Eva Schmidt erzählt die Geschichte einer jungen Frau, die ständig das Gefühl des Ausgeschlossenseins mit sich herumträgt. Maren ist kaum zwanzig, als sie nach einem gescheiterten Schauspielstudium zurück in ihr Elternhaus kommt und doch nicht in ein altes Leben zurückkehren will, nicht in die Lügen in der Familie, nicht ins feine Netz ihrer eigenen Lügen.
Als Eva Schmidt mit ihrem letzten Roman «Ein langes Jahr» 2016 nach zwei Jahrzehnten zurück auf der Literaturbühne erschien und sogleich für den Deutschen Buchpreis nominiert wurde, war auch ich begeistert von ihrem neuen Auftritt. Wer von einem Roman beeindruckt war und mit viel Erwartung einen neuen liest, kann leicht enttäuscht oder auf dem falschen Fuss erwischt werden. Nicht so bei Eva Schmidt. Die Vorarlbergerin, die sich als 67jährige auf eindrücklichste in das Leben einer 20jährigen in der Gegenwart versetzen kann, beschreibt fein und ziseliert, verliert sich nicht in psychologischen Deutungen und lässt Leben ganz nah passieren.
Die einen haben mit zwanzig einen Plan. Andere sind ganz offen oder suchen noch. Maren musste ihren Plan aufgeben. Nicht so sehr weil sie als Schauspielerin nicht getaugt hätte, sondern weil sich Probleme einschlichen, die sich auf ihre Gesundheit auswirkten; Essstörungen. «Die untalentierte Lügnerin» ist aber kein Roman über Essstörungen. Maren kommt zurück zu einer Familie, die sich schon seit Jahren im Zustand des Zerfalls befindet; Vater und Mutter zerstritten und trennten sich, der Vater lebt weit weg, die Mutter heiratet wieder, mehr die Sicherheit und das Geld als den Mann, Marens Stiefvater lebt ein Doppelleben, ihr älterer Bruder hat sich nach Finnland abgesetzt und ihr jüngerer Halbbruder studiert in der Ferne den Waldrapp. Obwohl Eva Schmidt das Familiengeflecht bis in Kleinigkeiten schildert, obwohl sie deutlich macht, wie vielschichtig und verknotet dieses Gefüge ist, ist «Die untalentierte Lügnerin» auch kein Familienroman, kein Soziogramm. Einzelne Figuren, wie der Vater und Jazzmusiker in der Hauptstadt, bleiben skizzenhaft. Eva Schmidt bemüht sich viel mehr um die Wirkung dieser Personen in Marens Leben.
Maren ist weder für alles offen noch auf der Suche nach neuen Türen. Marens Leben geschieht. Sie knüpft zum einen an das Leben zuvor, an den DJ Max, der sie einmal hängen liess, der sie aber spüren lässt, etwas zu sein, auch ohne Absicht, ohne Plan. Sie lernt Alex kennen, einen unglücklichen und kranken Schauspieler und Lisa, die in der Bar serviert. Sie geht Vera, ihrer Mutter aus dem Weg, die der ganzen Welt zu verstehen gibt, dass nichts so funktioniert, wie es sein müsste und erfährt in der Wohnung ihres reichen Stiefvaters Robert, dass auch dessen Leben nicht das ist, wonach es aussieht. Maren prallt am Leben ab, findet keinen Tritt, spürt keine Wirkung. Bis sie einen neuen Mann kennenlernt. Bis sie merkt, nichts mehr darstellen zu müssen. Bis sie sich auf einer Reise in die Hauptstadt ihren eigenen Lügen stellt.
Eva Schmidts Bücher sind kein Spektakel. Sie sind ruhig erzählt, von fast unterkühlter Skepsis. Eva Schmidts Erzählton ist der einer Beobachtenden, unaufdringlich und dezent. Hinter dem Geschriebenen weiss ich viel mehr, nämlich das, was sich erschliesst, wenn man über die verschiedenen Lesarten dieses Buches zu diskutieren beginnt.
Eva Schmidt, geboren 1952, lebt in Bregenz, Österreich, hat neben Erzählungen in verschiedenen Zeitungen und Zeitschriften drei Bücher veröffentlicht, zuletzt »Zwischen der Zeit« (1997). Diverse Stipendien und Literaturpreise, u.a. Nachwuchspreis zum Bremer Literaturpreis (1986), Rauriser Literaturpreis (1986), Hermann-Hesse-Förderpreis (1988), Nicolas-Born-Preis (1989). »Ein langes Jahr« 82016) war ihr erstes Buch seit fast 20 Jahren.
Ferdinand Hodlers Todestag jährte sich vergangenes Jahr zum 100. Mal. Der Genfer Schriftsteller Daniel de Roulet, ein leidenschaftlicher Verehrer Hodlers Spätschaffen, schrieb zu diesem Anlass einen langen, leidenschaftlichen Brief. Ein Brief eines Bewunderers, keines ‹exaltierten Patrioten, der die grösste Sammlung besitzt› und diese auch gerne für seine vaterländischen Reden ‹zitiert›.
Neben Alberto Giacometti hat sich wohl kein anderer Maler so tief in das Bewusstsein der Schweiz hineingebrannt wie Ferdinand Holder, der mit seiner Deutschschweizer Herkunft fast während seines ganzen Schaffens in der Westschweiz lebte und in den Wirren des 1. Weltkriegs zwischen die Fronten von Deutsch- oder Frankreichgesinnung fiel.
1908, Ferdinand Hodler war 55, traf der mittlerweile berühmte und reich gewordene Maler die zwanzig Jahre jüngere Pariserin Valentine Godé-Darel, die frisch geschieden zuerst Modell, dann Geliebte wurde. Eine leidenschaftliche Liebe neben der zur Zweckehe gewordenen Beziehung zu seiner Frau Berthe. Eine Liebe, aus der ein Kind entstand, Pauline, während die Ehe mit Berthe kinderlos blieb. Eine Liebe, die mit Valentines Krebserkrankung schon wenige Jahre später tiefe Schatten bekam. Eine Liebe, die Leidenschaft transformierte, von obsessiver Körperlichkeit zu innigstem Nebeneinander am Kranken- und Sterbebett. Eine Liebe, die auch den Blick und das Schaffen des Künstlers transformierte. Mit einem Mal war es nicht mehr Symbolismus und Verklärung, sondern ganz direkter Realismus. Die Liebe zu Valentine und das Sterben dieser Frau erschütterten nicht nur sein Dasein, sondern auch seinen Blick auf die Welt, seine Malerei, jene Malerei, die der Schriftsteller Daniel de Roulet so sehr erschüttert und zu verstehen versucht.
«Wenn die Nacht in Stücke fällt» ist ein Brief an einen Mann, der in seinen Bildern die Antworten auf die Fragen des Schriftstellers gibt. «Wenn die Nacht in Stücke fällt» ist aber auch eine Verteidigungsschrift für alle Vereinnahmungsversuche verschiedenster Seiten, sei es jene des einen grossen Sammlers, der sich mit dem Besitz der Bilder seine Gesinnung illustriert oder jene der schreierischen Kunst- und FrauenversteherInnen, die Ferdinand Oder vorwerfen, er habe das Sterben seiner Geliebten mit seinen vielen Zeichnungen und Bildern zur Obsession gemacht und damit Valentine Godé-Darel instrumentalisiert.
So leidenschaftlich jene Liebe zwischen Valentine Godé-Darel und Ferdinand Holder ist, so leidenschaftlich die Verehrung des Schriftstellers Daniel de Roulet. So sehr der Maler im von der Krankheit gezeichneten Gesicht seiner Geliebten den Zeichen der Vergänglichkeit nachging, so kritisch bleibt der Schriftsteller Daniel de Roulet bei den Widersprüchen des grossen Malers. Genau das macht den Wert dieses schmalen Büchleins aus. Kein verklärter Blick, aber ein überaus gelungenes Denkmal für Valentine Godé-Darel, Ferdinand Hodler, seine Malerei und die Liebe.
Für sein Lebenswerk erhielt Daniel de Roulet anlässlich der Solothurner Literaturtage den Grand Prix de Littérature 2019 der Kantone Bern und Jura.
Daniel de Roulet, geboren 1944, war Architekt und arbeitete als Informatiker in Genf. Seit 1997 Schriftsteller. Autor zahlreicher Romane, für die er in Frankreich mit verschiedenen Preisen ausgezeichnet wurde. Er lebt in Genf.
«As I walked along the beach and drank with her / I thought about my true love, the one I really need» (Bright Eyes, «June On The West Coast»)
Zwei lernen sich kennen. Er hat die 50 schon überschritten, sie ist zehn Jahre jünger. Er wurde verlassen, sie muss sich irgendwann entscheiden. Er ist erstaunt darüber, dass dieses Wunderwesen sich für ihn interessiert, sie bleibt ein Rätsel, auch nach einer gemeinsamen Reise durch den Süden der USA.
Michael Kumpfmüller liebt das Spielfeld menschlicher Beziehungsdramatik, jenen Zustand, der in ebenso viel Sehnsucht wie Leidenschaft (wörtlich!) eingebettet ist. Man lebt mit jemandem zusammen, den man kennenlernt, kennenlernen will, letztlich auch muss, lebt in einem Zustand, einem Gefüge, das maximale Nähe und manchmal sogar maximale Distanz bedeuten kann.
Beide sind leidgeprüft, „Versehrte“. Wie auch anders, wenn man den Sturm und Drang hinter sich hat. Lynn, die Ex von ihm, hat sich stufenweise aus seinem Leben verabschiedet. Am Schluss blieb gar nichts, alles aus der gemeinsamen Wohnung abtransportiert, was hätte erinnern können. Die Ex trat aus der Bezeichnung aus, ohne Erklärungen, letztlich unerklärlich. So unerklärlich wie seine Verbindung zu Ora, die mit einer gemeinsamen Reise zu eine Bindung werden soll, wie das Entstehen von Zweisamkeit.
Er lernt Ora bei einer Hochzeit kennen. Und obwohl sich Flüchtigkeit nicht aus dem neuen Gefüge vertreiben lässt, entschliessen sie sich, eine gemeinsame Reise zu tun. Sie will und er fühlt sich durch ihre Entschlossenheit geschmeichelt. Eine gemeinsame Reise als Chance sich kennenzulernen? Zum einen ist man als Schicksalsgemeinschaft aneinander gebunden. Man fliegt im gleichen Flieger, fährt im selben Auto, sitzt am gleichen Tisch und teilt (vielleicht, warum nicht) das gleiche Zimmer und Bett. 13 Tage durch den Süden der USA, an der Hand genommen von einem Song der Indie-Band Bright Eyes und ihrem Song „June On The West Coast“. Eine Reise nicht als Touristen auf der Jagd nach Sehenswürdigkeiten, sondern eine Reise zum andern. Die langen Fahrten durch die Wüsten und wüsten Orte als Kontrast zu dem, was in den beiden passiert; Landschaft, Städte, Koffer und Hotels als Kulisse für ein Abenteuer, das sich eigentlich nur zwischen den beiden abspielt.
„Tage mit Ora“ ist eine Reisegeschichte, beschreibt den Weg einer Liebe aus der Sicht eines Mannes, dessen Desillusion ihn schwanken lässt, hinein in Zustände, Situationen und fremd gewordene Emotionen, die sich dem Erzählenden nur bis zu einem gewissen Grad erschliessen. Michael Kumpfmüller schreibt über die Liebe, eigentlich über das Abenteuer, das zwei eingehen, mit all den möglichen Konsequenzen, entschlossen, sich zu ent-schliessen, bis zur absoluten Verletzlichkeit aufzutun.
Ora will das Abenteuer des Reisens, den Entschluss wider der Vernunft. Wer reist schon mit jemandem, den er erst durch die Reise kennenlernen will? Es gibt keine erklärbaren Gründe, warum man ein solches Abenteuer starten sollte – ausser um seiner selbst willen.
Von Seattle an der Westküste entlang, durch Niemandsland und Wüsten bis nach San Diego und von Los Angeles wieder zurück in eine Zukunft, die alles offen lässt. In einem Gespräch verriet Michael Kumpfmüller, er sei für den Roman gar nie in jenem Teil der USA gewesen. Was er an Kulisse brauchte, nahm er sich. Es war die Reise der beiden und der Song von Bright Eyes, eine Rundreise, wie es eine Reise immer ist, hin und zurück.
„Ich verstehe so vieles nicht, sage ich. Dich am allerwenigsten. Ich versuch es. Manchmal verstehe ich etwas. Ora: Ich verstehe mich selbst überhaupt nicht.“
Interview:
Kennt man sich je oder ist Liebe der permanente Versuch in die Nähe eines Gegenübers zu gelangen, über jene magische Grenze hinaus, die aus Nebeneinander Miteinander macht? Oder ist „Tage mit Ora“ die Umschreibung einer grossen Illusion? Das, was wir Liebe nennen, ist als Phänomen flüchtig, aber keine Illusion. Am Liebesthema interessiert mich, was mich auch bei anderen Themen interessiert: Inwieweit können wir Handelnde sein oder zu solchen werden, obwohl existenziell so vieles vorbestimmt und festgelegt ist, und im Laufe eines Leben immer mehr. Ich glaube an das, was wir Freiheit nennen, so klein sie auch immer sei; wir müssen sie nutzen und schätzen, nur so sind wir aus eigenem Antrieb am Leben, was das mögliche Scheitern einschliesst. Das Schlimmste wäre, nicht gelebt, weil nichts riskiert zu haben, und also kann uns als lebendig Lebende eigentlich nichts Schlimmes passieren.
Beide, der Mann und die Frau sind „Versehrte“, was in der zweiten Hälfte des Lebens alle sind. Und doch reisst Ora den Erzähler aus der Desillusion heraus. Alles scheint möglich. In 13 Tagen bricht vieles auf. Aber weil eine Reise eben nur eine Reise ist und man bei einer solchen in fast allen Fällen an den Ausgangsort zurückkehrt, bleibt doch wenig Hoffnung, wenn man zurück auf dem Boden der Realität ist. Alles ist möglich, und am Ende vielleicht doch nicht. Wer weiss. Ich weiss es selbst nicht. Manche Leser sind ganz sicher, dass da ein Liebespaar mit Perspektive nach Hause kommt, andere bezweifeln das, wieder andere sind ganz sicher, dass nicht. Liebesgeschichten sind immer offen, nur wollen wir das üblicherweise nicht wahrhaben. Würde diese nur die 13 Tage dauern, die die Reise dauert – was wäre so schlimm daran? Eine Liebesgeschichte bleibt es. Und ich mag sie sehr.
Was Sie so heiter beschreiben, was im Roman so flockig erscheint, ist Resultat vieler kleiner und grosser Katastrophen. Sie verraten wenig von jenen des Erzählers, gar nichts von jenen in Oras Leben. Aber beide haben in ihrem Reisegepäck Pillen gegen das Unglück. Gibt es eine Hoffnung gegen die Kränkungen der Liebe? Es gibt die Arbeit an der eigenen Erfahrung und die Erkenntnis, dass das Leben episodisch ist. Dinge fangen an und enden, aber indem sie enden, entsteht die Möglichkeit, sich auf eine neue Episode einzulassen und ein Stück weiter neu zu entdecken. Das finde ich gar nicht so übel.
Sie erzählen, dieses eine Lied der Indie-Band Bright Eyes habe die Kulisse, die Reiseroute zu ihrem Roman geliefert, eine Route, die nur Staffage ist, die Sie nicht einmal physisch zu recherchieren brauchten. Versetzt Sie Musik derart in eine andere Landschaft? Hören Sie Musik bei Schreiben und wenn ja, misstrauen Sie ihrer Wirkung nie? Musik ist ein Begleiter und Türöffner für die innere Imaginationsarbeit, aber manchmal stört sie auch, so wie in intensiven Schreibphasen (vor allem am Anfang) fast jede literarische Lektüre stört und ich mich nur mit ganz Fremdem und Abgelegenem beschäftigen mag; ist der Schreibprozess stabil, werde ich schnell wieder offener.
Bei der Lesung erzählten Sie, wie sehr sie der Umstand befreit, dass Sie nach Beendigung eines Romans nicht mehr in ein grosses Loch fallen, weil wieder ein Neubeginn gestartet werden muss, dass Sie an mehreren Stoffen gleichzeitig arbeiten, Stoffe, die sich in verschiedenen Stadien des Gedeihens befinden. Das klingt logisch. Aber ist es leicht, so viele Welten nebeneinander mit sich zu tragen? Das ist ja alles ganz neu für mich, und ja, zu meiner Überraschung kein Problem. Wahrscheinlich deshalb, weil die Welten, die ich da in mir trage, alle in einem völlig anderen Aggregatszustand sind. Man kann aus einem publizierten Buch öffentlich lesen und zugleich (wieder zu Hause) am nachfolgenden schreiben und (allerdings nur in der Endphase) darüber nachdenken, welche Verrücktheit man sich als Nächstes vornehmen möchte. Dieses dreifache «Aufgeregtsein» (denn darum geht es beim Schreiben immer) geniesse ich gerade sehr; er macht mich heiter.
PS Und wem es vergönnt ist, dem Autor bei einer Lesung zu lauschen; seine Stimme lohnt es!
Michael Kumpfmüller, geboren 1961 in München, lebt als freier Autor in Berlin. Im Jahr 2000 erschien mit dem gefeierten Roman «Hampels Fluchten» seine erste literarische Veröffentlichung, 2003 sein zweiter Roman «Durst» und 2008 «Nachricht an alle», für den er vor dem Erscheinen mit dem Döblin-Preis ausgezeichnet wurde. Bei seiner Veröffentlichung im Jahr 2011 wurde der Roman «Die Herrlichkeit des Lebens» zum Bestseller und von der literarischen Kritik hochgelobt. Mittlerweile ist «Die Herrlichkeit des Lebens» in 25 Sprachen übersetzt worden. 2016 erschien der Roman «Die Erziehung des Mannes» (Rezension auf literaturblatt.ch).
Zwei Leben treffen aufeinander. Eine junge Frau, noch nicht achtzehn und auf der Flucht vor sich selbst und eine mehr als doppelt so alte Frau, gefesselt von ihrer Geschichte. Irgendwo in einem Dorf umgeben von Rebbergen, auf einem Hof, in dem der Alp in den Mauern sitzt. Zwei Gestirne, die sich umkreisen, bis die Gravitation, die sie auf Abstand hält, in sich zusammenfällt.
Sally haut aus der Klinik ab, in der ihr mit vorgespielter Betroffenheit die immer gleichen Fragen gestellt werden, in der man sie in ein Krankheitsbild einmauert und ihr genau das verweigert, was sie bräuchte; Abstand und Zeit. Liss, vergrämt, gezeichnet von inneren Vernarbungen, verbittert und gefesselt an einen Hof, der sie an eine Vergangenheit kettet, nimmt sie auf. Sally bekommt ein Bett, bleibt auf dem Hof, zuerst nur eine Nacht, eine Woche, immer länger. Und Liss stellt keine Fragen, nimmt sie mit aufs Feld zu den Kartoffeln, in den Garten mit den alten Birnbäumen, in den Wald, stellt einen Teller mehr auf den Tisch in die Küche, macht keine Vorschriften. Selbst als die Narben auf Sallys Haut sichtbar werden, startet Liss nicht wie andere die Maschinerie von «professioneller Nettigkeit und Verständnis».
«Jeder war allein. Keiner verstand den anderen jemals wirklich.»
Aber auch Sally spürt und merkt, dass das Leben der Frau auf dem Hof irgendwann ordentlich aus dem Tritt gekommen sein musste. Liss ist allein, wird nicht besucht. Fragen nach ihrer Vergangenheit blockt sie genauso wie Sally jene nach ihrer Gesundheit. Und als Liss mit Sally im Wald ein Reh mit ihrem Traktor verletzt, Liss mit aller Selbstverständlichkeit eine Pistole aus einer Box holt und dem Leiden des Rehs mit einem schnellen Schuss ein Ende setzt, weiss Sally endgültig, dass Liss nicht einfach nur verschroben und verschlossen ist. Liss ist geprügelt von einer Vergangenheit, einem dominanten Vater, der seine Macht einzusetzen wusste. Sie verliebte sich in einem Mann. Eine Liebe, die grösstmögliche Freiheit versprach und in einem fatalen Reflex endete. Sally ist umklammert von Mutter- und Vaterliebe, die ihr nicht bloss den Atem nimmt, sondern all den Platz, den sie bräuchte, um ihren übergrossen Gefühle in den Griff zu bekommen.
«Ich ertrinke, dachte sie. Ich stehe an Land und ertrinke.»
Was sich auf diesem Hof im Niemandsland an aufeinanderprallenden Biographien ineinander zu verkrallen beginnt, wird zu einer Bindung, die für beide gleichermassen befreiend wirkt. Da sind für einmal keine Erwartungen. Liss spürt, dass Sally etwas hat, was sie glaubt, verloren zu haben. Als sie in einem Obstgarten alte Birnensorten ernten, ‹Alexander Lucas›, ‹Herzogin Elsa›, ‹Madame Vertu›, sieht Liss, wie sehr sich Sally ins Schmecken dieser besonderen Säfte hineingeben kann. Etwas, was ihr selbst auch Routine und Verhärtung verloren ging.
«Wann hatte sie vorher jemals die Hände in der Erde gehabt? Wann Bienen auf der Haut? Ja, vielleicht war es das?
Ewald Arenz schildert die Annäherung zweier Gestirne ganz behutsam, setzt sie in ein filigranes Netz von Beziehungen, die das zarte Gegenüber der beiden immer wieder zu torpedieren beginnen. Erstaunlich, wie tief und emphatisch er sich an die beiden Protagonistinnen annähert, sie nicht schublaisiert, mich als Leser immer wieder zu überraschen weiss. «Alte Sorten» beschreibt sechs Wochen. Als würde Liss aus weiter Distanz jene Wochen beschreiben, die aus einer Flucht den Anfang einer Heimat machten.
Natürlich darf man sich fragen, ob die Welt eine Literatur braucht, die vordergründig erklärt, dass die Lösung aller Probleme in der archaischen Welt eines Bauernhofs liegt. Aber darum geht es Arenz nicht. «Alte Sorten» ist ein Roman darüber, wie sehr uns Leben weggenommen wird und wie schwer es ist, zurückzufinden.
Ewald Arenz, 1965 in Nürnberg geboren, hat englische und amerikanische Literatur und Geschichte studiert. Er arbeitet als Lehrer an einem Gymnasium in Nürnberg. Seine Romane und Theaterstücke sind mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet worden. Der Autor lebt mit seiner Familie in der Nähe von Fürth. Im ars vivendi Verlag erschienen bisher seine Romane «Der Teezauberer» (2002), «Die Erfindung des Gustav Lichtenberg» (2004), «Der Duft von Schokolade» (2007), «Ehrlich & Söhne» (2009), der historische Kriminalroman «Das Diamantenmädchen» (2011), «Don Fernando erbt Amerika» (Neuausgabe 2012) und «Ein Lied über der Stadt» (2013). «Alte Sorten» ist sein erster Roman bei Dumont.
Noldi Abderhalden, den ein schauderhafter Rausch aus seinem geliebten Toggenburg (Tal in den Schweizer Voralpen) 1620 in die Hände von Söldnern trieb, wird durch Zufall ein Kriegsheld. Aber statt auf seinen Lorbeeren auszuruhen und ein Leben lang von diesem einen, glorreichen Moment zu profitieren, schwemmt ihn sein Verlangen nach mehr bis in ein abgelegenes Tal auf Kuba, wo er die Zeit seines Dienstes für die Krone aussitzen muss.
In Europa tobt der Dreissigjährige Krieg. In manchen Gegenden dezimiert er zusammen mit Seuchen, Armut und Hunger die Bevölkerung um mehr als die Hälfte. Ein jahrzehntelanges Gemetzel, bei dem es vordergründig um den rechten Glauben geht, aber eigentlich nur um Macht, Besitz und Geltungssucht, ein Morden, das bis in die entferntesten Winkel vordringt und das Antlitz Europas für immer grundlegend verändert.
Anwerber der Spanischen Armee streifen durch die Lande und suchen nach Frischfleisch für den Kampf gegen den Protestantismus. In einer eisigen Winternacht, in der Noldi Abderhalden seinen Liebeskummer im Schnaps zu ertränken versucht, setzt er sturzbetrunken sein Zeichen unter einen Vertrag, wird als Sechzehnjähriger mitgenommen, um irgendwo und überall im Namen des richtigen Glaubens Köpfe rollen zu lassen. Nach Ausbildung, Drill und Entjungferung rettet er in einer Schlacht das Leben seines Kommandanten Gómez Suárez de Figueroa, schlägt eine dahersirrende Kanonenkugel mit blossen Fäusten aus seiner tödlichen Bahn, wird zum umjubelten Held, gelangt bis an den Hof des Königs, wo er aber wegen seiner unstillbaren Lebenskraft und Leidenschaft für Jahrzehnte in die spanische Kolonie Kuba verbannt wird, um dort eine Hand voll Schweizer Kühe zur Herde werden zu lassen.
Noldi Abderhalden erwacht zu spät, mehr als einmal. Aber Noldi Abderhalden ist es gewohnt, in die Hände zu spucken und die Dinge anzupacken. Er sitzt seine Zeit nicht einfach ab, sondern mausert sich auf der anderen Seite der Welt zum Züchter, Käser und Geschäftsmann. Sogar das Donnerrollen, das aus seinen Lenden zu stammen scheint, bekommt er in den Griff, lernt Liebe kennen und das Glück des Tüchtigen. Nur die Sehnsucht nach dem kleinen Tal zwischen Säntis und Churfirsten lässt sich nie ganz zähmen, ob im Geschmack seines Käses oder nach dem Verstreichen seiner besiegelten Pflicht.
Patrick Tschan ist gelungen, was er wirklich kann. Er mischt Historie mit Fiktion, würzt mit Humor und träfer Sprache, heizt ordentlich mit schnoddriger Schärfe und fast südamerikanischer Erzählfreude und formt eine Geschichte, die in eidgenössischer Literaturlandschaft seinesgleichen sucht. Der Roman strotzt vor Helvetismen, es wird gewettert (gleich mehrdeutig) und geflucht, dass es eine Freude ist. Ob ‹Heilandsack›, ‹huere Feigling› oder spanisch ‹Me cado en la lache!‘, Patrick Tschan erzählt nicht zimperlich. Mehr als einmal bebt das Zwerchfell während des Lesens, mehr als einmal überrascht Patrick Tschan durch das Tempo in seinem Erzählen. Schon einmal war der Ursprung eines Tschan’schen Abenteuers das kleine Toggenburg im Kanton St. Gallen. Damals war es im Roman „Polarrot“ Jack Breiter, der zuerst als Heiratsschwindler in St. Moritzer Hotels sein Glück versucht und später den Nazis das Polarrot für ihre Fahnen hektoliterweise verkauft. Noldi Abderhalden, der mit zwölf durch ein Unglück zusehen muss, wie seine Eltern sterben müssen, ist das, was man ein «Stehaufmännchen“ nennt, Archetyp dessen, was den einen oder andern auch in der Gegenwart an der Gerechtigkeit zweifeln lässt. Was die Geschichte so sehr lesenswert macht, ist dieser ganz eigene Ton, den Tschan für seine Heldengeschichte trifft. Ein Roman mit grossen Händen, starken Oberarmen und markigen Sprüchen!
Am 29. Mai, 2019, bringt Patrick Tschan seinen neuen Roman „Der kubanische Käser“ an die St. Gallerstrasse 21 in Amriswil. Wer das Buch bis zu diesem Datum gelesen hat und mit Schriftsteller und Gästen diskutieren und austauschen will, ist mit Anmeldung (info@literaturblatt.ch) herzlich bei Irmgard & Gallus Frei-Tomic eingeladen. Die Runde beginnt um 19 Uhr, dauert bis ca. 21 Uhr und kostet inkl. Speis und Trank 30 Fr.
Ein paar Fragen an Patrick Tschan:
Schon in deinem Roman „Polarrot“ fragte ich mich, wie der Mann aus Allschwil bei Basel an seine Geschichten kommt, die nun schon ein zweites Mal im Toggenburg, das so weit weg vom Nabel der Welt scheint, seinen Ursprung haben? Liegen dort die besseren Geschichten als in der Stadt Basel? Oder braucht es einen dicken Nacken, der all das tragen kann, was deinen Protagonisten in die Quere kommt? Ehrlich gesagt, ich weiss es nicht. Bei Breiter könnte es sein, dass der vorlagegebende Onkel aus dem Thurgau kommt und dies für eine Romanfigur nicht unbedingt eine literaturgeschwängerte Region ist. Und so fiel mir das Toggenburg mit seinem «Armen Mann» ein. Beim Abderhalden war die interessante konfessionelle Konstellation im Toggenburg interessant. Und ein Ort, wo die Berge Frümsel, Hinterrugg, Chäserrugg, Leistchlamm, Brisi oder Schafsberg und Alpen Chüeboden, Vrenechele, Obere und Untere Schnebere oder Chreialp heissen, der schreit geradezu als literarische Kulisse verwendet zu werden.
Neben den Ortsbezeichnungen sind es aber vor allem Flüche und Kraftausdrücke, die du in deinem Roman zu einem Mantel Abderhalden werden lässt. Abderhalden, der Käser aus dem Toggenburg, schlägt sich zwar wacker im Dreissigjährigen Krieg, ist aber alles andere als ein Schläger oder Grobschlächtiger. Seine Flüche, seine Jodler sind wie die Türme seiner eigentlich so sehr gebeutelten Seele. Flüche als eine Art der Befreiung? Liest man deine im Roman verwendeten Flüche, dann sind sie Banner der Verbildlichung innerer Zustände, so ganz anders als die Flüche heute, die ausgerechnet eine Ausdrucksform der Liebe in den Dreck ziehen. War da pure Lust oder auch ein bisschen Rehabilitation jener Kraftausdrücke, die Leiden-schafft? Wohl beides. Ein Noldi Abderhalden ist nicht einer, der sich hinsetzt und sein Verhältnis zu Gott, der Welt, der Liebe und den Frauen reflektiert, dies dann den Lesenden fein säuberlich mitteilt. Das wäre berichtet statt erzählt und somit langweilig. Also jodelt und flucht Noldi, wenn seine Gefühlswelt wieder mal derart von Gott, der Welt, der Liebe und den Frauen durcheinandergeschüttelt wird, dass er nicht mehr weiss, ob die Chreialp wirklich da oben ist und der Chässerugg nicht in den Walensee gefallen ist. Ja, und die alten Flüche sind wahrlich eine Lust, stecken doch eine Menge überlieferter lokalgefärbte Gefühls- und Glaubenswelten in ihnen, Heilandsack!
Der dreissigjährige Krieg, wohl einer der vernichtensten Kriege gemessen an der damaligen Bevölkerung, ist der Grund dafür, dass Noldi Abderhalden gegen Bezahlung für 10 Jahre in den Dienst der Spanischen Krone in Schlachten zog. Kriege, die an Brutalität kaum zu überbieten waren. Er ist Schauplatz seiner und deiner Heldengeschichte. Eine Heldengeschichte, die wie alle Heldengeschichten nicht nach Wahrheitsgehalt gemessen werden kann und soll. Wir brauchen sie. Je verrückter, desto wirkungsvoller. Und weil die Literatur alles darf, ist sie der ideale Ort, um Heldengeschichten zu produzieren. Literatur als «Opium für das Volk»? Leider rauchen viel zu wenige aus dem Volk diese Art von Opium. Obwohl: ein paar gute Geschichten gut erzählt wären wohl für viele Wunden heilsamer als mutlose, nach Aktualitäten schielende Mainstream-Berichte.
Wenn erzählt wird, sind es die Momente, in denen Brüche entstehen, die bannen. Noldi verliert als Kind seine Eltern, muss der Katastrophe zuschauen. Im Krieg ist er es, der im Moment eingreift, etwas aus der logischen Konsequenz buxiert. Das, was ihm als Kind damals unmöglich war. Manchmal sind wir zum reagieren verdammt, manchmal gelingt es uns zu agieren. Noldi ist in deinem Roman einer, der es in die Hand nimmt. Das braucht es in einer Welt, in der sich alle so schnell stets als Opfer sehen. Richtig? Das hast Du wunderbar gesagt, mit den Brüchen. Am besten sind sie dann, wenn sie aus der Figur kommen. So wirkt jedes Klischee weniger klischeehaft. Der Noldi nimmt ja erst in Kuba sein Leben in die Hand; mit dem Entschluss zu käsen. Vorher hätte er viele Gründe gehabt, sich selbst zu veropfern. Aber dieses gibt es in der Manstream-Gegenwartsliteratur ja genug. Das ist auch nicht spannend, das berichtet und erzählt nicht.
Vielen Dank und deinem Buch die verdienten Leserinnen und Leser!
Patrick Tschan, 1962 in Basel geboren, studierte Germanistik, Geschichte und Philosophie, führte in zahlreichen Theaterstücken Regie und ist seit vielen Jahren in der Werbung und Kommunikation tätig. Er ist Präsident der Schweizer Schriftsteller-Fussballnationalmannschaft. Zuletzt erschienen von ihm die Romane «Keller fehlt ein Wort» (2011), «Polarrot» (2012),»Eine Reise später» (2015) bei Braumüller. «Der kubanische Käser» ist sein erstes Buch bei Zytglogge.
Frederick Bingo Mandeville, Meister der Selbstinszenierung, schon als Kind mit dem Namen „Spassvogel“ markiert, wird britischer Schriftsteller, ein Gigant im Literaturbetrieb mit über 50 Romanen. Und doch bleibt am Schluss eines langen Lebens nur der schwere Stein auf dem Friedhof über einem Komet, der in der Grube langsam erkaltet.
Ich nahm den Roman nur schon zur Hand, weil ihn der Schriftsteller Christoph Hein vom Amerikanischen ins Deutsche übersetzte. Der Name des Übersetzers, eines Schriftstellers, den ich seit Jahrzehnten überaus schätze, musste doch Garant und Versprechen genug sein, denn über das Pseudonym Philipp Lyonel Russell sind zumindest bis jetzt keine Rätsel zur knacken.
Frederick Bingo Mandeville geniesst bis kurz vor seinem Tod eine Sonderstellung, schon als ihn die Hebamme in die Wiege, die Ammen an ihre Brüste legten. Ein Sonnenkind. Ein Kind, das sich auch nicht grämt, als sich die Eltern wieder in den fernen Osten absetzen, um dort den hehren Aufgaben für Vaterland und Krone weiterzudienen und den Kleinen zusammen mit seinen Schwestern den Tanten überlassen.
Bingo erobert seine Welt im Sturm, obschon er von seinem Ammenduo gemästet zeitlebens den Speck nicht mehr ablegt. Trotz seiner Fülle, obwohl er in der Schule und später als Jugendlicher weder beim Militär noch im Sport zu reüssieren vermag, liegen ihm die Menschen zu Füssen. Denn Bingo kann eines wie kein anderer; erzählen. Zuerst gegen den Willen seiner Eltern in kleinen Theatern in London, später in Übersee vor immer zahlreicheren Zuschauern und Zuhörern, dann in der ‚Abtei‘, der Drehbuchwerkstatt von MPPC in Fort Lee nahe New York, dort, wo in prehollywood’schen Zeiten die zaghafte Filmgeschichte der USA begann. Schon dort beginnt Mandeville zu schreiben, Romane, die er in Schliessfächern zurückhalten muss, weil er vertraglich ganz an seinen rigiden Arbeitgeber gebunden ist.
Aber nachdem er, der allen Frauen gegenüber stets zuvorkommend und niemals aufdringlich war, eine Frau kennenlernt und von ihr zukünftig getragen wird, startet er als erfolgreicher Schriftsteller durch. Von den Fesseln der Filmindustrie und des Alltags befreit, schreibt sich Mandeville in die Herzen der Amerikaner genauso wie in jene der Europäer. Nur nicht ins Herz seines Vaters, der sich noch immer schämt über seinen aus vom britischen Selbstverständnis emanzipierten Sohn.
Frederick Bingo Mandeville ist zufrieden. Er schreibt in seinem Arbeitszimmer mit Sicht aufs Meer, seine Frau tut alles, dass er es ungestört tun kann und seine Romane verkaufen sich wie warme Semmeln.
Selbst als auf dem alten Kontinent der Krieg ausbricht, ist das nichts, was mit der Welt Frederick Bingo Mandeville zu tun hat, auch nicht in den Welten seiner Romane, die nicht abbilden sollen, womit die Gegenwart zu kämpfen hat. Mandevilles Romane sollen Erholung sein, eine Auszeit bedeuten. Selbst als England Deutschland den Krieg erklärt, glaubt er an einen Sitzkrieg, einen Drôle de guerre, einen Zustand, der mit britischer Diplomatie zu entschärfen ist. Bis deutsche Soldaten auf seinem Grundstück in Boulogne-sur-Mer auftauchen und den Schriftsteller im Viehwagon nach Spittal in Kärnten karren, in ein Internierungslager für Engländer. Aber selbst dort inszeniert er sich als „Spassvogel“, tut, was er wie kein anderer kann; Menschen mit spitzer Zunge unterhalten, selbst als ihn die Nazipropaganda über Radio Germany Calling erzählen lässt, wie fein man sich um die englischen Internierten kümmert.
Mandeville merkt nicht, isoliert von allen Informationen über den katastrophalen Kriegsverlauf, dass ihn seine britische Heimat zum Verräter abgestempelt hat. Nach dem Krieg nützen alle Beschwichtigungsversuche nichts. Sein Stern schwindet, seine Romane sollen vergessen werden, die Welt, sein Publikum wendet sich ab.
„Am Ende ein Blick aufs Meer“ ist ein Roman über Verblendung. Frederick Bingo Mandeville erzählt zwar, filtert seine Wahrnehmung nach dem, was in seiner geschlossenen Welt Verwendung findet, sieht aber nicht. Sieht nicht, was Leben ausmacht, sondern verkauft in Geschichten verpackt, was sein Publikum hören und lesen will. Frederick Bingo Mandeville ist ein Mann, der sich in seinem ganzen Tun der Welt mit grossem Erfolg verschliesst, dem der Erfolg recht gibt. Bis das Weltgeschehen ihn dafür straft. In der Gegenwart fordert man von keiner anderen Kunst wie der Schriftstellerei Haltung der Welt, dem Weltgeschehen gegenüber. Die Gegenwart zeigt, wie sich Autoren mit nicht mehrheitsfähiger Meinung ins Abseits reden und schreiben können (Peter Handke mit seiner Sicht auf Serbien, Uwe Tellkamp zu Flüchtlingspolitik). Selbst die Naivität eines grossen Autors wie Frederick Bingo Mandeville im Roman von Philipp Lyonel Russell wird gnadenlos bestraft.
„Am Ende ein Blick aufs Meer“ ist meisterhaft erzählt und ins Weltgeschehen eingeflochten. Ein Roman, dem man vielleicht vorhalten kann, dass einem als Leser die eigentliche Hauptperson seltsam fern bleibt. Aber vielleicht ist das Absicht, denn auch der Protagonist selbst bleibt sich fern, eingebettet in eine Welt nach seinem Geist, ein Leben lang über den Boden der Realität getragen, eingepackt in eine dicke Schicht isolierendes Fett.
Philipp Lyonel Russell wurde 1958 in der englischen Grafschaft Suffolk geboren und lehrt seit 1986 an Universitäten der Ostküste der Vereinigten Staaten, derzeit hat er einen Lehrstuhl in Boston inne. Er hat sich als Autor und Mastermind der National Science Foundation einen Namen gemacht. Seinen neuen Roman veröffentlicht er unter dem Pseudonym Philipp Lyonel Russell.
Christoph Hein, der Übersetzer, (1944) lebt als freier Schriftsteller in Berlin. Er verfasste ein umfangreiches Werk und gilt als einer der Grossen der Deutschen Gegenwartsliteratur.
Wer nimmt uns die Träume, wer die Bilder, Stimmen und Gesänge unserer Kindheit, das Wissen, dass alles anders ist, als es sich die Erwachsenen mit aller Wissenschaft einreden und einbilden? Max Porter hat den kindlichen Blick nicht verloren. Es ist, als ob er in ganz besonderer Weise sehend wäre. In der Geschichte um den verschwundenen Lanny nimmt uns der jung gebliebene Max Porter in jene Zwischenwelt, die den meisten hinter Ratio und Glauben in vielfältigster Form verborgen bleibt.
Ein kleines Dorf nicht weit von London. In einem der wenigen Häuser lebt eine junge Familie mit Lanny. Lanny ist anders, ob in der Schule oder zuhause; Lanny lässt sich nicht einordnen, fasziniert und verunsichert. Die Lehrerin schwärmt, weiss, dass von dem Jungen etwas ausgeht, was in der ganzen Klasse wirkt. Lannys Mutter spürt, dass ihr Junge Dinge sagt, spürt, sieht und weiss, die ihr verborgen bleiben. Lanny ist mit den Dingen der Welt in einer Art und Weise verbunden, die sich der Mutter entziehen. Aber sie lässt ihn, lässt ihn gewähren, herumstromern, bis in den Wald.
Sie selbst ist Schauspielerin und Schriftstellerin, schreibt Krimis, in denen eine Welt herrscht, die sich diametral von der unterscheidet, in der sich ihr Junge bewegt. Lannys Vater arbeitet in der Stadt, in London, in einer Welt, die sich nicht nur geographisch der von Lanny entzieht. Und weil Lannys Mutter spürt, dass ihr Sohn in vielem eine eigene Art des Ausdrucks sucht, fragt sie den verschrobenen Künstler Pete, der einmal ein gefeierter Szenenmann war, ob er Lanny unterrichten würde.
Lanny spricht mit den Wurzeln, erzählt von einem Mädchen, das in einem Baum wohnt, seit Hunderten von Jahren und stellt Fragen, die ein Junge in seinem Alter sonst nicht stellt: «Was meinst du ist geduldiger, eine Idee oder eine Hoffnung?»Pete versteht, genauso wie der rätselhafte, mythische Altvater Schuppenwurz, eine märchenhafte Stimme im Buch und im Äther dieses Dorfes, was mit dem Verschwinden des kleinen Lanny aus den Angeln gehoben wird. Mit einem Mal ist alles anders. Was im ersten Teil ein Kammerspiel zwischen Lannys Eltern, dem Künstler Pete und der Stimme aus dem Off, jener von Altvater Schuppenwurz ist, wird im zweiten Teil, nachdem Lanny verschwunden ist und bleibt zu einem mehr- und vielstimmigen Chor aus Dorfmitgliedern und Kommentaren, die sich immer tiefer ins undurchsichtige Geschehen im Dorf einmischen. Das, was die Mutter in ihren Kriminalgeschichten schrieb, wird mit einem Mal Dreh- und Angelpunkt in einer Geschichte um Verzweiflung, Panik, Verleumdung und Schuld.
So wie Lanny als Kind, als Protagonist nur schwer zu fassen ist, so schwer fassbar ist die Geschichte, Max Porters Art zu erzählen. Er kümmert sich nicht um Klarheit und Stringenz. So wie das Schriftbild im Buch dann auseinanderzufliessen scheint, wenn Altvater Schuppenwurz seine Stimme erhebt, so sehr fliesst das Geschehen über das Reale hinaus, wabert in Träumen, im Surrealen. Ich als Leser kippe dauernd zwischen Faszination und Verunsicherung, Durchblick und Verwirrung, Nähe und Distanz. Es ist, als ginge Max Porter so nahe ans Geschehen, dass ich drohe, den Blick für das Ganze zu verlieren, so wie wenn ich meine Nase eine Hand breit vor ein Gemälde von Segantini setze und dabei nur noch den einzelnen Pinselstrich, die aufgetragene Farbe erkenne. Max Porter protokolliert nicht, er malt.
Wer bereit ist, bei der Lektüre eines Buches ein Abenteuer einzugehen, der lese «Lanny». Es bleibt haften!
Max Porter, 1981 geboren, studierte Kunstgeschichte und arbeitete jahrelang als unabhängiger Buchhändler, was ihm den Young Bookseller of the Year Award einbrachte. Seit 2012 ist er Lektor bei Granta Books. «Trauer ist das Ding mit Federn» ist sein schriftstellerisches Debüt.
Bis zum 11. September 2001, als drei Maschinen ins World Trade Center und ins Pentagon krachten und 3000 Menschen in den Tod rissen, waren Taliban bärtige «Halbwilde», die weit weg von der «Zivilisation» mit Gewalt den Gottesstaat herbeibomben und -schiessen wollten. Mit einem Mal wurden aus den Barbaren Terroristen, wandelte sich ein einziger Tag zu einem kollektiven Trauma, aus dem viele bis heute nicht aufzuwecken sind.
Aden Sawyer ist nicht Tom Sawyer. Aber vielleicht ist dieser Name kein Zufall. Aden ist achtzehn und haut ab, geht auf eine Reise, von der es kein Zurück geben soll, emanzipiert sich von einem dominanten Vater, den sie Lehrer nennt, der Islamismus lehrt, ohne je von einem Glauben, einer Idee getragen worden zu sein, emanzipiert sich von einer alkoholkranken, apathischen Mutter, die sämtliche Familienfotos an den Wänden ihres Hauses zur Wand gedreht hat.
Sie setzt sich mit ihrem einzigen Freund in ein Flugzeug und fliegt aus den USA bis nach Afghanistan, das Land ihrer Träume, ihren Sehnsuchtsort, schliesst sich einer Meeres an, einer religiösen Schule, um die Suren des Korans auswendig zu lernen. Sie will aber nicht nur ein gottgefälliges Leben führen, sondern mit aller Konsequenz mit dem alten Leben brechen. Sie vernichtet nicht nur ihren Pass, sie kleidet und gibt sich wie ein junger Mann, bandagiert die Brust und nimmt Tabletten, die die Blutungen aussetzen lassen. Sie ist nicht mehr Aden Sawyer, sondern Suleyman Al-Na’ama.
«Gott hat dich von der anderen Seit der Welt in unsere Berge geschickt.»
Aber schon in der kleinen Schule wird nichts so, wie Aden es sich vorgenommen hatte. Zum einen zerbricht die Freundschaft zu ihrem Freund, mit dem sie die USA verlassen hatte, zum andern nimmt sie, ohne es zu wollen, in der kleinen Schule immer mehr eine Sonderstellung ein. Ihr religiöser Eifer, die Tatsache, dass sie Amerikaner(in) ist, ihre Gelehrigkeit und ihr absoluter Wille, ein neues, ganz anderes Leben zu führen, macht aus Aden Suleyman, aus der jungen Frau einen jungen Mann, aus der Flüchtenden eine um jeden Preis gewillte Ankommende. Zwei, die zusammen wegfuhren, sich gemeinsam auf einen Weg machten, entzweien sich mehr, bis hin zur Katastrophe. Je tiefer in der Fremde, je mehr sie eigentlich aufeinander angewiesen wären, desto unvermeidlicher entzweien sie sich, bröckelt Freundschaft.
Aber die Entzweiung spielt sich auch in ihrem Innern ab. Denn Aden setzt auf Lüge, ausgerechnet sie, die in ihrem neuen Leben auf Wahrhaftigkeit setzen wollte, auf Kompromisslosigkeit. Sie sieht sich als Heuchlerin und Lügnerin, sie die für jeden Missstand eine Sure zu rezitieren weiss.
Was im Buch als Katastrophenreigen von der ersten Seite angelegt ist, schleicht sich förmlich an. Decker, ihr Freund, der sich Ali nennt, schliesst sich den Mudschahedin an, den Gotteskriegern, die auf der anderen Seite der Grenze Krieg gegen Ungläubige und Verrat führen. Dass er nichts gesagt hatte, dass es keinen Abschied gab, bricht ihr eh schon eingeschnürtes Herz. Und dass es der väterliche Mullah war, der seinen kämpfenden Sohn davon abhielt, auch Aden als Kämpfer zu rekrutieren, bricht das Herz ein zweites Mal.
Aden – Suleyman haut noch einmal ab, schlägt sich alleine in die Berge, findet Ali in einem Ausbildungscamp und wird selbst zum Krieger. John Wray versteht es meisterlich, den Weg einer jungen Seele nachzuzeichnen, die eigentlich gut und wahrhaftig leben und wirken will, aber durch Willkür, Sachzwänge und Sturheit immer tiefer in ein Konvolut von Katastrophen rutscht, aus der nur die Katastrophe retten kann. Man wechselt Leben, Kultur, Religion und Herkunft nicht einfach wie einen schmutzig gewordenen Umhang. Alles, was unter der Hülle ist, bleibt, bleibt kleben.
John Wray hat einen atemberaubenden Roman über zwei Welten geschrieben, die im Innern einer Achtzehnjährigen kämpfen. Wer mit dem Buch mitgeht, macht eine Reise in das absolut Fremde mit. Eine Fremde, die der Autor kennen muss, von der er mit derart grosser Selbstverständlichkeit erzählt, als hätte er den Roman in einem kahlen Tal irgendwo zwischen Afghanistan und Pakistan geschrieben. Ein Roman, der mit keinem Satz urteilt, mich als Leser nie zu einem Komplizen macht, nicht mit mir spielt.
John Wray recherchierte zu John Walker Lindh, der als «amerikanischer Taliban» bekannt wurde, als er in der Nähe von Kabul einen älteren Mann traf, der ihm nicht nur vom Amerikanischen Taliban erzählte, sondern von einem amerikanischen Mädchen. Die Recherchearbeiten zu einem Sachbuch über John Walker Lindh begannen zu stocken. Statt dessen entstand das Manuskript zu «Godsend», eine «wahre» Geschichte um ein Mädchen, dass sich in Pakistan radikalisiert in den Kleidern eines Jungen.
John Wray wurde 1971 in Washington, D.C., als Sohn eines amerikanischen Vaters und einer österreichischen Mutter geboren. Studium am Oberlin College, an der Columbia University und an der Universität Wien. Er lebt als freier Schriftsteller in Brooklyn und Friesach (Kärnten). 2007 wurde er von dem Literaturmagazin «Granta» unter die zwanzig besten jungen US-Autoren gewählt, 2017 beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb in Klagenfurt mit dem Preis des Deutschlandfunks ausgezeichnet.
Übersetzt aus dem Englischen wurde «Gotteskind» von Bernhard Robben. Im Amerikanischen Original heisst der Roman «Godsend».
Im Laufe eines Schriftstellerlebens muss es Geschriebenes geben, das schlicht zu schade, zu wertvoll ist, um bloss in einer Schublade oder Datei dahinzudämmern. Texte, die aus welchen Gründen auch immer nie den Weg zwischen zwei Buchdeckel finden. «Zwischenergebnis» ist nach Janko Ferks sechzigsten Geburtstag ein Geschenk an seine Leser. Texte, die reizen, kitzeln, verunsichern und provozieren.
In einem der Texte begegne ich Franz K., der in seiner unsäglichen Enttäuschung über die Welt seinen Keller zu einem Schreibgefängnis ausbaut. Drei Zellen mit allem Nötigen darin, einem Durchschlupf, durch den man kriechen muss, in ein Loch, abgeschirmt von allem, was einmal Realität war. Ein Mann, der das Schreiben anderer ernten will, um es in Büchern unter die Menschen zu bringen, lockt drei Männer in sein Haus, schliesst sie in seine Höhlen ein; einen «Vorlauten», einen «Ruhmsüchtigen» und einen «Hungrigen». Dort vegetieren sie, zuerst laut protestierend, dann immer leiser werdend. Und erstaunlicherweise beginnen sie tatsächlich zu schreiben, so wie jeder Schreibende nicht zuletzt aus Not(wendigkeit) zu schreiben beginnt.
«Beim Schreiben bleiben die Augen im Kopf.»
In seiner Prosasammlung ist dies nicht der einzige Text, der sich in irgend einer Weise an den unumstrittenen Fixstern im Schreiben Janka Ferks anlehnt, an Franz Kafka. Es sind intensive Auseinandersetzungen mit dem Schreiben, seiner Sprache, dem einzigen Instrument, mit dem der Schriftsteller über das eigene Selbst hinaustreten kann. Manche Texte sind Miniaturen, die nach Innen oder Aussen strömen, die Geheimnisse bergen und solche offenbaren. Texte, in denen klar wird, dass Schreiben so existenziell wird wie Lieben, Sterben und der Tod.
«Das Schreiben gibt ihm seine zweite Hälfte zurück. Vielleicht die erste.»
Die Geschichte eines Mannes, der in seinem Testament fordert, man möge ihn mit Gesicht nach unten in den Sarg legen, sein letzter und unbedingter Wille. Ein Wille, der seinem eigenen Handeln verwehrt ist. Nicht einmal seine Frau, die als einzige keine einzige Träne zu vergiessen scheint, auch nicht der Leichenredner, sie alle bringen ihn nicht in die Lage, die er vor seinem Tod zum letzten Willen machte. Der letzte Wunsch wurde ihm abgeschlagen.
Janko Ferks Geschichten sind wohltuende Fragmente, die sich nicht darum scheren, nach der Lektüre Ordnung zu hinterlassen. Janko Ferk skizziert genau, unterlegt seine Texte mehrschichtig mit maximalem Spielraum zur Deutung. Janko Ferks Texte sind ein tiefgründiger, unterhaltsamer, vielschichtiger Spaziergang durch das Denkarchiv eines Wortkünstlers. Als ginge man durch lange Flure mit unzähligen Regalen, in denen fein säuberlich beschriftete Archivboxen stehen, die mit allerhand Textmaterial gefüllt sind.
«In mir: das Schriftstellergefühl, das beglückt und zufrieden macht. Ich schwebe in der ‹Raumundzeitlosigkeit› und preise die Gesetze, die ‹hierundjetzt› für mich gelten.»
Ein Schriftsteller sitzt an einem Tisch und schreibt ein Buch. Das ist ebenso Mythos, wie der bildende Künstler, der vor einer Leinwand steht und ein Meisterwerk malt. Die Prosasammlung ist ein Bilderreigen nie gezeigter Bilder in den unterschiedlichsten Formaten. Janko Ferks Texte passen einzeln nicht in ein Gefäss. Aber gemeinsam werden sie zu einem Schaufenster seines Schaffens, ein Geschenk des Schriftstellers zu seinem 60. Geburtstag an seine Leserinnen und Leser.
Janko Ferk (1958) ist Richter des Landesgerichts Klagenfurt, Honorarprofessor und Schriftsteller. Bisher hat er mehr als zwanzig Bücher veröffentlicht, zuletzt die Monographie «Recht ist ein «Prozeß». Über Kafkas Rechtsphilosophie», sowie die Essaysammlungen «Kafka und andere verdammt gute Schriftsteller» und «Wie wird man Franz Kafka?» Seine neueste literarische Veröffentlichung ist die «Forensische Trilogie» (Edition Atelier, Wien 2010). Für seine literarischen und wissenschaftlichen Arbeiten erhielt er zahlreiche Preise und Auszeichnungen, zuletzt den Literaturpreis des P.E.N.-Clubs Liechtenstein.
Jan Kraus ist Altenpfleger, «Soldat der letzten Hoffnung», wie in Wenzel Winterberg nennt, den er quer durch Mitteleuropa begleitet, auf seiner letzten Reise. Winterberg besucht die Friedhöfe der Geschichte, zusammen mit einem roten Büchlein, dem letzten wirklichen Baedeker Reiseführer für Österreich-Ungarn aus dem Jahre 1913. Kein Roadtripp, dafür ein Railtripp durch die Untiefen der Geschichte.
Jan Kraus ist so etwas wie Matrose auf letzter Reise. Manche Reisen dauern nur Tage, andere Monate. Als Jan Krause ans Bett von Wenzel Winterberg gerufen wird, liegt dieser apathisch in seinem Zimmer, von seiner hilflosen Tochter aufgegeben. Aber Jan Kraus bringt ihn zurück. Winterberg wird sagen, er hätte ihm das Leben gerettet, denn Winterberg müsse nicht nur diese letzte Reise tun, sondern eine wirkliche Reise antreten. Ein Reise zu den Toten, eine Reise auf der Suche nach den Verursachern, dem Mörder seiner einzigen, grossen Liebe.
Aber Winterberg macht die Reise mit Jan Kraus zur Reise an die Grenzen, quaselt in einem fort, sei es im Zug oder mitten in einer Abdankung in der Feuerhalle (Krematorium) zu Reichenberg. Den Baedeker von 1913 hat Winterberg längst verinnerlicht. Auch wenn er scheinbar liest, rezitiert er, lässt sich nicht unterbrechen, verfällt in einen stundenlangen historischen Anfall, der nicht zu unterbrechen ist. Keine Frage lässt ihn entgleisen, keine Bemerkung stoppen. Bis er mit einem Mal einschläft – „Stöpsel raus. Luft raus. Augen zu. Gute Nacht.“ Winterberg ist wie ein herrenlos gewordener Zug, er fährt und fährt, nur ein Prellbock kann ihn stoppen.
«Sie haben recht. Ich bin wirklich verrückt, ich bin krank. Ich leide an der Geschichte, ich leide an historischen Anfällen, ja, ja, doch besser Historie als Hysterie, oder?»
Ein Quaseln wie das Rattern des Zuges, um dann mit einem Mal im Schlaf zu versinken, irgendwo in einem Gasthaus am Tisch mit dem Kopf auf dem roten Büchlein. Über dem Baedeker von 1913, aus einer Zeit, in der Eisenbahn das Netz der Gegenwart war, nicht so wie heute ein unsichtbares, undurchsichtiges www. Winterberg, ein Eisenbahner mit Leib und Seele, dem schon das Wort „Schienenersatzbus“ das bare Grauen auslöst, scheint auf der Suche nach seiner grossen Liebe zu sein, die er im entscheidenden Moment alleine gelassen hatte. Er reisst ihr Jahrzehnte später als Versöhnung hinterher.
„Es gibt kein Entkommen. Von seiner Geschichte. Von meiner Geschichte.“
Winterbergs letzte Reise soll auch Jan Kraus letzte Reise werden. Dann will er sich ein Schiff kaufen und wegfahren.Auch eine Abschiedsreise von Jan, wenn auch reichlich verzögert durch die unerwartete Lebendigkeit des alten Winterberg. Eine Abschiedreise von Carla, seiner einzigen Liebe.
Im Vorsatzpapier des Buches ist der Weg der beiden auf einer Karte nachgezeichnet. Winterberg verkörpert das, was einer jungen Generation abhanden kommt. Jedes Individuum fühlt sich als Mittelpunkt der Welt, eines ganzen Kosmos, der doch eigentlich nur auf sich selbst ausgerichtet sein soll. All das, was an Geschichte passiert ist, verliert die Relevanz. Dabei ist der Boden auf dem wir uns mit aller Selbstverständlichkeit bewegen voller Toter, die in Täter und Opfer der Geschichte waren, auch der Geschichte jedes einzelnen Individuums.
«Die Lieben und die Krisen, ja, ja, und vor allem die Kriege, wir wissen immer, wenn es vorbei ist, doch wir wissen nie, wann es angefangen hat zu bröckeln.»
Jaroslav Rudiš› neuer Roman lässt mich ratlos zurück. Zum einen fasziniert von einem, der es auf einer langen Reise richtig rattert lässt. Man sitzt im Zug und Bilder flitzen vorbei, ob man hinsieht oder nicht. Der Blick schweift ab und bleibt hängen, an den vielen kleinen, eingestreuten Perlen im Roman, wenn Jans Blick einen barfüssigen, zerlumpten Bettler mit seinem Hund trifft, der immer wieder die blutenden Stellen an den schmutzigen Füssen seines Herrchens leckt. Oder die Liebesgeschichten, jene vom alten Winterberg, die sich erst auf den letzten Seiten klärt und jene von Jan Kraus und seiner Carla, die er auf einer seiner ersten Überfahrten krebskrank bis in den Tod begleitet.
Verunsichert darüber, wie gross der Hype in den Medien rund um dieses Buch ist, über einen Schriftsteller, dessen vorangegangene Bücher mich viel mehr bewegten, die vielleicht weniger experimentell waren, mich aber wesentlich näher an die Protagonisten liessen. Verunsichert über ein Buch, in dem ich zuweilen begonnen habe, quer zu lesen, weil ich wie Jan Kraus selbst den endlosen historischen Anfällen, den Litaneien aus Geschichte, Eisenbahnhistorie nicht mehr folgen konnte.
„Durch jedes Schlachtfeld und durch jede Beziehung zieht sich der Nebel des Krieges.“
Warum soll man dieses Buch lesen? Wer bloss Unterhaltung sucht, ist schlecht bedient. Wer sich aber einem formalen Experiment aussetzen lassen will, das vom Autor in seiner ganzen Konsequenz durchgeführt wurde, wird durch Groteske und ausschweifende Intelligenz belohnt.
Jaroslav Rudiš (1972) ist Schriftsteller, Drehbuchautor und Dramatiker. Er studierte Deutsch und Geschichte in Liberec, Zürich und Berlin und arbeitete u.a. als Lehrer und Journalist. Im Luchterhand Literaturverlag erschienen seine aus dem Tschechischen übersetzten Romane»Grand Hotel», «Die Stille in Prag», «Vom Ende des Punks in Helsinki» und «Nationalstraße2, bei btb ausserdem «Der Himmel unter Berlin». «Winterbergs letzte Reise», der erste Roman, den Jaroslav Rudiš auf Deutsch geschrieben hat, ist 2019 für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert. 2012 erschien bei Voland & Quist seine Graphic Novel «Alois Nebel» auf Deutsch, illustriert von Jaromír 99. 2014 erhielt Jaroslav Rudiš für sein Werk den Usedomer Literaturpreis, 2018 wurde er mit dem Preis der Literaturhäuser ausgezeichnet. Seine Romane «Grand Hotel» und «Nationalstraße» sowie «Alois Nebel» wurden verfilmt.