass uns letztlich nur die Liebe zu diesem mehr oder minder langen Stück Leben retten kann.

„Man kann nicht schreiben, ohne den Schmerz zu kennen.»

.. und ein wunderschön gestaltetes Buch mit Aquarellen des Autors!

Interview 

Dein Erzählband ist ein Buch des Innehaltens. Es sind Momente der intensiven Reflexion. Fällt dir das im Alter leichter oder muss es eine Eigenschaft des literarischen Schreibens sein?
Ich glaube, das Alter verändert den Schreibprozess bei jedem von uns, und bei jedem anders – bei mir vielleicht: Die Arbeit an der Verdichtung; Versuche, eine rythmische Prosaform zu finden, die leicht sein kann, auch wenn sie Schweres mittragen will, die zugleich reflektiv und bildkräftig sein soll. Auf mein eigenes Alter bezogen: Die kreative Kraft lässt nach, die Erfahrung erleichtert den Prozess der literarischen Gestaltung.

Du schreibst. Du malst. Wo liegen die Unterschiede in diesen beiden kreativen Tätigkeiten? Wo die Gemeinsamkeiten?
Schreiben und Malen: Schreiben als Profession – Malen als pure Freude; Aquarellieren als Poesie des Augenblicks… Aquarellieren ist etwas sehr Augenblick-bezogenes; selten gelingt der grosse Wurf mit dem Pinselstrich, dem auslaufenden Wasser, meistens aber nicht, und du kannst nicht mehr korrigieren… Die Knochenarbeit, die ja zum literarischen Gestalten gehört, kennt das Aquarellieren nicht.

Du beschreibst viele Begegnungen mit Menschen, die eine Krankheit, das Alter, Geschehnisse an den Rand gebracht haben. Du schreibst behutsam, weit weg vom Pointenzwang. Wenig Effekt, dafür viel Tiefe, viel Empathie. Lehrte dich das dein Beruf als Arzt?
Natürlich prägt mein Erstberuf als Arzt den Zweitberuf des Schreibenden («Der Zweitberuf als kritische Instanz des ersten»). Es ist wie bei Kurt Marti, der in seinen «Leichenreden» – und nicht nur da! – im literarischen Wort gestaltet, was er als Theologe auf der Kanzel nicht aussprechen konnte. Im kurzen Essay «Die literarische Sprache beginnt dort, wo die medizinische endet» habe ich vor kurzem versucht, ein paar Gedanken zur Verbindung von Medizin und Literatur festzuhalten.

Corona spielt in deinen Erzählungen eine marginale Rolle, ist aber da, mehr als ein hintergründiges Rauschen. In vielen Gesprächen mit Schreibenden kam die Frage immer wieder, wie und wann sich das Virus auch in der Literatur wie ein Sediment ablagern wird. Auch ein Sediment in dir?
Die Corona-Zeit hat mich natürlich sehr geprägt, in vielen Bereichen. In zwei Erzählungen habe ich versucht, der Verstörung eine literarische Form zu geben; einmal die erschütternden Erfahrungen in den Pflegeheimen, wo ich selbst arbeite, einmal die zeitlose Botschaft von Camus› Pestroman, die über Nacht mit Wucht zurückgekehrt ist; «Menschen haben Angst und werden klein, andere werden gross und lassen die Angst zurück».

© Peter Weibel / Aquarell

„Il n’y a pas de soleil sans ombre, et il faut connaître la nuit.“ Ein Satz von Camus. Mit ihm endet eine deiner Geschichten. Albert Camus scheint sich in der Gegenwart als wiederentdeckte Stimme aufgeschwungen zu haben. Wie sehr lässt du dich von anderen in deiner kreativen Arbeit beeinflussen?
Keiner und keine von uns lebt und schreibt ja in einem hermetischen Innenraum, wir alle sind geprägt von literarischen Erfahrungen, von Vorbildern, Leitfiguren. Bei mir sicher Böll, Christa Wolf, Büchner, und vor allem Albert Camus – er war für mich die erste Ikone der Literatur, als ich noch tief in der Schule steckte, und sein Pestarzt die erste Ikone der Medizin.

Ein Thema in einigen deiner Geschichten ist das Alter und das Gefühl, als alter Mensch nicht mehr ernst genommen zu werden. Ist das eine Erfahrung der Gegenwart?
Alte Menschen haben ja oft einen grossen – und ja verkannten – Lebensreichtum, der weiterfliessen könnte und selten weiterfliessen kann: Die lächelnde Lebensdistanz, das Schweben und Schaukeln der Dinge, das Durchschauen von Lebens-Täuschungen… In der Erzählung «Altern» habe ich versucht, einem dieser Alternden, denen ich täglich begegne, eine Stimme zu geben.

Peter Weibel, geboren 1947, hat Medizin studiert und arbeitet seit vielen Jahren als Allgemeinpraktiker und in der Geriatrie. 1982 erschien ein erster Prosaband «Schmerzlose Sprache», seither veröffentlich er regelmässig Prosa und Lyrik. Er erhielt unter anderem einen Buchpreis des Kantons Bern für den Erzählband «Die blauen Flügel» (2013) und den ersten Kurt Marti Literaturpreis für «Mensch Keun» (edition bücherlese, 2017). Für die Texte «Hannah» und «Kocherpark» wurde er beim Bund-Essay-Wettbewerb 2015 bzw. 2019 ausgezeichnet. Zuletzt erschien 2019 «Schneewand» (edition bücherlese).

Beitragsbilder © Ayse Yavas