R. O. Kwon «Die Brandstifter», Liebeskind

In der Liebe liegt nicht unbedingt die Rettung, aber mit Sicherheit Leidenschaft. Will liebt Phoebe. Sie lernen sich auf einem us-amerikanischen Campus kennen. Sie aus gutem Haus, er ein mittelloser Stipendiat. Aber Phoebe entgleitet ihm in den Bann einer Sekte, einer kleinen radikalen Gruppe, die auch vor Extremismus und Gewalt nicht zurückschreckt.

Dass dieser Roman in den Staaten zu einem Bestseller geworden ist, erstaunt nicht. Die junge Autorin sticht mit ihrem Buch in eine stetig wachsende Eiterbeule, die sich in einer immer radikaler werdenden Gesellschaft in den verschiedensten Färbungen ausbreiten kann. Meinungen werden zu Wahrheiten erklärt, das Fremde zur Bedrohung, Toleranz zu Schwäche und Gewalt zur Selbstverteidigung. Nicht das Radikalisierung ein us-amerikanisches Phänomen wäre, aber wenn gesellschaftliche Veränderungen in den USA zum Modell dessen werden, worauf sich Europa vorzubereiten hat, dann lohnt sich die Lektüre eines Buches wie «Die Brandstifter» erst recht.

Schon das erste kurze Kapitel, in dem aus der Sicht von Will erzählt wird, lässt keinen Zweifel daran, dass eine Katastrophe geschehen ist, eine Explosion. Am einen Ort steigt Rauch aus, Menschen sterben und wahrscheinlich sitzen auf einem Dach in Sichtweite andere und lassen Weingläser klirren, stossen an auf das, was Bomben ins Rollen bringen sollen. «Die Brandstifter» ist ein Erklärungsversuch eines mehrfach Zurückgelassenen, eines Mannes, der zu verstehen versucht, aber nicht kann, der die Zündschnur hat brennen sehen, aber nicht in der Lage war, die Lunte zu löschen.

Will lernt Phoebe an der prestigeträchtigen Edwards University kennen. Er schaffte es nur mit einem Stipendium an diese Uni und muss seinen Lebensunterhalt mit Jobs finanzieren, mal im Service eines Gourmettempels, mal als Assistent an der Uni selbst. Will ist zurückhaltend, schickt einen Teil seines Verdienstes an seine alleinstehende Mutter und tut sich auch sonst schwer, in das Studentenleben neben Vorlesungen und Studium zu tauchen. Bis er Phoebe kennenlernt, einen Stern aus einer anderen Welt, eine junge Frau, der alles viel leichter zu fallen scheint. Was ganz zaghaft beginnt, wird für Will zu einer Obsession, denn je mehr Nähe er zu Phoebe gewinnt, desto mehr scheint sie sich ihm zu entziehen. Je besser er sie kennenlernt, desto durchscheinender und dünnwandiger wird das Konstrukt, worauf das Leben der jungen Studentin gebaut ist. Will erfährt von einer zerrissenen Familie, einem Vater auf Tauchstation und einer Mutter, die an der Seite ihrer Tochter bei einem Autounfall sterben musste. Er spürt, wie viel Schuldgefühle Phoebe mit sich herumträgt, wie sehr sie sich für den Tod ihrer Mutter verantwortlich fühlt. Nicht nur, weil sie sich weigerte, ihrer Mutter das Fahren zu überlassen, sondern weil Phoebe nicht jenes Leben leben wollte, das die Mutter vor Augen hatte.

Das alleine wäre Stoff genug für einen Roman. Aber R.O. Kwon will mehr. Phoebe lernt in dieser Phase grösster Verunsicherung, eine Verunsicherung, die durch die bedingungslose Liebe Wills nicht leichter geworden ist, den schon etwas älteren John Leal kennen, einen Mann mit Charisma und Mission. Ein Mann, der allerhand vorgibt; er habe einst Priester werden wollen, habe Nordkoreanern von China aus zur Flucht verholfen, sei gefangen genommen worden, hätte in Lebensgefahr fliehen können. John Leal sammelt eine kleine Gruppe Suchender um sich, die sich mehr und mehr von der Mitwelt abkoppeln, bis zur Selbstkasteiung geisseln und in einer kleinen Hütte im Nirgendwo Anlauf nehmen für diese eine finale Aktion, die das Übel mit einem lauten Knall ausbrennen soll.

Will muss zusehen. «Die Brandstifter» ist die Geschichte eines Zurückgelassenen, von einem, der die drohende Katastrophe sieht, aber unfähig ist, ihr entgegenzuschreiten, auf die brennende Lunte zu stehen. Eines jungen Mannes, der die Liebe gewinnt und gleichzeitig verliert, der mit jeder Umarmung den Kontakt mehr und mehr verliert, bis er nicht einmal mehr sicher ist, ob es Phoebe überhaupt noch gibt. Ein wichtiges Buch, ehrlich geschrieben, ohne amerikanischen Pathos, aber mit ergreifender Unmittelbarkeit.

R.O. Kwon wurde in Seoul geboren und wuchs in Los Angeles auf. Sie schreibt für verschiedene amerikanische Tageszeitungen und Magazine. Ihr Debütroman »Die Brandstifter« avancierte 2018 in den USA zu einem Bestseller und galt vielen Kritikern als eines der besten Bücher des Jahres. Er wurde u.a. für den National Book Critics Circle Award und den Los Angeles Times Book Prize nominiert. R.O. Kwon lebt in San Francisco.

Die Übersetzerin Anke Burger studierte Amerikanistik, Germanistik und Publizistik in Heidelberg, an der Freien Universität Berlin und der University of Texas in Austin. Sie schloss ihr Studium 1994 mit einem M. A. ab und siedelte dann nach San Francisco über, wo sie über sieben Jahre lang zu Hause war. 2003 wurde sie mit dem Wieland-Übersetzerpreis ausgezeichnet.

Webseite der Autorin

R.O. Kwon liest am 18. September in Zürich!

Beitragsbild © Smeeta Mahanti

Yoko Ogawa «Augenblicke in Bernstein», Liebeskind

Eine Mutter verliert eines ihrer Kinder. Es stirbt. Sie ortet die Schuld und versucht nun mit allen Mitteln ihre anderen Kinder vor Gefahren zu schützen, um fast jeden Preis. Was wie Mutterliebe aussieht, wird zur Besessenheit, zum Gefängnis. Yoko Ogawa, eine Grosse der japanischen Literatur, hat einen feinsinnigen, fast märchenhaften Roman über drei Geschwister im geschlossenen Garten geschrieben.

Bei einem Besuch in einem Park wird das jüngste Kind von einem grossen Hund im Gesicht abgeleckt. In der Folge stirb das Kind und für die Mutter ist klar, dass der böse Hund die Schuld am Tod ihrer kleinen Tochter trägt. Um die drei älteren Geschwister des toten Mädchens vor ähnlichem Schicksal zu schützen, zieht sich die Mutter mit ihnen in eine Villa am Rand einer Stadt zurück, ein Haus mit grossem Garten, umfangen von einer mannshohen Mauer. Die Villa gehörte dem von ihr getrennten Ehemann, einem pleite gegangenen Verleger von Enzyklopädien. Während die Mutter ihrer Arbeit als Pflegerin im Ort nachgeht, überlässt sie die Kinder im Haus sich selbst und einem ganz bestimmten Stundenplan. Sie warnt sie vor den Gefahren der Aussenwelt und befiehlt ihnen gar, ihre Namen aus dem alten Leben, ja ihre Vergangenheit zu vergessen. Zukünftig heisst die grosse Schwester Opal, die jüngeren Brüder Achat und Bernstein.

Romane aus Japan oder von AutorInnen, die mit Japan stark verbunden sind und sich mit dem Thema des „Sich Einschliessens“ beschäftigen, haben Tradition. Wohl auch deshalb, weil viele Auswirkungen gesellschaftlicher Missstände in Japan anders wahrgenommen werden, denke man nur an das Phänomen der Hikikomori (Menschen, die sich freiwillig in ihrer Wohnung oder ihrem Zimmer einschliessen und den Kontakt zur Gesellschaft verweigern oder auf ein Minimum reduzieren).

Das Phänomen des sich Entziehens, Kinder um jeden Preis vor allem schützen zu wollen, ist aber beileibe kein japanisches. Medienberichte von Eltern, die ihre Kinder unter Verschluss halten, von mehr oder weniger misshandeln oder verwahrlosenKindern gibt es zuhauf. Yoko Ogawa geht es aber weder um ein Verbrechen, noch um die verstiegene Mutterliebe einer vom Wahn Getriebenen. „Augenblicke in Bernstein“ konzentriert sich auf die Geschwister im begrenzten Kosmos eines grossen Hauses mit umschlossenem Garten. Die drei Kinder sind nicht unglücklich, arrangieren sich mit ihrem Sein, nehmen Teil an der Welt im Kleinen, lernen aus den Enzyklopädien ihres Vaters und lieben sogar ihre Mutter, von der sie glauben, sie würde sie schützen.

Das jüngste der Kinder mit Namen Bernstein bekommt irgendwann eine Augenkrankheit. Über das eine Auge zieht sich ein bernsteinfarbener Schleier. Und weil der Junge in eben dieser Zeit damit beginnt, auf den Seitenrändern der Enzyklopädien, die er eifrig studiert zu zeichnen und aus diesen Zeichnungen „Daumenkinos“ entstehen, in denen die Mutter die Anwesenheit ihrer verstorbenen Tochter sieht, wird aus der Augenkrankheit eine besondere Fähigkeit, eine Art des Sehens, eine Verbindung zu einer Welt, die nicht nur ausserhalb der Mauern liegt, sondern ausserhalb der Zeit.

Yoko Ogawa beschriebt ohne psychologische Deutung, bezaubert dieses eingeschlossene Leben der drei Geschwister, die sich in grosser Liebe tragen. Ins Erzählen eingefügt sind die Vorbereitungen einer Ausstellung von Bernsteins Zeichnungen. Bernstein ist alt geworden, lebt in einer Altersresidenz. Losgelassen hat ihn diese eingeschlossene Kindheit nie, auch die tiefe Verbundenheit zu seinen drei Geschwistern.

„Augenblicke in Bernstein“ ist ein zauberhafter Roman, ganz wörtlich. Ein Roman, wie ihn nur Yoko Ogawa schreiben kann. Ein Roman mit Bildern, die bleiben, Geschichten, die auf unspektakuläre Weise bezaubern. Yoko Ogawa erzählt im Kleinen das Grosse.

Yoko Ogawa (1962) gilt als eine der wichtigsten japanischen Autorinnen ihrer Generation. Für ihr umfangreiches Werk wurde sie mit vielen Literaturpreisen ausgezeichnet, zuletzt mit dem Tanizaki-Jun’ichiro-Preis. Für ihren Roman »Das Geheimnis der Eulerschen Formel« erhielt sie den begehrten Yomiuri-Preis. Yoko Ogawa lebt mit ihrer Familie in der Präfektur Hyogo.
Die Übersetzerin Sabine Mangold (1957) studierte Germanistik und Kunstgeschichte, arbeitete als Dozentin für Deutsche Sprache und Literatur an der Universität Niigata in Japan und wirkt auch als Yogalehrerin und Fotografin. Sie übersetzte Werke von Haruki Marukami, Akira Yoshimura, Hitomi Kanehara u. a.

Rezension von «Zärtliche Klagen» (2017) auf literaturblatt.ch

Beitragsbild © Sandra Kottonau

Cynan Jones «Alles, was ich am Strand gefunden habe», Liebeskind

An der Küste findet der Hund eines alten Spaziergängers eines Morgens einen Toten, am Strand, weit weg von allem. Der Tote ist das Ende einer Geschichte, aber der Prolog zu einem Roman, der in der Presse als «Thriller» angepriesen wird, aber viel mehr ist als das. Eine Verlierergeschichte von Träumern, ein Psychogramm Verzweifelter.

Schon sein erster bei Liebeskind auf Deutsch erschienener Roman «Graben» ist eine «Parabel zwischen Gut und Böse». Eine Parabel allerding, die keinen Zweifel offen lässt, welche Seite mehr Gewicht in den ewigen Kampf werfen kann. Auch in «Alles, was ich am Strand gefunden habe» sind es zum Scheitern verurteilte Männerfiguren, Archetypen des Scheiterns, die sich im Roman irgendwann «über den Weg laufen» und das Geschehen kollabieren lassen.

Grzegorz, polnischer Migrant, verheiratet und Vater zweier kleiner Söhne, arbeitet in einem Schlachthaus Schicht. Ein trostloser Job, der nichts verspricht, der ihn abstumpfen und an der Menschlichkeit zweifeln lässt. Ein Mann, der sowohl an seiner Arbeitsstelle wie von seiner enttäuschten Frau schikaniert und ins Ungewisse getrieben wird. Grzegorz verschreibt sich nach der Arbeit Gelegenheitsjobs, die schnelles Geld versprechen. So auch eines Tages angeheuert auf einem Trawler im Meer, über dem ein Hubschrauber nachts Drogen abwirft. Diese Päckchen werden auf Schlauchboote verteilt, die mit dem Allernötigsten ausgerüstet das weisse Gold gleichmässig und unauffällig verteilt an die Küste bringen sollen. Grzegorz sitzt auf einem solchen Schlauchboot. Nur merkt er zu spät, dass sein bereits eingestellter elektronischer Kompass nicht funktioniert. Auf dem kleinen Schlauchboot im Dunkel der Nacht, ohne Verpflegung und Orientierung, mitten auf dem Meer, spitzt sich die eine Katastrophe zu.

Grzegorz Parallelfigur ist Hold, auch ein Getriebener. Vom Tod seines Freundes in ein Versprechen gedrängt, von dem er sich mehr fürchtet als verantwortlich fühlt, ist Hold überzeugt davon, irgendwann auf der Sonnenseite des Lebens stehen zu müssen. Irgendwann all die Träume, die er mit sich herumschleppt, wahr werden lassen zu müssen. So wie der Pole auf dem Boot, mit dem Versprechen, dass sich nun endlich alles zum Guten wenden würde, findet Hold am Strand ein Schlauchboot. Ein Schlauchboot mit einem Toten und mehreren Päckchen Kokain. Hold nimmt das weisse Pulver zu sich, das materialisierte Versprechen, dass nun alles endlich anders werden würde. Mit einem Mal sieht alles ganz einfach aus, als hätte ihm sein toter Freund aus der Ferne diese eine Chance zugeschoben. Aber aus der vermeintlich sicheren Sache, aus dem weissen Pulver Geld zu machen, wird ein ungleicher Kampf um Leben und Tod. Ein Kampf, den Cynan Jones nicht mit billiger Action und Unmengen von Brutalität und Blut austragen lässt. Einen Kampf, den Jones in seinen Protagonisten inszeniert, die sich dabei immer tragischer im eigenen Unglück verstricken.

Cynan Jones schrieb einen Thriller ohne das sonst so sinnlose «Beigemüse», das sich zu oft zum Wichtigsten aufbläst. Wie in den plumpen Kinostreifen, die mit Action protzen und Spannung mit Schock- und Schreckmomenten verwechseln. Jones bleibt beim Kleinen, siedelt die Action in der sich immer fataler breit machenden Verzweiflung der Protagonisten an. Und weil Cynan Jones nicht einfach chronologisch erzählt, ist es, als würde er seine grosse cineastische Schicksalgeschichte gleichzeitig an mehreren Enden zu zeichnen beginnen und sie so Seite um Seite, Stück für Stück zu einem wirklich grossen Ganzen zusammenfügen. Der Prolog gibt unmissverständlich zu verstehen; diese Geschichte, wenn sie denn wirklich endet, endet nicht gut. Der Roman ist mit so eisiger Schärfe erzählt, als würde kalter und eisnasser Wind durch die Seiten wehen. Cynan Jones Roman halte ich für ein Meisterstück. «Alles, was ich am Strand gefunden habe» erzählt von der permanenten Verzweiflung und dem alles dominierenden Wunsch, dereinst wie Phönix aus der Asche zu steigen. Genährt von der Wut darüber, dass es stets «die Falschen» schaffen, obwohl doch eigentlich sie an der Reihe wären. Wie Cynan Jones den Gepeinigten an den Grund der Seele leuchtet, ist meisterhaft.

Cynan Jones wurde 1975 in Wales geboren. Er ist Autor von vier Romanen und zahlreichen Erzählungen, die in Zeitschriften wie «Granta Magazine» oder der «New Welsh Review» veröffentlicht wurden. Für seinen Debütroman wurde er 2007 mit dem Betty Trask Award ausgezeichnet, für «Graben«» erhielt er 2014 den Jerwood Fiction Uncovered Prize. Cynan Jones lebt in der Nähe von Aberaeron an der walisischen Küste. «Alles, was ich am Strand gefunden habe» wurde aus den Englischen von Peter Torberg übersetzt.

Titelfoto: Sandra Kottonau

Yoko Ogawa «Zärtliche Klagen», Liebeskind

Es ist die Musik, die Ruhe, die Unaufgeregtheit, das Leben in der Stille, das Kammerspiel dreier Verletzter, die die Hauptrolle spielen in «Zärtliche Klagen», dem neusten Roman der Japanerin Yoko Ogawa. Ein Buch, dass man nach der letzten Seite ganz langsam schliesst und noch eine Weile über dem Herzen ruhen lässt, weil es dort angekommen ist.

Rukito fährt weg aus Tokio, hat genug von der Untreue ihres Mannes, den seelischen Grausamkeiten, denen sie sich nicht mehr entziehen kann. Sie fährt in die Berge, weg in das Landhaus ihrer Mutter, das weitab vom Lärm und der Hektik am Rande eines Waldes in einer kleinen Siedlung steht. Rukito ist Kalligrafin und nimmt sich vor, in der Abgeschiedenheit endlich die nötige Zeit aufzubringen, um die Memoiren einer alten, englischen Dame abzuschliessen. Das Haus in den Bergen soll verkauft werden, stand über Monate leer. Ein Ort ihrer Kindheit, der Erinnerungen. In der gleichen Siedlung leben Nitta, ein ehemaliger Pianist und nun gefragter Cembalobauer zusammen mit seiner jungen Assistentin Kaoru. Nitta baut dort in jener Stille und Abgeschiedenheit filigrane Instrumente, deren gezupfte Klänge in der Werkstatt des Meisterbauers zuhause zu sein scheinen.
Was sich zu Beginn der Lektüre wie eine leichte, unbeschwert herzliche Nachbarschaft entwickelt, wird immer mehr zu einem gemeinsamen Weg in die Tiefen der Verdrängung. Alle drei sind Entflohene, Weggelaufene, vom inneren Frieden Verlassene.

Yoko Ogawas Roman «Zärtliche Klagen» ist wie ein japanischer Garten, perfekt inszeniert, geheimnisvoll, aus europäischer Sicht etwas fremd. Wie die drei Protagonisten in Yoka Ogawas Roman agieren, erinnert an japanische Filmklassiker, die man liebt und doch nicht ganz versteht. «Les Tendres Plaintes» ist Musik des französischen Barock-Komponisten Jean-Philippe Rameau, von Kaoro, Nittas Assistentin, auf dem Cembalo so eindringlich gespielt, wie die Bilder und Emotionen, die sich beim Lesen Yoko Ogawas Roman auftun.

Yoko Ogawa gilt als eine der wichtigsten japanischen Autorinnen ihrer Generation. Für ihr umfangreiches Werk wurde sie mit vielen Literaturpreisen ausgezeichnet, zuletzt mit dem Tanizaki-Jun’ichiro-Preis. Für ihren Roman »Das Geheimnis der Eulerschen Formel« erhielt sie den begehrten Yomiuri-Preis. Yoko Ogawa lebt mit ihrer Familie in der Präfektur Hyogo. «Zärtliche Klagen» wurde übersetzt von Sabine Mangold.

China Miéville «Dieser Volkszähler», Liebeskind

Irgendwo in den Bergen liegt ein Dorf an einem Fluss, ein Brückendorf. Irgendwann in der Zukunft spielt die Geschichte eines Schlüsselmachers und seines Sohnes, nicht die Geschichte einer Liebe, sondern des gegenseitigen Misstrauens. China Miéville, ein Engländer aus Norwich, schrieb einen Roman zwischen Traum und Wirklichkeit, eine Geschichte aus einer anderen, fremden Zeit. Eine Geschichte in starken, dunklen, ungeheuren Bildern.

Ich lese kaum Fantasy Romane, mag das Abgewandte von der Realität nicht. Vor einigen Jahren waren es höchstens die Romane von Patrick Rothfuss, die mir ein Freund zu lesen empfahl. Aber auch jene entführten mich in eine mir fremde Unwirklichkeit. China Miéville schreibt aber nicht die Sorte Romane. Sie spielen nicht in weltfremden Ländern, vergessenen Zeiten. Es gibt keine Zwerge, Zauberer, Orks und Elfen. «Dieser Volkszähler» erzählt eine Geschichte in unbestimmter Zukunft, in einer Zeit, in der sich vieles von der Gegenwart unterscheidet, unsere Gegenwart kaum noch eine Erinnerung ist, vieles vergessen scheint. Ein Mann, von Beruf Schlüsselmacher, lebt mit seiner Frau und seinem Sohn hoch über dem Brückendorf weit ab in einem Haus am Hang. Man sucht den Schlüsselmacher auf, bittet um ganz spezielle Schlüssel, die der Handwerker in seiner Werkstatt im Erdgeschoss seines Hauses fertigt. Schlüssel, die nicht unbedingt Türen öffnen sollen. «Seine Kunden kamen aus dem Dorf zu ihm hinauf und baten um Dinge, um die Menschen üblicherweise bitten; um Liebe, Geld, darum, etwas zu öffnen, die Zukunft zu erfahren, Tiere zu heilen, Sachen zu reparieren, stärker zu werden, jemanden zu verletzen oder zu retten, zu fliegen -, und er machte ihnen einen Schlüssel dafür.»

Die Mutter ist still, der Vater noch mehr, das Dorf weit weg, Besucher selten, Besuch in der Stadt um Fluss auch. Bis der Sohn eines Tages in einem Alp aus Angst und Schrecken hinunter ins Dorf flüchtet und schluchzt, sein Vater habe seine Mutter im Streit erschlagen. Für eine Weile bleibt der Junge im Ort, bei den Kindern ohne Eltern, geführt vom grossen Mädchen Somma, den Kindern, die in Ruinen hausen, den Brückenkindern, die Fledermäuse fangen und essen.

Die Geschichte spitzt sich zu, ungemein atmosphärisch erzählt, bis dieser Volkszähler zu klären versucht, was dem Jungen unerklärbar bleiben wird. Der Junge muss zurück zu seinem Vater, einem Mann, dem er zu tiefst misstraut, der seine Einsamkeit noch viel grösser werden lässt. Ein Roman wie ein Traum, schlafwandlerisch erzählt. Während ich las, stiegen Bilder auf, die sich wie düstere, in dunkles Licht getauchte Theaterkulissen in meine Erinnerung brannten.

China Miéville schreibt Fantasy anders. Auch viel konzentrierter, denn seine Novelle hat gerade einmal 172 Seiten. Im Gegensatz zu den meist episch angelegten Fantasy-Wälzern, die einem am liebsten nie mehr entlassen würden.

China Miéville, 1972 in Norwich geboren, gilt als einer der wichtigsten Autoren der zeitgenössischen Fantastik. Er studierte Sozialanthropologie in Cambridge und Politikwissenschaft an der London School of Economics. Sein Debütroman «König Ratte» erschien 1998. Für seinen Roman «Perdido Street Station» erhielt er 2001 den Arthur C. Clarke Award sowie den British Fantasy Award. Mit seinem Roman «Die Stadt & Die Stadt» gewann er 2010 neben dem Arthur C. Clarke Award auch den Hugo Award und den World Fantasy Award. In Deutschland wurde er drei Mal mit dem Kurd-Laßwitz-Preis ausgezeichnet. China Miéville kandidierte 2001 für die Internationale Sozialistische Allianz bei den britischen Unterhauswahlen, bis 2013 war er aktives Mitglied der Socialist Workers Party. Er lebt und arbeitet in London.

Bild: Sandra Kottonau