Bernt Spiegel «Milchbrüder, beide», edition.fotoTAPETA

Ein monumentales Werk, das einmal gelesen im Bücherregal nicht nur wegen seiner Ausmasse eine Sonderstellung einnehmen wird! Bernt Spiegel hält der Welt einen Spiegel vor, den Spiegel der Geschichte. In seinem 900seitigen literarischen Schwergewicht erzählt er mit Leichtigkeit und beeindruckender Detailkenntnis das durch die Geschichte gepeitschte Leben zweier Kinderfreunde von den späten Zwanzigerjahren bis nach dem zweiten Weltkrieg. Ein unvergleichliches Epos, dessen Nachhall lange mitschwingt!

Noch ein Roman über den aufkommenden Faschismus im Deutschland der Dreissigerjahre bis zum zerstörerischen Ende des Tausendjährigen Reiches? Ja! Noch ein 900seitiger Schmöker, der sich ohne Krampfgefühle in der Handmuskulatur in Rückenlage nicht lesen lässt? Wenn er gut geschrieben ist, warum nicht! Noch einer, der sich mit einem Romandebüt an einen grossen, schwergewichtigen Stoff wagt? Unbedingt, vor allem, wenn der Autor mit 93 zum Newcomer wird!

Als ich das Buch aus dem Paket schälte, glaubte ich nicht, dass ich es lesen würde. Dann juckte mich die Tatsache, dass ein ehemaliger Professor der Psychologie ein derart gewichtiges Debüt veröffentlicht, in einem Verlag, der sich mir bisher entzog. Ich gab ihm 50 Seiten, später noch 50 dazu. Und nun habe ich den blauen Ziegel gelesen, bin beeindruckt und begeistert, nicht nur weil mich Thema und Geschichte fesselte, der Autor fast biblisches Alter hat, sondern weil der Mann einen Roman geschrieben hat, der den Strahl seines Lichts genau dorthin richtet, wo das kollektive Gedächtnis immer mehr mit Absicht vergessen will.

Viktor Zaberer und Ludwig Herkommer kommen fast zur gleichen Zeit unter dem gleichen Dach zur Welt. Kurz nach dem ersten Weltkrieg. Viktor, Sohn eines einflussreichen Industriellen, kurz nach seiner Geburt von der Mutter verlassen, Ludwig, Sohn von Herkommer, dem Chauffeur des Industriellen Zaberer. Sie sind Milchbrüder, beide, weil sie wie Brüder aufwachsen, wie Zwillingsbrüder, auch wenn Ludwig von Beginn weg der Mutigere der beiden ist, unerschrocken und ungerührt, sobald es darauf ankommt und Viktor dafür nachdenklicher und langsamer. Eine Konstellation, die sie in der Schule „unbesiegbar“ werden lässt, erst recht, als sich zu den beiden Bienchen, Sabine Strauss, gesellt, ein bisschen älter, aber mit keiner Zelle eine von den Zicken in der Schule. Die drei werden zur Bande, schwören sich „Bruderschaft“.

Bernt Spiegel «Milchbrüder, beide», edition Fototapeta, 2020, 850 Seiten, CHF 40.90, ISBN 978-3-940524-85-0

Doch mit der grassierenden Wirtschaftskrise, dem aufkommenden Nationalsozialismus und dem immer lauter werdenden Antisemitismus findet die gemeinsame Freundschaft ein jähes Ende, weil Viktor zuerst ins Internat wechselt, später zu studieren beginnt und wegzieht, Ludwig sich den Verlockungen einer Festanstellung bei der SA ergibt und die Jüdin Bienchen die Karriere einer Geigerin beginnt. Die Biographien driften auseinander, obwohl sie immer wieder aneinander erinnert werden und sich ihre Wege, zufällig oder auch nicht, kreuzen.

Noch später, die Nationalsozialisten haben die Macht übernommen, wird Viktor ein gefragter Testpilot, zuerst bei den Segelfliegern, später auch in kriegswichtigen Fliegern, bleibt aber Zivilist, obwohl es für ihn, je deutlicher der Krieg und dann auch Tatsache wird, immer schwieriger wird, sich hinter seinen pazifistischen Absichten zu verstecken. Er liebt das Fliegen, die Fliegerei, die Flugzeuge, nicht die Kriegsmaschine.
Ludwig, der sich wie kaum ein anderer durch seine Kaltblütigkeit auszeichnet, wird von der SS angeworben und entwickelt sich in der Nazimaschinerie zum Fachmann für besondere Verhörmethoden.
Bienchen allerdings gerät immer mehr in Bedrängnis, kann durch Glück einmal den Fängen der Nazischergen entwischen, landet aber schlussendlich in einem Nebenlager des KZs Mauthausen.

Bernt Spiegel spannt den Bogen von den späten Zwanzigern bis in die Monate nach dem Zusammenbruch und der Kapitulation Nazideutschlands. Er erzählt die Geschichten der drei Familien. Aber vor allem erzählt Bernd Spiegel von der sich langsam einschleichenden Macht einer Ideologie, die auf Misstrauen, Hass und Schuldzuweisung gründet. Einer Ideologie, die sich auch in der Gegenwart wieder auszubreiten droht und vergessen lassen will, dass jene Kräfte den Tod von vielen Millionen zu verantworten haben. Kein Fliegenschiss der Geschichte!

Bernd Spiegel erzählt erlebte Geschichte, ist Zeitzeuge. Und auch wenn der Schluss des Romans allzu moralisch sauber daherkommt, Dialoge zuweilen überladen wirken und nicht jede der 900 Seiten romantragend ist, wickelt mich der Autor in einen erstaunlichen Sog. Er fasziniert mich durch sein Wissen, seine Innenansicht, sein Fasziniertsein von Technik, Musik und menschlichen Schwächen, seine Lust, in die Tiefe einzutauchen und seinen langen Atem.

„Milchbrüder, beide“ ist ein Roman über das kollektive und individuelle Erblinden. Viktor folgt blind seiner Faszination für die Fliegerei, Ludwig blind jener von Macht und Ordnung, Bienchen der Musik. Sie alle bezahlen einen hohen Preis. Die einen mit Einsicht und Ernüchterung, die anderen erblinden bis tief in die Seele.
Bernt Spiegel bleibt ganz nah bei den Protagonisten. Die Geschichte, der Faschismus, die Macht der Geschehnisse, der Krieg, alles spiegelt sich in den Protagonisten des Romans. „Milchbrüder, beide“ belohnt mutige LeserInnen, nicht zuletzt mit der ewigen Frage, wo Naivität endet und Schuld beginnt.

Interview mit Bernt Spiegel:

In einer Mail an mich schrieben sie: Der Roman selbst stellt zwar keine historische Wirklichkeit dar, aber er ist gewissermassen nah „an der Wirklichkeit entlang“ geschrieben. Auch wenn ich ihren Roman nicht einfach in die Schublade der historischen Romane ablegen möchte, bezweifle ich den ersten Teil, denn der Roman strotzt vor Wirklichkeiten und der zweite Teil des Satzes ist in ihrem Fall, zu ihrem Roman überhaupt nicht notwendig, denn jede Seite lebt von der Unmittelbarkeit, von der Erfahrung. Was in anderen Romanen manchmal allzu sehr nach Recherche und Wissensbeweis riecht, ist in ihrem Roman Abbild unzähliger Erinnerungen. Ich nehme an, der Roman hätte gleich noch viel umfangreicher werden können.
Das war von mir etwas schlampig formuliert, dieses „keine historische Wirklichkeit“. Wenn ich so darüber nachdenke: Wohl kein einziges Ereignis, das ich geschildert habe, und kein einziges der zahllosen kleinen Geschichtchen und Vorfälle, die ich erzähle, hat sich wirklich ereignet. Und wenn da und dort vielleicht doch, dann hat es sich mindestens nicht so abgespielt, wie es von mir geschildert wird. Das Entscheidende nämlich ist: Diese ganzen Einzelereignisse dienen nur dazu, die einzelnen Charaktere, auch in ihrer Entwicklung, allmählich immer deutlicher werden zu lassen, und sie hatten (oder haben) im Ganzen nur die Aufgabe, die bedrückende Atmosphäre der schlimmen Jahre – auch in ihrer fortwährenden Veränderung – nicht einfach zu schildern (gewissermassen bloss zu behaupten), sondern sie für den Lesenden ganz unmittelbar spürbar und miterlebbar werden zu lassen. Das ist die „eigentliche historische Wirklichkeit“, die dieser Roman bietet. Aber das geht nur, wenn nicht nur aus der Sicht der Opfer bzw. der Betroffenen erzählt wird, sondern auch aus der Sicht der Täter! Und das wiederum setzt voraus, dass die Dialoge in ganz verschiedenen Stilen geschrieben werden müssen, damit diese schwierige Position, auch aus der Sicht der Täter zu berichten, wirksam wird. Es ist ein Unterschied, ob ein SA-Rüpel oder ein ranghoher SS-Führer mit Hochschulbildung spricht, ob ein hochrangiger Industrieller oder sein Fahrer spricht oder ob der Leser bei den Offizieren einer Widerstandsgruppe mit zuhören kann – da gibt es Dutzende von verschiedenen Sprachstilen. Manchmal wurde mir selber Angst, wenn ich eine dekuvierende Ansprache, die ein ranghoher SS-Offizier in engstem Kreis hält, meiner Frau vorgelesen habe. Aber das ist eben die eigentliche Wirklichkeit dieses Romans, aber es sind nicht die einzelnen Personen, die es so nicht gibt, und nicht die einzelnen Alltagsereignisse, die so nicht stattgefunden haben.

Sie sind Jahrgang 1926, ein aussergewöhnliches Alter für einen literarischen Erstling. Nichts an diesem Roman riecht nach Erstling. Verraten Sie etwas über die Entstehungsgeschichte ihres Romans, der mehr literarisches Vermächtnis zu sein scheint?
Ich habe mir sehr viel Zeit gelassen. Die Grundidee – die politische Verführung eines Einzelnen und eines ganzen Volkes – hatte ich Mitte der sechziger Jahre. Von da an habe ich systematisch Gedanken in einer Zettelkartei gesammelt (da finden sich sogar schon ausformulierte Szenen darin). Allmählich erreichten die kleinen schweizerischen „Biella-Ordner“, in denen meine Zettel untergebracht waren, nebeneinander gestellt schliesslich einen reichlichen Regal-Meter. Einige 1000 Zettel und viel unnützes Zeug natürlich mit darunter. Erst Ende der Neunzigerjahre – ich hatte allmählich mehr Zeit – begann ich zu sichten und zu ordnen und zugleich die Zeitgeschichte zu studieren. Erst so ca. 2007/2008 fing ich an zu schreiben, aber das war anfangs eher die „Konstruktion“ des Romans, nämlich das Zusammenspiel der verschiedenen Erzählstränge (die zum grossen Teil ja im Roman unsichtbar verlaufen und von denen dann nur da und dort mal ein Stück davon erzählt wird). Das ist ein nicht ungefährliches Vorgehen, weil es leicht zu Unmöglichkeiten kommen kann, und es funktionierte erst dann richtig, als ich die einzelnen Stränge in Form langer Papierbahnen nebeneinander an der Wand hängen hatte. Dieser übersichtliche „Fahrplan“ erwies sich als sehr nützlich – ich war in allen Zeitabschnitten des Romans „zuhause“ und konnte es mir leisten, gleichzeitig an verschiedenen Stellen des Romans zu schreiben („gleichzeitig“ nicht im strengen Wortsinne gemeint).

Gemeinsame Feinde schweissen zusammen. Ein erfolgreiches Programm des Nationalsozialismus. Damals die Ungerechtigkeit des Versailler Friedensvertrags nach dem ersten Weltkrieg, später das Weltjudentum, heute das Fremde, die Flüchtlinge, seit je die Vermischung des reinen Deutschtums. Ihr Roman erzählt eigentlich von einer grossen Freundschaft. Einer Freundschaft, die in der Kinderstube beginnt und selbst durch die Wirren der Zeit nie ganz gelöscht wird. Liegt nicht in der Freundschaft ein völkerverbindendes, friedensstiftendes Prinzip?
Nun ja, es war eine grosse Freundschaft, auch eine lange währende, aber auch eine Freundschaft, die von Anfang an grossen Belastungen ausgesetzt war, die immer grösser wurden, je mehr sich die beiden auseinander entwickelten. Es war eine Freundschaft, die nicht auf einer mehr oder weniger innigen Zuneigung beruhte, sondern mindestens primär den beiden durch den Zwang der Milchbrüderschaft (und das Wissen darum) „von aussen“ aufgedrängt war.

Dass Freundschaften über die Grenzen hinweg einen hervorragenden Beitrag zur Völkerverständigung leisten können, steht für mich ausser Frage. Meine Mutter war Französin, sodass es stets vielfältige persönliche Verbindungen „nach drüben“ gab, was in der Nazizeit natürlich wieder zu Problemen anderer Art führte. Das Dorf, in dem ich heute wohne, unterhält schon seit den sechziger Jahren mit grossem Erfolg eine Partnerschaft zu Plougerneau, einem ebenso kleinen Nest in der Bretagne.

Ihre drei Hauptfiguren sind drei Archetypen; Viktor, der Zurückhaltende, Nachdenkende. Ludwig, der Intuitive, Drängende. Sabine, die sich Abgrenzende, Fokussierte, die Künstlerin. Anderes Personal ist zwar da, aber wirkt nur durch seinen Mangel, wie die fehlende Mutter von Viktor. Waren die Figuren ihres Romans von Beginn weg so deutlich? Drängten sich welche auf oder verabschiedeten sich ungewollt?
Ich hatte eigentlich nie Probleme, Ärger oder gar Streit mit meinen Figuren. Das verlief alles eher anstrengungslos. Auch in den schlimmsten Übeltäter konnte ich mich gut hineindenken, und wenn ich ihn sprechen liess, sprach ich in seiner Sprache. Fragte mich meine Frau, wie geht es weiter mit dem Soundso, dann antwortete ich nur: „Was weiss denn ich? Keine Ahnung, ich muss genau aufpassen und gut mitschreiben.“ Das ist freilich stark übertrieben, aber so ähnlich war es schon.

Ein ganzes Volk verfällt einem Wahn. Aber mit dem Ende des Krieges im Mai 1945 ist dieser Wahn nicht mit einem Mal ausgelöscht. Sie machen das in den letzten Kapiteln ihres Buches sehr deutlich. Wann wird aus purer Begeisterung alles schluckender Wahn?
Ich glaube, die Grenze zwischen Begeisterung und Wahn ist nicht zu ziehen. Schon eine eben erst aufkommende Begeisterung vermindert die Kritikbereitschaft (was in diesem frühen Phasen einer Entwicklung temporär durchaus von Vorteil sein kann).

Was Ludwig fehlt, ist Empathie. Wahrscheinlich ein Schlüsselwort, wenn es um Demokratie, Friedenssicherung, Stabilität und Freiheit geht. Was wünschen Sie nachfolgenden Generationen?
Eine sanfte Skepsis gegenüber allen Aufrufen gleich welcher Art. Sie fördert die Kritikfähigkeit und die Kritikbereitschaft und schützt vor einer der gefährlichsten Eigenschaften der Menschen, nämlich aufwiegelbar zu sein. Mit den sog. sozialen Medien erleben wir gegenwärtig genau das Gegenteil.

Bernt Spiegel, Jahrgang 1926, Psychologe und Verhaltensforscher. Professor an den Universitäten Mannheim, Saarbrücken und Göttingen. Gründete in den 50er Jahren das „Institut für Marktpsychologie“ in Mannheim. Auch Autor eines Bestsellers über das Motorradfahren. Bernt Spiegel lebt und arbeitet bei Heidelberg.

Beitragsfoto © Stefan Warter, Berlin

Julia Malik «Brauch Blau», FVA

Das Leben ein einziger Alptraum? Vom ersten bis fast zum letzten Satz ist „Brauch Blau“ eine Achterbahnfahrt ohne absehbares Ende. Eine Lektüre, die mich einnimmt und fesselt, die ungeschönt zeigt, wie feindlich das Leben sein kann, wie sehr man sich im Überlebenskampf an Dingen zu halten versucht, die einem mit sich in die Tiefe zu reissen drohen.

Sie wacht in einem Hotelzimmer auf, das sie im Moment des Aufwachens nicht zu kennen glaubt. Alles ist fremd, sogar ihr Körper, der nicht zu ihrem Denken passt. Nach und nach schaltet sich Erinnerung dazu, auch die an ihre Kinder, die bei ihr hätten sein müssen. Sie rafft die Kleider zusammen, taumelt aus dem Zimmer in eine Welt, die wie Kulisse wirkt, sucht ihre Kinder, ihre Wohnung, ihre Stimme, ihre Arbeit, ihre Geschichte, ihr Leben.

Alles im Leben der jungen Frau ist aus den Fugen geraten. Herbert, der Vater der beiden Kinder, hat sie sitzen gelassen, weil er ein besseres Leben gefunden hat, auf das er nicht verzichten will. Ihr fehlt Geld, denn das bisschen, das sie zuweilen mit ihrem Singen verdient, reicht längst nicht mehr, sie und die Kinder über die Runden zu bringen. Rechnungen bleiben liegen, sie klaut Lebensmittel im Supermarkt. Sie rennt von Vorsingen zu Vorsingen, von Absage zu Absage, als ob sich ihr alles verschliessen würde. Und wenn sie sich traut, ihrer Mutter anzurufen, schlägt ihr die Kälte ihrer Mutter noch einmal ins Gesicht.

Julia Malik «Brauch Blau», Frankfurter Verlagsanstalt, 2020, 224 Seiten, 32.90 CHF, ISBN 978-3-627-00271-8

„Eingebettet in die Familie“ klingt idyllisch, suggeriert den Traum, den Wunsch, den man in jede Zelle eingebrannt mitbekam. Julia Malik erzählt, wie ein Traum zum Alptraum wird, wie man sich trotz allen Bemühens nicht aus den Fängen und Klauen von Familie lösen kann, nicht einmal für einen kurzen Moment des Blaumachend. Jedes noch so gut gemeinte Tun zieht einem nur noch tiefer in den dröhnenden Sog von Kindergeschrei, Forderungen, endlosen Diskussionen, Missverständnissen, immer weiter weg von sich selbst, dem was die junge Frau eigentlich tun will; eine gute Mutter sein, eine gute Sängerin sein, eine gute Liebende sein, ein guter Mensch sein.

Das rauschhafte Sein auf den Opernbühnen der Welt steht in krassem Kontrast zur unkontrollierbaren Welt, der Realität. Was sich nach den Proben und Aufführungen durch einen Joint, eine Tablette, ein bisschen Gras zudecken lässt, rächt sich als Mutter und Organisatorin eines Lebens, das ausser Kontrolle geraten ist. Der jungen Frau gelingt es nicht mehr, in ihrem Leben zu agieren, alles ist auf Reaktion reduziert. Selbst wenn sich auf ihrer verzweifelten Jobsuche eine Tür zu öffnen scheint, ein bisschen Perspektive möglich wird, wird ihr das Heft aus der Hand genommen, reduziert sich das Leben auf den Moment.

Manche mögen sich fragen, warum man sich einen solchen Tripp antun sollte. Julia Malik setzt mich in einen Tunnel, in eine geschlossene Rutsche, in der ich ohne mein Dazutun in die Tiefe sause. Sie zwingt mich, mich mit den Existenzen jener auseinandersetzen, die verzweifelt versuchen, das Leben in den Griff zu bekommen; Alleinerziehende, KünstlerInnen ohne fixes Einkommen, Sitzengelassene und Verlassene, nicht nur verlassen von Liebe und Sicherheit, sondern verlassen von all den Vorstellungen und Träumen, die man einst zu Maximen machte.
Weil Julia Malik ein Sperrfeuer der Sprache zündet! Sie protokolliert nicht, schildert nicht von Aussen, sondern von Innen, gemischt mit all den Bildern, die von objektiven Wahrnehmungen abgekoppelt scheinen. So nah, dass mir manches beinah unerträglich, das Gelesene beinah zum eigenen Schmerz wird.
„Brauch Blau“ ist die Metamorphose einer jungen Mutter und Künstlerin, der es erst im letzten Satz gelingt, das Alte abzustreifen.

Beeindruckend!

© Lottermann and Fuentes

Interview mit Julia Malik

Das Irgendwie-Leben einer alleinerziehenden, zweifachen Mutter zwischen drohender Armut, Rausch und Kater, permanentem Überlebenskampf, totaler Isolierung und ekstatischer Sehnsucht hat nichts gemein mit plakativem Familienidyll, trautem Heim und wohliger Sicherheit. Und doch ist das Schicksal der jungen Frau das jener Frauen, die in ihrer Not fast ersticken, niemals die Kraft hätten, ihre Stimme zu erheben. Ist ihr Roman Manifest?
Haha, ich hoffe doch, dass mein Roman so ein Manifest ist der Menschen, die durch eine Familie nicht in eine Idylle versinken, sondern sich dem stellen, was die Widersprüche zwischen der eigenen Hingabe, emotional und künstlerisch, körperlich natürlich auch, und dem Funktionieren als Elternteil herausfordern. Ich habe das oft erlebt, selbst, und beobachtet, bei anderen, ausserdem ist man ja dadurch, dass man nach einer Geburt auf einmal die nächste Generation ist, nicht plötzlich erwachsen, man will doch trotzdem wild sein können, ist doch immer noch getrieben, auch von irrationalen Sehnsüchten und natürlich dem normalen Chaos aus Familie, Zuhören, Einkaufen, Steuererklärungen, Geldverdienen, Kindergeburtstagen, Geburtstagen der Freundinnen, länger arbeiten und wenn die Kinder dann auf einmal eine neue Regenhose brauchen, gerät alles ins Kippen. Das geht nämlich ganz schnell, dass ein Chaos hereinbricht, wenn die Summe aller einzelnen Aufgaben für einen alleine viel zu viel ist. Und was passiert da in einem drin? Das hat mich interessiert. 

Ihr Roman ist eine sprachliche und dramatische Achterbahn, einmal realistisch klar, dann traumhaft verzerrt. Er reisst mich als Leser auf der ersten Seite schon in die Urangst aller Mütter, die Kinder zu verlieren und endet mit einer Art Häutung, als wärs der Beginn einer Metamorphose. Fürchteten Sie sich vor dem totalen Absturz? Wäre der nicht zumutbar gewesen?
Ja, natürlich fürchte ich mich vor dem totalen Absturz, alles andere wäre ja eine Verharmlosung, ein totaler Absturz ist genau das. Ich fürchte mich davor, aber es hat mich mehr interessiert, den Kampf und ihre Versuche und auch ihre Möglichkeiten kennenzulernen, als das Elend zu erforschen. Meine Hauptfigur lässt sich, obwohl sie dort schon ist, nicht hineinfallen, sie will einfach nicht aufgeben und sie beansprucht auch ihr Glück. Sie lernt, sich etwas zu nehmen, ein Verhalten, das ich oft an Männern beobachtet habe und sehr interessant fand. Das ist wohl auch mein innerer Tarantino gewesen, der sagte, jetzt macht sie das aber einfach, jetzt marschiert sie einfach rein und endet das Sozialdrama. Sie bleibt ja trotzdem einer psychologischen Logik verpflichtet, sie zwingt nur all ihre Willensstärke zusammen und ändert ihre Gedankenmuster, ihre Handlungen und ihren Weg und das ist ja durchaus möglich.

Die Protagonistin ist Sängerin ohne festes Engagement, hofft auf eine Rolle auf einer grossen Bühne und ist zu fast allem bereit, eine Rolle zu ergattern. Die Welt draussen in der Realität und die Welt der Illusionen auf der Bühne? Die Welten scheinen diametral auseinander zu liegen. Das ganze Spektrum zwischen Sein und Schein?
Ja, die Welten liegen diametral auseinander und sind beide wahr, genau wie ihr Leben diametral verschieden ist, das, was sie als Frau ausmacht, was sie zum Leben braucht, wie eine Pflanze und das, was ihr Alltag von ihr verlangt.

Sie will eine Rolle in „Norma“ einer tragischen Oper von Vincnzo Bellini. Eine Priesterin, die zwei heimliche Kinder versteckt hält, hin- und hergerissen zwischen Mutterliebe und Status. Sie selbst sind erfolgreiche Schauspielerin, Mutter, Musikerin und Schriftstellerin. Priesterin und Dienerin?
Ja, ich glaube, ich fürchte, ich hoffe, ich bin auch Priesterin und Dienerin. Ich diene demütig meinem Schreiben und meinen Kindern und natürlich meinen Leidenschaften; der Musik und dem Spielen – und die eine oder andere Messe passiert dabei wohl auch. Manchmal vergesse ich mich und nehme ich mich ungeheuer ernst. Dann wird mir etwas heilig, wahrscheinlich eher aus Versehen … und dann gibt es Entscheidungen, die radikal und schmerzhaft sind, von der auch die Norma erzählt, die man aushalten muss, was eigentlich auch nach der Musik von Bellini verlangt. 

„Brauch Blau“, sagt der kleine Sohn, als er eine rote Serviette vorgesetzt bekommt. „Brauch Blau“, sagt die Mutter, weil sie nicht das gewünschte Leben vorgesetzt bekommt. Eine Frau, die die Enge nicht mehr erträgt. Ist Muttersein nicht die einzige Rolle, die man nie ablegen kann?
Ich weiss es nicht. Wahrscheinlich kann man sogar das Muttersein ablegen, wenn man das will. Es gibt ja Menschen, mehr Männer, aber sicher auch Frauen, die ihre Kinder verlassen, sie verlassen können. Für mich ist das definitiv nicht möglich, ich will das auf keinen Fall, ich möchte meine Kinder erleben. Aber in Gedanken passiert das natürlich schon, momentweise, das ist ja das Spannende in der Kunst, dass man sich etwas Anderem komplett hingibt und sein Leben vergisst. Wie schön ist es dann für mich, wieder aufzutauchen und Waffeln zu backen und mit meinen Kindern Lego zu spielen.

© Julia Malik

Julia Malik, 1976 in Berlin geboren, ging für das Schauspielstudium an die Hochschule für Musik und Theater in Hamburg. Anschliessend folgten Engagements an verschiedenen Theatern, unter anderem am Deutschen Schauspielhaus Hamburg, am Schauspielhaus Hannover und am Théâtre National du Luxembourg. Sie dreht Film- und Fernsehproduktionen, arbeitet an dem Kinofilm «LASVEGAS» und spielt Geige in der Berliner Band «Hands Up – Excitement!». «Brauch Blau» ist ihr erster Roman.

Hands Up – Experiment! You’re next successful experience – Tour Teaser 2018

Julia Malik: Selbstbehauptung einer Frau / Interview bei Geistesblüten

Hans Joachim Schädlich «Die Villa», Rowohlt

Hans Joachim Schädlich beweist mit seiner Art des Schreibens, dass sich Literatur durchaus der Schlichtheit, dem (scheinbar) Einfachen verschreiben kann, um Grossartiges zu erzählen. Der Autor erzählt die Geschichte eines Hauses und ihrer Bewohner. Wer im Laufe seines Lebens einmal ein Haus gebaut hat, weiss, wie sehr man dem Irrtum verfallen kann, man baue ein Stück Beständigkeit, vielleicht sogar Ewigkeit.

Ein zweiflügliges, schmiedeeisernes Tor, eine leicht geschwungene Auffahrt an einem Springbrunnen vorbei, im Erdgeschoss grosse Räume, Parkett und Stuck, ein Wintergarten, über dem Treppenpodest ins Obergeschoss ein grosses, hohes Bleiglasfenster, ein Turmzimmer. Die Gründerzeitvilla, von einer zu Reichtum gekommenen Familie 1890 gebaut, wird 1940, mitten im grossen Krieg das Zuhause der Familie Kramer. Hans und Elisabeth Kramer und ihre vier Kinder.

Als sie in die Villa einziehen, Vater Kramer längst eingeschriebenes Mitglied der NSDAP, prosperiert das Tausendjährige Reich. Man richtet sich ein für eine glorreiche Zeit. Elisabeth Kramer, die jung gar nicht heiraten wollte und von einer sozialen Aufgabe irgendwo auf der Welt träumte, schob man in eine kaufmännische Lehre und in den sicheren Hafen der Ehe. Auch Hans hätte gerne studiert. Aber da der Vater Drogerien besass und Nachfolgesorgen, war schnell klar, in welche Richtung das Leben verlaufen würde, erst recht mit der Marschrichtung der Partei.

Hans Joachim Schädlich «Die Villa», Rowohlt, 2020, 192 Seiten, CHF 30.90, ISBN 978-3-498-06555-3

Hans ist kein strammer Nazi, seine Frau Elisabeth noch viel weniger. Aber man richtet sich mit und in den Umständen ein. Der Nationalsozialismus ist Naturgesetz, so wie das generelle Misstrauen, die Judenfeindlichkeit und der logisch scheinende Weg in einen Krieg. Den Kramers geht es schliesslich gut und man ist überzeugt, einer Herrenrasse anzugehören. Man ist erfolgreich, hält sich Gärtner, Kindermädchen, feiert Feste und pflegt Beziehungen zu Parteispitzen. Bis nach der Katastrophe von Stalingrad der Wind zu drehen beginnt, man vorsichtiger wird und vor allem Elisabeth den herannahenden Zusammenbruch erahnt.

Irgendwann reicht das Geld nicht mehr. Man verkauft die Villa, zieht sich ins Obergeschoss zurück. Die Amerikaner fahren mit ihren Jeeps im Ort ein. Es gibt Kaugummis und Zigaretten. Später fällt der Ort in die sowjetische Zone. Der Russe kommt, man muss in eine kleine Mietwohnung umziehen, kann nur das Nötigste mitnehmen.

Hans Joachim Schädlich erzählt wahrscheinlich die Geschichte seiner Familie. Was am Roman des Schriftstellers begeistert, ist aber nicht einmal so sehr die Geschichte der Familie, die durch die Wirren der Zeit gespült wird. Es ist die Geschichte dieses Hauses, mit Selbstbewusstsein gebaut, für Grosses bestimmt. 2008 wird die Villa abgerissen, muss dem Fortschritt weichen. Kurz vor ihrem Abbruch, aus der Villa ist ein Pflegeheim geworden, besucht Elisabet zusammen mit ihrem Sohn noch einmal jenes Haus, das für wenige Jahre, in den Glanzzeiten des Tausendjährigen Reiches, zum Stammhaus einer aufstrebenden Familie hätte werden sollen.

Aber was am Roman Hans Joachim Schädlichs wirklich fasziniert, ist die Lakonie seiner Sprache, seines Erzählens. Er zeichnet mit einem spitzen Stift, malt nicht aus, verliert sich mit keinem Satz. Wo andere mit der grossen Kelle ans Werk gehen, bleibt Hans Joachim Schädlich beim Wesentlichen, hangelt sich am Gerüst durch die Zeit. Umso mehr steigen bei mir selbst die Bilder auf, füllen sich mit Farben, Stimmungen, sogar mit Gerüchen. Hans Joachim Schädlich ist eine Ikone!

Interview mit Hans Joachim Schädlich:

In „Die Villa“ ist die Protagonisten nicht aus Fleisch und Blut, sondern eine Villa in Reichenbach, erbaut in der Gründerzeit, Ende des 19. Jahrhunderts. Im letzten Kapitel besucht die greise gewordene Frau Kramer noch einmal die Villa, kurz bevor das Gemäuer weichen muss und abgerissen wird. Es ist die Geschichte eines Hauses über mehr als ein Jahrhundert bis in die Neuzeit. Häuser erzählen Geschichten, alte Häuser viele Geschichten. Sie sind die Bühne, die Kulisse, flüstern von Zeiten, die längst vorbei sind. Mauern suggerieren Beständigkeit, beinahe Ewigkeit, zumindest aus menschlicher Sicht. Rückt Geschichte mit fortschreitendem Alter in ein anderes Licht?
Geschichte offenbart sich mit fortschreitendem Alter immer klarer, zumindest aus meiner Sicht.

Kramers, die mitten im letzten Weltkrieg die letzten „grossbürgerlichen“ Bewohner dieser Villa waren, waren das, was die meisten im Tausendjährigen Reich waren; wenn nicht stramme Nazis, dann doch mindestens überzeugt davon, dass Parteizugehörigkeit unverzichtbar ist, erst recht als Unternehmer und Arbeitgeber. Damals die Partei, heute der Glaube an stetes Wirtschaftswachstum und Konformismus?
Es bedarf wohl der Kompetenz vom Soziologen, Wirtschaftsfachleuten und Historikern, um Ihre Frage zu erörtern.
Ich bemerke zumindest, dass man es damals und heute mit grundsätzlich verschiedenen Bedingungen zu tun hat. Damals herrschte die Nazidiktatur in Deutschland und seit den vierziger Jahren in fast ganz Europa. Heute gibt es in einem freien Europa gemeinsame, regulierende Behörden (EU).

Ihre Sprache ist glasklar, ihre Sprache Programm. Sie hat nichts Verschwenderisches, ihre Sätze mäandern nicht um ihrer selbst willen. Sie bauen mit ihren Sätzen keine dicken Mauern, keine tiefen Keller. Aber ein filigranes, fast durchscheinendes Gefüge, das in die Höhe strebt. Kurze Kapitel, jedes wie ein Bild. Sie erklären nicht, deuten und ergründen nie. Alles liegt bei mir, dem Leser. Was ist bei ihrem Schreiben oberste Maxime?
Ein poetisches Prinzip meiner Schreibarbeit besteht darin, Denkräume für die Phantasie des Lesers zu schaffen. Manche nennen das lakonischen Stil. Das Mittel des lakonischen Stils ist – informationstheoretisch gesprochen – die Reduktion redundanter Ausdruckselemente.
Ein anderes Prinzip ist bei historischen Stoffen die geschichtliche Präzision. Die umfangreichsten Recherchen habe ich wohl für meinen Roman „Tallhover“ betrieben. Wenn ich mir vorstelle, ich hätte z.B. für das Kapitel über Lenins Reise im April 1917 aus der Schweiz über Deutschland, Schweden, Finnland nach Petrograd keine präzisen Daten ermittelt, dann hätten Leser, die das nachprüfen können, vielleicht gemeint, das Ganze stimme gar nicht. Diese Reise gewann aber welthistorische Bedeutung. Aus der historischen Präzision folgt die Glaubwürdigkeit des Textes.

So wie die Denkmalschutzbehörde am Schluss, kurz vor Abbruch der Villa „für die Nachwelt“ eine photogrammetrische Erfassung der Liegenschaft vornimmt, hält man bei der Beerdigung einen Nachruf am Sarg des Verstorbenen. Ein paar Eckdaten, ein paar Geschichten. Sie setzen dem Haus, den Menschen, die darin wohnten ein Denkmal, aber ohne mahnenden Finger: „Denk mal!“ Wo lag der Anfang ihres Buches auf dem man die Bezeichnung „Roman“ vergeblich sucht?
Der Anfang des Buches lag in dem Wunsch begründet, die Villa und ihre Bewohner – eine deutsche bürgerliche Familie in den dreissiger und vierziger Jahren des 20. Jahrhunderts – in einer Kombination aus Fakten und Fiktion gleichnishaft zu verknüpfen, exemplarisch für Aufstieg und Niedergang.

Erzählen Sie kurz von einem literarischen Geheimtipp, den es zu entdecken lohnt und den Sie vor noch nicht allzu langer Zeit gelesen haben?
Ich habe in letzter Zeit Daniil Charms, der mit bürgerlichem Namen Daniil Juvacev hiess, für mich entdeckt. Er ist 1942, im Alter von 37 Jahren, in einem sowjetischen Gefängnis in Leningrad  verhungert. Seine Arbeiten wurden in der Sowjetunion erst in den Zeiten der Perestroika gedruckt. Peter Urban, der große Cechov-Übersetzer, hat als erster „Charms“ ins Deutsche übersetzt. Im Galiani Verlag ist von 2010 – 2011 eine vierbändige „Charms“-Ausgabe erschienen. 

© Jürgen Bauer

Hans Joachim Schädlich, 1935 in Reichenbach im Vogtland geboren, arbeitete an der Akademie der Wissenschaften in Ost-Berlin, bevor er 1977 in die Bundesrepublik übersiedelte. Für sein Werk bekam er viele Auszeichnungen, u. a. den Heinrich-Böll-Preis, Hans-Sahl-Preis, Kleist-Preis, Schiller-Gedächtnispreis, Lessing-Preis, Bremer Literaturpreis, Berliner Literaturpreis und Joseph-Breitbach-Preis. 2014 erhielt er für seine schriftstellerische Leistung und sein politisches Engagement das Bundesverdienstkreuz. Hans Joachim Schädlich lebt in Berlin.

Rezension von «Felix und Felka» von Hans Joachim Schädlich auf literaturblatt.ch

Beitragsbild © Jürgen Bauer

Valerie Fritsch «Herzklappen von Johnson & Johnson», Suhrkamp

Valerie Fritschs neuer Roman «Herzklappen von Johnson & Johnson» ist eine sprachliche Offenbarung, kein Unterhaltungs-Kurzfutter, keine Strandlektüre für den Halbschlafmodus. Die junge Österreicherin, die neben der Schriftstellerei auch fotografiert, vereint in ihrem Roman optische und sprachliche Tiefenschärfe, dringt sowohl psychologisch, geschichtlich und formal tief in die Segmente des Lebens ein. Ein Meisterwerk.

Alma ist schon als Kind eines mit Ecken und Kanten, wächst auf in einem unterkühlten Elternhaus, fühlt sich vielmehr zu ihrer Grossmutter hingezogen, einer stolzen, lange Zigaretten rauchenden Frau, die, je älter sie wird, desto seltener ihren Kosmos zuhause verlässt. Alma saugt alles in sich auf, auch den Schmerz der Geschichte, personifiziert in der Verschwiegenheit ihres Grossvaters, der im Krieg an Gräueltaten teilnahm, lange in russischer Kriegsgefangenschaft war und nach Jahren als Versehrter in ein Leben zurückkehrte, mit dem er nichts mehr anzufangen wusste. 

Alma ist eingeklemmt in die Erwartungen ihrer Umwelt, ihrer Familie und die permanente Verunsicherung, die all das ausstrahlt, was sie zu verstehen versucht; das Leben ihrer Eltern, in das sie als Mitspielerin gezwungen ist, das Schweigen ihres Grossvaters, das immer mehr zu einem tiefen Abgrund wird, dass das, was wirklich entscheidend ist und war, ausserhalb ihres Wirkungsradius passiert. «Über ihre eigene Rolle rätselte sie oft.»

Valerie Fritsch «Herzklappen von Johnson & Johnson», Suhrkamp, 2020, CHF 32.90, ISBN 978-3-518-42917-4

So sehr die mondäne Grossmutter zu einem Ankerpunkt, so sehr wird der Grossvater zu einem schwarzen Loch, der Verkörperung von unterdrücktem Schmerz, nicht nur körperlich, sondern ebenso psychisch und gesellschaftlich. Alma fühlt diesen Schmerz, der sie zu bremsen scheint, den sie, je älter sie wird, desto körperlicher wahrnimmt. Eine immerwährende Verunsicherung, die sich auch nicht verflüchtigt, als sie den Fotografen Friedrich kennen und lieben lernt. «Die Zeit wirkte wie ein Brennglas für den Schmerz.» Das Haus der Grosseltern wurde zu einem Behälter eines alten, durch Schweigen haltbar gemachten Schmerzes. Ein Schmerz, der nicht zu ignorieren war. Ein Schmerz, aus dem sie es nicht schaffte herauszuwachsen.

Und dann, als Emil zur Welt kommt, «eine grundlegende Erschütterung kroch ihr durch den Laib», stellt sich auch zu ihrem Kind nicht jene Nähe ein, die Mutterglück spiegelt. Emil wird zur Störung, einer Störung, die ihre Umwelt mit Unverständnis quittiert. Friedrich sieht das Leiden, möchte Alma am liebsten schütteln, damit etwas herausfiele aus ihr. Aber statt sich mit Emils Geburt Normalität einstellt, muss Alma feststellen, dass ihr kleiner Sohn unter einem genetischen Defekt leidet. Emil empfindet keinen Schmerz. Er spürt keinen Kratzer, keinen tiefen Schnitt, kein Bauchweh, keine Verbrennung. Und so schleicht sich der Schmerz als überdimensionale Leerstelle in Almas Leben, ein Leben, das auch vor Emils Geburt dem Schmerz gehörte.

Und weil Alma spürt, dass die grossen Antworten und Einsichten nur dort zu klären sind, wo der Schmerz seinen Ursprung nahm, macht sich Alma nach dem Tod ihrer Grossmutter zusammen mit ihrer Familie auf eine grosse Reise. Eine Reise weit weg, tief hinein.

«Herzklappen von Johnson & Johnson» ist derart sprachmächtig geschrieben, dass ich unweigerlich mein Lesetempo der sprachlichen Intensität anpassen musste. So gab es Abschnitte, die ich nicht einfach ein zweites Mal las, weil ich sie inhaltlich nicht verstanden hätte, sondern weil der Genuss des Lesens, die Entfaltung des Sounds nur durch die Lesewiederholung in seiner Totale genossen werden konnte.

Interview mit Valerie Fritsch

Als ich Sie das letzte Mal an einer Lesung traf, waren sie in den Vorbereitungen für eine lange Reise gen Osten, eine Reise, die man dann in den Sozialen Medien auch immer wieder einmal mit Fotos mitverfolgen konnte. Eine Recherchereise. Wie viel von diesem Roman ging damals schon mit auf die Reise?
Die Idee einer Familiengeschichte, die in Schmerzkapseln, in Abwesenheiten und Entfernungen erzählt wird, stand damals schon, und diese Reise, die die Protagonisten gegen Ende machen, um der Kriegsvergangenheit des Grossvaters sprichwörtlich hinterherzureisen, wollte ich erleben, mir jeden Kilometer selbst zumuten, um die Distanzen ermessen zu können: 16 000 sind es geworden. 

Ein zentrales Thema in Ihrem neuen Roman ist der Schmerz, ein Zustand, ein Gefühl, mit dem sich viele Menschen nur ungern oder am liebsten gar nicht aussetzen. Erst wenn man dazu gezwungen wird, konfrontiert einem der Schmerz unweigerlich. Aber selbst dann geht es um Vermeidung, Überwindung und Kampf. Ihre sprachliche Auseinandersetzung aber klingt durchaus lustvoll. Ein Widerspruch?
Ich denke, es ist eine präzise, organische Sprache, die der Plastizität, der heimlichen und unheimlichen Wirkmächtigkeit des Schmerzes versucht gerecht zu werden, der körperlichen und der abstrakten Zerbrechlichkeit, der niemand ganz entkommt. In der Macht von Schmerz kann auch Lust stecken, zumindest aber ist es ein Begriffspaar, das jedes Leben bestimmt, in seiner Gegenüberstellung, oder in seiner Gleichzeitigkeit. 

Sie fotografieren und schreiben. Alma, die Protagonistin, zeichnet, ihr Mann Friedrich fotografiert. Alle setzen sich durch ein vertieftes Sehen mit Welt auseinander. Wie weit verändert der fotografische Blick Ihr Sehen?
Wenn man wild entschlossen und genau schaut, sieht man viel. Die Augen wachsen förmlich mit dem Sehen. Man entdeckt im Allerkleinsten Schlüssel, die in grossen Geschichten sperren. Und man kann, wenn man genug gesehen hat, hernach die Bruchteile, Einzelheiten, Texturen der Welt zu einem grossen, fühlbaren Ganzen wieder sprachlich zusammzimmern mit Buchstaben, so dass der Leser alles in Bildern wiederfindet. 

Ihr Roman ist auch ein Familienroman. Wie jede und jeder wird Alma ungefragt in eine Familie hineingeboren. Sie erzählen, als ob der Schmerz selbst die Genstruktur einer Familie Schaden nehmen würde, so sehr, dass sich an Almas Sohn Schmerzunempfindlichkeit manifestiert, ein Gendefekt. Mag sein, dass ein Zusammenhang abenteuerlich erscheint. Oder doch nicht?
Inwieweit sich Erfahrungen in den Genen zeigen, ist eine neue Wissenschaft, die noch am Anfang steht, aber oft auf Überraschendes stösst. Es gibt beispielsweise ein Experiment mit Mäusen, in denen man den Tieren beibringt, sich vor dem Geruch von Kirschblüten zu fürchten, und auch wenn man die Eltern sofort nach der Geburt von den Jungen trennt, haben diese die gleiche – erfahrungsbasierte – Angst vor dem schönen Blumenduft. Für die Herzklappen von Johnson & Johnson ist das Genphänomen ein Kunstgriff, das Kind eine Gegenfigur des Schmerzes, auch wenn es dieser Defekt, der die Schmerzrezeptoren vollständig ausschaltet und einen unempfänglich macht für jedes physische Leid, tatsächlich medizinisch beschrieben existiert. 

Alma macht sich auf eine Reise, zusammen mit ihrem Mann und ihrem kleinen Sohn. Wer Antworten, Erklärungen, Deutungen sucht, macht sich immer auf die Reise, wenn auch nicht zwingend räumlich. Almas Reise ist keine Reise zur Überwindung, weder Schmerz- noch Angstüberwindung. Und doch eine Reise der Klärungen. Wie weit war das Schreiben dieses Buches eine Reise? Eine Reise in die Ungewissheit?
Jedes Buch ist eine Reise, ein rollender Zug, in dem man sich setzt, aus dem man nicht aussteigen kann, und von dem man nicht weiss, wo genau er ankommen wird. Wie herrlich!

© Jasmin Schuller

Valerie Fritsch, 1989 in Graz geboren, wuchs in Graz und Kärnten auf. Nach ihrer Reifeprüfung 2007 absolvierte sie ein Studium an der Akademie für angewandte Photographie und arbeitet seither als Photokünstlerin. Sie ist Mitglied des Grazer Autorenkollektivs plattform. Publikationen in Literaturmagazinen und Anthologien sowie im Rundfunk. 2015 erschien «Winters Garten» im Suhrkamp Verlag. Sie lebt in Graz und Wien.

Webseite der Autorin

Beitragsbild © Martin Schwarz

Margrit Schriber «Die Vielgeliebte meines Mannes», Nagel & Kimche

Margrit Schriber ist nicht müde. Ihre Lust am Schreiben, am Erfinden, am Fabulieren, ihre Freude am vollen Leben umarmt einem bei der Lektüre ihres neuen Romans förmlich. «Die Vielgeliebte meines Mannes» ist ein Roman, der sich erfrischend wenig darum kümmert, was zu den Insignien der Literatur gezählt wird. Einfach gut erzählt!

Es ist als sässe man auf einer grossen Tribüne mitten in einem See, vielleicht dem Vierwaldstättersee, und sähe auf ein Dorf. Ein kleines Dorf im Dunst der anbrechenden Siebzigerjahre. Eine Kirche etwas erhöht über den Häusern, eine Schiffanlegestelle, die aber nicht von allen vorbeifahrenden Schiffen angesteuert wird, das Restaurant Romantica, eine Bäckerei, Häuser verstreut darum herum und etwas abseits eine grosse Villa, direkt am See, durch einen schmiedeisernen Zaun vom Dorf abgetrennt.

Dort hin sind Rosy und Charly gezogen, ein junges Ehepaar, weil er die Stelle des Organisten in der Kirche antreten konnte und ihm seine junge Frau mit ihrer Arbeit in der nahen Parfümfabrik den Rücken freihält, um an seinem grossen Meisterwerk zu arbeiten, um sich auf seinen siegreichen Feldzug durch die Welt der Musik vorzubereiten. Dort wohnt Kitty, noch Mädchen, dreizehnjährig, aber mit der Leidenschaft einer jungen, wilden Frau. Kitty singt mit sieben anderen Grazien mehrmals in der Woche auf der Empore der Kirche zu Charlys Orgelklängen. Sie ist eine der acht schmachtenden Teenager, die angespornt durch das Lob des jungen Musikers von einer glorreichen Karriere als Sängerin träumen, dereinst an der Seite des Hasy Osterwald Quartetts oder noch viel höher und weiter. Dort wohnt eine reiche, stille, vom Dorf abgewandte Frau in ihrer Villa mit Gewölbefenstern und buchsgesäumtem Kiesweg, einem rosaroten Amischlitten und eigenem Bootssteg. Nachts sind die Fenster hell erleuchtet und man sieht und hört Madame am Flügel die Luft bezaubern. Vor allem Charly, der auch tagsüber im Restaurant Romantica mit Sicht auf die Villa seinen musikalischen Fantasien nachhängt.

Margrit Schriber «Die Vielgeliebte meines Mannes», Nagel & Kimche, 2020, 176 Seiten, CHF 28.90, ISBN 978-3-312-01161-2

Es ist Rosy, die erzählt. Und von der ersten Seite weg ist klar, dass die Geschichte, die sie erzählt, mit einer Katastrophe endet, mit einer Waffe und einem Schuss, der abgegeben wurde. Während die acht Stimmen auf der Empore der Kirche immer klarer und heller singen, beginnt es in den Magmakammern unter dem Dorf zu rumoren. Nicht nur weil sich die ausser Rand und Band geratenen Mädchenseelen in einen Zickenkrieg begeben, die Stimmung rund um den jungen Organisten und Dirigenten zu kochen beginnt, sondern weil alle im Dorf mitbekommen, dass Unkontrollierbares einheizt. Aber weil die Familien ebenfalls in einer Mischung aus Stolz und Hoffnung den hörbaren Höhenflug ihrer Töchter verfolgen, nimmt man den Preis dafür in Kauf.

Aber «Die Vielgeliebte meines Mannes» ist auch die Befreiungsgeschichte einer jungen Frau, die mit Enthusiasmus ins Abenteuer einer jungen Ehe startete, um festzustellen, dass sie wie alles im Haushalt nur Instrument bleibt. Ihr Mann sonnt sich in der Bewunderung der jungen Täubchen und schmachtet in seiner Verehrung für die geheimnisvolle, unnahbare Schöne, die die großen Fenster ihrer Villa zum grossen Fenster in eine grosse Welt macht.
Margrit Schribers Roman ist in ein eigenartig farbiges Licht getaucht. Auf der kleinen Bühne eines Dorfes am See spielen sich die grossen Dramen menschlicher Leidenschaft ab, kochen die Menschen im giftigen Dunst von Gerüchten, Wut und blankem Hass. Die Autorin sprüht vor Erzähllust, sei es in der Boshaftigkeit ihrer ProtagonistInnen oder im Witz des Moments. Ein ganzes Dorf verstrickt sich in naiver Leidenschaft, fährt mit voller Kraft hinein in die Katastrophe.

Ein köstliches Lesevergnügen!

«Aussicht gerahmt», «Ausser Saison», «Kartenhaus», «Vogel flieg», «Luftwurzeln», «Muschelgarten», «Tresorschatten», «Augenweiden», «Rauchrichter», «Schneefessel», «Von Zeit zu Zeit klingt ein Fisch»… Das sind nur einige ihrer Bücher aus einem langen Schriftstellerinnenleben. Buchtitel, die selbst eine Geschichte erzählen. Von einer Frau, die sich nicht einfach in eine Schublade einordnen lässt, die in einem halben Jahrhundert Schriftstellerei einen ganz eigenen Schreiber-Kosmos schuf, der von starken Frauen erzählt. Einer starken Frau wie sie selbst, die sich durch nichts entmutigen lässt, selbst wenn ihr Stammverlag durch Umstrukturierungen mehr als einmal den Anschein machte, ihr die Treue zu kündigen. Selbst wenn ihr die grossen Literaturpreise vorenthalten blieben, obwohl einige ihrer frühen Romane, allen voran «Schneefessel» zu den Perlen der Schweizer Literatur gehören.

Margrit Schriber ist eine klassische Erzählerin, kann einfach gute Geschichten erzählen. «Meine Figur ist mein Geschöpf und dreht sich in der Spieluhr meines geschaffenen Turms zum Stundenschlag im Kreis», schreibt Margrit Schriber. Ihre Figuren sind ihr ganz nah, nie verkopft, ihr Blick nie auf sich selbst gerichtet, auch wenn an der Grand-Dame eine gewisse Eitelkeit unübersehbar ist.

Interview mit Margrit Schriber:

Im Begleitbrief zu deinem Roman steht: „Wie Rosy musste ich einen Spottspalier durchschreiten und mich bespucken lassen.“ Rosy beginnt zu schreiben. Du begannst zu schreiben. „Es folgte Buch um Buch. Mit jedem einzelnen schrieb ich ein Stück meiner verlorenen Ehre zurück.“ Das klingt erstaunlich ehrlich, dir erstaunlich nah. Ist Schreiben nicht immer Befreiung?
Es gibt unzählige Gründe für mein Schreiben. Neugier, Abenteuerlust, Aufregung, Entdeckerfreude, Lust an der Verwandlung, an der Herausforderung und am Verwirrspiel, Freude am Konstruieren einer anderen Welt usw. Ich könnte Seiten damit füllen. Das Wichtigste aber ist es, mir ein Ziel zu setzen und alles zu geben, um dieses zu erreichen. Ich schrieb einmal, ein Mensch sollte sich in die Sterne schreiben. Es ist mein Credo! Und es stimmt für mich. Das Leben ist viel zu kurz, viel zu einmalig, um es zu verschwenden. Handelt nicht jedes meiner Bücher von der Suche nach einem Sinn? Will nicht jede meiner Figuren ihrem Leben ein Ziel geben?
Jedes Buch ist auch eine Forschungsreise ins eigene Innere. Und beim Scheiben meines letzten Romans bin ich in den tiefsten und verborgensten Winkel gedrungen, so dass mir klar wurde, wie tief Verletzungen gehen können und wie nachhaltig sie prägen. Ich wollte aus meinem dramatischen Stoff etwas Leichtes und Farbenfrohes schaffen. Der See nimmt meiner Figur Rosy alles Kummervolle ab. Zurück bleibt eine blanke Oberfläche für Neues.
Das Buch widergibt den Zeitgeist der 60er Jahre. Da hat sich eine junge Frau noch sehr auf den Partner gestützt, an dessen Karriere geglaubt, ihre Fähigkeiten womöglich zu dessen Gunsten eingesetzt und die Sehnsucht nach Anerkennung unterdrückt.
Ich selbst hatte das Glück, dass ich meinen Traum vom Schreiben realisieren konnte. Doch zuerst musste ich an mich selber glauben können. Ich. An mich. So einfach ist das aber nicht. Das ist es nie! Es war ein langer einsamer Weg. Ich würde ihn immer wieder gehen, denn ich schulde ihm mein Glück. Im Grunde ist wohl mein ganzes Werk ein Versuch, mich in die Sterne zu schreiben. 

Ein Dorf am See, eine Kirche, eine Villa, in der Nähe eine Fabrik. Ein junges Ehepaar, eine reiche abgewandte Dame, ein Pfarrer und acht nach dem Leben, der Liebe schmachtende hormongesteuerte Mädchen und Töchter, die der Kontrolle von Eltern und Institutionen zu entgleiten drohen. Liebst du das Pulverfass? Die heissen Magmakammern unter der Normalität?

Ja, ich liebe die heissen Magmakammern unter der Normalität. Ich langweile mich leicht. Ich kann nicht Monate mit einem Text verbringen, der mich nicht immer neu an die Decke springen lässt. Ich schreibe ja zu meiner eigenen Unterhaltung. Deshalb bewege ich mich auch auf überschaubarem Raum und wähle bewusst nur wenige Figuren. Ich möchte diese von nah beobachten. Ich sprenge sie in diese und jene Richtung. Wenn nicht hinter jeder Ecke etwas Unerwartetes lauert, drücke ich auf die «delate» Taste.

„Ich war ein schwarzes Loch. Wir waren ein jedes dem andern ein schwarzes Loch“, steht im Roman. Spricht daraus die Ernüchterung darüber, dass selbst Liebe und Freundschaft nie darüber hinwegtäuschen können, dass jene Sehnsucht, die so sehr nach Nähe ruft, gar nie gestillt werden kann?
Schön ist der Glaube an die Liebe. Bewegend ist die Sehnsucht und die Trauer. Glücklich wer diese Empfindungen kennt. Liebende sind einander ein Rätsel. Manchmal ist jedes dem andern ein schwarzes Loch. Liebe ist ein Geschenk. Meine Figur Rosy erhellte sich damit eine Weile ihren Traum von der Zukunft. Doch die Liebe erlischt wie eine Kerze. Das Mädchen Kitty kann nicht glauben, dass Gefühle ändern. Sie will ihre Zukunft mit der Waffe erzwingen. Rosy spürt, dass sich nichts erzwingen lässt. Sie sucht nun allein den Ort, wo ein Mensch anständig bleiben kann.

Margrit Schriber wurde 1939 als Tochter eines Wunderheilers in Luzern geboren. Sie arbeitete als Bankangestellte, Werbegrafikerin und Fotomodell. Margrit Schriber lebt heute als freie Schriftstellerin in Zofingen und in der französischen Dordogne. Sie erhielt mehrere Auszeichnungen, unter anderem den Aargauer Literaturpreis für ihr Gesamtwerk.

Webseite der Autorin

Beitragsbild © Sandra Kottonau

Ulla Lenze «Der Empfänger», Klett-Cotta

Während der Zeit des Nationalsozialismus wurden in den USA über 10 000 Deutsche oder deutschstämmige AmerikanerInnen als «Enemy Aliens» klassifiziert und zeitweise interniert. Ulla Lenze liess sich vom Schicksal ihres Grossonkels Josef Klein inspirieren und schrieb einen mitreissenden Roman über einen deutschen Auswanderer, der in seiner Naivität in die Netze von Geheimdiensten gerät.

«Der Empfänger» ist weder Thriller noch Geschichtsdrama. Keine aufgeblasene Handlung, keine coolen HeldInnen, keine versteckten Fallgruben und heimtückischen Labyrinthe.
Josef Klein will 1925, während Deutschland in eine Wirtschaftskrise hineinschlittert, zusammen mit seinem Bruder Carl in die USA ausreisen, ins Land der unbegrenzten Möglichkeiten, dort endlich eine Existenz beginnen, die frei von Not und Bedrängnis ist. Aber weil Carl bei einem Arbeitsunfall ein Auge verliert, macht sich Josef alleine auf in das Land auf der anderen Seite des Ozeans. Ein Land, in dem er am liebsten verschwinden möchte, wirklich neu beginnen. Ein Land, das ihm den Einstieg aber alles andere als einfach macht. Josef vermag sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser halten, findet aber kaum Anschluss im Nabel der Welt, in New York. Einziges Vergnügen des jungen Mannes ist sein selbst gebautes Funkgerät in seiner kleinen Wohnung in Harlem, sein Tor zur Welt, einer Welt, in der Rang und Name keine Rollen spielen. Sein Empfänger bringt ihm Stimmen in seine Nähe, die ihm in der Grossstadt verwehrt bleiben.

Aber Josef Kleins technische Fähigkeiten bleiben anderen nicht verborgen. Und weil ihn Geldsorgen empfänglich für scheinbar leicht verdientes Geld machen, sitzen mit einem Mal zwielichtige Gestalten regelmässig in seiner kleinen Wohnung, von der er verschlüsselte Mitteilungen senden muss, deren Inhalte für ihn verborgen bleiben. Mitteilungen aus den Reihen eines deutsch-, nazifreundlichen Abwehrnetzes, das sich in ihrem patriotischen Kampf für ihren Führer im aufstrebenden Deutschland bereit macht für die Weltherrschaft.

Ulla Lenze «Der Empfänger», Klett-Cotta, 2020, 302 Seiten, CHF 32.90, ISBN 978-3-608-96463-9

Durch Naivität, latente Vereinsamung, ewigen Geldmangel und sein Bedürfnis, sein Können als Funker unter Beweis zu stellen, verstrickt sich Josef Klein immer tiefer in ein Geflecht, das ihm die Ruhe nimmt. Selbst als er durch den Äther eine junge Frau kennenlernt, die wie er Amateurfunkerin ist, sie zu treffen und zu lieben beginnt. Lauren aber, die wie er die Bande zur Vergangenheit kappen will, bleibt nicht verborgen, dass sich Josef immer tiefer im Sumpf verheddert. In den Kinos werden Nachrichten von Landesverrätern in den USA gezeigt, die auf dem elektrischen Stuhl hingerichtet werden. Josef Kleins Traum von einem ungebundenen, freien Leben scheint sich zwischen den Fronten zu zerreissen.

Ulla Lenze erzählt die Geschichte aus verschiedenen Zeitebenen. 1939 in New York, während das Misstrauen jedem Deutschsprechenden gegenüber immer grösser wird, 1949 in Neuss, als er nach Jahren in amerikanischen Internierungslagern in die Heimat abgeschoben wird, in die eng gewordene Wohnung seines Bruders Carl, wo er seine illegale Rückreise nach Amerika plant und 1953 in Costa Rica, müde geworden nach einer langen Reise, die ihn nie dorthin brachte, wo die Hoffnung ihn hinzog.
Ulla Lenze erzählt die Geschichte eines kleinen Mannes im Strudel der Geschichte. Darüber wie sich die giftigen Fäden der Geheimdienste von Kontinent zu Kontinent ausbreiten, wie Grossmachtträume von Herrenmenschen selbst den Niedergang des Deutschen Reiches nur als Zwischenstation hin zur Weltherrschaft deuten und Exnazis in Argentinien unter Perón sich nach dem Krieg neu zu formieren versuchen.
Ulla Lenze bleibt immer bei Josef Klein, der auf seiner stillen Reise auf der Suche nach seinem Glück alleine bleibt.

Interview mit Ulla Lenze 

Wir haben sie alle, die Grossonkel und Grosstanten, die Urgrossmütter und Urgrossväter, die langsam aus dem Familienbewusstsein verschwinden. Bei Ihrem Grossonkel ist es nicht so. Sie haben ihn vor dem Verschwinden gerettet, obwohl er es, so ist es zumindest im Roman erzählt, nichts lieber wollte, als zu verschwinden. Was hat Sie dazu gedrängt, diesen Roman zu schreiben?
Der familiäre Bezug als solcher spielte tatsächlich gar keine Rolle, ich bin in dieser Hinsicht recht unemotional. Aber über die Familie verdankte sich natürlich das direkte Fenster in eine ferne Welt, nämlich aufgrund der Briefe, Fotos und der Erzählungen meiner Mutter. Was mich an dem Stoff sofort fesselte, waren die aktuellen Bezüge. Themen wie Migration, Heimat, Nationalismus, Populismus waren damals bereits etabliert, wenn auch mit ganz anderen Protagonisten (etwa: Deutsche, die aufgrund wirtschaftlicher Not nach Amerika auswanderten). Jede historische Situation ist jedoch singulär. Und gerade durch die leichten Verschiebungen, etwa Nazis vor Wolkenkratzern, ergibt sich ein neuer Blick wie durch den Brechtschen Verfremdungseffekt. Ausserdem wurde dieses Thema bei uns bislang nicht behandelt, in der Wissenschaft besteht sogar ein Forschungsdefizit. Es reizte mich sehr, diese Lücke zu füllen.

Foto aus dem Archiv der Autorin

Man nannte sie in den USA „Enemy Aliens“. Feind allein hätte schon genügt. Sie wurden kollektiv verurteilt, interniert und abgeschoben. Im Einwanderungsland schlechthin (zumindest damals) ein Schicksal, das die Deutschen und Deutschstämmigen mit den Japanern nach Pearl Harbor teilen mussten. Feindbilder haben stets Konjunktur, sei es gestern oder heute, seien es die USA, Deutschland oder die Schweiz. Sind es bloss Ängste, die dahinterstecken?
Manche Ängste sind ja begründet. Das Schüren von Ängsten stört uns meist dann, wenn wir die politischen Ziele nicht teilen. Angst vor kultureller Überfremdung oder vor dem Verlust nationaler Identität scheint mir zum Beispiel substanzlos, die Angst vor den aufsteigenden Rechtspopulisten wiederum berechtigt. Zugleich stört mich heute der inflationäre Gebrauch des Wortes «Nazi», denn das verharmlost die Nazis von damals. Überhaupt: Beschimpfungen und Polemik helfen meist nicht, vernünftige Argumentation vielleicht manchmal doch.

Josef Klein las nicht viel, aber von Henry David Thoreau „Walden“. Josef wäre am liebsten einfach ein Mensch gewesen, der atmet, isst, schläft, arbeitet, manchmal mit Frauen flirtet. Einfach sein. Aber er merkt, dass das schwierig ist, umso mehr im Schmelztiegel New York. Warum ist Josef Klein nicht in die Wälder Nordamerikas gezogen?
Der Roman-Josef, ähnlich wie der echte Josef Klein (die natürlich nicht identisch sind), bewegt sich in New York zwischen Entwurzelung und Freiheit. Er flieht als junger Mann 1925 vor der Armut und dem Chaos der Weimarer Republik nach New York. Er lebt einfach, auch bindungslos, und kann sich dadurch gut durchschlagen. Er versucht, seinen deutschen Akzent zu verbergen, denn er will nicht der Deutsche sein, sondern einfach ein Mensch. Er scheint auf seinem Recht zu beharren, unpolitisch sein zu dürfen, was in politischen Zeiten aber nicht möglich ist. Man kann vielleicht sagen, das hindert ihn, die verhängnisvolle Situation rechtzeitig zu erkennen.
In den Wäldern wäre er diesen Verstrickungen sicherlich entgangen, aber er hätte es insgesamt schwerer gehabt. Auch Thoreau ist ja nach zwei Jahren wieder zurückgekehrt. Und ausserdem ist die Weltstadt New York ja auch eine Art Wildnis.

Josef Klein sitzt irgendwann in einem FBI-Gebäude. Ihm wird bewusst, wie naiv er war, wem er aufgesessen war, wie sehr er sich benützen liess. Und doch mobilisiert Josef Klein die Kraft, an einen Ausweg zu glauben, auch wenn es Jahrzehnte dauert. Ist ihr Grossonkel mit dem Schreiben ein anderer geworden?
Ich habe im Laufe des Schreibens immer besser verstanden, warum mich gerade Josef Klein als Figur so interessiert. Anfangs war ich einfach von dem abenteuerlichen Leben des Grossonkels fasziniert, den drei Identitäten; Josef, Joe und dann Don José, auch von den exotischen Orten. Nachdem ich mich durch die Recherche immer tiefer in das Thema eingearbeitet hatte, wich meine anfängliche Nachsicht dann doch einer kritischen Distanz, auch Unverständnis. Warum liess gerade er, der in Amerika dank der Presse alles über das verbrecherische Hitlerregime wissen konnte, sich in den Dienst für Hitlerdeutschland einspannen?
Aber Menschen wie er, gerade wegen ihrer Durchschnittlichkeit, sind für die Erkenntnis eigentlich noch interessanter. Josef ist eben kein brutaler Nazi, kein abstossender Rassist, der einem die Möglichkeit gibt, sich überlegen zu fühlen und die schöne Gewissheit zu haben, man selbst hätte damals bestimmt auf der richtigen Seite gestanden. Verstrickung und Schuld fangen viel früher an, und das gilt sicher auch in unserer komplexen globalen Welt heute. Man muss sich nicht gross anstrengen, um schuldig zu sein. 

Vergangenheit lässt sich nicht abschütteln, auch nicht auf einem anderen Kontinent. Die erste Szene in ihrem Roman beschreibt, wie Josef Klein 1953 in Costa Rica einen Brief seines Bruders Carl erhält, der begeistert von einer  STERN-Reportage über die Aktivitäten des deutschen Geheimdienstes in Amerika berichtet. Er ist kein Held. Auch kein Opfer, aber nie irgendwo angekommen. Ein Verlorener?
Das möchte ich tatsächlich nicht beantworten. Die Frage, wer er ist, und wie schuldig er ist, diese Frage umkreist der Roman permanent und auf indirekte Weise durch die wechselnden Schauplätze und auch mittels des übrigen Romanpersonals. Es gibt nahestehende Menschen, die ihn konfrontieren, prüfen, korrigieren, und auch verraten. Mir war dabei wichtig, Josef aus der Zeit selber heraus zu schildern, möglichst ohne das Mehrwissen von heute, ohne unsere Verurteilungsreflexe, aber auch ohne Verteidigung. Der Rest ist dem Leser überlassen. Literatur ist ja immer eine Einladung, selber zu entdecken und zu einem Urteil zu finden. 

Ulla Lenze, 1973 in Mönchengladbach geboren, studierte Musik und Philosophie in Köln und veröffentlichte insgesamt vier Romane, zuletzt «Der kleine Rest des Todes» (2012) und «Die endlose Stadt» (2015). Für ihre Arbeiten wurde sie mehrfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Jürgen-Ponto-Preis für das beste Debüt 2003, dem Rolf-Dieter-Brinkmann-Förderpreis und dem Ernst-Willner-Preis beim Bachmann-Wettbewerb. 2016 erhielt Ulla Lenze für ihr Gesamtwerk den Literaturpreis des Kulturkreises der deutschen Wirtschaft. Für ihren neuen Roman «Der Empfänger» hat sie die Lebensgeschichte ihres Grossonkels fiktional verarbeitet. Ulla Lenze lebt in Berlin.

Webseite der Autorin

Fotos © Julien Menand

Leona Stahlmann «Der Defekt», Kein & Aber

Ich lese, weil ich die Welt nicht aus den Augen verlieren will. Ich lese, weil sich die Welt der Gegenwart sonst in rasendem Tempo von mir entfernt. Und manchmal lese ich ein Buch, das mich daran erinnert, auch einmal jung gewesen zu sein. Kein Buch über die Unbeschwertheit, schon gar nicht die Leichtigkeit des Seins. Aber ein Buch wie das von Leona Stahlmann, das zeigt, dass es nicht erst die Welt der Erwachsenen braucht, um gefangen zu sein.

Sie lernen sich in der Schule kennen, im letzten Jahr, Mina und Vetko. Mina sieht sich nicht so wie die anderen Mädchen in der Klasse. Aber Mina sieht in Vetko, dem Aussenseiter, der alleine vorne in der ersten Reihe sitzt und um einiges älter ist alles alle andern, einen Verbündeten. Auch einen, der nicht ist wie alle andern im Dorf. Sie kommen sich näher. So nahe, dass die Spuren der Nähe auf Minas Haut unübersehbar werden. Mina sieht in der Art und Weise, wie Vetko ihr begegnet nur die immerwährend schwelende Bestätigung, dass an ihr etwas nicht stimmt. Etwas stimmt nicht, weil Vetko die Welt in unumstösslichen Sätzen zu erklären weiss, eine Welt,, die sie nicht versteht. Etwas stimmt nicht, weil sie genau spürt, dass die Bindung zu Vetko anders ist als das, was man als Liebe bezeichnet, wovon die andern Mädchen in der Klasse schwärmen. Etwas stimmt nicht, weil sich alles ineinanderfügt und sich niemand, schon gar nicht ihre Mutter oder jemand ander dem Strudel entgegenstellt, der Mina hinabzieht. Etwas stimmt nicht, weil Vetko sie permanent zu bestrafen scheint für eine Welt, die aus den Fugen geraten ist.

Leona Stahlmann «Der Defekt», Kein & Aber, 2020, 272 Seiten, 28.00 CHF, ISBN 978-3-0369-5821-7

Die Treffen zwischen den beiden finden in aller Heimlichkeit statt, verborgen vor allen. Treffen, an denen sich Vetko mit seinem sonderbaren Paarungsverhalten immer verletzender an Mina vergeht, Mina untertan macht, sie erniedrigt, knechtet, ihr Prüfungen auferlegt, die beweisen sollen, dass nur er der ist, der versteht. Aus Minas Faszination für den schlaksigen Einzelgänger wird tief eingegrabene Abhängigkeit. Vetkos Strenge scheint die Fortsetzung der mütterlichen Strenge zu sein. Vetkos gebieterische Art die einzige Möglichkeit, ihren Defekt zu kompensieren.

Mina rutscht immer tiefer in die Abhängigkeit, tut alles, um Vetko zu genügen, fügt sich seinen Verboten und Geboten. Und obwohl sie immer wieder einmal den Versuch unternimmt, Distanz zwischen sich und Vetko zu bringen, siegt immer wieder die Angst, sie würde die letzte Orientierung, den letzten Halt verlieren.

Leona Stahlmann schildert hart. Nicht nur das, was an verletzenden Körperlichkeiten zwischen den beiden geschieht. Was ihren Roman zum Leseerlebnis macht, ist nicht die Drastik der Geschehnisse, die sie beschreibt, sondern der diametrale Kontrast ihrer Sprache zum Geschehen. Sie schreibt nicht in Grautönen, scharf gezeichnet. Sie mäandert mit der Sprache. Was sie beschreibt, sind nicht bloss die Spuren auf Minas Haut, die blauen Flecken, das Leben, das wie Säure in den Rachen rinnt. Leona beschreibt, was innen bleibt, tut das in einem Sound, der flirrend luftig rockt, der sich aufbauscht, Kapriolen schlägt. Ein Ton, der einem berauscht und betört. So sehr die Geschichte nach unten zieht, bis zum letzten Satz, so sehr erhebt sich die Sprache in ungewohnte, fast schwindelnde Höhen.

Leona Stahlmann beschreibt, wie weit weg der eigene Planet abdriften kann, wie sehr man sich auf der Suche nach Echtheit, nach seiner eigenen Kontur, nach Liebe verlieren kann. Literatur für mutige LeserInnen. Literatur, die mich nicht so leicht wieder entlässt. Ein Roman, der ein Versprechen für die Zukunft ist!

© Benjamin Gutheil

Ein Interview mit Leona Stahlmann

Was will ich mehr, als mit Literatur in Welten eintauchen. Auch in fremde Welten. Mit ihrem Roman geschieht genau das, auch wenn die Dorf-, Schul- und Landschaftskulisse vertraut ist. Umso mehr überrascht, dass Sie eine Welt ausleuchten, von der ich wenig Ahnung habe, eine Welt, die sich hinter all den Idealbildern verbirgt, die uns glauben machen, die Zeit zwischen Kindheit und Erwachsensein sei nur ein Übergang. Ist das Aufklärung?
Aufklärung ist ein Lichtphänomen: eine eintretende Helligkeit an einer Stelle, die vorher nicht nur dunkel, sondern vielleicht sogar unsichtbar gewesen ist. Ich belichte mit diesem Buch gewohnte Bilder neu, zeige das Fremde in ihnen und darauf dem Leser, der Leserin, was dieses gefundene Fremde mit ihnen zu tun hat, wieviel von Ihnen, den Lesenden, mir, jedem Menschen im vermeintlich Abstossenden, in der Ausleuchtung der dunklen Ecke steckt.

Die Geschichte kontrastiert mit der Sprache und macht damit die Geschichte noch viel stärker. Ihr Buch erzählt nicht nur einfach vom Leiden einer jungen Frau, den Abhängigkeiten, der Suche nach dem Echten und Wirklichen. Sie erzählen in einer Sprache, die üppig und verspielt sein kann, grosse Musikalität beweist. War das die Absicht vom Beginn des Schreibens weg?
Ja, absolut. Ein Buch ist ein flexibler Container, der immer die Form seines Inhalts annehmen muss.  Das Grausame und Harte und Zerrissene kann man, muss man schön, üppig, manchmal gar schmeichelnd erzählen, damit es auf die Seele wirkt, nicht nur auf den Verstand. 

Mina ist ein Mädchen, eine junge Frau, die sucht, verzweifelt sucht. Die einen werfen sich in Ideologien oder Religionen. Mina in die Arme eines dunklen Propheten, der sie immer wieder zwingt, ihre Loyalität zu beweisen. Und doch schimmert in keiner Zeile ihres Romans eine Verurteilung durch, schlussendlich nicht einmal Hoffnung. Sind das die Auswirkungen all dessen, was durch die globalen Bedrohungen verloren geht; die romantische Hoffnung einer besseren Zukunft?
Dunkler Prophet, das gefällt mir sehr, auch wenn es ein falscher Ausdruck ist. Ich empfinde die Figur Vetko gar nicht als dunkel; er verdunkelt höchstens absichtlich einen Teil der überkomplexen Wahrheiten unserer verstrickten Zeit, um es sich einfach zu machen, sperrt einen Ausschnitt der Welt ab, der ihm passt, um ihn überschaubar zu halten. Ob das das Ende einer romantischen Hoffnung bedeutet oder ihren Anfang, habe ich bewusst offen gehalten; das mag ein anderer entscheiden, am Besten jeder Leser, jede Leserin für sich (und mir gern davon erzählen).

Vetko weiss es. Nur alle anderen wissen es nicht. Und Vetko weiss intuitiv, wieviel Angst er bei Mina mobilisieren muss, dass sie in seiner Abhängigkeit hängen bleibt. Eine Metapher für viel grössere Zusammenhänge?
Natürlich – dieses Buch funktioniert in Deutungsspiralen, die sehr gross gezogen werden können, bis zur globalen Spannweite, wenn man es möchte. Aber man muss es nicht.

Wir leiden alle unter Defekten. Die eine zerstörerischer als die andern. Ist Schreiben eine Form des Kampfes dagegen? Gegen den Defekt? Schreiben, ein fertiges Buch als ein ganz kleines Stück Paradies, das man zurückgewonnen hat?
Ein fertiges Buch ist wohl eher eine kleine Hölle, die man losgeworden ist auf ein paar hundert Seiten, sicher verstaut hinter zwei Pappdeckeln. Am Besten gehört übrigens ein Schuber drumherum, dann sind die Ungetüme darin garantiert ausbruchssicher. Beim nächsten Buch vielleicht 😉

© Pablo Heimplatz

Leona Stahlmann, geboren 1988, lebt in Hamburg und arbeitet als Autorin, Journalistin und Veranstalterin. 2017 gewann sie den Hamburger Förderpreis für Literatur, 2018 war sie Stipendiatin der Romanwerkstatt des Literaturforums im Brecht-Haus in Berlin und gewann den ersten Wortmeldungen-Förderpreis. «Der Defekt» ist ihr Debütroman.

Beitragsbild © Simone Hawlisch

Wolfgang Hermann «Walter oder die ganze Welt», Limbus

Was tun, wenn man mit einem Mal merkt, dass die Welt, von der man glaubte, sie sei es, man kenne sie, kenne sich in ihr aus, nicht die ist, an die man mit Standfestigkeit glaubte? Was tun, wenn sich hinter der Einsicht ein Abgrund öffnet, wenn man die Türe, die man öffnete, nicht mehr zu schliessen ist. In der schmalen Erzählung von Wolfgang Hermann spiegelt sich die geballte Wucht einer Ernüchterung.

Walter ist Polizist in einer Kleinstadt auf der österreichischen Seite des Rheintals. Wenn er nicht auf seinem Posten sitzt und den Blick über das pulsierende Leben seiner Stadt schweifen lassen kann, steht er am liebsten seinen Mann in der Trommel, auf der wichtigsten Kreuzung der Stadt auf einer rot-weiss karierten Trommel, den Verkehr weisend, regulierend, den Strom von Nord nach Süd und umgekehrt, das grosse Brausen dirigierend. Er hat es gar zu einer gewissen Berühmtheit gebracht, denn die halbe Stadt scheint ihn auf seinem Podest zu grüssen. Dort lenkt er den Fluss, gibt der Anarchie eine Richtung. Auch zuhause geht alles seine geregelten Bahnen; seine Frau erblüht an seiner Seite und weiss, wo ihr Platz ist. Die Tochter und der Sohn sind nicht infiziert von den langmähnigen, bunt gekleideten Hippies, die sich auf einer nahen Alp, der Lichtheimat, dem Geistigen und Kosmischen zuwenden, wenn auch mit allerhand Kraut.

Die Stadt ist ruhig. Und doch spürt Walter, dass der Frieden an den Rändern wegzubrechen droht. Zum einen ist es Herr Hummel, der Mann, der ihm wie die Sonne morgens und abends Sicherheit gab, dass die Normalität, das Stetige die Konstante in seinem Leben sein wird. Eines Morgens erscheint Herr Hummel nicht mehr, spaziert nicht mehr in seiner absoluten Regelmässigkeit an der Polizeiwache vorbei, bleibt nicht nur für einen oder zwei Tage aus, sondern verschwindet von der Strasse. Zum andern führt ihn Pflichtbewusstsein und die Sorge um Herrn Hummels Sohn per Dienstweg bis hinauf zum Lichtheimat. Dorthin, wo die Strassen längst aufhören, in ein Haus, dass sich mit seinen BewohnerInnen allen Regeln der Normalität zu entziehen versucht. Ausgerechnet an jenem Tag dampft und raucht das Haus aus allen Poren. Walter, der Polizist trinkt einen Tee, isst einen Keks. Und bricht weg.

Wolfgang Hermann „Walter oder die ganze Welt“, Limbus, 2020, 96 Seiten, 21.90 CHF, ISBN: 978-3-99039-167-9

«Walter oder die ganze Welt» ist die Geschichte einer Vertreibung aus dem Paradies. Auch wenn Walter keinen Apfel vom Baum der Erkenntnis isst, sondern nur einen Keks. Obwohl Walter weiss, dass sein Sündenfall wie jener der Urmutter Eva nicht vorsätzlich war, für einen Polizisten nicht unwichtig, er nie und nimmer zurück in jenen Rausch des absoluten Kontrollverlusts will, ist nichts mehr, wie es einmal war. Aber auch er selbst. Das merkt auch seine Frau, merkt seine Umgebung, sogar die Menschen in den Autos, die auf der Kreuzung an der Trommel, auf der Walter den Verkehr mit leer gewordenem Gesicht zu lenken vorgibt, die an ihm plötzlich ungegrüsst vorbeifahren. Mit einem Mal ist klar, dass die kleine Ordnung, von der Walter glaubte, er sei der Wächter, von einer grossen Unordnung bedroht wird, dass das Fundament seines Lebens, seiner Existenz bloss vor Kulissen gebaut war. Kulissen, dünnwandig, hohl, seine Illusion.

Wolfgang Hermann schreibt sich nicht in die Personen hinein, schlüpft nicht in seine Protagonisten, leuchtet nicht aus. Wolfgang Hermann schreibt aus den Protagonisten hinaus. Obwohl nicht in der Ich-Form geschrieben schafft es der Autor, mich als Leser durch die Augen am Untergang einer Welt teilzuhaben. Einer grossen Ernüchterung, der im Kleinen oder Grossen alle Erdbewohner ausgesetzt sind. Der grossen Feststellung, dass alles doch anders ist, als man es sich im Laufe eines Lebens zusammengeschustert hat. Dass die kleine Stadt im Rheintal eben doch nicht der Nabel der Welt ist, nachdem man irgendwann feststellt, das sich die Erde nicht um einen selbst dreht. Dass Ruhe und Gleichförmigkeit mehr als trügerisch sind. Dass alte Strukturen selbst nach einem Neuanfang nach dem 2. Weltkrieg nicht einfach zu wirken aufhören. Dass die eigene Wahrheit nicht allgemeingültig ist.

Wolfgang Hermanns schmales Buch ist alles andere als schmalbrüstig. Zwar leicht und witzig erzählt, aber um die grossen Themen und Fragen des Lebens kreisend. Ein literarisches Kleinod, wunderbar gestaltet und herausgegeben vom kleinen Limbus Verlag, bei dem es sich lohnt, auf der Webseite zu stöbern!

Interview mit Wolfgang Hermann

Die Selbstzweifel Ihres sympathischen Protagonisten gipfeln in der Frage, ob er den eigentlich überhaupt zum Polizisten tauge. Ganz offensichtlich werden nicht alle Menschen von Selbstzweifeln bedrängt. Ist das der Unterschied zwischen Politik und Kunst? PolitikerInnen, je mächtiger, desto freier von Selbstzweifeln? KünsterInnen, je schöpferischer desto näher am permanenten Selbstzweifel?
Zum Politiker taugt, wer keine Selbstzweifel kennt. Feinnervige, zurückhaltende Menschen haben in der Politik nichts verloren, sie werden dort aufgerieben. Man werfe einen Blick auf die neuen Bulldozer-Politiker, die unsere Zeit bestimmen: da ist keine Selbstreflexion zu erwarten. Und viel Gutes auch nicht.
Ein schöpferischer Mensch hingegen weiss, dass er mit seiner Arbeit auf einem Drahtseil tanzt. Und wenn er genau hinsieht, fehlt sogar das Seil, er arbeitet in der Luft.

Wer durch irgend eine Tür der Erkenntnis geht, weiss, dass es kein Zurück gibt. Ist das beschönigende, verklärende Erinnern die Sehnsucht nach dem Paradies?
Ich habe in meinem Buch keine Idylle geschaffen. Der harmlos zärtliche Tonfall trügt: Die jungen Menschen in der Vorarlberger Kleinstadt der Siebzigerjahre sehen sich einer kalten, abweisenden Welt gegenüber, die ihnen keine Chance lässt, als sich anzupassen. Es gibt keinen Raum für sie ausser den der Resignation. Und einige von ihnen gehen daran zugrunde.
Polizist Walter ist liebevoll tollpatschig gezeichnet, aber die Realität der Kleinstadt und des kleinen Landes ist trüb und steckt noch fest im alten überkommenen Denken aus der NS-Zeit.

Walter, der mehr als ein halbes Leben lang glaubte, er sei es, der dirigiere, mit Sicherheit auf der rot-weiss gestreiften Trommel in der Kreuzung in seiner Polizistenuniform, muss einsehen, dass er eigentlich nur reagiert. Und das nicht einmal in der Gegenwart, sondern fast nur auf die Auswirkungen der Vergangenheit, einer modrigen Vergangenheit. Die Stadt, die Sie beschreiben, ist «Ihre» Stadt. Ist Schreiben, Dichten, ein Teil Ihrer Sehnsucht, wenigstens ein ganz kleines Stück zu «dirigieren»?
Mit dieser Geschichte habe ich mich auch selbst „behandelt“, denn ich war ja einer dieser verlorenen jungen Menschen damals in der kalten Stadt. Wahrscheinlich ist Schreiben meistens Selbstbe- und -verhandlung. Es ist die Chance, die Vergangenheit neu zu gestalten, ein wenig menschlicher und weicher.

Walter wird von der Zeit, vom Leben überrollt. Hätte er auch Lehrer, Pfarrer oder Goldschmied sein können? Was reizte Sie am Polizisten, der als literarisches Personal sonst nur für den Krimi geeignet scheint.
Polizist Walter war eine Legende im Dornbirn der Siebzigerjahre. Er dirigierte das Orchester der Autofahrer auf unverwechselbare Art, redete mit jedem einzelnen Autofahrer, vor allem aber mit sich selbst. Er ist ein fester Bestandteil meiner Kindheit. Ich wollte schon lange über ihn schreiben. Natürlich ist alles erfunden, aber den Polizisten Walter gab es wirklich.

Ist das «Fremdhässig-sein», das auf der Welt wie ein Virus zu wüten scheint, in einer funktionierenden Gesellschaft unüberwindbar?
Die Zuwanderer trugen fremdes «Häss», das bedeutet im Dornbirner Dialekt Kleidung, hat also nichts mit Hass zu tun. Der steigt freilich in unserer Gegenwart in bedenklichem Masse. Ich fürchte, ich habe dagegen kein Rezept. Die Literatur führt ohnedies ein Dasein in der Nische.

Wolfgang Hermann, geboren 1961 in Bregenz, studierte Philosophie und Germanistik in Wien. Lebte längere Zeit in Berlin, Paris und in der Provence sowie von 1996 bis 1998 als Universitätslektor in Tokyo. Zahlreiche Preise, u. a. Anton-Wildgans-Preis 2006, Förderpreis zum Österreichischen Staatspreis 2007; zahlreiche Buchveröffentlichungen, unter anderem «Abschied ohne Ende» (2012), «Die Kunst des unterirdischen Fliegens» (2015) und «Herr Faustini bleibt zu Hause» (2016). Bei Limbus: «Paris Berlin New York» (Neuauflage als Limbus Preziose 2015), «Konstruktion einer Stadt» (2009), «Schatten auf dem Weg durch den Bernsteinwald» (2013), «Die letzten Gesänge» (2015) und «Das japanische Fährtenbuch» (2017).

Steffen Schroeder «Mein Sommer mit Anja», Rowohlt

Während eines Sommers kann sich alles ändern. Alles. Zumindest für einen Jungen zwischen Kindheit und Erwachsensein. Die festgelegte Ordnung, das ewige Ticken des Einerlei, die Selbstverständlichkeit, die man nie in Frage stellt, obwohl einem die Welt der Erwachsenen suspekt erscheint. Steffen Schroeder hat in seinem Roman die Hitze eines Sommers nacherzählt, die Hitze über einem kleinen Stück Glück, das verglüht.

Konrad teilt den Sommer mit Holger, einem geistig behinderten Jungen aus der Nachbarschaft, der in jenem Sommer zwar achtzehn wird, seinen um einige Jahre jüngeren Freund aber wie einen grossen Bruder sieht. Für ein paar Sommerwochen befreit von der Schule verbringen sie ihre Tage im Freibad Floriansmühle, nicht zuletzt deshalb, weil sie sich ihr karges Taschengeld durch Pfandflaschengeld aufbessern können, weil Konrad nicht viel anzufangen weiss mit dem wichtigtuerischen Gehabe seiner Klassenkameraden und weil die Mädchen in seinem Alter auf einem andern Stern leben. Weil er mit den Jungs, die Fussball spielen nicht mithalten kann und weil ihm die ewigen Streitereien seiner Eltern auf den Wecker gehen.

Erstes Zeichen dafür, dass der Sommer nicht sein wird, wie all die andern bisher, ist das Versteck, das er und Holger im Unterholz verborgen finden, der tote Specht unter ihrem Kletterbaum und die Plastiktüten in ihrem Versteck, die verraten, dass sie nicht die einzigen sind, die das Versteck nicht weit vom Bach nutzen.

Anja taucht auf. Ein Mädchen, das so ganz anders ist wie alle, die er sonst kennt. Anders als Jasmine, die Schwester seines reichen Klassenkameraden, die in ihren rosa Klamotten aussieht wie aus einer Mädchenzeitschrift entstiegen. Anja hat kurze Haare, als wären sie selbst geschnitten, trägt Kordhosen, keine Jeans wie alle andern, kennt jedes Kraut, das wächst und gibt sich selbst im Freibad, als sie sich umzieht, unbekümmert, als ginge sie die Welt rundum nicht wirklich etwas an.

Steffen Schroeder «Mein Sommer mit Anja», Rowohlt, 2020, 208 Seiten, 28.90 CHF, ISBN: 978-3-7371-0071-7

Konrad ist gleichermassen fasziniert wie Holger. Erst recht als klar wird, dass Anja vom nahen Heim ausgebrochen ist und klar macht, dass sie lieber sterben würde, als in den Bau zurückkehren zu müssen. Aus einer zaghaften Annäherung wird ein Dreigespann. Und als Anja immer mehr Nähe zulässt, Konrad bittet, ihr Geschichten zu erzählen, als sich die Tage nur noch um ihr Zusammensein zu drehen beginnen und Konrad in Kauf nimmt, von seinen Eltern Schelte zu kassieren, schleicht sich jenes Verliebtsein ein, jene zarte, erste Liebe, die alles andere zur Nebensache werden lässt. Sie sitzen am Fluss, nehmen Anja mit ins Freibad, sie hocken in ihrem Versteck oder stromern durch die Gegend.

Aber Konrad spürt, dass er durch Anja einer Welt begegnet, die mit der seinen nichts gemein hat. Was Anja erzählt, ist wenig. Der Sommer wird zu einer Blase ohne Vergangenheit, ohne Zukunft. Erst als Konrad und Anja im Wald bei wild gebauten Hütten von Stadtstreichern aufgestöbert werden, als in den Zeitungen von einem aus einem Heim ausgebüxten Mädchen geschrieben wird, als Konrad und Holger sehen, mit welcher Gier das Mädchen die von zuhause mitgebrachten Lebensmittel vertilgt, spürt Konrad, dass seine Welt mit der des Mädchens nicht viel gemein hat. Trotz all der Nähe, den zaghaften Berührungen, den flüchtigen Küssen. 

Steffen Schroeder erzählt von einem heissen Sommer, in dem Konrad seine Unschuld verliert. Von einem Sommer, der ihn aus der Kindheit katapultiert. Von einem Sommer, der ihn mit einer offenen Wunde zurücklässt, in dem der Verrat über die Liebe siegt und das eigene Tun und Lassen zu einer Katastrophe werden kann. Konrads Ahnung, dass das Leben nicht bloss aus Wassereis, den Top Ten aus dem Radio und der Sehnsucht nach Nähe besteht, dass es ein Leben ausserhalb aller Konventionen gibt, an der Grenze zwischen Kindheit und Erwachsensein, bricht über den Jungen, wie Hagel, Blitz und Donnerschlag zugleich.

„Mein Sommer mit Anja“ ist die Geschichte von der Vertreibung aus dem Paradies.

Interview mit Steffen Schroeder:

Konrad und Holger haben ein Geheimnis. Anja. Aber vielleicht macht das das Wesen von Geheimnissen aus. Der Unterschied zwischen jenen in der Kindheit und jenen als Erwachsener. Ein Geheimnis ist nicht einfach nur mehr etwas Verborgenes, sondern das, was den Träger eines Geheimnisses zum Schuldigen macht, wenn auch nur sich selbst gegenüber. Konrad erfährt existenziell, dass Geheimnisse tiefe Wunden reissen können. Ist Schreiben eine Form der Wundheilung?
Für mich auf jeden Fall. Ich habe schon als Kind Erlebtes in kleinen Geschichten verarbeitet oder in Tagebucheinträgen. Es gibt Texte, die schreibe ich nur für mich. Und andere, bei denen ich mich sehr freue, wenn ich sie mit möglichst vielen Menschen teilen darf.

In der Kindheit wächst man auf in der von den Eltern mehr oder weniger behüteten Familie. Die Pubertät ist nicht nur die Zeit der Verselbstständigung, der Loslösung, sondern auch die Zeit der Ernüchterung darüber, dass die Welt nicht den eigenen Vorstellungen entspricht. Wird die Ernüchterung nicht mit jedem Jahrzehnt schmerzhafter, so sehr, dass die Jugendlichen der Gegenwart allen Grund hätten, einer kollektiven Depression zu verfallen?
Das glaube ich nicht. Der Spruch „Früher war alles besser“ galt ja schon immer. Und ich stelle fest: So sehr mich dieser Ausspruch als Kind genervt hat – mit zunehmendem Alter muss man aufpassen, ihn nicht selbst zu verwenden. Letztens las ich einen Artikel, der mit einer Abhandlung über den kuriosen Umstand begann, dass heutzutage jeder überallhin reist. Der Witz war: Die so heutig wirkende Einleitung stammte von Theodor Fontane.
Und was die Depression angeht: Die Jugendlichen von heute haben unglaubliche Möglichkeiten und Freiheiten, wie es sie in diesem Ausmass noch nie zuvor gegeben hat: Man kann sich frei entscheiden, welchen Beruf man ausüben will, wo man leben will, ob und wen man heiraten will, welche Form der Sexualität man leben will und welches Geschlecht man gerne haben möchte. Die Kehrseite der Medaille: Wenn alles offen ist, muss man überall Entscheidungen treffen. Und das ist nicht immer einfach. Hinzu kommt die Angst: Jede Entscheidung, die ich treffe, kann die falsche sein. Und schliesst automatisch eine andere Option aus. So grossartig und verlockend diese Freiheit ist, ich stelle im Umfeld meiner grossen Söhne fest: Viele Jugendliche tun sich nach dem Abitur schwer, überhaupt irgendeine Entscheidung zu treffen, egal in welchem Bereich. Und verfallen in eine Depression. Das kann ich durchaus verstehen.
Übrigens fällt mir dazu ein: Ich habe mich ja bei meinem ersten Buch ausgiebig mit dem Gefängnis und seinen Insassen beschäftigt. Und genau dieses Verhalten kenne ich auch von Langzeithäftlingen, die nach vielen Jahren vor der Entlassung stehen. Die plötzlich in Aussicht stehende Freiheit, Freiheit auf allen Ebenen, überfordert sie. Und sie werden häufig depressiv. Ich glaube, Freiheit muss man lernen.

Holger, Konrads Freund, ist zurückgeblieben, Konrad der einzige, der ihm nicht die kalte Schulter zeigt, Holgers Mutter eine Frau mit langen schwarzen Haaren und dem Kämpferherz eines Indianers. Holger, seine Mutter, Anja – alles Figuren, die nichts mit der Biederkeit der späten Achtziger gemein haben. Kann man sich allein durch Erinnerung in jene Zeit zurückschreiben oder brauchten sie Hilfe; Bilder, Geschmäcker, Düfte, Musik, Filme?
Vielleicht kann man es, aber mir wäre es definitiv zu trocken. Und so habe ich mich all dieser Hilfsmittel bedient: Musik, Geschmackssinn und Gerüche funktionieren bei mir da besonders gut – mit diesen „Transportmitteln“ konnte ich mich schlagartig in die 80er Jahre versetzen und hatte viel Spass daran!

Sie sind Schauspieler und Schriftsteller. Geben Sie sich mit ihrem Roman die Hauptrolle in ihrem eigenen, inneren Film? Oder entspricht das Schreiben viel mehr der Sehnsucht nach einer gewissen Ordnung im Leben?
Das Schreiben ermöglicht mir Geschichten so zu erzählen, wie ich sie fühle. Das ist das Grossartige daran. Ich kann alles laufen lassen, so wie es in mir entsteht. Das ist eine grosse Freiheit, die ich gar nicht genug schätzen kann.
Als Schauspieler unterstehe ich ja immer einem Regisseur, der wiederum einem Intendanten untersteht, der wiederum auch von politischen Gegebenheiten abhängig ist. Oder ich folge den Anweisungen eines Fernsehregisseurs, der einen Produzenten zufriedenstellen muss, der es wiederum seinem Redakteur Recht machen will und dieser seinem Chefredakteur; die Quote muss am Ende stimmen und so weiter… und dann spielt das Geld natürlich noch eine Riesenrolle.
Da stellt sich oft nicht mehr die Frage, wie erzählen wir unsere Geschichte am schönsten? Sondern wie erzählen wir die effektvollste Geschichte, zum günstigsten Preis, mit breitestmöglicher Zielgruppe?
Wenn ich jedoch schreibe, kann ich alles einfach so entscheiden, wie es der Geschichte dienlich ist – und Punkt. Zumindest wenn man das Glück hat, bei so einem wunderbaren Verlag wie Rowohlt Berlin zu sein. Für mich ein riesiges Geschenk.

Das Schreiben eines Buches begleitet einem über Jahre. Es teilt Leben bis in die kleinsten, feinsten Sequenzen. Und selbst, wenn die Musik jener Zeit in ihrem Roman eine wichtige Rolle spielt, bleiben die Bilder über lange Strecken stumm. Was ist der Schriftstellerei und der Schauspielerei gemeinsam?
Letztendlich geht es doch immer ums Geschichten erzählen, ob als Schauspieler oder als Schriftsteller. Ich denke, da kommen diese beiden Berufe her. Vor langer, langer Zeit sind Minnesänger durch die Lande gereist und haben den Menschen ihre Geschichten erzählt und vorgetragen. Aus diesem Beruf sind Schriftsteller und Schauspieler hervorgegangen. Insofern liegt für mich beides ganz nah beieinander. Und auf einen Nenner gebracht: Egal ob ich spiele oder schreibe: Ich möchte gerne Menschen berühren. Darum geht es mir.

© Anne Heinlein

Steffen Schroeder wurde 1974 in München geboren. Nach seiner Schauspielausbildung war er zunächst Ensemblemitglied am Wiener Burgtheater, dann beim Berliner Ensemble. Er wirkte in Fernsehserien und Kinofilmen mit. 2017 erschien bei Rowohlt «Was alles in einem Menschen sein kann. Begegnung mit einem Mörder». Steffen Schroeder lebt mit seiner Familie in Potsdam.

Webseite des Autors und Schauspielers

Igor Rems «Wallfahrten», ein Abend mit dem Dichter und Maler

Igor Rems, Dichter und Maler, in Montenegro und in Köln wohnhaft, verbrachte, kurz bevor die Pandemie das kulturelle Leben der Schweiz lahmlegte, einige Tage bei Freunden in Zürich. Gelegenheit genug, einen Mann kennenzulernen, der beide Ausdrucksformen mit grosser Leidenschaft betreibt, für die Leidenschaft lebt, sowohl sprachlich wie bildnerisch in zwei „Sprachen“ sein Publikum zu fesseln weiss.

ANYBODY  SEEN  MY  BABY

Незнам у ком ћу кругу
Срести Твоје смеђе увојке
Груди уздигнуте до месеца
Оставих звук песка потопљеном уху
Злато и ваздух грлу ужареном
Израњаш голим гласом
Попут бескраја
Спајаш море са тамом
Узимам прстен самоће
Пустиња сам
Где ни речи не расту 

A ANYBODY  SEEN  MY  BABY

Webb werde ich dich wohl wiedersehen
Deine braunen Locken
Deine Brüste zum Himmel erhoben

Der Klang des Sands bleibt im Ohr versinken
Luft und Gold in der kühlen Kehle

Du tauchst auf mit nackter Stimme
Verbindest Meer und Dunkel
Zum unendlichen Sein

Ich nehme den Ring der Einsamkeit

Wüste bin ich
Wo nicht einmal Worte wachsen

Es sind Liebesgedichte. Aber viele dieser Gedichte sprechen aus der Einsamkeit. Es heisst: „Ich nehmen den Ring der Einsamkeit.“ So wie man den Ring der Liebe nimmt. Ist die Einsamkeit der Boden der Sehnsucht?
Da, samoca moze, ali ne mora, da bude osnovna pokretacka snaga ali isto tako moze da bude i nesreca, euforija, sve zavisno u kakvom emocionalnom krugu se pesnik nalazi i na koji nacin spreman da to zabelezi.
Ja, Einsamkeit kann, muss aber nicht die Antriebskraft sein. Genauso kann es auch Unglück, Euphorie sein, immer abhängig davon, in welchem emotionalen Kreis sich der Poet befindet, und auf welche Art und Weise er bereit ist, es niederzuschreiben. 

So wie die Einsamkeit durch ihre Gedichte spricht, so ist es die Leidenschaft. Ist Leidenschaft nicht genau der Motor, der Kunst, sei es Literatur oder Malerei entstehen lässt? Leidenschaft als eine Form des ungestillten Hungers?
Moze se tako reci – gladi za ljubavlju, gladi za dodirom, duhovne gladi…
Man kann es so sagen – Hunger nach Liebe, Hunger nach Berührung, spiritueller Hunger…

Im Unterschied zu ihren Bildern, die sich an Gegenständlichkeit halten, sind ihre Wortbilder verschlüsselt, viel mehr dem zugewandt, was zwischen den Zeilen steht. Und trotzdem können Malerei und Lyrik, was das Gebot der Objektivität nie kann; das Rätsel stehen lassen, so wie in ihrem Gedicht mit dem Titel „Peter Handke“, in dem ein Leser wie ich viel zu schnell nach Zeichen sucht. Ist Lyrik eine Sprache in der Sprache?
Apsolutno, mislim da je poezija zaista „jezik“ u „jeziku“, narocito je to izrazeno kod hermeticnih pesnika koji su okrenuti ka metafizickom izkazu.
Absolut! Ich denke, dass Poesie tatsächlich Sprache in der Sprache ist. Insbesondere fällt es bei den hermetischen Poeten auf, die sich metaphysisch ausdrücken.

Was passiert, wenn ein Gedicht von seiner ursprünglichen Sprache in eine andere übersetzt wird, die man wohl versteht, in der man aber nicht kreativ schreibt. Entfernt sich das Gedicht?
Mislim da bih na to mogao da dam odgovor kada bih jos jedan jezik poznavao kao svoj maternji jer onda covek ima najbolji pregled.Znacenje nekih reci na jednom jeziku tesko se moze transponovati na drugom bar je tako sa srbskim i nemackim, tako da se sintaksa ne poklapa i verovatno se onaj lepi rafinirani sarm jednog jezika gubi prevodom.
Ich denke, dass ich darauf antworten könnte, wenn ich noch eine Sprache sprechen würde wie meine Muttersprache. Denn dann hätte man den besten Vergleich. Bedeutungen gewisser Worte kann man nur schwer in eine andere Sprache übersetzen. Im Serbischen und Deutschen ist nur schon die Syntax sehr unterschiedlich, und wahrscheinlich verliert sich der schöne, raffinierte Charme einer Sprache durch die Übersetzung… 

Шума се рађа у мојим очима од земље

Црни храст пробија теме -химну моје радости
Гране ударају у манастирско звоно
Нарасло од млека звезда од зрелог камења
Напуштам те да бих Ти се изнова вратио
Повезани попут корења враћаш ме праГласу
Завичајном водом опран силазим у огањ сећања
Не могу да Те волим иако си прогутала
Сву моју таму и црно моје семе  

Ich kann dich nicht lieben

Der Wald erwächst in meinen Erdaugen.
Die schwarze Eiche durchbricht den Scheitel,
Meiner Freude Hymne.
Die Äste schlagen gegen die Klosterglocke,

Entsprossen den milchweissen Sternen,
Dem reifen Gestein.
Ich verlasse dich, um erneut zurückzukehren,
Wie Wurzeln verbunden, gibst du mich
Der Urstimme wieder.
Gereinigt vom Heimatwasser steig’
Ich hinab ins Erinnerungsfeuer.
Ich kann dich nicht lieben,
Auch wenn du verschlangst
All mein Dunkel und meinen schwarzen Samen.

Sie erzählen auch von der Liebe zu ihrer Heimat, wie im Gedicht „Ich kann dich nicht lieben“, in dem diese eine Zeile im Titel und fast am Schluss des Gedichts zeigt, wie sehr Liebe mit Schmerz verbunden ist. Dort steht auch „Gereinigt vom Heimatwasser steig’ / Ich hinab ins Erinnerungsfeuer.“ Heimat verbunden mit den Elementen Wasser und Erde, an anderer Stelle mit Luft und Erde. Was bedeutet Heimat für Igor Rems?
Otadzbina je za meine sve: Drvo, Sekira, Stit!!!
Heimat ist für mich alles: Holz, Axt, Schild (Schutz)!!! 

ЋУТЊA

Ћутња је птица

Уздрхтала кугла перја
Лет
У зрачној свадби тренутка

Ћутња је мирисна свила осмеха
У тиха свитања
Када морска копрена
Обруби успомена жар

Ћутња је дрво
Секира
Штит

Ћутња је исликани зид
Пред којим покорно клечимо у молитви

Ћутња је разцветала трешња
У прегибу препона
Језива тама која отвара
Снажна мушка једра

Ћутња је покрет тела

У немом завеслају
Бездан звезда
У бескрајном воденом кругу

Ћутња је шутња
Близнакиња
Љубав

Ћутња је слобода избора

Schweigen

Schweigen ist ein Vogel
Zitterndes Federknäuel
Flug
In strahlende Hochzeit des Augenblicks

Schweigen ist duftende Seide des Lächelns
Im stillen Morgengrauen
Wenn dünne Meeresflut
Die Glut der Erinnerung hüllt

Schweigen ist Baum
Axt
Schutz

Schweigen ist die bemalte Wand,
Vor der wir gefügig knien im Gebet

Schweigen ist der Kirschbaum in Blüte
Die Scham in der Leiste
Unheimliches Dunkel
Das starke Manneskräfte weckt
Stummer Ruderschlag des Körpers
Sternenabgrund in endlos blauen Kreis

Schweigen ist Schweigen
Zwilling
Liebe

Schweigen ist die Freiheit der Wahl

In ihrem Gedicht „Schweigen“ besingen sie den Zwilling der Liebe. Dieses Gedicht ist auch eine Kampfansage gegen das Dröhnen der Gegenwart. In der letzten Zeile schreiben Sie „Schweigen ist die Freiheit der Wahl“. Und doch liebe Welten zwischen Schweigen und Verstummen. Wer verstummt, nimmt sich und verliert sie gleichzeitig – die Wahl. Im gleichen Gedicht heisst es „Schweigen ist Baum / Axt / Schutz“. Erklären Sie dieses Dreigespann?
U nasoj mitologiji Drvo ima posebno znacenje, narocito Hrast i Lipa kao i sekira, nasi preci su nazivani Narod pcele i sekire i tu se kriju znamenja, koja  kod neupucenog izaziva nedoumicu mozda i nemogucnost da do pesme dohodi da je vidi iznutra!
In unserer Mythologie hat Holz eine besondere Bedeutung, insbesondere Eiche und Linde, wie auch die Axt. Unsere Vorfahren wurden als Volk der Bienen und der Axt genannt. Darin sind Zeichen versteckt, die bei nicht informierten Leserschaft Verwirrung und Zweifel hervorrufen könnten, vielleicht auch die Unmöglichkeit sich dem Gedicht anzunähern, es von innen zu erfassen.

ПИСМО  МАЈЦИ
Мајко

Годинама пријањам за тле
Зрелошћу кротим осећања
Откривам неиспијени океан
Твоје љубави

 Јесен пева шумама моје главе

 Разумевање постаје дар ланене душе
У белим куполама рађа се слобода
Треба ми Твоја нежност да не изгубим
Најдрагоценије семење
Које си ми топлим уснама утиснула

 Испуњен земљом Средоземља
Мирисима ловора и нара
Отвореним ребрима вришти дечак
Израстао из краљевског детињства

 И не буди тужна мати
Кад ми због Тебе теку сузе
Данима седиш сама
И као старинска ура
Мериш време и невреме

Brief an die Mutter

Jahrelang hafte ich am Boden
Mit Reife bändige ich Gefühle
Enthülle den umausgetrunkenen Ozean
Deiner Liebe

Herbstgesang durchdringt meinen Kopf

Die Liebe steigt hinauf
Wie ein Gebet
Aus leuchtend weissen Wortkuppeln
Deiner Pupillen

Ich brauche deine Zärtlichkeit
Die schaumige Quelle
Die blüht aus kostbarem Samen
Eingedrückt mit warmen Lippen

Erfüllt von mediterraner Erde
Lorbeer- und Granatapfelduft
Mit offener Brust schreit der Junge
Entwachsen der Kindheit Königreich

Sei nicht traurig Mutter
Wenn ich deinetwegen weine
Tagelang sitzt du alleine
Und wie eine antike Uhr
Misst du die Zeit.

Igor Rems, 1957 in Bar/Montenegro geboren, studierte Philosophie und Sport an der Universität Belgrad. Er veröffentlichte Gedichtbände auch auf Deutsch wie «Am Tor des Himmels», «Wilder Fluss», «Städte» oder «Wallfahrten». 2000 erhielt Igor Rems den Literaturpreis Rastko-Petrovic und 2003 den internationalen Naji-Naaman-Preis in Libanon. Seit 1993 lebt Igor Rems auch in Köln.