Dacia Maraini «Ein halber Löffel Reis», Folio

Die grosse italienische Schriftstellerin Dacia Maraini verbrachte einen Grossteil ihrer Kindheit in Japan. Weil sich aber Japan damals an der Seite Hitlers und Mussolinis in ihrem ganz eigenen Nationalismus sonnte, war die Familie der Schriftstellerin gezwungen, sich für eine Seite zu entscheiden, was zur Folge hatte, dass man sie mit vielen anderen in ein Konzentrationslager steckte. „Ein halber Löffel Reis“ ist alles andere als eine Abrechnung.

Was, wenn eines Tages Soldaten vor der Wohnungstür stehen und die ganze Familie auffordern, das Nötigste in jeweils einen Koffer zu packen und in den Lastwagen vor der Tür zu steigen? Ein Szenario, das millionenfach immer und immer wieder Biographien erschüttert und Menschen in eine Zukunft verfrachtet, die ungewisser und bedrohlicher nicht sein kann. Traumatische Erlebnisse, die das Gift hätten, selbst mit dem scheinbaren Glück des Überlebens, ein Leben irreparabel zu beschädigen.

Dacia Maraini wurde zusammen mit ihrer Familie für Jahre in ein japanisches Konzentrationslager weggesperrt, weil sich ihr Vater geweigert hatte, die japanischen Militärgesetze zu akzeptieren. Die Familie erlebte Ungeheueres; Hunger, Krankheit, Eiseskälte, Schikanen, Misshandlungen und die permanente Drohung, sie irgendwann umzubringen. Ausgerechnet die Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki, hunderttausendfaches Leid, brachten in einem endlos scheinenden Weltkrieg zumindest in Japan eine Wendung. Die Familie wurde freigelassen. Ihr gelang die Heimreise nach Italien, nach Sizilien.

Dacia Maraini «Ein halber Löffel Reis», Folio, 2025, aus dem Italienischen von Ingrid Ickler, 240 Seiten, CHF ca. 34.90, ISBN 978-3-85256-910-9

Was Dacia Marainis Familie während den Jahren in diesem Konzentrationslager erlebte und mit in ihr langes Leben als Schriftstellerin zu tragen hatte, hätte allen Grund für Bitterkeit gehabt. Aber was die Schriftstellerin in ihrem Buch erzählt, ist nicht einmal ein Verarbeitungsversuch, allerhöchstens eine Vergegenwärtigung. Dacia Maraini erzählt aus der Perspektive der Reife, der Weisheit. Und Dacia Maraini erzählt liebend, was bei der Lektüre ihres Buches als Grundton durch alles klingt; die Liebe zu diesem Land und seiner Kultur, die Liebe zu ihrer Familie und deren Unerschütterlichkeit, selbst in Zeiten grössten Hungers und der Nähe des Todes, die Liebe zu den kleinen Dingen, den Gesten, den Worten, den Geschichten, der Sprache. Was die kleine Dacia, ihre ganze Familie, damals am Leben hielt, ist das gleiche, dass sie über die Jahrzehnte schreiben und kämpfen liess. Wenig verwunderlich, dass Dacia Maraini in Italien zu einer Ikone der Frauenbewegung, der Gleichberechtigung wurde.

In „Ein halber Löffel Reis“ erzählt sie von den Jahren bis zur Befreiung aus der Gefangenschaft. Sie schildert alles, ohne dem Schrecken zu huldigen. Nicht einmal die drangsalierenden Wärter werden als Monster und Unmenschen geschildert. Maraini richtet den Blick auf ihre Familie, die starken Bindungen untereinander, jene wachsende Kraft in ihr, überleben, leben zu wollen. „Ein halber Löffel Reis“ ist aber auch nicht blosses Erzählen. Eingebunden in das Erinnern sind essayistische Passagen über Literatur, Religion, Musik, über Leugner und Fanatiker, über Menschrechte. „Ein halber Löffel Reis“ ist durchsetzt von ihrem Engagement, erzählt, wie aus dem Leben in absoluter Isolation jenes Leben wurde, mit dem sich die Autorin über Jahrzehnte einen Namen machte.

Dacia Maraini ist keine Verwundete. Das macht die Lektüre ihres Buches zu einem grossen Gewinn. „Ein halber Löffel Reis“ ist eine Liebeserklärung an die Kraft der Familie, die Stärke eines Lebens – aber auch die Liebeserklärung an Japan, das Land ihrer Kindheit. Als das Mädchen nach dem Krieg nach Italien zurückkehrte, musste sie ihre Muttersprache erst wieder neu verinnerlichen. Japan war und ist das Land ihrer Kindheit. Aber vielleicht ist „Ein halber Löffel Reis“ auch ein Manifest der Versöhung. Und ein Fingerzeig gegen all das, von dem viele glauben, es wäre nach dem letzten Weltkrieg von der Bildfläche verschwunden. Dabei zieht sich das Netz an Konzentrationslagern in der Gegenwart wie das Netz eines Krebsgeschwürs über den ganzen Planeten, als Auswuchs dessen, was Unterdrückung, Willkür, Nationalismus und Diktatur anrichten können.

Veranstaltung im Literaturhaus Zürich, in Kooperation mit dem Istituto Italiano di Cultura Zurigo und der Società Dante Alighieri Zurigo

Dacia Maraini, eine der wichtigsten Stimmen Italiens sowie feministische Pionierin. Geboren 1936 in Fiesole, aufgewachsen in Japan und Sizilien. Aufgrund der antifaschistischen Haltung des Vaters in einem japanischen Gefangenenlager interniert, frühe Erfahrung von Hunger. Sie war eine der Ersten, die über Gewalt an Frauen schrieb, begründete experimentelle Theater und reiste mit P. P. Pasolini für Filmprojekte nach Afrika, schrieb Drehbücher u. a. für Margarethe von Trotta.

Ingrid Ickler studierte nach Stationen in Paris, Rom und Ferrara Übersetzungswissenschaften in Heidelberg und übersetzt heute aus dem Englischen, Französischen und Italienischen. Daneben arbeitet sie als Autorin und Moderatorin.

Dacia Maraini «Tage im August», Rezension auf literaturblatt.ch

Beitragsbild © Henning Klüver

Monika Helfer «Der Bücherfreund», illustriert von Kat Menschik, Hanser

So wie es für jede Autorin, jeden Autor aus dem Hause Suhrkamp eine Adelung ist, wenn in der Insel-Bücherei ein Kleinod erscheint, so passiert mittlerweile ähnliches, wenn man in Zusammenarbeit mit der Illustratorin Kat Menschik ein Buch herausgeben kann.

Nicht nur dass Kat Menschik die erfolreichste Illustratorin im deutschen Sprachraum und damit Aufmerksamkeit garantiert ist. Die Künstlerin versteht es wie kaum eine andere, einen Text zum Glänzen zu bringen. Dabei ist Illustration eine ungenügende Kategorie, denn die Illustrationen Kat Menschiks bebildern nicht bloss das Geschriebene, die Geschichte. Kat Menschiks Bilder sind eine eigene „Tonspur“, eine überaus sinnliche Spur, die aus einem Text auf Papier ein Gesamtkunstwerk macht, ein Kunstwerk mit optischem Wiedererkennungswert. Die Bilder reissen auf und geben mir aber trotzdem so viel Freiraum in meiner eigenen Vorstellungskraft, dass sie mich weder einengen noch zudecken. Ihre Illustrationen tauchen etwas ein, hüllen in ein Licht, versinnlichen.

Monika Helfer «Der Bücherfreund», Hanser, illustriert von Kat Menschik, 80 Seiten, CHF ca. 29.90, ISBN 978-3-446-28273-5

Und wenn es dann die Schriftstellerin Monika Helfer ist, die sich mit ihrer biographischen Trilogie „Bagage“-„Vati“-„Löwenherz“ ins Bewusstsein vieler Lesender geschrieben hat und nun mit einem Büchlein „Der Bücherfreund“ zusammen mit Kat Menschik auf den Büchertischen auftaucht – ein sicherer Wert. Ein Buch, das mit Sicherheit meine Unterstützung nicht benötigt. Aber weil Monika Helfer mit diesem Text mein eigens Dasein, mein Leben und meine Leidenschaft ganz besonders zum Mitschwingen bringt, ist eine Reaktion auf diese Nachmittagslektüre an einem verhangenen Sonntag Nachmittag unausweichlich.

Mein Vater war ein Bücherfreund. Ein blasser Mann, der das Wetter mied und Tag und Nacht über seinen Büchern sass. Das heisst, wenn er Zeit hatte, und Zeit hatte er viel. Er liebte seine Bücher mehr als die Menschen, denn sie konnten ihm Böses antun. Die Bücher niemals und nie.

Was bedeuten Bücher für sie? Was macht ein Buch zu einem guten Buch? Was würden sie tun, wäre die Existenz ihrer eigenen Bibliothek bedroht? Beschäftigen sie sich damit, was dereinst mit ihrer Bibliothek passiert, wenn ihr Leben ein Ende gefunden hat? 

Als meine Kinder noch klein waren, meine Bücherregale zu ihrem Dasein gehörten, fragte mich einmal einer meine damals noch kleinen Söhne, was mit meinen Büchern passieren würde, wenn ich nicht mehr leben werde. Kinder fragen ganz direkt. Damals stammelte ich, ich hätte keine Ahnung. „Die nehme ich dann alle in meine Wohnung“, meinte der Kleine. Mittlerweile weiss ich sehr gut, dass meine Bücher zur Last werden, wenn ich es nicht zu Lebenszeiten schaffe, sie verträglich zu dezimieren. Aber wie kann ich mich schmerzfrei von ihnen trennen? Meine Bücher sind ein Teil von mir, selbst dann, wenn ich genau weiss, dass ich sie zum allergrössten Teil kein weiteres Mal lesen werde. Aber meine Bibliothek ist meine Spur durch mein Leben. Ein Leben weit über meinen eigenen Horizont hinaus. Ich bin ein Bücherfreund. Und sie?

Der Vater in Monika Helfers Erzählung „Der Bücherfreund“ war es auch, mit Haut und Haar, ein Leben lang. Ein Umstand, der die Erzählerin geprägt hat. Monika Helfer erzählt die Geschichte eines Abenteuers, denn die Bibliothek dieses Mannes war bedroht. Er hätte sie auflösen müssen. Sie war nicht nur von Krankheit und Sterben innerhalb der Familie bedroht, sondern auch von historischen, politischen Begebenheiten. Der Mann sah sich gezwungen, die Hundertschaften an Büchern an einem sicheren Ort zu verstecken, sie wegzubringen. Aber wie versteckt man eine Bibliothek vor ihrem sicheren Verlust? So, dass man sie dereinst wieder zurückholen kann. Monika Helfers Erzählung ist die Geschichte eines Mannes, der alles zu verlieren droht, seine Bibliothek, seine Familie, seine Arbeit.

Für etwas mehr Geld gibt es eine auf 235 Exemplare limitierte Edition des «Bücherfreunds» mit einem von Kat Menschik signierten und nummerierten Siebdruck, einer Original-Illustration im Format 10,3 cm x 16,9 cm.

Monika Helfer, geboren 1947 in Au/Bregenzerwald, lebt in Vorarlberg. Sie hat zahlreiche Romane, Erzählungen und Kinderbücher veröffentlicht. Für ihre Arbeiten wurde sie unter anderem mit dem Österreichischen Würdigungspreis für Literatur, dem Solothurner Literaturpreis und dem Johann-Peter-Hebel-Preis ausgezeichnet. 

Kat Menschik, geboren 1968 in Luckenwalde, ist freie Illustratorin. Zuletzt veröffentlichte sie in der Reihe Illustrierte Lieblingsbücher, eine der schönsten Buchreihen der Welt. Zahlreiche von ihr ausgestattete Bücher wurden prämiert.

Beitragsbild © Minitta Kandlbauer

Carlo Cassola «Ins Holz gehen», Kampa

Was für ein Geschenk, wenn man vergessene Schätze kennenlernt, wenn Verlage Namen in ihr Programm aufnehmen, denen man sonst nie und nimmer begegnet wäre. Der vor fast 40 Jahren verstorbene Römer Carlo Cassola schrieb mit dem schmalen Roman „Ins Holz gehen“ ein Denkmal der Schlichtheit, der Reduktion, der Ehrlichkeit.

Die Geschichte ist schnell erzählt; ein noch junger Witwer geht mit einer Gruppe Holzarbeiter einen Winter lang in ein abgelegenes Tal, um jene Bäume zu schlagen, die vertraglich ausgemacht wurden. Man nimmt Vorräte mit, macht sich auf einen langen, beschwerlichen Weg, baut sich eine einfache Hütte, teilt sich die Arbeit und das karge Leben im Niemandsland, hofft, dass nichts den Lauf der Dinge unterbricht und das zurückgelassene Leben einem danach wieder mit offenen Armen empfängt. Fünf Männer, durch die Arbeit verbunden, holzen, essen, spielen, schlafen und rauchen – mehr nicht.

Heutigen Geschichtenerzählern würde das nie und nimmer reichen. Eine solche Geschichte müsste mit einer ordentlichen Portion Dramatik aufgepeppt werden. Wenigstens die Psychologie unter den fünf verschiedenen Männern müsste zu Zerwürfnissen führen, einem Unglück, irgend einer Form von Katastrophe. Aber Carlo Cassola tat es nicht. Er dramatisiert nicht, mischt nicht auf, würzt nicht, schlägt keine Wellen. Aber wahrscheinlich ging es dem Autor auch gar nicht darum, eine Geschichte, eine Story zu erzählen. Carlo Cassola wollte ein Bild malen. Ohne Effekte, ohne grelle Blitzlichter. Sein Bild ist die Schilderung eines Winters, eines Lebens, einer Sehnsucht, einer Angst, einer grossen Trauer. „In Holz gehen“ ist ein Roman, der ins Innere geht, der sich dem Kern nähert, existenzielle Fragen stellt.

Carlo Cassola «Ins Holz gehen», Originaltitel: Il taglio del bosco, Kampa, aus dem Italienischen von Marina Galli, 112 Seiten, CHF 28.00, ISBN 978-3-311-10119-2

Gugliermo ist noch nicht einmal vierzig und hat nach acht Jahren Ehe seine Frau verloren. Sie starb schnell, an einem Fieber, das sich niemand erklären konnte. Gugliermo lebt mit seinen Kindern und seiner Schwester, die ihm im Haus zur Hilfe gekommen ist, in einer Art Schockstarre, noch immer unfähig, das Geschehene als Tatsache zu akzeptieren, ein neues Kapitel zu beginnen, sein unterbrochenes Leben wieder aufzunehmen. Wieder ein Winter weg im Holz, weg von all den Dingen und Orten, die ihn an das verlorene Leben mit einer Frau erinnert, die er noch immer liebt, kommt ihm gerade recht. Jetzt sowieso, wo er weiss, dass seine Schwester zum Rechten schaut, ihm den Raum gewährt und er sich wenigstens als Ernährer behaupten kann.

Sie ziehen weit weg von den letzten Dörfern, widmen sich ganz der harten Arbeit in dem grossen Stück Wald, das man ihnen zur Rodung verkauft hatte. Fünf Männer, die nicht durch Freundschaft, sondern durch wirtschaftliche Interessen verbunden sind. Jeder mit einer Geschichte, mit der man bei den andern nicht zu hausieren gedenkt. Man macht seine Arbeit, isst die kargen Mahlzeiten, spielt an den langen Abenden Karten, lässt das Feuer nicht ausgehen und hofft, dass einem weder Wetter, Krankheit noch Unglück einen Strich durch die Rechnung machen. Gugliermo hat sich ergeben, in seiner Arbeit, seinem Leben, in denen er längst längst aufgegeben fühlt. Durch einen ganzen Winter, über die Weihnachtstage bis in den Frühling hinein.

Carlo Cassola erzählt ganz schlicht, als wäre seine Absicht eine dokumentarische. Aus heutiger Sicht ein Leben, dass in seiner Einfachheit Lichtjahre vom unsrigen entfernt scheint. Ein Leben wie ein Holzschnitt. Aber auch ein Leben, das Tiefen und Abgründe nicht ausleuchtet. Da ist ein Enttäuschter, ein Zurückgelassener, ein Gefangener, ein Verschlossener, der sich nach Erlösung sehnt, aber keine Ahnung hat, wie er sie gewinnen soll. „Ins Holz gehen“ ist reinste Poesie, ein Sprachschmuckstück, eine literarische Perle.

Carlo Cassola, 1917 in Rom geboren, begann An­fang der vierziger Jahre, kurz nachdem er sein Jurastudium absolviert hatte, mit dem Schreiben. Während des Zweiten Weltkriegs war er am Widerstand der Partisanen beteiligt, eine Erfahrung, die viele seiner Erzählungen prägte. In simpler Prosa mit lyrischem Unterton porträtiert sein Werk zumeist die Landschaft und die Menschen der ländlichen Toskana. 1960 erhielt Carlo Cassola für «Il taglio del bosco» den Premio Strega, der Roman wurde von Luigi Comencini verfilmt. Carlo Cassola starb 1987 in Monte­ Carlo.

Marina Galli, geboren 1993, studierte Geschichte, Verglei­chende Romanische Sprachwissenschaft und Italienisch in Zürich, Venedig und Lau­sanne mit Spezialisierung in literarischer Übersetzung am Centre de traduction litté raire. Sie übersetzt freiberuflich aus dem Italienischen und Fran­zösischen und lebt in Basel.

Beitragsbild © Kampa

Alexandra von Arx «Das mit uns», Zytglogge

Die einen tun alles, um einmal aus der Masse der Anonymität aufzutauchen, vergessen alle Scham, um ein Stück Berühmtheit zu gewinnen, koste es, was es wolle. Andere leben ein Leben lang in den Mühlen der Pflichterfüllung und Selbstvergessenheit, um resümierend festzustellen, dass da nichts geblieben ist.

Iris ist seit kurzem pensioniert und hat genügend Zeit zu resümieren, auf das Vergangene zurückzuschauen. Iris ist nicht unzufrieden mit ihrem Leben, war eingebettet in einen Beruf, eine Aufgabe, auch wenn das mit der Liebe, mit einer Familie nicht reichte. Sie geniesst den Ruhestand, weil er ihr endlich die Möglichkeit gibt auszubrechen, zaghaft andere Wege zu gehen. Gleichzeitig merkt sie, dass der leichte Weg, Kontakte zu knüpfen mit dem Ausscheiden aus einem Arbeitsprozess, einem Arbeitsumfeld schwieriger geworden ist. Eine Zeit der Neuorientierung.

Bei einem spontanen Besuch der örtlichen Buchhandlung findet sie im Regal der einheimischen AutorInnen ein Buch mit dem Titel „Auf Umwegen zum Erfolg“ von Silvan J. Mueller. Wäre der Name des Autors nicht gewesen, hätte der Titel sie nicht zum Kauf animiert. Aber Silvan J. Mueller. Sie hatte den Mann gekannt. Er war über viele Jahre ihr Geliebter gewesen. Er, verheiratet, Vater einer Familie, mitterweile ein alter Mann, über achtzig, weit weg von ihrer Gegenwart. Trotzdem war er damals ihre Hoffnung, eine Tür, ein Versprechen, dem er aber eines Tages mit einem Brief ein Ende setzte, er habe sich „das mit uns“ lange überlegt und sei zum Schluss gekommen, die Beziehung habe keine Zukunft.

Iris trägt das Buch mit nach Hause, obwohl sie schon in der Buchhandlung am liebsten zu lesen begonnen hätte. Silvan, damals noch Silvan Müller, war ihr Liebesglück, ein grosses Stück ihres Lebens. Trotzdem blieb sie der Seitensprung, die zweite Wahl, jenes Glück, das man einfach abstreifen konnte. Gleichzeitig weiss Iris, dass vieles in Silvans Leben nicht so gelaufen wäre, wie es lief, wäre sie nicht Teil seines Lebens gewesen. Umso schockierender die Feststellung, dass sie mit keinem Wort in der Biographie dieses Mannes vorkommt, nicht einmal die Auswirkungen ihrer Liebe. Iris muss feststellen, dass sie eine Leerstelle ist, jemand, auf den man ganz leicht verzichten kann, der es nicht wert ist, erwähnt zu werden, nicht einmal verschlüsselt.

Alexandra von Arx «Das mit uns», Zytglogge, 2025, 152 Seiten, CHF ca. 28.00, ISBN 978-3-7296-5181-4

Mit einem Mal wird Iris in die Vergangenheit zurückkatapultiert, in ein grosses Stück Leben, das sie längst abgeschlossen und verdaut glaubte. So nichtig ihre Rolle im niedergeschriebenen Leben ihrer einstmaligen grossen Liebe, so gross der Schmerz darüber, dass sie scheinbar spurlos an jenem Leben vorbeigegangen ist, obwohl sie weiss, dass dem nicht so ist.
Sie liest das Buch ein zweites Mal mit der Absicht, das Geschriebene zu korrigieren, zu ergänzen, bis mehr und mehr klar wird, dass Iris es bei den schriftlichen Korrekturen nicht sein lassen kann. Aber nicht nur mit den Korrekturen in diesem Buch, in der Sicht auf die Vergangenheit. Auch Korrekturen in ihrem Leben jetzt. Einst hatte sie den Wunsch zu studieren, stand „Studium“ ganz oben auf ihrer Prioritätenliste. Aber das Leben korrigierte diese Liste, schob ihre Wünsche immer weiter nach hinten.

Mit einem Mal beginnt sich Iris Fragen zu stellen, die sie sich nie zu stellen traute oder sie ihr schon vor der Antwort irrelevant schienen. Fragen, die mit einem Mal ihr Selbstverständnios erschüttern. Silvan pulverisierte Pläne. Und irgendwann schien sie bloss noch zu funktionieren, erst recht, als sich Silvan “für die Familie“, gegen sie entschied.

Wir alle frisieren unsere Vergangenheit, korrigieren und beschönigen, dramatisieren und verharmlosen. Jede Sicht auf die Vergangenheit ist eine Zensur. Das eine wird zum Leuchten gebracht, anderes deckt man mit einer schweren, lichtundurchlässigen Decke zu. Iris macht die Missachtung, das Leugnen des einen zum Motor ihrer selbst. Iris blättert in ihrem eigenen Leben zurück und macht das Erinnern zu einer Selbstvergewisserung.

Alexandra von Arx beschreibt sechs Tage. Eine Woche des Um- und Aufbruchs. Eine Neuschöpfungsgeschichte. Alexandra von Arx ist eine Meisterin der feinen Töne, «Das mit uns“ die Kampfschrift einer Auferstehung.

Interview

Ein erstaunliches Buch, nur schon die Ausgangslage. War es doch über Jahrhunderte klar, dass die Frau kaum je aus dem Schatten des Gatten, geschweige denn eine Schattenfrau aus jenem des Geliebten heraustreten konnte. Wie bist du zum Stoff, zur Idee gekommen?
Die Idee entstand beim Lektorieren einer Biografie. Darin ging es um zwei Brüder, die vor allem von ihrem beruflichen Werdegang erzählten. Frauen kamen praktisch nicht vor, auch die Ehefrauen kaum. Das beschäftigte mich sehr. Ich stellte mir die Empörung von Frauen vor, die in einer Männerbiografie eine wichtige Rolle zu spielen glauben, aber letztlich kaum Erwähnung finden. Diese Empörung wollte ich literarisch verarbeiten. Mit der Wahl einer Protagonistin, die in einer Biografie aus naheliegenden Gründen nicht erwähnt werden kann, trieb ich die Thematik auf die Spitze.

Iris ist pensioniert, im Unruhestand. Wie so viele, die in einen Alltag eingespannt sind, die erste richtige Chance der Besinnung, der Neuorientierung. Das Buch, das sie zuerst in eine tiefe Krise stürzen lässt, wird zu einem Türöffner. Viel mehr als eine Kreuzfahrt in der Karibik oder ein Survivalkurs in den Wäldern des Mittellandes. Ent-Täuschung wörtlich genommen?
Die Autobiografie von Silvan hat tatsächlich eine gewisse Kraft. Sie wirft Iris zurück in die Vergangenheit, an einen wunden Punkt in ihrer eigenen Biografie. Vielleicht ist der Ruhestand der richtige Moment, um sich mit einem Thema auseinanderzusetzen, das man im Berufsalltag erfolgreich verdrängt hatte. Dazu braucht es weder eine Kreuzfahrt noch einen Survivalkurs. Bücher sind kraftvoll genug.

Silvan ist über 80 und schreibt ein Buch über sein Leben, zumindest über den Teil, den er als sein Leben sehen will. Ist das nicht ein ganz natürlicher Vorgang? Beschönigen nicht alle ihre Vergangenheit, permanent, selbst dann, wenn wir vorgeben, ehrlich zu sein?
Der Rückblick auf das eigene Leben ist nie objektiv, sondern sagt viel darüber aus, wie wir uns wahrnehmen oder wie wir wahrgenommen werden möchten. Die Auswahl der Ereignisse, die man erwähnt, und die Art, wie sie miteinander verknüpft werden, enthalten eine Wertung. Diese muss nicht unbedingt beschönigend sein.

Iris versucht zuerst die Geschichte, das Buch zu korrigieren, ihre Sicht zu rechtfertigen. Aber das Buch ist geschrieben, die Markierung gesetzt. Ist dein Buch die Geschichte einer Emanzipation, nicht zuletzt die Aufforderung zur Emanzipation, unabhängig vom Geschlecht?
Iris tritt aus der jahrzehntelangen Unsichtbarkeit heraus. Das ist ein grosser Schritt. Ob er als Emanzipation zu bezeichnen ist, weiss ich nicht.

„Alles ist eine Frage der Perspektive“, könnte man lakonisch kommentieren. Silvans Wahrheit ist nicht jene von Iris. Wir leben unter dem Zwang, stets alles in Schubladen zu ordnen. In gut und böse, in richtig und falsch, wahr und verdreht. Iris wird erst frei, als sie den Zwang ablegen kann und ihren Blick in eine offene Perspektive richten kann. Ist Schreiben nicht genau diese Befreiung?
Beim Schreiben kann ich in die Rolle einer anderen Person schlüpfen und dadurch die Perspektive wechseln. Das fasziniert mich. In der Konstellation von «Das mit uns» wäre vielleicht auch die Figur von Verena interessant. Denkbar ist, dass sie im bisherigen Narrativ unterschätzt wurde.

Alexandra von Arx, geboren 1972 in Olten, ist Juristin, Übersetzerin und internationale Wahlbeobachterin. Sie wurde mit zwei Förderpreisen für Literatur und mehreren Aufenthaltsstipendien ausgezeichnet. Ihre beiden ersten Romane sind 2020 und 2021 im Knapp Verlag erschienen, ihre Aufzeichnungen als Hüttenmitarbeiterin 2020 im orte Verlag.

«Ein Hauch Pink», Rezension mit Interview

«Im Dorthier», Gasttext auf der Plattform Gegenzauber

Webseite der Autorin

Beitragsbild © Alexandra von Arx

Andrea Gerster «Bleibender Schaden», Geparden

Anda hat es nicht auf die Sonnenseite des Lebens geschafft. Das Leben watscht sie gandenlos ab. Ein Leben, in das sie sich selbst und andere sie hineinmanövriert hatten. Ein Leben, das irgendwann nur noch aus Trümmern bestand, trotz all der guten Absichten, die da einmal waren.

„Bleibender Schaden“ ist ein ungemein eindringliches Buch. Das Buch einer Bruchlandung, von einem Leben, bei dem kein Stein auf dem andern bleibt. Ein Roman jener Sorte, die nicht beschönigen, keine Geschichtchen erzählen, weder bezaubern noch betören will – wenn dann nur durch die Sprache. Und das hat der neue Roman von Andrea Gerster ganz; die Qualität einer sprachlichen Offenbarung. Auch wenn es für die Geschichte beinahe einen Beipackzettel bräuchte.

Anda ist verheiratet, Mutter erwachsener Zwillinge und arbeitet als Ergothearpeutin in einer sozialen Einrichtung. Ein Beruf, bei dem körperliche Nähe Basis ist, unvermeidbar. Aber auch ein Beruf, der Risiken birgt, gerade dann, wenn Grenzen überschritten werden. Anda wird während einer Therapiestunde von einem älteren Patienten geschlagen. Zweimal. Mitten ins Gesicht. Schläge nicht nur ins Gesicht, Schläge in ihre Mitte, die eh schon lange aus dem Lot geraten ist. Anda kämpft um ihr Gleichgewicht. Nicht nur dass die Beziehung zu den erwachsenen Kindern schwierig geworden ist. Luk, ihr Mann, hat einen Seitensprung zugegeben, ein Affäre, die noch nicht durch ist. Aber statt Reue seinerseits schafft es Luk, ihr das schlechte Gefühl unterzuschieben, als wäre sie es, die den Schritt zur Wiedergutmachung machen müsste. Als läge es an ihr, ihm zu verzeihen.

Als unsere Zwillinge noch Kinder waren, roch das Leben nach Zukunft.

Andrea Gerster «Bleibender Schaden», Geparden, 2025, 152 Seiten, CHF 27.90, ISBN 978-3-907406-15-1

Eines Abends kommt Anda von der Arbeit nach Hause. Luk demonstiert Hausmannskraft. Nur Bob, der Hund, fläzt faul auf seinem Polster. Bis es im Obergeschoss rumpelt und der Staubsauger in gleichmässigem Geräusch weiterheult. Als Anda nach oben geht, findet sie Luk, ihren Mann, zusammengebrochen auf dem Boden, reglos, mit geschlossenen Augen.

Sie wüsste, was zu tun ist. Sie müsste zum Telefon greifen und anrufen. Luk in Seitenlage drehen. Aber Anda tut es nicht, wartet. Ich warte gern, bis du wieder so weit bist, hatte Luk gesagt. Jetzt wartet Anda.

Später liegt Luk im Spital im Koma. Auf einmal ist Anda aus einem Leben gerissen, aus dem es keinen Fluchtweg zu geben schien. Alles, was sich in der Vergangenheit für Momente als Fluchtversuche anfühlte, waren Sackgassen. Die manischen Fahrten mit Rolltreppen genauso wie der Alkohol, mit dem sie sich zu trösten versuchte.
Während ihr Mann im Koma sein Leben ausgesetzt hat, rollt es sich für Anda vor ihr aus. Ein Leben, das nur noch als Resten besteht, in denen selbst die „guten“ Erinnerungen zu verblassen drohen.

Es braucht mich nicht, hatte mich nie gebraucht.

Anda versucht sie neu zu erfinden, neu einzurichten, darauf vorzubereiten, nicht wieder in alte Muster zurückzufallen. Soll sie auf Luks Rückkehr hoffen, auf Besserung? Oder wäre das schlimmste Szenario für ihn das beste für sie? Anders leben als bisher, auf jeden Fall so, wie ich es will, mahnt sie sich selbst. Luks Zusammenbruch, die Leere zuhause, ist für Anda die Aufforderung zu einem Neuanfang. So wie Erinnerungen in ihr hochkriechen, die Sehnsucht nach einem kleinen Stück Glück, so sehr will sie sich befreien von den Damönen ihrer Vergangenheit, nicht zuletzt vom Klammergriff ihrer Alkoholsucht, einer schwierigen Familiengeschichte, von einer Mutter, die nie da war, von den Schlägen und Bestrafungen ihres Ehemannes.

Sie, die es mit ihren Kindern hätte besser machen wollen, sie, die mit Luk hoffnungsvoll in eine Liebe steuerte, sie, die immer wieder glaubte, es wäre da eine Tür, Therapien würden helfen, sie, die konstatieren musste, dass stets Luk die Trümpfe in der Hand hatte.

„Bleibender Schaden“ ist stark geschrieben, vielschichteig, von bestechender Intensität.

Andrea Gerster, geboren 1959 in Schaffhausen, ist vielseitig künstlerisch tätig. Neben ihrer langjährigen Arbeit als Journalistin für Tageszeitungen und Magazine organisierte sie u.a. auch zahlreiche Literaturveranstaltungen. 2002 wandte sie sich überwiegend dem literarischen Schreiben zu. Andrea Gerster wurde vielfach ausgezeichnet, u.a. mit einem Anerkennungspreis der UBS Kulturstiftung. Sie lebt im Kanton Thurgau. Zuletzt erschienen u.a. «Verlangen nach mehr» (Roman, 2014), «Alex und Nelli» (Roman, 2017).

Beitragsbild © Miklós Klaus Rózsa

«Es ist nicht leicht, Mensch zu sein» über «Wiederholung» von Vigdis Hjorth, S. Fischer (19)

Lieber Bär

„Die Zeit heilt Wunden“, sagt man und versucht zu trösten, sehr oft sich selbst. Aber gibt es Heilung, oder ist das, was wir unter Heilung verstehen, das Akzeptieren einer Verwundung, eine bleibende Narbe, die einem immer wieder einmal in Erinnerung ruft, was da einmal geschah. Du bist Arzt und weisst viel besser als ich, was Verletzungen mit uns machen. Dass sich solche Wunden, solche Verletzungen, die sich vielleicht nur oberflächlich schliessen, Jahrzehnte später wieder aufbrechen können, manchmal gar über Generationen.

Die Erzählerin, Vigdis Hjorth lässt in ihren Romanen keinen Zweifel darüber, ob es nicht doch Fiktion sein könnte, zieht sich in eine einsame Hütte in Nordamerika zurück und muss feststellen, dass ausgerechnet in dieser selbst gewählten Einsamkeit, die ihr doch eigentlich Erholung schenken sollte, etwas aufbricht, was Jahrzehnte in der Seele unter Verschluss war. Etwas, was mit Sicherheit in jedes Stück Gegenwart miteinwirkte.

Was damals geschah, als sie sechzehn war und an einem Tag im November jenen Tiefpunkt erreichte, der die Beziehung zu ihren Eltern unwiderruflich zu einem Alp machte, musste in diesem Buch niedergeschrieben werden. Ein junges Mädchen spürt, dass es an einem Wendepunkt in ihrem Leben ist. Dort, wo das Eine, Entscheidende endlich geschehen und aus ihr eine Erwachsene, eine Eingeweihte machen soll. Sie spürt es, weil es in der Schule, überall dort, wo sie mit Gleichaltrigen zusammentrifft, wie das Tor zu einer anderen Welt über allem schimmert, eine Art Sternentor. Etwas, das aus ihr etwas Ganzes macht, das ihr zeigt, wie sich wirkliches Leben anfühlen soll.

Aber ihr Elternhaus, allen voran ihre Mutter, begegnet diesem Drängen, dieser Sehnsucht, dieser ganz natürlichen Regung mit maximaler Angst, mit Misstrauen, mit der Furcht, dass das, was da geschehen könnte, auf sie und ihre Familie einbrechen könnte. Eine Mutter, die wie ein Geier über das Leben ihrer Tochter wacht, die in jeder Regung den Untergang, das Verkommene, das Unwiederbringliche sieht. Zwischen Mutter und Tochter reisst ein unüberwindbarer Graben auf, ein Graben aus Lügen, Verdächtigungen und Angst.

Vigdis Hjorth «Wiederholung», S. Fischer, 2025, aus dem Norwegischen von Gabriele Haefs, 160 Seiten, CHF ca. 32.90, ISBN 978-3-10-397690-8

Dabei hat die junge Frau doch nur den einen Wunsch; jenes Geheimnis zu lüften, das in ihrer Welt, unter ihren Freundinnen, dann, wenn sie sich mit den Jungs aus dem Ort in irgend einer Wohnung treffen, Musik hören, tanzen, Bier trinken, rauchen und knutschen als wilder Drang ankündigt. Dieser eine Moment, wenn sie der eine Junge, der schon etwas älter als sie ist, an der Hand nimmt, in ein Zimmer im Obergeschoss führt und tut, wovon sie weiss, dass es der grosse Anfang sein muss, das, wofür sie in ihrem Tagebuch den einen freien Platz reserviert hat.

Verletzungen geschehen unweigerlich, auch in Familien, in der Erziehung. Etwas vom schlimmsten an solchen Verletzungen, ist das Schweigen darüber, das Zudecken, das So-tun-als-ob, die Unfähigkeit, über den eigenen Schatten zu springen. Vigdis Hjorth Roman ist keine leicht verdauliche Kost, obwohl sich das Buch scheinbar leicht lesen lässt. Das liegt an der Sprache der Autorin, dem Umstand, dass da eine Frau aus jahrzehntelanger Distanz erzählt und zu ordnen versucht. Denn was damals geschah, hat ihr offenbart, was Sprache auszulösen vermag.

Ich begegnete der Autorin bei einem Literaturfestival in Österreich, lernte sie erst im Vorfeld dieses Festivals als Autorin kennen. Eine überaus streitbare Autorin, die mit ihren Romanen in Norwegen grosse Wellen warf, nicht zuletzt darum, weil sie ihre Familie zu ihrer Bühne machte.

Wie ist es Dir bei der Lektüre ergangen?

Liebgruss
Gallus

***

Lieber Gallus

Dieses Buch, der Tipp von dir ist ein literarisches Meisterstück, existentiell, beklemmend und tiefbohrend. Es ist die Geschichte einer jungen Frau, die durch ein unausgesprochenes Geheimnis ihrer Familie gezwungen wird, alles allein schweigend zu tragen. Es geht um die Macht des Erinnerns und die Suche nach Wahrheit, darum, was Angst- und Schuldgefühle bewirken, wenn eine Aussprache nicht möglich ist.

Alles, was du vergessen willst, kehrt zu dir zurück, es sucht dich heim, so wahrhaftig, dass du das Gefühl hast, es noch einmal zu durchleben. Wiederholung ist der Ernst des Lebens.

Der sechzehnjährigen Frau gelingt es nur durch Alkohol, der ängstlichen Kontrolle ihrer Mutter kurz zu entkommen. Diese steht am Fenster, wenn sie heimkommt, sie will genau wissen, mit wem sie sich getroffen hat, ob geraucht oder Alkohol getrunken wurde. Dies übt so viel Druck aus, dass die Protagonistin zur «Bombe» wird, die genau das sucht, was die Eltern verhindern wollen. Eine Aussprache wird durch Angst- und Schuldgefühle verunmöglicht. Die Tochter kann ihr Tagebuch, das die Mutter eines Tages liest, nicht besprechen, beiderseits wird schweigend in Vermutungen gelebt, Hass entsteht. «Es ist nicht leicht, Mensch zu sein», wie der Vater geheimnisvoll ausspricht, nachdem er sich erstmals betrunken hat. Die Eltern haben ihrerseits eine Schuld, die nicht genau ausgesprochen wird, Missbrauch? 

Deshalb kam ich nicht auf die Idee, weder damals noch in den Jahren danach, Mutter Vorwürfe zu machen, weil sie mein Tagebuch gelesen hatte. Denn darum ging es nicht, nicht das war das Verbrechen, das Verbrechen war ein anderes, eines, mit dem keine von uns in Berührung kommen durfte, und ich war schon im Voraus schuldig. Ich verspürte starke Schuld.

Es gelingt Viridis Hjorth einzigartig, menschliches Verhalten atmosphärisch dicht und leidenschaftlich in Sprache umzusetzen. Spannend und tief berührend! Existentiell!

Ich wünsche diesem Buch viele Leserinnen und Leser.

Herzlich Bär

Vigdis Hjorth, 1959 in Oslo geboren, ist eine der meistrezipierten Gegenwartsautorinnen Norwegens. Sie ist vielfache Bestsellerautorin, wurde für ihr Werk unter anderem mit dem norwegischen Kritikerprisen und dem Bokhandlerprisen ausgezeichnet und war für den Literaturpreis des Nordischen Rates, den National Book Award sowie den International Booker Prize nominiert. 2023 erschien «Die Wahrheiten meiner Mutter», im Frühjahr 2024 der Roman «Ein falsches Wort». Nach Stationen in Kopenhagen, Bergen, in der Schweiz und in Frankreich lebt Vigdis Hjorth heute in Oslo.

Gabriele Haefs, geboren 1953, studierte Sprachwissenschaft in Bonn und Hamburg. Sie übersetzt aus dem Norwegischen, Dänischen, Schwedischen, Englischen, Niederländischen und Gälischen, u.a. Werke von Jostein Gaarder, Håkan Nesser und Anne Holt. 

Beitragsbild © Agnete Brun

Matteo B. Bianchi «Von dem, der bleibt», dtv

Vielleicht ist der Schmerz des Zurückgelassenseins einer der heftigsten, wenn sich Schmerzen überhaupt vergleichen lassen. Und doch gibt es den Schmerz, der vergeht, der sich relativiert. Und es gibt jenen, der sich über Jahrzehnte durch die Seele frisst.

Matteo B. Bianci erzählt in „Von dem, der bleibt“ von seiner grossen Liebe zu A. Und von seinem unendlichen Schmerz darüber, dass A. seinem Leben ein Ende setzte und ihn zurückliess. Ein ungemein persönliches Buch, das darum nicht scheitert, weil sich die Erzählstimme direkt an mich wendet, weil sich da einer auftut, weil jemand seinen Schmerz erklären will, um mir mit meinem Schmerz zu helfen. Und doch kein Selbsthilfebuch. Auch kein Protokoll der Selbstzerfleischung.

Matteo B. Bianci schrieb dieses Buch über Jahrzehnte und veröffentlichte es mehr als zwanzig Jahre nach dem Tod seiner damaligen Liebe. Ein Buch, das geschrieben werden musste, um Ordnung zu schaffen, um Zeugnis davon abzulegen, dass ein solcher Schmerz trotz allem umgewandelt werden kann. Ein Buch, das von einem unsäglich langen Prozess erzählt, bis zur Entscheidung, ob man sein Leben ganz diesem Schmerz widmen oder über ihn hinaussteigen will.

Ein Anruf von A. ins Büro: „Wenn du wiederkommst, bin ich schon nicht mehr da.“ Sie hatten sich nach sieben Jahren Beziehung vor wenigen Monaten getrennt. A. lebte noch immer phasenweise in der einstmals gemeinsamen Wohnung. Sie trugen Auseinandersetzungen aus, aber nichts hätte darauf hingewiesen, dass es in einer Katastrophe ausarten würde. Als Matteo am Abend nach Hause kam, hing A. an einem Rohr in der Wohnung. Die denkbar schlimmste Katastrophe, ein nicht enden wollender Schmerz, nagende Fragen und das äzende Gefühl des Zurückgelassenseins. Auch wenn da Menschen sind, die zu verstehen und zu trösten versuchen.

Eine solche Tat schwebt wie ein böser Geist über dem Leben der Zurückgelassenen, kocht ein glutroter Topf voller Schuldgefühle. Warum habe ich nicht erkannt, was vielleicht zu vermeiden gewesen wäre? Hätte ich verhindern können, was geschah? Wie soll ich mit der offenen Wunde weiterleben? Gibt es ein Leben, gibt es ein Lachen, gibt es Ausgelassenheit, Freude danach? Schliesst sich irgendwann die Wunde? Hört der Schmerz zu pochen auf.

Matteo B. Bianchi «Vom dem, der bleibt», dtv, 2024, aus dem Italienischen von Amelie Thoma, 304 Seiten, CHF ca. 35.90, ISBN 978-3-423-28419-6

Noch immer ist Suizid ein Tabuthema. Noch immer scheint es kaum Hilfe zu geben für jene, die zurückgelassen werden. Suizid wird zum Stigma der Zurückgelassenen. Lieber den Schmerz der Zurückgelassenen ignorieren, als diesen zum Gespächsthema werden zu lassen. Der Erzähler spürt, wie er zum funktionierenden Monster wird, ein Monster, dass am allerwenigsten sich selber verzeiht. Dabei war die Liebe zwischen den beiden über Jahre die Erfüllung aller Wünsche, ein gewonnenes Paradies, auch wenn die beiden aus gänzlich verschiedenen Welten zueinander fanden. Aber genau das war das Geschenk. 

Und dann geschieht das Unvorstellbare. Und weil die beiden nicht gesetzlich verheiratet waren, beginnt eine Maschinerie, die das Ausgeschlossensein nur noch verstärkt. Nicht einmal das Foto auf dem Kreuz auf dem Friedhof entspricht der gemeinsam gelebten Wahrheit. 

Gute Ratschläge gibt es zu Hauf. Zieh um, verreise, mach Urlaub, eine Therapie, lass dir Medikamente verschreiben. Und weil nichts und niemand den Schmerz zu stillen vermag, greift man nach jedem Strohhalm, mal in die schummrige Stube einer Hellseherin, mal in Selbsthilfegruppen. Ein Kampf gegen den Schmerz des Verlusts, des Verlorenseins, gegen das Nagen einer sich aufdrängenden Schuld. 

„Von dem, der bleibt“ ist lesbar, weil sich der Blick des Erzählers wandelt, weil ich als Leser spüre, dass er sich selbst mehr und mehr eine Chance gibt, weil die Sprache eine poetische ist, zugleich reduziert und ehrlich. „Von dem, der bleibt“ ist ein wichtiger Beitrag zu einer Kultur des Schweigens und ein Manifest für Respekt und Aufrichtigkeit.

Matteo B. Bianchi wurde 1966 in Mailand geboren. Autor zahlreicher Romane und einer Biografie über Yoko Ono, schreibt auch Drehbücher. Gründer und Herausgeber der unabhängigen Literaturzeitschrift tina. Er lebt in Mailand. Der vorliegende Roman wurde ausgezeichnet mit dem Premio Stresa und dem Premio Orbetello.

Amelie Thoma, geboren 1970 in Stuttgart, studierte Romanistik und Kulturwissenschaften in Berlin und arbeitete als Lektorin, ehe sie die Übersetzerlaufbahn einschlug. Sie übertrug u.a. Leïla Slimani, Marc Levy, Françoise Sagan und Simone de Beauvoir ins Deutsche.

Beitragsbild © Claudio Sforza

Lukas Maisel «Wie ein Mann nichts tat und so die Welt rettete», Rowohlt

Am 26. September 1983 schrammte die Welt einem nuklearen Desaster vorbei. Nur weil Stanislaw Jewgrafowitsch Petrow, ein sowjetischer Offizier in der Kommandozentrale der Satellitenüberwachung, den scheinbaren Anflug nuklearer Interkontinentalraketen als Fehlalarm interpretierte, verhinderte der Mann den Tod von Millionen.

Alles an dieser Erzählung ist wahr. Was Lukas Maisel an Fiktion beifügt, ist das, was im Innenleben jenes Offiziers geschah, genau das, was uns damals rettete, denn wäre Stanislaw Petrow der eigenständigen Entscheidung nicht fähig gewesen, hätte nichts einen nuklearen Krieg aufhalten können. Nur weil dieser Mann damals in den 17 Minuten zwischen Alarmierung durch ein empfindliches und anfälliges Raketenabwehrsystem und dem Moment der Entwarnung zum eigenen Denken fähig war, durch logisches Entschlüsseln einer falalen Kette von scheinbar gesicherten Informationen Panik relativierte und Vernunft über die Angst siegen liess, blieben sowjetische Nuklearraketen am Boden.

Weil sich das damalige System keine Blösse geben wollte, weil die Sowjets auf jeden Fall ihr Gesicht wahren wollten, das Gesicht der perfekten Abschreckung, wurde Offizier Stanislaw Petrow weder befördert noch bestraft. Man verschwieg den Zwischenfall genauso systematisch wie die Ursachen, die dazu führten; Sonnenreflexionen auf Wolken. Erst nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, in Petrows letzten Jahren in Moskau, erfuhr der ausgemusterte Offizier Ehrungen im In- und Ausland. Nach der Kontaktaufnahme eines deutschen Unternehmers noch zu Lebzeiten Petrows wurde in Oberhausen, dem Heimatort jenes Geschäftsmannes, zum zweiten Todestag des Retters eine Gedenktafel eingeweiht: „Wäre er den Computermeldungen gefolgt, wäre der sofortige atomare Gegenschlag erfolgt und damit der Tod von Millionen Menschen in den USA, in Europa und Russland die Folge gewesen.“

Lukas Maisel «Wei ein Mann nichts tat und so die Welt rettete», Rowohlt, 2025, 128 Seiten, CHF ca. 33.90, ISBN 978-3-498-00730-0

Lukas Maisel konzentriert sich in seiner Erzählung auf diesen einen Tag, diese 17 Minuten und die drei Tage, die Stanislaw Petrow in der Folge noch in der Kommandozentrale ausharren musste, bis sich die Wogen nach dem Zwischenfall glätteten. Lukas Maisel fokussiert sich auf einen Mann, der in diesen 17 Minuten ganz auf sich gestellt war, der wusste, dass jede Entscheidung, die er fällen würde, existenzielle Folgen nach sich ziehen würde, dass das, was nach der Entwarnung die Schwächen des Systems aufzeigte, nie und nimmer an die Öffentlichkeit dringen durfte, nicht einmal zur Erzählung in seiner Familie. Stanislaw Petrow wurde zum Bauernopfer einer Beinahekatastrophe. 

Lukas Maisel beschreibt die klaustrophobische Situation in jenem Bunker, in dem während ewig lange scheinender Minuten das Schicksal von Millionen in der Schwebe stand, in der jede weitere Reaktion auf die Interpretation eines einzelnen Mannes reduziert war, alles in einem Schrecken ohne Ende hätte ausarten können. Die Geschichte eines Mannes an einem geheimen Ort, einer geheimen Stadt. Die Geschichte eines Mannes, der eigentlich bloss für einen kranken Kollegen eingesprungen war, eine Geschichte, die ohne die klaren Gedanken eines Stanislaw Jewgrafowitsch Petrow mit Sicherheit ganz anders geendet hätte.

„Wie ein Mann nichts tat und so die Welt rettete“ ist zum einen ein Denkmal für einen Mann, der sich in den Zwängen von Macht und Hierarchie von Vernunft leiten liess, etwas, was in der Gegenwart nicht minder wichtig wäre.  Zum andern ist die Geschichte ein Exempel dafür, das Zurückhaltung, ein Zögern unendliches Leid verhindern kann, erst recht in einer Zeit, in der „Hauruckgehabe“ Politik wird und in der Wirtschaft zur Handlungsmaxime.

Lukas Maisels kleines literarisches Husarenstück liest sich in einem Zug, hoch spannend und mit dem Bewusstsein, wie oft das Glück des Menschen an einem seidenen Faden hängt. Unbedingt lesenswert!

Interview

Der Stoff für ein Buch lag offensichtlich jahrzehntelang da. Erstaunlich, dass die Geschichte im deutschsprachigen Raum nicht schon viel früher literarisch umgesetzt wurde. Was entschied, dass Sie einen so konzentrierten Roman daraus schufen und nicht mit grösserer Geste erzählten, zum Beispiel aus der Sicht des alt gewordenen Stanislaw Petrow?
Ich weiss nicht, ob man sich frei aussuchen kann, wie man einen Stoff erzählt. Beim Schreiben folge ich meinem Instinkt, es fühlte sich einfach richtig an, den Stoff in dieser Kürze zu erzählen, ihn nicht unnötig zu strecken. Ich kann im Nachhinein vermeintlich rationale Gründe suchen, warum ich das so und nicht anders geschrieben habe, aber es bleibt Instinkt. 

Der Mann schleppte das Geheimnis jenes 26. Septembers 1983 bis zum Zusammenbruch der Sowjetunion als Staatageheimnis mit sich herum. Es ist anzunehmen, dass er nicht einmal seiner Frau von den tatsächlichen Ereignissen erzählen konnte. Die Dramaturgie dieser 17 Minuten in diesem Kommandobunker ist nicht zu überbieten, genauso die Dramaturgie in Stanislaw Petrows Innenleben. Er wusste haargenau, was die Folgen einer falschen Entscheidung sein werden. In all den Kriegen, ob in der Ukraine, im Kongo oder im Sudan. Es ist nur zu hoffen, dass Menschen sich in kollektiv lebensbedrohlichen Situationen nicht instrumentalisieren lassen. Ist das letztlich nicht ein frommer Wunsch?
Natürlich, aber was bleibt uns denn anderes übrig als die Hoffnung? Am Ende wird die Geschichte von den Entscheidungen einzelner Menschen vorangetrieben, die Frage ist, wieviel Macht diese Menschen besitzen. Stanislaw Petrow wollte keine Macht haben, sie fiel ihm zu. Glücklicherweise konnte er klar sehen, sein Blick war nicht von einer Ideologie verzerrt. Er war ein Mann der Wissenschaft und vertraute ihren Methoden, damit war er sicherlich ein schlechter Kommunist.

Sie beschreiben sehr intensiv, was in Stanislaw Petrow passiert, jener Teil der Geschichte, die Fiktion braucht. Ich fiebere mit ihm. Ich spüre, wie sich die Minuten zu Unendlichkeiten ausdehnen. Ich spüre den Kampf, den der Mann in sich austrägt, wie sich alles auf diesen einen Moment einbrennt. Ich fühle seine Verzweiflung, den unsäglichen Druck, den realen Alp. Der Titel ihres Buches meint nicht, dass Stanislaw Petrow nichts tat. Die Weigerung, das Abwarten, der Zweifel, das Nachdenken ist viel mehr als Nichtstun. Was bedeutet die Geschichte von Stanislaw Petrow für sie ganz persönlich?
Wahrscheinlich sprach mich der Stoff an, weil ich mich fragte, ob ich das könnte; abwarten wie Petrow. Ich und die meisten Menschen wollen durch ihre Handlungen möglichst rasch ein Ergebnis herbeiführen, wir halten die Ungewissheit nicht aus. Auch Petrow hält sie fast nicht aus, zum Glück dauert sie nur siebzehn Minuten, die ihm aber wie eine Ewigkeit vorkommen.

Es war nicht das einzige Mal, dass die Welt an einem kriegerischen Nuklearschlag vorbeischrammte. Zwei Jahrzehnte zuvor hätte es während der Kubakrise nicht viel mehr gebraucht, um den Konflikt atomar eskalien zu lassen. Heute wird am russischen Fernsehen ganz offen und hemmungslos mit der Atombombe gedroht, allen voran der TV-Moderator, Scharfmacher und Putin-Propagandist Wladimir Solowjow. Atomsprengköpfe dienen nicht mehr der Abschreckung, sondern der ganz direkten Drohung. Macht ihnen das nicht Angst?
Mein Vater war ein Kind, als die Kubakrise passierte, er war noch zu klein, um das verstandesmässig begreifen zu können, aber die allgegenwärtige Furcht hat er gespürt. Jedenfalls erzählte er, dass damals viele glaubten, der Dritte Weltkrieg stünde bevor. Die stationierten Mittelstreckenraketen waren eine unmissverständliche Drohung, heutzutage ist es schwieriger einzuschätzen. Würde Putin für seine Ziele wirklich Atomwaffen einsetzen? Er ist nicht durchgeknallt, er hat bestimmte Ziele und kalkuliert mit Angst. Ich würde ihm den Besuch des Museums in Hiroshima empfehlen, dort sieht man, durch welche Hölle die Menschen damals gegangen sind.

Nach dem Tod seiner Frau 1997 und dem Auszug seiner Kinder lebte Stanislaw Petrow mit einer Rente von 1000 Rubel. Ein Betrag mit dem man sich in einem schicken Moskauer Café gerade mal 10 Tassen Kaffee hätte leisten können. Ist das das Wesen eines wahren Helden? Dass er das, was er tut nicht der Heldentat wegen tut?
Es würde wohl keine Helden geben, wenn sie nach Anerkennung von aussen streben würden, sie haben innere Motive. Stanislaw Petrow sah sich nicht als Held, er habe einfach seine Arbeit erledigt, betonte er immer wieder. Das ist ja ein Topos, der Held, der einfach nur tut, was er für das Richtige hält.

Lesung im Literaturhaus Thurgau in Gottlieben

Lukas Maisel, geboren 1987 in Zürich, machte eine Lehre zum Drucker, bevor er am Literaturinstitut in Biel studierte. 2020 debütierte er mit seinem Roman «Buch der geträumten Inseln«, für das er einen Werkbeitrag des Kantons Aargau erhielt sowie mit dem Förderpreis des Kantons Solothurn und dem Terra-nova-Preis der Schweizerischen Schillerstiftung ausgezeichnet wurde. 2021 las er bei den 45. Tagen der deutschsprachigen Literatur in Klagenfurt, 2022 erschien seine von der Kritik gefeierte Novelle «Tanners Erde«.

Erzählung «Ewiger Wanderer» auf der Plattform Gegenzauber

Beitragsbild © Christina Brun

Agnes Siegenthaler «So nah, so hell», Zytglogge

Man kennt sie, jene, die in verlassene Häuser steigen, mit Taschenlampe und Rucksack, Fotos von Lost Places machen, Spuren suchen nach verlorenem, vergessenem Leben. In einem kleinen Haus, kurz vor der Räumung, treffen zwei junge Menschen aufeinander, Letta, die ungefragt eingestiegen ist und Paul, der im Haus seiner Grossmutter Ordnung machen will.

Wer ein Leben lang ein Haus bewohnt, hinterlässt einen kleinen Kosmos voller Spuren, Signale, Markierungen, dinggewordener Erinnerungen. Ich erinnere mich gut an die Besichtigung jenes Hauses, in dem wir zehn gute Jahre mit unserer Familie verbringen konnten. Die Frau, die mit ihrem Hund Jahrzehnte in dem Haus wohnte, am Schluss nur noch im Untergeschoss, musste wegen eines Unfalls ins Pflegeheim. Als man uns das Haus zeigte, sah man auf dem kleinen Tisch im Wohnzimmer noch einen Notizzettel und in der Küche auf der Anrichte eine Schale mit Früchten.

Agnes Siegenthaler «So nah, so hell», Zytglogge, 2025, 160 Seiten, CHF ca. 28.00, ISBN 978-3-7296-5182-1

Lore führte vor ihrem Tod ein ruhiges und zurückgezogenes Leben. Nicht einmal ihre nächsten Nachbarn wussten etwas von der stillen Frau. Agnes Siegenthaler verrät nur Verschlüsseltes aus dem Leben der stillen Frau. Das wird auch sichtbar im Aufbau des eigenwilligen Romans. Wenn Agnes Siegenthaler von Lore erzählt, dann sprechen die Dinge im Haus von der Frau und den Menschen, die mit Lore Zeit in diesem Haus teilten. Textpassagen, die sich eindeutig vom Erzählstrang nach ihrem Tod absetzen, lyrische Prosa, gesetzt wie Gedichte. Für mich als Leser sind es Atempausen, Einladungen, meinen Lesefluss zu verlangsamen, dem Text Zeit zu lassen, auf die Stimmen der Dinge einzugehen, auf das Hasenauge, die Porzellanfigur, den Hygrometer, die Kaffeetasse, den Elefanten aus Glas. Agnes Siegenthaler gibt den stumm gewordenen Dingen in Lores Haus ihre Stimme zurück, den eingelagerten Erinnerungen, die sich sonst spurlos verflüchtigen. Jeder, der schon einmal die Pflicht hatte, ein Haus Räumen zu müssen, weiss, wie wertlos mit einem Mal Dinge geworden sind, die in einem anderen Leben unentbehrlichen Wert besassen.

Paul ist Lores Enkel. Als er das Haus seiner Grossmutter aufschliesst, merkt er, dass Spuren zu finden sind, die nicht von seiner Grossmutter stammen. Und irgendwann findet er im grossen Bett der Grossmutter eine junge Frau liegen, jemanden, den er nicht kennt, von dem er aber spürt, das keine schlechten Absichten der Grund dafür sind, dass sich jemand unerlaubt Zutritt in das Haus seiner Grossmutter verschaffte. Letta wacht auf. Vielleicht wacht sie aber nicht nur aus dem Schlaf auf, sondern auch aus deinem Rauschzustand, der sich jedes Mal einstellt, wenn Letta in ein nicht mehr bewohntes Haus einsteigt.

Letta ist keine Einbrecherin. Sie ist nicht an dem interessiert, was Einbrecher interessieren würden. Sie hat sich in ihrer Passion ein eigentliches Protokoll zurechtgelegt, das sie genau befolgt. Sie sucht nach einem Andenken. Aber nach einem Andenken, das nicht sie aussucht, sondern von dem sie ausgesucht wird. Ein Taschentuch mit gehäkeltem Rand und den eingestickten Worten „Mensch nütze den Tag, denn er ist kurz“, eine zerkratzte Schallplatte von Miles Davis, ein einzelner Kinderschuh mit vergilbten Maikäfern als Muster. Letta sucht nach dem Andenken in diesem Haus, sucht viel länger als erwartet, erst recht mit Verzögerung, weil da dieser Mann auftaucht und erklärt, er wäre der Enkel. Letta und Paul sind Suchende; Letta nach dem Andenken, Paul mit der Aufgabe, die Asche an Lores liebstem Ort zu verstreuen.

Das verlassene Haus kurz vor seiner Räumung wird zum Schauplatz vieler Begegnungen. Vordergründig zwischen Letta und Paul, unterschwellig zwischen Lore über all die Dinge mit den Menschen, die einst in diesem Haus ein Stück ihres Lebens verbrachten, mit Lore Leben teilten.

„So nah, so hell“ ist ein zartes Debüt von grosser poetischer Kraft. Ein Buch, das viel Aufmerksamkeit verdient, geschrieben von einer Autorin, die mit diesem Roman einen vielversprechenden Weg begonnen hat. Wir werden noch mehr lesen!

Interview:

Ich las Dein Debüt mit grossem Interesse, mit ungetrübter Freude. Nur schon, weil Du eine mutige Form gewählt hast, Lyrisches mit Prosa mischst, deinem Erzählen ganz verschiedene Stimmen und Tonlagen gibst. War von Beginn weg klar, dass Du mehr als nur eine Art des Erzählens für Dein Debüt wähltest? Wieviel Mut brauchte es?

Die unterschiedlichen literarischen Formen sind zusammen mit den verschiedenen Erzählperspektiven entstanden. Es war klar für mich, dass diese nicht einfach in derselben Weise erzählen können. So haben die Gegenstände eine Art Chorfunktion für mich, wie sie gemeinsam und doch sehr individuell von etwas erzählen, was direkt nicht mehr erfahrbar wäre. Ihre Sprache gleicht der verknappten Form von Lyrics in Liedern und hat auch etwas Künstliches. Die Felsteile ihrerseits erlauben es sich, über Jahrtausende auszuholen und doch kurze Momente hervorzuheben. Wenn über Letta oder Paul erzählt wird, sind wir relativ nah an ihnen dran und folgen ihren Bewegungen und Gedanken. Es ist eine alltäglichere und menschlichere Sprache. Es hat nicht unbedingt Mut gebraucht, den Text auf diese Weise zu schreiben, es war vielmehr schön und hat Spass gemacht, zu entdecken, wie es gelingt, eine Geschichte aus unterstimmlichen literarischen Formen heraus zu erzählen. Danach waren es eher Ausdauer und Standhaftigkeit, die nötig waren, um die unterschiedlichen Formen und Perspektiven, zu verteidigen, nicht davon abzukommen und einen Verlag zu finden, der bereit war, dieses Textgewebe herauszubringen.

In alten Kurzbiographien über Dich heisst es „Für ihre Texte sucht sie nach Zeugenschaft in verlassenen Häusern und bei herumirrenden Steinblöcken. Sie interessiert sich für unwahrscheinliche Perspektiven und für das übersehene Offensichtliche.“ Mit diesen beiden Sätzen könnte man auch Letta, die Protagonistin in deinem Roman beschreiben. Keine alltägliche Leidenschaft. Irgendwie doch knapp an den Rändern zur Illegalität. Auch ein Outing?

Ich glaube, ich habe in dieser Kurzbiografie eine Methode offengelegt, die ich brauchte, um ins Schreiben zu kommen. Für diesen Text bin ich von konkreten Orten ausgegangen, die dann im Laufe des Erzählens zu fiktionalen Orten wurden. In dieser Kurzbiografie übertreibe ich ein wenig. Tatsächlich war ich in nicht mehr als einem verlassenen Haus unterwegs und das im Rahmen der Legalität. Aber zugegeben, das klingt auch etwas nach Letta. Möglicherweise ist aus dieser Methode ihre Figur entstanden. Sie ist da aber deutlich abenteuerlicher und eigenwilliger unterwegs, als ich es war. 

Ich musste in meinem Leben schon mehrfach helfen, eine Wohnung oder ein Haus zu räumen. Ein ganz eigenes, spezielles Erlebnis. Da wandert in eine Entsorgungsmulde, was zuvor ein Leben lang wie ein Schatz gehütet wurde. Man nimmt Dinge in die Hand, die ihren Wert mit einem Mal verloren, ihre Geschichte eingebüsst haben. Letta sucht nach einem Andenken, einem kleinen Denkmal, das auch im Unscheinbaren steckt. Ist Letta eine Anwältin jener, die ins Vergessen zu rutschen drohen?

Was du in der Frage beschreibst, war auf eine gewisse Weise eine Erzählabsicht von mir: über ein Leben zu schreiben, das scheinbar ungesehen vergangen ist und darüber, wie die Dinge, die für diese Person Schätze waren, mit ihrem Tod zu Müll werden. In dem Roman übernehmen diese Anwaltschaft gegen das Vergessen aber eher die Stimmen der verschiedenen Gegenstände. Durch sie wird nochmals ein Licht auf ein zurückgezogenes Leben geworfen, welches sich zunehmend ohne menschliche Beziehungen abspielte.
Ich glaube, Letta verfolgt da egoistischere Motive, sie sucht nach Dingen, die eigentlich mit ihr zu tun haben, sie sucht sich eine Art selbst gewählte Hinterlassenschaft zusammen. Es sind eher die Umstände, die sie dazu bringen, näher an Lore heranzugehen, über sie nachzudenken.

Paul ist mit der Urne seiner Grossmutter in diesem Haus. Er nimmt zum einen Abschied von seiner Grossmutter, zum andern ist er da mit der Aufforderung seiner Grossmutter, ihre Asche an ihren Lieblingsort zu bringen. Paul muss im Haus mit seiner Grossmutter Zwiesprache halten, um herausfinden, wo dieser „Lieblingsort“ sein könnte. Dein Roman ist neben diesem Kammerspiel zwischen Letta, Paul und Lore auch ein Buch über den Abschied. Wie wichtig ist dir dieses Thema?

Hier geht es um den Abschied von einem Menschen, der zurückgezogen lebte und eigentlich von den Menschen, die dableiben auch nicht vermisst wird. Solche Geschichten gibt es ja sehr viele. Und Paul nimmt sicherlich Abschied von Lore, aber auch von einem Teil seiner selbst. Vielleicht geht es um diesen selbstbezogenen Anteil von Abschied. Aber auch andere Lesarten sind möglich, zum Beispiel Abschied zu nehmen, von einem Leben, welches man vielleicht gerne geführt hätte, Abschied nehmen von Bildern, die wir uns von Menschen machen.

Bist Du ein Mensch, der Dinge sammelt? Wie sehen Deine Regale aus? Ist Schreiben eine Form des Festhaltens, den Dingen ihre Stimme zu geben?

Ich glaube nicht, dass ich den Dingen eine Stimme geben wollte, ich wollte eine Form finden, in der ich Lores Geschichte erzählen kann. Es ging um ein Erschrecken darüber, dass ein Menschenleben vergeht und die materiellen Dinge einfach weiterbestehen, dableiben, und würden sie nicht entsorgt, könnten sie unerträglich lange da sein. Es ging um die Imagination darüber, was in diesen Räumen passiert sein könnte; und gesehen haben es halt bloss die künstlichen Augen dieser Gegenstände. Daher benutze ich die Dinge eher, als dass ich ihnen eine Stimme gebe. Um mit ihrer Hilfe die Geschichte von Lore zu erzählen. 

Selbst bin ich keine grosse Sammlerin, so ganz traue ich den Dingen wohl nicht über den Weg.  

Agnes Siegenthaler, geboren 1988 in Bern, hat am Schweizerischen Literaturinstitut in Biel und davor Soziale Arbeit studiert. Sie schreibt Prosa und Lyrik und arbeitet aktuell an ihrem zweiten Roman. Neben dem Schreiben ist sie als Soziokulturelle Animatorin in einer interkulturellen Bibliothek tätig. Aufgewachsen im Emmental, lebt und arbeitet die Autorin rund um die Städte Bern und Fribourg. «So nah, so hell» ist Agnes Siegenthalers Debüt.

Agnes Siegenthaler «Meret 2» & «Café Krokodil» auf der Plattform Gegenzauber

Beitragsbild © Karen Moser & Elias Bannwart

Tommie Goerz «Im Schnee», Piper

Auf seiner Homepace nennt sich Tommie Goerz „fränkischer Krimiautor“, was bis zu seiner Veröffentlichung von „Im Tal“ 2023 auch stimmte. Aber mit diesem ersten, von der Presse „literarisch“ bezeichneten Roman und dem eben erschienen „Im Schnee“ gehört der kreative Tausendsassa mit einem Mal zu einer schreibenden Elite, einem Meister der Stimmungen und Figurenzeichnung.

Tommie Goerz heisst eigentlich Marius Kliesch, legte sich das Pseudonym zu, weil ein Krimiautor mit einer ernsthaften Professur unvereinbar schien. 15 Jahre nach seiner ersten Veröffentlichung, nach 18 Krimis, nun zwei ganz unspektakuläre Romane über das einfache, zurückgezogene Leben. „Im Tal“ spielt zu Beginn des letzten Jahrhunderts, „Im Schnee“ in allernächster Vergangenheit.

Max steht am Fenster und schaut in den Winter. Er lebt allein, schon sein ganzes Leben in diesem Haus, seinem Elternhaus, in diesem Dorf, dass er kaum je verlassen hatte. Er sieht auf seine Apfelbäume, draussen im Garten, den Martini, den Rheinischen Krummstil – und Schorsch, seinen einzigen wirklichen Kumpel, der im letzten Herbst wie jedes Jahr noch von den Äpfeln geholt hatte. Jetzt ist Schorsch tot, liegt in seinem Haus. Im Dorf hört man die Totenglocke, Gunda läutet nur noch, wenn der Tod sie dazu ordert. 

Glück ist, wenn alles vorbei ist.

Max trauert still. Der Tod ist zu einem ständigen Begleiter geworden. Auch weil das Dorf schon lange zu sterben begonnen hat; kein Laden, kein Bäcker, kein Metzger mehr. Irgendwann schleifte man gar das Schulhaus in einer Nacht- und Nebelaktion, weil sich das Gerücht im Dorf festgehakt hatte, es würden Flüchtlinge in dem leeren Haus einquartiert werden. Auch am kleinen Bahnhof hält nur nach im Morgen und am Abend ein Zug. So wie das Dorf sterben auch die Höfe. Was früher noch ganze Familien ernährte, schrumpfte über die Zeit. Man verschuldete sich, stellte um, stellte ein, zog weg oder verkümmerte. Max ist geblieben. So wie Schorsch.

Thommie Goerz "Im Schnee", Piper, 2025, 176 Seiten, CHF ca. 32.90, ISBN 978-3-492-07348-6
Tommie Goerz «Im Schnee», Piper, 2025, 176 Seiten, CHF ca. 32.90, ISBN 978-3-492-07348-6

Max macht sich auf zum Haus von Schorsch, der dort aufgebahrt liegt, bis zur Beerdigung, die dann stattfinden muss, wenn der Pfarrer Zeit hat. Man trifft einander zur Wache, sitzt dort und erzählt, isst und trinkt und erinnert sich. Man erzählt sich Geschichten und denkt an all das, was man nicht erzählen kann, nicht zu erzählen traut. Geschichten, die eigentlich nur die Deckel all jener Geschichten sind, die man sich nicht erzählt, von denen aber alle wissen. Schon gar nicht über Liebeszeug. Zumindest die Einheimischen, die Hiesigen, nicht die Neubürger aus der Siedlung. Und schon gar nicht jene, die es immer wieder einmal im Dorf versuchten, aber eigentlich hier nichts verloren hatten. Max bringt zwei Äpfel mit, einen Martini und einen Rheinischen Krummstil.

Max bleibt die ganze Nacht, nicht weil er es dem Schorsch schuldig wäre, sondern weil es nur mit dem Schorsch jene Momente der Zweisamkeit gab, die es nur mit Schorsch gab, weil mit Schorsch auch ein Stück seines Lebens zu Grabe getragen wird, Geschichten, Erinnerungen und jenes immer dünner werdende Gefühl der Vertrautheit; nie wieder Tee trinken im Garten, nie wieder in der Werkstatt oder auf der Chaislongue, den Vögeln oder dem Knacken des Ofens lauschen.

Was bleibt, ist die Einsamkeit, ein Geist, der sich mit dem Sterben im Dorf wie ein Myzel ausbreitet, der einen immer dicker werdenden Teppich aus Schweigen über die Verbliebenen und dieses Dorf legt. Ein Dorf, in dem man Tiere und Motoren wesentlich mehr Zuwendung schenkte, weil es sein musste. Und doch ist und war das Dorf der einzige Ort, an dem Max sich sein Leben hätte vorstellen können.

„Im Schnee“ ist ein Roman von uriger Kraft, holzschnittartig geschrieben, ein Roman über die Bruchstelle zwischen den Zeiten, zwischen Vergangenheit und Zukunft. Tommie Goerz hat das Zeug für ganz grosse Klasse!

Interview

„Im Schnee“ ist ein Buch über aussterbende Welten, eine fest in Rituale und Traditionen eingegrenzte Welt, von der man auf dem Land, in Dörfern noch immer etwas spürt, einer Welt, die man aber in urbaner Umgebung vergessen hat. „Im Schnee“ ist kein romantisierender Blick auf diese Welt. Und trotzdem stirbt die Welt von Max. In Ihrem Roman tauchen Binnengeschichten auf, die einem das Blut in den Adern gefrieren lassen – und trotzdem spürt man so viel Verbundenheit, so viel Respekt. Ist genau das die Spanne zwischen Krimi und Anti-Heimatroman?
In »Im Schnee« versuche ich mich einer Welt zu nähern, die uns gerade zwischen den Fingern zerrinnt, ja schon fast ausgestorben ist und deren immanente Regeln und Selbstverständlichkeiten uns oft gar nicht mehr begreiflich sind. Aber wenn die letzten Alten aus den Dörfern einmal gestorben sind, ist diese Welt unwiederbringlich weg. In diesem Kosmos, vor dem ich sehr grosse Achtung empfinde, habe ich versucht, den Roman anzusiedeln. Vielleicht kann man es so sagen: Die Geschichten der Alten sind manchmal spannend wie ein Krimi – und gleichzeitig sind es Heimatgeschichten. Aber so ist eben Heimat: sie duftet verlockend süss – und stinkt gleichzeitig erbärmlich.

Aquarell des Schriftstellers

Sie sind seit einigen Jahren in Rente. Warum jetzt Bücher wie „Im Tal“ und „Im Schnee“? Brauchte es den weisen Blick des Alters, um so schreiben zu können? Oder lenkt der Blick auf ein Verbrechen zu sehr ab von dem, wovon man auch noch erzählen will? Eine Abkehr vom Krimi?
Gar keine Frage: Für ein Buch wie »Im Schnee« braucht es einen Erzähler mit einem gewissen Alter, und das habe ich nun mal. Und ja, »Im Schnee« ist in gewissem Sinn eine Abkehr vom Krimi, aber aus einem für mich letztlich ganz profanen Grund: Nach dem Gewinn des Glauser mit »Meier« war ich in der Jury für den nächsten Glauser – und da mussten wir über 450 Krimis sichten. Seitdem bin ich absolut Krimi-übersättigt. Geschichten aber habe ich noch genug im Kopf – und wer weiss, vielleicht kommt auch nochmal ein Krimi.

Max lebt schon lange allein, fast nur in seiner einfach eingerichteten Küche. Er fährt nicht einmal in den nächst grösseren Ort, sondern wartet geduldig, bis ihm einer seiner immer weniger werdenden Nachbarn vom nahen Ort bringt, was er zum Leben braucht. Er schaut und sinniert, legt immer wieder einmal ein Scheit nach in seinen Ofen, liest keine Zeitung, schaut und hört keine Nachrichten. Was er durchs Fenster sieht, in der einzigen noch ab und an offenen Gaststube hört oder durch die Totenglocke vernimmt, reicht ihm. Eine Genügsamkeit, die weit weg von der meinigen ist. Steckt da auch eine Portion Sehnsucht?
Wer sehnt sich nicht nach Ruhe – doch was machen wir? Knallen uns jede Minute zu mit irgendwelchen »Aktivitäten«. So wird das aber nichts mit der Ruhe. Dabei kann man die so leicht haben – wenn man sich einfach einmal hinsetzt und nichts tut. Der Sonne zuschaut und den Schatten beim Wandern. Kann keiner. Weil kaum einer mehr bei sich zuhause ist. Stille erträgt keiner mehr, Zeit erst recht nicht. Genügsamkeit aber beginnt beispielsweise schon in dem Moment, in dem man begreift, dass es nicht eine einzige Anschaffung gibt, die glücklich macht. Das erzählt uns nur die Werbung. Zeit und Ruhe zu haben, kann also eigentlich unheimlich einfach sein. Was man dann mit der Zeit macht? Ich nutze sie zum Schreiben, das kostet nicht einmal etwas. Manchmal guck ich dabei stundenlang aus dem Fenster … vielfach auch völlig umsonst. Macht aber nichts, ich kann das gut ertragen.

Man ist in diesem Dorf gewandter im Umgang mit Tieren und Maschinen, als mit Menschen, selbst mit seinen Nächsten. Obwohl die Kirche einst zentrale Kraft in einem solchen Dorf war, ist Nächstenliebe keine Selbstverständlichkeit, oder wird zumindest ganz anders interpretiert. Obwohl alle nur ein einziges Leben zur Verfügung haben, tun wir alles, um es uns möglichst schwer zu machen. Ist Schreiben ein Verdauungsvorgang?
Ich würde es eher so sagen: Schreiben ist ein Findungsvorgang, ein Verstehensvorgang, ein Ein-, Mitfühl- und Durchdringungsvorgang, alles in Einem. Doch zur Frage. Klar, man mutet sich in »meinem« Dorf – aber das ist nicht selten so, wo man auf engstem Raum zusammenlebt und aufeinander angewiesen ist – einiges zu. Einem Aussenstehenden mag das wie mangelnde Nächstenliebe erscheinen, doch ist es schlicht ein Modus vivendi, das Leben ist hart. Mit seinen Nachbarn oder Nächsten muss man klarkommen, man kann ja nicht einfach weg. Das aber kann nur gelingen, indem man vieles hinnimmt, so sein lässt, wie es ist, und über vieles schlicht schweigt. Das gewährt das Funktionieren des Zusammenlebens. Irgendwie weiss jeder alles, aber offiziell weiss keiner etwas. Das macht das Leben erst lebensmöglich. Es hilft. Ich vermute ja, dass das in der Stadt kaum anders ist, als es in der Enge eines Dorfes war, nur erscheint es uns auf dem Dorf vielleicht offensichtlicher, weil die Welt scheinbar übersichtlicher ist. In der Stadt rettet uns die Anonymität.

Arbeitszimmer

Ziemlich am Anfang und fast am Ende ihres Romans taucht ein junger Mann auf. Ein Wanderer. Max lässt ihn in seine Küche, gibt ihm etwas zu essen, sie kommen zaghaft ins Gespräch. Ein Wanderer aus einer anderen Welt, einer Welt, die mit der Welt von Max nur wenig gemein hat. Eine Begegnung, die auch mit den BewohnerInnen der Neubausiedlung im Dorf zu einer Begegnung der „anderen Art“ wird. Sie wohnen auch in einem Dorf. Begegnet man ihrem neuen Roman nicht mit Argwohn oder Skepsis, weil sie so gar nichts Landleben-Verherrlichendes präsentieren?
Das Land ist keine Idylle, das wissen die auf dem Land am allerbesten. Das Landleben war nie ein Ponyhof und wer diesem verklärenden Unsinn aufsitzt, macht es sich halt lieber in seiner Illusion gemütlich als in der Realität. Jeder wie er will, nur: Süssliche Geschichten werden Sie aus meiner Feder nie lesen. Max› Begegnung mit dem jungen Mann thematisiert, wie weit sich beide Welten schon voneinander entfernt haben. Inzwischen liegt die eine im Sterben und wird in absehbarer Zukunft endgültig aus der Zeit gefallen sein, und die andere steht vor ihr mit Staunen, ja fast schon Verständnislosigkeit und findet sie vielleicht skurril. Was bleibt, sind ein paar letzte Bilder. Vielleicht atmosphärisch stark, aber sind sie auch dokumentarisch? Oder doch wieder nur verklärend? 

Tommie Goerz (1954) ist gebürtiger Erlanger. Über Jahre machte er sich als mehrfach ausgezeichneter Krimiautor einen Namen. Auch sein literarisches Debüt „Im Tal“ (2023) wurde von Publikum und Kritik begeistert aufgenommen. Goerz war Langzeitstudent, Hüttenwirt, Automatenwart und Schallplattenvertreter, Lehrbeauftragter, Almknecht, erfolgreicher Werber und mehr. Bis heute wohnt er in Erlangen.

Webseite des Autors

Beitragsbild © Gaby Gerster