Shukri Al Rayyan «Nacht in Damaskus», edition bücherlese

Baschar al-Assad ist gestürzt und nach Moskau geflohen. In Syrien jubeln die Menschen und hoffen auf ein Leben in Freiheit. Die ganze Welt sorgt sich: Ist die Nacht in Damaskus vorbei? «Nacht in Damaskus» von Shukri Al Rayyan ist ein Buch, das nachdenklich stimmt und aufwühlt.

Gastbeitrag von Urs Abt

Durch die aktuellen Ereignisse wird dieser Roman hochaktuell, indem er einzigartig aufzeigt, welches Schreckensregime in Damaskus herrschte und nun hoffentlich zu Ende geht. Es ist keine demokratische, sondern eine militärische Revolution mit ungewisser Zukunft, bisher aber ohne grosses Blutvergiessen. Mit diesem Buch fühle ich mich mitten im Geschehen, fiebere mit und stelle mir vor, was diese Ereignisse für die verschiedenen Protagonisten des Buches bedeuten.

Manuskriptbeginn

«Nacht in Damaskus» ist ein Buch ohne Orient-Romantik, sondern voll bitterer Realität. Auf den verschlungenen Wegen des Romans begegnen wir bei jeder neuen Wendung dem wahren Schuldigen, den Verhältnissen, die das tyrannische Regime der Assad-Familie zu verantworten hat, in dem Syrer entweder zu Kriminellen oder zu Opfern gemacht wurden. (aus dem Vorwort des Autors)

Shukri Al Rayyan «Nacht in Damaskus», edition büchlerlese, aus dem Arabischen von Kerstin Wilsch, 2024, 200 Seiten, CHF ca. 29.00, ISBN 978-3-906907-91-8

Der 2014 aus Syrien in die Schweiz geflohene Schriftsteller Shukri Al Rayyan bringt uns die beklemmende Atmosphäre in Damaskus im Jahr 2011 anschaulich und vielschichtig näher. Die Geschichte des jungen Ingenieurs Dschawad und der schönen, ambitionierten Lamis wird mit vielen Nebenfiguren bereichert. Als roter Faden steht ein Geld-Diebstahl von Dschawad im Zentrum. Zufällig findet er den unbeliebten Chef in seinem Büro tot auf, daneben ein Sack mit einem Haufen Geldnoten, den er zu sich nimmt. Bald verschwindet aber das Geldpacket. Die Beziehung des frisch verliebten Paars Dschawad und Lamis wird auf die Probe gestellt, die Beamten von Polizei und Geheimdienst versuchen ihrerseits ihr Glück, ans Geld heranzukommen.

Ist es ein Liebesroman? Ist es ein Krimi? Wer ist Opfer, wer Täter? Der Autor macht es mir nicht leicht. Es ist schwierig, sich mit einem Helden, einer Heldin zu identifizieren. Die Hauptrolle spiegeln die Verhältnisse, da auch die Liebe zwischen Dschawad und Lamis (er Sunnit, sie Alawitin) durch Misstrauen und Hass gefährdet ist und erst durch eine Flucht etwas Hoffnung aufkommt. Das Klima der Angst und Verunsicherung beherrscht sowohl Opfer wie auch Polizei und Geheimdienst.

Die politischen Ereignisse von 2011 mit der blutigen Niederschlagung des «Arabischen Frühlings» durch Truppen des Diktators verursacht Angst und Schrecken. Aufmüpfige werden gnadenlos gefoltert und ins Gefängnis geworfen. Jedermann ist sich selbst der Nächste. Die multiethnische Bevölkerung ist gespalten. Angst und Misstrauen beherrscht die Bevölkerung. Die Minderheit der Alawiten (wie Assad) besetzen die Ämter der Regierung, die Mehrheit der Bevölkerung sind Sunniten. Politische und religiöse Unterschiede bestimmen entscheidend das Leben der Menschen in Syrien.

Das Leben ist sehr grosszügig und verteilt immer wieder neue Chancen. Das Problem liegt allerdings bei jenen, denen sie geboten werden. Erkennen sie die Chance? Oder meinen sie, es handle sich lediglich um den Versuch, einem toten Körper Leben einzuhauchen?

Die gesamte Welt hat in den letzten Jahren in Syrien den Einsturz ganzer Gebäude, Viertel und Städte miterlebt. Dabei war dies bloss die skandalöse Offenbarung dessen, was bereits seit Jahrzehnten im Verborgenen geschah. Innerhalb kürzester Zeit hatte in den 1980er-Jahren ein Niedergang eingesetzt, ein lautloser unsichtbarer Horror. Nicht auf die Gebäude hatte man es abgesehen, nicht auf Steine, sondern auf die Menschen. Niemand weiss, welcher Groll und welcher Hass einen einzigen Mann dazu brachten, ein Land mit einer mehrere Tausend Jahre alten Kultur innerhalb weniger Jahrzehnte so zuzurichten.

Es gibt vielerlei Arten von Bestien. Nach landläufiger Meinung sind Bestien gross und hässlich, geben ein donnerndes Gebrüll von sich und stinken. Doch das ist eine voreilige Meinung. Man erkennt Bestien nämlich weniger an ihrer Grösse als vielmehr an ihren Handlungen. Genau genommen muss man sich nur ansehen, wie gross der Schaden ist, den sie jemandem zufügen.

Hoffentlich gelingt Syrien der schwierige Weg in die Freiheit. Die Lektüre dieses Buches ist sehr empfehlenswert und ich wünsche mir weitere Übersetzungen ins Deutsche von Shukri Rayyan.

Shukri Al Rayyan, 1962 in Damaskus geboren, verbrachte den längsten Teil seines Lebens unter der Herrschaft der Assad-Dynastie, was vor allem bedeutete: Zu überleben. Nach einem Maschinenbaustudium an der Universität Damaskus arbeitete er für verschiedene Verlage, als Autor und Drehbuchautor für Kinderbücher und Fernsehprogramme und schließlich als TV-Produzent. Shukri Al Rayyan floh 2014 mit seiner Familie aus Syrien in die Schweiz. Im Gepäck hatte er den Entwurf zu einem Roman, an dem er seit dem Ausbruch der syrischen Revolution im Jahr 2011 arbeitete. «Nacht in Damaskus» ist das erste ins Deutsche übertragene Werk des Autors, der auch unter weiterschreibenschweiz.jetzt, dem Portal für Exil-Autorinnen, publiziert. Heute lebt Shukri al Rayyan mit seiner Familie in Burgdorf bei Bern.

Kerstin Wilsch hat Übersetzen und Dolmetschen für Arabisch und Englisch in Leipzig und Deutsch als Fremdsprache in Berlin studiert. Sie lebt seit vielen Jahren im Ausland (UK, Marokko, Ägypten, Jordanien), wo sie u.a. zwei Übersetzerstudiengänge aufgebaut sowie Deutsch und Arabisch als Fremdsprachen unterrichtet hat. Zurzeit leitet sie ein Auslandsstudienprogramm für Studierende aus den USA in Amman/ Jordanien und ist zudem als Übersetzerin und Übersetzungslektorin für arabische Literatur tätig.

Foto © Ayse Yavas

Percival Everett «James», Hanser

„Adventures of Huckleberry Finn“ von Mark Twain erschien vor 150 Jahren und zählt zu den Schlüsselwerken US-amerikanischer Literatur. Während Twain die Abenteuer aus der Sicht von Huck Finn erzählt, traut sich Percival Everett, selbst schwarzer Amerikaner, die Geschichte aus der Sicht des Sklaven Jim zu schildern. Ein Roman, der bis ins Mark geht!

Es gibt Geschichten, die ins kollektive Bewusstsein rutschen, so wie die immer und immer wieder erzählte Geschichte vom noch jugendlichen Huckleberry Finn und dem gejagten Sklaven Jim. Sei es in mehr oder minder gelungenen Verfilmungen oder in immer neu edierten Ausgaben (Die letzte, die ich mir kaufte, war die von Tatjana Hauptmann wunderbar illustriert, bei Diogenes 2002 erschienen). Aber gerade jene von 2002 liest sich wie ein lustig, rasantes Abenteuer, bei dem der eigentliche Schrecken jener Zeit nur nebelhaft in Erscheinung tritt, auch wenn die eine oder andere Szene blutig untermalt ist. Ohne den Roman von Mark Twain zu schmälern, bleibt die Sicht auf Rassisimus eine weisse, selbst dann, wenn Twain die Ungerechtigkeit unmissverständlich schildert. Diese Erzählweise zementiert ein westliches Empfinden, jenes der Zuschauenden, nicht direkt Betroffenen. Aber Percival Everett ist ganz direkt betroffen; vom zukunftslosen Schicksal eines Gejagten, von zu Unrecht beschuldigten Sklaven, von der Unumstösslichkeit einer kollektiven Schuldzuweisung, von grenzenloser Arroganz, von einem Land, das Rassismus bis in die Gegenwart nicht abzuschütteln weiss und nicht zuletzt von einer amerikanischen Geschichte, in der Menschenverachtung zum politischen Programm werden kann.

Jim ist mit seiner Familie Sklave in einem kleinen Dorf am Mississippi. Obwohl seiner Herrin Miss Watson „treu“ ergeben, bekommt er mit, wie beschlossen wird, ihn nach New Orleans zu verkaufen, ihn allein, ohne seine Frau und seine Tochter. Jim flieht auf eine kleine Insel auf dem Mississippi, wo er Huck trifft, den er schon ein Leben lang kennt, der sich wie Jim auf der Insel zu verstecken versucht. Huck fürchtet sich vor seinem prügelnden Vater so sehr, dass er um sein Leben bangt. Und als Jim genau jenen Mann, vor dem sich Huck so sehr fürchtet, nach einem Unwetter in den Überresten eines fortgespülten Hauses findet, werden aus den beiden Fluchtgefährten; Jim, weil man ihm den Tod von Hucks Vater in die Schuhe schieben will und das zusammen mit seiner Flucht für den Strick reicht und Huck, weil ihm Jim verschweigt, dass die Leiche in jenen Trümmern, die seines Vaters ist, ein Verschweigen, dass Gründe hat, die Jim ganz nah an den Jungen binden. Es ist aber auch der naive Blick des Jungen, die Beteuerungen seiner Freundschaft, die Jim schmeicheln, er, der aus weisser Sicht nie mehr als ein dummes Arbeitstier war. 

Percival Everett «James», Hanser, 2024, aus dem Englischen von Nikolaus Stingl, 336 Seiten, CHF ca. 37.90, ISBN 978-3-446-27948-3

Die beiden schustern sich ein Floss zusammen und lassen sich gen Süden auf dem Mississippi treiben, eigentlich in die gänzlich falsche Richtung, immer weiter weg vom Norden, in dem die Sklaverei längst als unrechtens erklärt wurde. Sie hangeln sich von Krise zu Krise, von einer zur nächsten Katastrophe, verlieren sich immer wieder, um sich aber auch immer wieder glücklich wiederzufinden, wachsen zu viel mehr als einer Schicksalsgemeinschaft zusammen, als Jim Huck von seiner Herkunft erzählt.

Was die Besonderheit dieses Romans ausmacht, ist aber viel mehr als die Erzählperspektive. Everett lässt den Sklaven Jim erzählen. Jim kann lesen und schreiben, hat sich das selbst beigebracht, sass in all den Jahren im Dienst von Mrs. Watson und Richter Thatcher immer wieder in dessen Bibliothek und „lieh“ sich das eine oder andere Buch aus, auch das eine oder andere Mal einen Voltaire. Überhaupt haben sich die Schwarzen in Everetts Roman eine Art Geheimsprache zuglegt, die sie immer dann verwenden, wenn sie mit den Weissen zu sprechen gezwungen sind oder wenn sie wissen, dass man ihnen zuhört. Eine Sprache, die nicht nur ihre Einfachheit, ihre gespielte Dummheit untermalt, sondern die Herrenrasse glauben lassen soll, es drohe keine Gefahr von den willenlosen Arbeitstieren. Huck ist der Naive. Er spürt zwar sehr gut, dass die Welt, in der er lebt, nicht so ist, wie sie aus seiner Sicht sein sollte. Aber er weiss sich nur schwer zu helfen, sucht nach Erklärungen. Auch im seltsamen Gehabe seines schwarzen Freundes, der immer wieder einmal in seinen Träumen ganz anders laut mit sich selber spricht. 

Im Hintergrund des Romans beginnt der US-amerikanische Bürgerkrieg zwischen Norden und Süden. Ein Krieg für oder gegen die Sklaverei. Ein Krieg, der Huck fasziniert und Jim seltsam kalt lässt, weil er ein Leben lang seine Rolle als Sklave verinnerlichte und die Geschichte, die er mit einem Bleistiftstummel in ein Buch schreibt, nur ganz zaghaft zu einer Befreiungsgeschichte wird und erst mit dem letzten Satz im Roman zu einer solchen wird.
„James“ ist bei weitem nicht einfach eine nacherzählte Geschichte. „James“ ist amerikanische Geschichte, die schonungslos erzählt, was Mark Twain vor 150 Jahren in seiner Welt nicht konnte.

Percival Everett, geboren 1956 in Fort Gordon/Georgia, ist Schriftsteller und Professor für Englisch an der University of Southern California. Er hat bereits mehr als dreissig Romane veröffentlicht. Für sein Werk wurde er mit zahlreichen Preisen geehrt, u. a. mit dem PEN Center USA Award for Fiction, dem Academy Award in Literature der American Academy of Arts and Letters, dem Windham Campbell Prize und dem PEN/Jean Stein Book Award.

Nikolaus Stingl, 1952 geboren, übersetzte u. a. William H. Gass, Ben Lerner, Thomas Pynchon, Colson Whitehead und Emma Cline und wurde mit mehreren wichtigen Übersetzerpreisen ausgezeichnet.

Beitragsbild © Michael Avedon

Ana Marwan «Sei Erich», Edition Thurnhof

Vom 15. bis 17. November erfreute die Buch- und Druckkunstmesse in Frauenfeld all jene, denen Buch, Schrift und Druckkunst mehr sind als blosse Informationshilfe. Über 50 Ausstellende präsentierten Kostbarkeiten aus eigenem Druck, bewiesen, wie vielfältig sich pure Leidenschaft auf Papier manifestiert.

Ich besuche sie immer, so wie andere Landwirtschaftsmessen, Freizeitmessen, Buchmessen, Hochzeitsmessen. Solche Messen sind Ausdruck einer Lebenshaltung, einer Philosophie, einer Überzeugung. Und nirgends passt das Wort «Ausdruck» besser als im Zusammenhang mit der Buch- und Druckkunstmesse. Ausstellende und BesucherInnen sind Menschen, denen das Haptische, die Ästhetik des Greifbaren, die vielfältigen Möglichkeiten von Papier, Karton, Leder und Druckerfarben nicht nur das Auge erfreuen, sondern ebenso dem Tastsinn schmeicheln und als Duft in die Nase steigen. Es versammelt sich eine Gattung Mensch, die in Zeiten von Massenprodukten, digitaler Aufbereitung, künstlicher Intelligenz und Beliebigkeit das Original schätzen, dem Einzigartigen huldigen, dem Handwerk, der offensichtlichen Leidenschaft.

Unter den vielen AusstellerInnen ist einer meiner Fixpunkte der Messe jedes Jahr der Stand der Edition Thurnhof. Toni Kurz gründete vor einem halben Jahrhundert zusammen mit einem Freund die Galerie Thurnhof, aus der über die Jahrzehnte auch ein Verlag wuchs, der im Gegensatz zu anderen Verlagen aber nicht gewinnorientiert möglichst grosse Auflagen verkaufen will, sondern Inhalt und Form zu einem Kunstwerk in Kleinauflage macht. SprachkünsterInnen treffen auf GestalterInnen und einen Verleger, der sich das Schöne und Einzigartige auf die Fahne geschrieben hat.

So auch die Erzählung «Sei Erich» von Ana Marwan. Eine Liebesgeschichte an einen Hund, eine Aufforderung zum Nachdenken, so wie alle Texte von Ana Marwan. Zusammen mit den kunstvollen Lithografien von Regina Hadraba wird das schmale Buch zu einem mehrfachen Leseerlebnis. Das Buch ist nicht nur die Verpackung des Textes. Hier wird das Lesen, Sehen, Schauen und Blättern zum Vielfachgenuss. Dass es zu den meisten Kunstwerken aus der Edition Thurnhof noch eine Sonderedition mit Holzschuber, einem Autograf von Ana Marvan und einer Monotypie von Regina Hadraba gibt, signiert und nummeriert von I bis XX, macht ein solches Buch zum bibliophilen Schatz.

Autograf von Ana Marvan

Ana Marwan, 1980 in Murska Sobota/SLO geboren, aufgewachsen in Ljubljana. Studium der Vergleichenden Literaturwissenschaft in Ljubljana und der Romanistik in Wien. Lebt als freie Autorin in Wien und schreibt Kurzgeschichten, Romane und Gedichte auf Deutsch und Slowenisch. 2023 und 2024 Mitherausgeberin und alleinige Chefredakteurin der Literaturzeitschrift „Literatur und Kritik“.

Monotypie von Regina Hadraba
Ana Marwan «Sei Erich», Edition Thurnhof, 2023, 11 Offsetfarblithografien von Regina Hadraba, 40 Seiten, 27 Euro, ISBN 978-3-900678-62-3

Regina Hadraba, 1964 in Waidhofen/Thaya geboren, Mitbegründerin der Künstlerinnengruppe Vakuum; Landesatelier im Künstlerhaus Salzburg; Webster University St.Louis, USA, 1994 Anerkennnungspreis des Landes NÖ, 1996 Innsbrucker Grafikwettbewerb (Preis des Landes NÖ); 1997 Anerkennungspreis beim Grafikwettbewerb „Pro Natura“; 2002 Kulturpreis der Stadt Baden.

Beitragsbild © Sandra Kottonau (Ana Marwan bei einer Lesung im Literaturhaus Thurgau 2023)

Edition Thurnhof

Mireille Zindel „Bald wärmer“, Pano

„Was, wenn ich ehrlich wäre?“ schreibt Mireille Zindel ganz zu Beginn ihrer literarischen Auseinandersetzung mit dem Tod ihrer kleinen Tochter Zoé. 12 Tage lebte das kleine Mädchen, ohne das Spital jemals zu verlassen. Und sechs Jahre dauerte es, bis die Schriftstellerin den einen Roman zur Seite legte, um auf ihre ganz eigene Art und Weise mit dem Abschied fortzufahren.

Adventszeit; man feiert in der Erwartung des Kindes. Kein Ereignis im Leben eines Menschen ist derart einschneidend wie die Geburt eines Kindes. Nichts generiert ein derart tiefes Glücksgefühl wie das erste In-die-Hand-Nehmen eines Kindes. Es ist nicht nur im christlichen Glauben die personifizierte Hoffnung, die menschgewordene Glückseligkeit. Auf der anderen Seite der Tod, das unwiderbringliche Abschiednehmen, die Trennung, das Auseinanderreissen. Die Angst, was dann passiert und danach sein wird. Die Angst vor der Leere, vor dem Verlorensein. Und was ist, wenn Geburt und Tod nur 12 Tage voneinander entfernt liegen? Wenn mit dem Moment des grösstmöglichen Glücks die Angst beginnt, das Bangen, das verzweifelte Greifen nach jedem Halm Hoffnung? Wenn der Tod unmittelbar bevorsteht, unabwendbar, wie ein Urteil, ein übergrosses Schwert, das trennen wird, was zusammengehört, was eine Schwangerschaft lang nicht nur im Bauch wuchs, sondern im Herzen, den Plan für ein gemeinsames Leben, eine Familie ausmachte?

Mireille Zindel «Bald wärmer», Pano, 2024, 244 Seiten, CHF ca. 32.80, ISBN 978-3-290-22073-0

Ich mag Bücher nicht, die mich zum Zeugen und Mitwisser einer Bewältigung, eines Heilungsprozesses machen. Bücher, die mir beweisen wollen, dass ich bloss stark genug sein muss, um mich meinem Trauma zu stellen. Die von mir ein Schulterklopfen provozieren wollen, die Anerkennung, es bravourös gemeistert zu haben. Mireille Zindel nimmt mich ganz behutsam mit auf einen Weg durch diese 12 Tage und weit darüber hinaus. Nicht Mitleid, sondern Selbstreflexion will sie provozieren. Sie zeigt, wie sehr wir uns auf Schienen bewegen, wie leicht es uns aus den Schienen wirft und Leben kippen kann, entgleisen, still stehen. Wie leicht wir uns von der Erwartung des Glücks verführen lassen, alles mit unsäglicher Selbstverständlichkeit erwarten und es mit grösstmöglicher Lockerheit ausblenden, dass neben all dem Glück bodenloses Unglück geschieht.

Spinale Muskelatrophie, SMA, war die Diagnose, die die Eltern zehn Tage nach der Geburt bekamen, zwei Tage vor dem Tod der kleinen Tochter. Ein Gendefekt. Damit war nur erklärt, was seit dem Moment der Geburt eine permanente Hektik und Dramatik auslöste, weil beim Kind schon mit dem ersten Augenblick lebensrettende Sofortmassnahmen ergriffen werden mussten. Weil ganz schnell klar wurde, dass dem Kind nicht jene Zukunft geschenkt werden würde, von der man neun Monate lang hoffte, mit der man Strampelhosen und Kinderbettchen kaufte, das Familienglück werden sollte. Ein Kind, das man der Mutter schon nach der Geburt wegnehmen musste, um es zu beatmen. Die Geburt war keine Fanfare des Glücks, sondern der Beginn langen Leidens, der Verzweiflung darüber, ob man es je schaffen würde. Das Gefühl umfassender Sinnlosigkeit drohte zu einem Lebensgefühl zu werden.

Mireille Zindel erzählt von ihrer grenzenlosen Liebe zu ihrem Kind, das sie nur kurz begleiten konnte, das in jener Zeit trotz allem ihr Glück ausmachte. Ein Glück, dass Mireille Zindel um jeden Preis zu konservieren versucht. „Bald wärmer“ erzählt vom Kampf. Aber auch von den Irrungen, dem Hadern und der Verzweiflung. Alles existiert gleichzeitig, schreibt Mireille Zindel. Spitäler sind Orte eben jener Gleichzeitigkeit.

Eigentlich müssten Männer dieses Buch lesen, denn es beweist, wie viel uns entgeht, wie gross die Welt einer Mutter ist. „Bald wärmer“ rüttelt mich wach, zeigt mir Tiefen, von denen ich nichts weiss. Und nicht zuletzt ist „Bald wärmer“ ein Buch der Hoffnung.

Mireille Zindel, Germanistin und Romanistin, Jahrgang 1973, ist eine Schweizer Schriftstellerin und lebt in Zürich. Für ihren ersten Roman «Irrgast» erhielt sie 2008 den Preis der Literaturperle (art-tv.ch) und den Literaturpreis der Marianne und Curt Dienemann Stiftung. Nach «Laura Theiler», «Kreuzfahrt», und «Die Zone» erschien 2024 ihr neuster Roman «Fest». Mireille Zindel schreibt auch Gedichte, Shortstories, Artikel und Reportagen und veröffentlicht Videos (Rest in poetry, Friedhofforum Stadt Zürich, 2024).

Webseite der Autorin

Beitragsbild © Ayse Yavas

Jo Lendle «Die Himmelsrichtungen», Penguin

Amelia Earhart war eine Pionierin, zweifellos. Als erste Pilotin reihte sie Rekord an Rekord. 1921 nahm sie mit 24 erste Flugstunden, sechs Monate später stellte sie den ersten Höhenrekord auf. Man feierte sie über die USA hinaus nicht nur wegen ihrer Fliegerei als Heldin, sondern weil sie sich kaum um Konventionen kümmerte und damit zum Idol einer ganzen Frauengeneration wurde. Jo Lendle schrieb mit «Die Himmelsrichtungen» einen äusserst feinfühligen Roman über eine Ikone.

Wahrscheinlich ist es gut, dass ein Mann dieses Buch schrieb. Somit ist es kein «Frauenbuch», was es tatsächlich nicht ist. «Die Himmelsrichtungen» ist ein Buch über eine Sorte Menschen, die sich nicht um ungeschriebene Gesetze schert. Sie wollte ihr Leben leben, ganz. Auch eine typische Biographie der Zwischenkriegszeit, im Land der unbegrenzten Möglichkeiten. Als sich diese Gattung Mensch um nichts anderes kümmerte, als um sich selbst – um jeden Preis einen Platz für die Ewigkeit ergattern. Heute begegnet man dieser Art Mensch um ein vielfaches kritischer, auch weil die Anzahl derer, die mit ihren finanziellen Mitteln die Welt kaufen, immer grösser wird. Das Gedränge am Mount Everest ist sinnbildlich dafür. Damals waren es wenige und sie wurden vergöttert. Heute sind es viele und sie werden mit Argwohn kommentiert.

«Mir ist es nie darum gegangen, irgendwo anzukommen. Vielleicht misstraute ich der Idee einer Ankunft: Vielleicht genoss ich auch einfach den Zwischenraum.»

Jo Lendle «Die Himmelsrichtungen», Penguin, 2024, 256 Seiten, CHF ca. 35.90, ISBN 978-3-328-60379-5

Von ihrem letzten Abenteuer, kurz vor ihrem 40. Geburtstag, sie wollte als erster Mensch überhaupt die Erde mit ihrer «Electra» am Äquator entlang umrunden, blieb nichts, nicht einmal ein Notruf. Amelia Earhart verschwand mit ihrem Navigator irgendwo im Pazifik, tauchte nicht auf, wo ein Versorgungsschiff und eine ganze Crew die beiden erwartete. Die grösste je organisierte Suchaktion mit verschiedensten Schiffen und Flugzeugen versuchte das Flugzeug und ihre Insassen zu finden – ohne Erfolg.
Amelia Earhart wusste um das grosse Risiko, zumal die technischen Möglichkeiten damals bei weitem nicht dem entsprachen, was man heute als Standart nimmt. Sie koketierte mit dem Risiko. Und eben dieses Risiko war es, das sie weit über ihr Schicksal hinaus bis heute zu einer Heldin macht, einer Figur, die sich nicht bremsen lässt, weder durch Technik und schon gar nicht durch Konventionen.

«Es ist nicht leicht, eine Heldin zu sein.»

Amelia Earhart entsprach in vielem nicht dem damals gängigen Frauenbild. Nicht nur in der Art, wie sie mit körperlichen und technischen Herausforderungen umging, auch im Umgang mit ihrem Gegenüber, mit ihrer Publizität – und nicht zuletzt mit Männern. Man(n) musste sie so nehmen, wie sie war. Das galt für die Liebe genauso wie für Geschäftspartner, für Prominente wie für Teammitglieder. So faszinierend wie ihr unstillbarer Hunger nach Rekorden, ihre Lust, nicht dem zu entsprechen, was man sonst von Frauen erwartete. Und doch tat es Amalia Earhart nicht, um zur Heldin zu werden. Es ging ihr weder um „Unsterblichkeit“ noch um den Rekord an sich. Sie wollte tun, was sie will. Sie wollte sich weder einengen noch leiten lassen. Sie war damals in einer Art selbstbestimmt, die ins Heute übersetzt rücksichtslos erscheinen mag. Aber damals galten andere Parameter. Was damals der Luftraum war, ist heute das Weltall. Und auch heute gibt es von der breiten Öffentlichkeit bejubelte Pioniere, die sich um nichts und niemanden scheren, um ihre eigenen Ziele zu erreichen, koste es, was es wolle.
Und vielleicht suchte Amelia Earhart in luftiger Höhe auch bloss etwas, was sie  auf dem Boden nicht bekam.

«Nicht ihnen fühlte ich mich verpflichtet, sondern nur dem unendlichen Raum der Möglichkeiten.»

Jo Lendle erzählt und umkreist. Er durchleuchtet nicht und ist weit weg von jeder Glorifizierung. Er erzählt die Geschichte Amelia Earharts, vom letzten Flug zurück bis in ihre Kindheit. Er erzählt von einer jungen Frau, die sich zu schälen versucht, so wie sich die Geschichte Schicht um Schicht „rückwärts“ erzählt. Da ich mit einem schnellen Blick ins Netz vom Schicksal Amalia Earharts lese, braucht das Buch keine auf die Tragödie hinzielende Dramatik. Was mich als Leser durch dieses Buch zieht, ist nicht das Geheimnis ihres Verschwindens, sondern das der möglichen Gründe und Ursachen, warum Amelia Earhart jenes Risiko zum Lebenselexier machte. Es ist die Geschichte einer Suchenden, die das in Worte zu setzen versuchte, was sie an inneren Bildern in sich selbst sah. Amelia Earhart schrieb nicht nur Tagebuch, sondern Gedichte, nebst den Himmelsrichtungen eine Dimension mehr, so wie ihr Drang nach oben, diese unbedingte Hinwendung in die fünfte Himmelsrichtung.

Ein Buch, das vielfach berührt!

Jo Lendle wurde 1968 geboren und studierte Literatur, Kulturwissenschaften und Philosophie. Bei der DVA sind seine Romane »Was wir Liebe nennen« (2013), »Alles Land« (2011), »Mein letzter Versuch, die Welt zu retten« (2009) und »Die Kosmonautin« (2008) erschienen, zudem 2021 bei Penguin »Eine Art Familie«.

Webseite des Autors 

Beitragsbild © Heike Bogenberge

Sasha Filipenko «Der Schatten einer offenen Tür», Diogenes

Ostrog ist eine russische Provinzstadt im Nirgendwo. Kommissar Alexander Koslov wird zusammen mit seinem Assistenten von Moskau dorthin geschickt, nachdem eine Reihe Suizide von Jugendlichen nicht nur die Stadt in Aufruhr versetzt. „Der Schatten einer offenen Tür“ als Krimi zu bezeichnen, genügt nicht. Aber der Roman ist auch weder Milieustudie noch Psychodrama. Der Roman verunsichert, schockiert und lässt einem nach der Lektüre ziemlich allein.

Seit ein paar Jahren lebt der belarussische Schriftsteller Sasha Filipenko mit seiner Familie in der Schweiz im Exil. Solange die Bruderschaft zwischen Putin und Lukaschenko Russland und Belarus zur Front gegen den „westlichen Aggressor“ zusammenschweisst, wird Sasha Filipenko nicht mehr in seine Heimat zurückkehren können. Seit der Schriftsteller mit den Romanen „Die Jagd“ und „Rote Kreuze“ die Szene überraschte, erwartet man viel von dem Mann, der sich ausgezeichnet auskennt in den Mechanismen Russlands. Nicht weniger als deutliche Argumente dafür, wie korrupt, totalitär und manipulativ der Machtapparat in jenem Land ist, dass sich mehr und mehr in einen immer bedrohlicher werdenden Krieg verbeisst. Aber der neue Roman bricht aus, erfüllt zumindest meine Erwartungen nicht. Erwartungen, denen der Autor aber vielleicht gar nicht genügen will.

Alexander Koslov war schon einmal in der ehemaligen Gefängnisstadt Ostrop. Damals brachte er den amtierenden Bürgermeister hinter Gitter. Eine Ermittlung, die ihm wenig neue Freunde machte. Nun schickt ihn Moskau erneut in dieses Nest, in Begleitung von Fortow, seinem Assistenten, der zum ersten Mal an einer solchen Ermittlung teilnimmt und wenig Interesse zeigt, die Dinge mehrfach umzudrehen, um zu einem abschliessenden Urteil zu kommen. Aber nicht nur für Fortow liegt ziemlich schnell auf der Hand, wer mit den toten Judgendlichen, den Suiziden zu tun haben muss; Pjotr Petrowitsch Pawlow, kurz Petja. Von ihm wird in der Nähe aller Toten seine DNA gefunden. Petja war wie die toten Jugendlichen einst Insasse jenes Heims, aus dem die Toten stammen. Nicht dass er es geschafft hätte. Petja, von allen in der Stadt wie ein naiver Trottel behandelt, ein junger Mann, der eigentlich nur Gutes tun will und nicht verstehen kann, dass die Welt nicht nach seinen Vorstellungen ticken will, lebt in einem heruntergekommenen Wohnsilo, arbeitet in einer Fabrik und ist wahrloses Opfer, als ihn die örtliche Polizei einsperrt, foltert und zu einem Geständnis zwingt. Die Sache scheint klar. Auch für die Journalistinnen und Journalisten, die in der einzigen Kneipe in der Stadt, die etwas hergibt, auf Neuigkeiten warten. Nur für Alexander Koslov nicht.

Sasha Filipenko «Der Schatten einer offenen Tür», Diogenes, 2024, aus dem Russischen von Ruth Altenhofer, 272 Seiten, CHF ca. 34.00, ISBN 978-3-257-07159-7

Die Toten und Petja kommen aus dem städtischen Kinderheim. Kein warmes Nest, in dem man sich mit Liebe und Fürsoge um die sich selbst überlassenen Kinder kümmert. Viel mehr noch so eine Art Gefängnis, eine Anstalt, ein Apparat für Kinder und Jugendliche ohne Perspektive. Selbst solche, die mit Ach und Krach eine Pflegefamilie finden, werden „zurückgebracht“. Eine kalte Institution, für die die Toten die denkbar schlechteste Werbung bedeuten.

Aber auch Alexander Koslov hat sich verloren. Seine Frau, die sich von ihm tennte, ist mit einem angesehenen Richter liiert. Selbst ihre Offenbarung, dass sie schwanger ist, ein Telefonat, unmissverständlich, endlich zu akzeptieren, bringt Koslov nicht weg von seiner verzweifelten Liebe zu einer verlorenen Frau. Diese eine Woche in Ostrop, für die ihm Moskau Zeit gibt, die Ursachen für die mittlerweile vier Suizide zu klären, wird für Koslov zur Probe, denn für ihn ist klar, dass nicht das, was auf der Hand liegt, in diesem Sumpf der Wahrheit entspricht.

„Der Schatten einer offenen Tür“ ist ein hartes Buch. Ein Roman, der Abgründe zeigt, weder klären noch enträtseln will. Kein Geschichtchen mit Aufklärung und sauber aufgelöstem Plott. Der Roman lässt einem so ratlos zurück wie vieles, was dort geschieht, einem Land, das nicht aus den Mühlen des Immergleichen ausbrechen kann, selbst dann, wenn sich die Türen für einen Augenblick öffnen. Wer nur einen Krimi lesen will, ist schlecht bedient. Wer Enthüllung will, wird enttäuscht. Man muss sich selbst aus diesem Sumpf ziehen. Wer aber jene Portion Verunsicherung mag, wer sich traut, in den Abgrund zu schauen, in die Trostlosigkeit der Verlorenheit, der ist mit diesem Buch genau richtig.

Sasha Filipenko, geboren 1984 in Minsk, ist ein belarussischer Schriftsteller, der auf Russisch schreibt. Nach einer abgebrochenen klassischen Musikausbildung studierte er Literatur in St. Petersburg und arbeitete als Journalist, Drehbuchautor, Gag-Schreiber für eine Satireshow und als Fernsehmoderator. Sein Roman «Die Jagd» war ein Spiegel-Bestseller. Sasha Filipenko ist leidenschaftlicher Fussballfan und wohnte bis 2020 in St. Petersburg. Er musste mit seiner Familie Russland verlassen und lebt in der Schweiz.

Ruth Altenhofer hat an der Universität Wien, in Rostow am Don und in Odessa Slawistik studiert. 2015 hat sie sich als Übersetzerin selbständig gemacht. Sie dolmetscht in der Psychotherapie für Flüchtlinge, übersetzt Fachtexte (oft Tourismus) und Comics/Graphic Novels. Als Literaturübersetzerin wurde sie 2012 und 2015 mit dem Übersetzerpreis der Stadt Wien ausgezeichnet.

«Rote Kreuze», Rezension

Beitragsbild © Lukas Lienhard Diogenes

Wolfram Schneider-Lastin (Hrsg.) «Fragen hätte ich noch. Geschichten von unseren Grosseltern», Rotpunktverlag

30 Autorinnen und Autoren aus der Schweiz, Deutschland und Österreich erzählen von ihren Grosseltern, Geschichten bis nach Italien, Frankreich, Polen, Tschechien, Ungarn, der Ukraine, Israel, Pakistan und der DDR. Geschichten von Berührten, Geschichten, die berühren.

Auf einem meiner Regale steht ein eingerahmtes, sepiafarbenes Foto. Ein Mann in Anzug und Kravatte sitzt in einem Korbstuhl neben einem Tischchen mit Spitzendecke. Mein Grossvater. Er war Tischler, Schreiner. Auf dem Foto hatte er etwas zu repräsentieren. Dazu gehören wohl auch die Bücher auf der Ablage unter dem Tischchen und das offene Buch mit Stift auf dem weissen Tischtuch. Mein Grossvater starb, als ich ein Jahr alt war. Meine Mutter erzählt, er habe mich, schon gezeichnet von seiner Krankheit, noch in Händen gehalten. Er wurde nicht alt, aber von meinem Grossvater gibt er Zeugnisse, die noch immer an den Wänden im Haus meiner Mutter und meiner Tante hängen; Aquarelle und Ölbilder, von naturalistisch bis abstrakt. Mein Grossvater war begabt und hätte sich wohl viel lieber als Künstler gesehen, statt als Handwerker, der nur mit grösster Anstrengung dem nachgehen konnte, was seiner Leidenschaft entsprach. Aus Geldknappheit und weil meine Grossmutter wohl alles andere als glücklich darüber war, dass ihr Gemahl Geld für Ölfarben ausgab, bemalte er seine Leinwände gar beidseitig, sodass man sich später, als man dann doch das eine oder andere Bild einrahmte, stets für das eine oder andere entscheiden musste, im Wissen darum, dass das verborgene Bild Schaden nehmen würde. Die Begabung meines Grossvaters setzte sich in meiner Mutter, die auch heute noch mit über achtzig malt, meinem Bruder, der in Zürich seit Jahrzehnten ein Atelier führt und meinen Kindern fort. Eine Begabung, die mich stets in die Nähe der Kunst führte, gepaart mit dem ewigen Zweifel, der mit Sicherheit auch meinen Grossvater begleitete, denn nach seinem Tod sah man an den Wänden meiner zur Witwe gewordenen und wieder verheirateten Grossmutter nie ein gemaltes Bild meines Grossvaters. 

«Schon lange wollte ich meine Beziehung zu meinem Grossvater in einer Erzählung festhalten. Mir war klar, dass mir das einiges abfordern würde. Vielleicht hatte ich sie deshalb noch nicht zu Papier gebracht, als die Einladung mit der Frage kam, ob ich einen Text beisteuern möchte für ein Grosseltern-Buch. Ja, natürlich, das war mein erster Gedanke. Und doch zögerte ich ein paar Wochen lang, bevor ich zusagen konnte, denn ich wusste: Über meinen Grossvater schreiben bedeutet über mich schreiben. Und das heisst: rausrücken mit dem, was ich für sehr privat halte. Das war und ist schwierig für mich, denn ich leide durchaus nicht unter Bekenntiszwängen. Nun bin ich aber überglücklich, es gewagt zu haben, über diese Geschichte entspannen sich neue Beziehungen, auch in der Familie, ich stehe neu mit zwei Cousins in intensivem Kontakt, ich erfuhr so viel mehr über meinen Grossvater und meine Herkunft. Die Geschichte ist noch lange nicht auserzählt. Und nicht zuletzt: Die Geschichte meines Grossvaters verbindet sich mit allen Geschichten und mit allen Grosseltern im Buch. Und auch die Autorinnen und Autoren haben – so behaupte ich – einen neuen und vertieften Zugang zueinander. Das hat grosse poetische Kraft.» Romana Ganzoni

Wolfram Schneider-Lastin «Fragen hätte ich noch. Geschichten von unseren Großeltern», Rotpunkt, 2024, 256 Seiten, CHF ca. 32.00, ISBN 978-3-03973-039-1

Vielleicht ist genau das die grosse Tür, die sich auftut, wenn man die Geschichtensammlung „Fragen hätte ich noch“ liest. Das Buch lädt ein, sich mit den eigenen Grosseltern zu befassen, sich zu fragen, was denn an Erinnerungen, an Wissen, an Persönlichem noch da ist. Wer sich nicht aktiv mit seinem Stammbaum, seiner Herkunft befasst, weiss vielleicht nur wenig, vor allem von dem, was Fotografien nicht erzählen. Urgrosselten und ihre Vorfahren verschwinden im Vergessen. So wie die meisten von uns in 100 Jahren vergessen sein werden. Meine Mutter ist weit über achzig. Wenn ich sie noch einmal fragen möchte, dann wäre es jetzt an der Zeit. Wer war meine Grossmutter? Warum habe ich von ihr ein derart nüchternes Bild? Warum empfinde ich meinem Grossvater gegenüber derart viel Wärme und Sympathie, obwohl ich ihn nie wirklich erleben konnte.

«Einige der Geschichten im Buch rufen in Erinnerung, dass Europa in der Weltgeschichte eine ebenso verdienstvolle wie zerstörerische Rolle spielt. Von hier gingen ja auch vielfältige Brutalitäten aus, die sich vor, während und nach den beiden Weltkriegen zugetragen haben, etwa die Gründung der Staaten Israel, Indien und Pakistan, oder die Zerstückelung ganzer Kontinente. Die meisten meiner Vorfahren – aber nicht alle von ihnen – entkamen der Vergewaltigung, Enteignung und Entwurzelung durch die europäischen Kolonialmächte. Durch eine postkoloniale Fügung des Schicksals bin ich in der Schweiz aufgewachsen: Mein Vater war Bankier.» Waseem Hussain

Wolfram Schneider-Lastin, der Herausgeber und Mitverfasser des Buches, schildert in seinem knappen Vorwort die Entstehungsgeschichte des Buches, wie er während der Pandemie begann, die Geschichte seiner Grossväter aufzuschreiben, sie an Freunde weitergab und Lektüre und Reaktionen eine wahre Welle auslösten. Entstanden ist eine erstaunliche Sammlung von Geschichten, von Frauen und Männern im 20. Jahrhundert, die sich ganz verschieden durch ein Jahrhundert der Kriege und Umwälzungen stemmten. Geschichten von Liebe und Hass, von Ernüchterung und Enttäuschungen, vom grossen Schweigen und dunklen Geheimnissen, von tiefer Verbundenheit und schmerzhaftem Ekel.

«Dass sich meine Grosseltern krumm und bucklig gearbeitet haben, dass vor lauter Arbeit kein Denken möglich war, das kam nochmals stärker durch. Und ist damit übertragbar auf Menschen, die eben am Rand und «unten» wie blöd und hart arbeiten, dass nichts anderes mehr möglich ist. (s.a. «Jahrhundertsommer»). Und – das ist mir im Vergleich mit den anderen Geschichten aufgefallen – dass es von meiner Oma nur überhaupt zwei Fotos gibt, denn niemand hatte einen Fotoapparat und auch keine Zeit für so etwas, dass sie auch kein Auto hatten, vor dem man sich hätte fotografieren lassen können, dass sie auch nie in Urlaub fahren konnten, von dem es Fotos hätte geben können, dass sie arm waren, ohne dass sie je von sich gedacht hatten, arm zu sein. (Und meine andere Seite der Familie war noch sehr viel ärmer.) D.h. die Klassenfrage, die Frage nach der Herkunft, drängt bei jedem weiteren Schreiben und im Alter immer stärker durch.» Alice Grünfelder

Ein wunderbares Buch, eine Einladung, ein Zeitdokument.

Wolfram Schneider-Lastin, geboren 1951 in Schwäbisch Gmünd, studierte Schauspiel, Germanistik, Geschichte, Altphilologie und Kunstgeschichte an den Hochschulen Stuttgart, Tübingen, Wien und Rom. Seit 1988 lebt er in der Schweiz, wo er seine wissenschaftliche Karriere – nach der Promotion über Johann von Staupitz – an verschiedenen Universitäten und als Redakteur der Zeitschrift Librarium fortsetzte. Als Schauspieler hat er sich vor allem mit literarischen Lesungen einen Namen gemacht.

Die Autorinnen und Autoren: Fabio Andina (CH), Esther Banz (CH), Nelio Biedermann (CH), Sabine Bierich (D/CH), Zora del Buono (CH/D), Alex Capus (CH), Verena Dolovai (A), Daniela Engist (D), Oded Fluss (ISR/CH), Romana Ganzoni (CH), Roswitha Gassmann (CH), Alice Grünfelder (D/CH), Gottfried Hornberger (D), Waseem Hussain (PAK/CH), Markus Knapp (D), Andreas Kossert (D), Martin Kunz (CH), Hanspeter Müller-Drossaart (CH), Christa Prameshuber (A/CH), Helmut Puff (D/USA), Klemens Renoldner (A), Christian Ruch (D/CH), Ariela Sarbacher (CH), Thomas Sarbacher (D/CH), Herrad Schenk (D), Gerrit Schneider-Lastin (DDR/CH), Wolfram Schneider-Lastin (D/CH), André Seidenberg (CH), Ruth Werfel (CH), Anke Winter (D/CH)

«Ich wundere mich über die historische Amnesie in Jurys, Feuilletons, sogenannten Kulturkreisen, wie wenig von diesem Wissen vorhanden ist, wie wenig diese Leute in diesen Bubbles selbst von anderen Kreisen wissen, in denen sie sich nicht bewegen, wie viel für «alt» gehalten wird und noch lange nicht überwunden ist – und wie viel Kraft es kostet, diese Vergangenheit und auch Krisen anderswo wieder und wieder gegen den Mainstream in Erinnerung zu rufen.» Alice Grünfelder

Illustration © Hannes Binder

Reinhard Kaiser-Mühlecker «Brennende Felder», S. Fischer – Österreichischer Buchpreisträger 2024

Bin ich der, der ich bin? Richte ich mich bloss in einem Leben ein? Wie viel konstruiere ich von dem, was ich meine Wahrheit nenne? In „Brennende Felder“ brennt es gleich mehrfach. Reinhard Kaiser-Mühlecker schont mich in seinem neusten Roman nicht, zuletzt in meinem Wunsch, mich identivizieren zu wollen. Sein Meisterwerk flirrt in seiner aufgeladenen Hitze und der gekonnt spröden Annäherung an sein Personal.

Reinhard Kaiser-Mühlecker ist Bauer und Schriftsteller. Aber so sehr er seinen letzten Teil einer eigentlichen Trilogie („Fremde Seele, dunkler Wald“ (2016) und „Wilderer“ (2022), ohne dass man sie für dieses Buch gelesen haben müsste) in bäuerlicher Umgebung spielen lässt, so sehr konfrontiert mich der Autor mit urmenschlichen Schwächen, sei es in der Zeichnung seiner Protagonisten oder mit dem, was der Autor während des Lesens mit mir geschehen lässt. 

Nichts an „Brennende Felder“ beschreibt ländliche Idylle. Da brennen die Felder wegen der sommerlichen Gluthitze wirklich. Und überall lauert der Tod. Sei es ein Bauer, der in eine Futtermaschine gerät, eine Bäuerin, die den Strick nimmt. Das Leben auf dem Hof war und ist ein K(r)ampf, der so rein gar nichts mit Landliebe zu tun hat.

Reinhold Kaiser-Mühlecker «Brennende Felder», S. Fischer, 2024, 368 Seiten, CHF ca. 36.90, ISBN 978-3-10-397570-3

Luisa kommt zurück in dieses Dorf, in dem sie aufgewachsen ist, wo ihr Bruder noch immer den elterlichen Hof über Wasser zu halten versucht und der andere Bruder an seinen psychischen Verletzungen leidet. Luisas Vater spielte nie eine Rolle und ihr Stiefvater, von dem sie eine Kindheit lang glaubte, er wäre ihr Vater, erklärt ihr nach seinem Outing seine Liebe, steht Jahre später vor der Tür und beginnt mit ihr das, was damals unmöglich war. Auch ihre Mutter lebt noch im Dorf. Man schaut sich aber bei zufälligen Begegnungen nicht einmal in die Augen. Abgestorbenes Leben überall. Und überall kann es zu brennen beginnen.

Nachdem ihr Stiefvater bei einem nächtlichen Streifzug ums Leben kommt, Ermittlungen aber gar nie richtig in Fahrt kommen, lernt Luisa Ferdinand kennen, von dem sie annehmen muss, dass er der Bauer ist, bei dessen Konfrontation Bob, der Stiefvater, ums Leben kam. Aber statt diesen Ferdinand zur Rede zu stellen, richtet sich Luisa auf Ferdinands Hof häuslich ein und kümmert sich um Anton, den autistischen Sohn des Bauern. Eine Art Wiedergutmachungsversuch, denn Luisa hat selbst zwei Kinder aus zwei gescheiterten Ehen, zu denen sie den Draht verloren hat, einer Tochter und einem Sohn, die sich mehr und mehr deutlich von ihr abwendeten. Zwischen Ferdinand und Luisa entwickelt sich durchaus eine Beziehung, auch wenn einem als Leser im Laufe der Lektüre ziemlich bald klar wird, dass Luisa nicht nur Bindungsprobleme mit sich herumträgt, sondern alles zwischen Anziehung und Abstossung, zwischen Leidenschaft und Hassgefühlen kippt.

Luisa will Schriftstellerin sein. Sie träumt von einem eigenständigen Leben als Künstlerin. Ferdinand hat ihr sogar ein Schreibzimmer in seinem Haus eingerichtet. Ein Zimmer, das sie abschliesst. Das Leben auf dem Hof, all die Arbeiten, sind für sie nur Kulisse, Material, aus dem sie Literatur schaffen will. Noch so ein Feuer, wenn auch ein eigenartiges Strohfeuer, denn was sie schreiben will, scheint nie richtig Form annehmen zu wollen.

Während des Lesens wird immer deutlicher, dass Luisa ihre Sicht der Dinge ganz eigen interpretiert. Mehr und mehr Fragen stellen sich, Bilder kippen immer und immer wieder. Seien es ihre Beziehungen, die nicht enden wollenden Eskapaden, die Ruinen einer Familie und Luisas Hang, alles und jeden in ein für sie stimmiges Muster quetschen zu wollen.

„Brennendes Feuer“ beschreibt innere und äussere Feuer. Nicht zuletzt das Feuer, das jene Institionen frisst, die über Jahrhunderte das Existieren ausmachten; bäuerliche Arbeit, Ehe und Familie. „Brennende Feuer“ beschreibt aber auch den Zustand einer Gesellschaft, die den Blick auf das Wesentliche verloren hat, die sich im Kopf verliert, sich seine eigene Welt zusammenspinnt. „Brennende Feuer“ ist literarischer Hochgenuss, vielschichtig, verzwickt und von Hitze aufgeladen.

Reinhard Kaiser-Mühlecker wurde heute für sein Buch „Brennende Felder“ mit dem Österreichischen Buchpreis ausgezeichnet.

Interview

Nicht wenige Schriftstellerinnen und Schriftsteller erzählen mir immer wieder, dass sie ohne klaren Plan mit dem Schreiben beginnen und sich die Türen zu einer Geschichte erst nach und nach öffnen. So ist doch auch das Schreibprinzip von Luisa, deren grösster Wunsch nicht bloss das Verfassen eines Romans ist, sondern das Leben als erfolgreiche Schriftstellerin. Bei ihnen und den Romanen „Fremde Seele – dunkler Wald“, „Wilderer“ und dem neusten „Brennende Felder» – im weitesten Sinne eine Familiensaga aus drei verschiedenen Perspektiven – kann ich mir ein intuitives Schreiben schlicht nicht vorstellen, zumal ihr Roman auf so vielen Ebenen spielt. Oder täusche ich mich?
Mein Schreiben geschieht tatsächlich ohne Plan, aber es gibt immer etwas, das ich im Voraus weiss, kenne – in diesem Fall war es eine Persönlichkeitsstruktur. Luisa ist bereits in «Fremde Seele, dunkler Wald» angelegt, in «Wilderer» ein wenig entwickelt, im vorliegenden Buch habe ich versucht, sie möglichst breit, aber doch noch mit ausreichend Leerstellen, Lücken, Geheimnissen darzustellen.

Luisa ist eine schillernde Person, unfassbar, vielgesichtig (um nicht den Ausdruck schizophren zu benutzen, auch wenn er durchaus zutreffend ist). Eine seltsam nach innen gerichtete Person, die ihre Sicht der Dinge permanent über ihre Wahrnehmung spannt und alles ausblendet, was sie nicht braucht. Durchaus ein gesellschaftliches Phänomen, dass sich bis in die Politik und ihre Köpfe zeigt. Sie ist eine vernarbte Person, verwundet von einer Familie, eine Frau, der jedes Mittel genommen ist, um sich wenigstens mit der Vergangenheit zu arrangieren. Alle sind Versehrte. Sie ist weit weg davon, sich helfen zu lassen. Was muss passiert sein, dass Luisa zu einer Verlorenen wurde?
Ja, so kann man es sagen, sie ist wirklich eine Verlorene. Immer schon, wahrscheinlich. Was wird erworben, was vererbt? Auch darum geht es in dem Buch schliesslich. Jakob und sie sind für mich die zwei Seiten einer Medaille. So wenig wie er sich helfen lassen könnte, so wenig kann sie sich helfen lassen, weil sie keine Hilfe benötigt. Das Problem sind immer die anderen, das Gegenüber. Sie sucht ihr Heil in der Zukunft, besser gesagt: im Träumen.

© Sandra Kottonau

Luisas Familie ist ein Trümmerhaufen. Viele Familien sind Trümmerhaufen. Und doch; Trümmerhaufen sind keine Fallgruben. Es gibt Menschen, die aus Trümmerhaufen aufstehen, herausklettern und Berge versetzen. Luisa aber nimmt selbst Katastrophen in Kauf, um die Kulissen für sie ins richtige Licht zu rücken. Man könnte meinen, es gäbe im Kaiser-Mühlecker-Kosmos keine Chance, sich selbst am Schopf zu packen. Wie viel Pessimismus spielt da mit (auch wenn ich glaube, dass ein Biobauer aus Prinzip ein Optimist sein muss.)?
Im Leben bin ich optimistisch, natürlich, so machen die Tage mehr Spass. Ich kenne auch genug Schwarzmaler, und mit denen langweilt mich ein Gespräch schnell. Als Landwirt, aber auch als Schriftsteller benötigt man ein grosses Reservoir an Hoffnung und Zuversicht. Aber zur Frage: Es hat einen ganz eigenen Reiz, «das Unglück, das als Glück gedacht war» (Arnold Stadler) darzustellen. Und sowohl Luisa als auch Jakob, um nur diese beiden herzunehmen, sind auf eine Weise auch Stehauffiguren.

Luisa keht in ihr Dorf zurück. Sie kehrten nach langen Aufenthalten ebenfalls ins Dorf ihrer Eltern zurück und übernahmen einen Hof. Das Motiv des Zurückkehrens ist ein wichtiges in ihren Romanen. Wie weit ist das Schreiben an sich eine Form des Zurückkehrens? Ich kenne Menschen, denen das Reflektieren völlig fremd ist. Luisa reflektiert auch nicht. Wer aber nicht bloss ein Geschichtchen erzählen will, sondern die Welt miteinbinden will, muss unweigerlich reflektieren.
Ja, und man muss sich um die Vergangenheit, das Vergangene kümmern. Das tut Luisa zum Beispiel nicht, auch deshalb ist ihr Schreiben möglicherweise, wenn überhaupt, nur für ein Buch gut. Wir schöpfen aus dem, was war: Was wir gesehen, gehört, gelesen, in irgendeiner Art und Weise erlebt und erfahren haben. Das macht die Menschen aus, und das macht auch die Schriftsteller aus.

Es brennt in ihrem Roman, was man auch metaphorisch verstehen kann. Selbst Luisa brennt von ihrer Idee, Schriftstellerin sein zu wollen (Schon Schriftsteller-sein ist ein Unding, ist doch die Schriftstellerei kein Zustand.) Es brennt auch „unterirdisch“, Mottbrände auf den sonst dunklen Feldern von Familien. Es brennt in der Gesellschaft. Wie weit sind gute Schriftsteller Seismologen?
Ich glaube fest daran, dass in jedem Schreiben die Gegenwart steckt, dass man allem Geschriebenen die Zeit ansieht bzw. ansehen wird, in der es verfasst wurde. Insofern ist es fast überflüssig zu bemerken, dass ich es durchaus als eine Aufgabe von Schriftstellern ansehe, ihre «Zeit aufzuschreiben», wie es bei Hermann Lenz einmal heisst. Wie gut einem das gelingt, kann allerdings immer erst der spätere Blick zeigen.

Reinhard Kaiser-Mühlecker wurde 1982 in Kirchdorf an der Krems geboren und wuchs in Eberstalzell, Oberösterreich, auf. Er studierte in Wien und betreibt eine Landwirtschaft. »Ich sehe es als eine Art Verpflichtung an, die Welt, die ich kenne, erfahrbar zu machen – einem, der sie nicht kennt.« Sein Debütroman »Der lange Gang über die Stationen« erschien 2008, anschliessend die Romane »Magdalenaberg«, »Wiedersehen in Fiumicino«, »Roter Flieder«, »Schwarzer Flieder« sowie »Zeichnungen. Drei Erzählungen«. Der Roman »Fremde Seele, dunkler Wald« stand 2016 auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises. 2019 erschien der Roman »Enteignung«. Für sein Werk wurde Reinhard Kaiser-Mühlecker mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. Im Frühjahr 2022 erschien Reinhard Kaiser-Mühleckers Roman »Wilderer«, der für den Deutschen Buchpreis und den Österreichischen Buchpreis nominiert war und mit dem Bayerischen Buchpreis 2022 ausgezeichnet wurde.

Webseite des Autors

Beitragsbild © Peter Rigaud

Dave Eggers «Die Augen und das Unmögliche», Atlantis

Gibt es Kinderbücher? Jugendbücher? Wahrscheinlich gibt es Bücher, die explizit für ein Publikum geschrieben sind. Aber manchmal gibt es Bücher, die alle Sprachen sprechen, jene der Kinder, jene Jugendlicher und jene Erwachsener. Bücher wie „Die Augen und das Unmögliche“ von Dave Eggers. Bücher mit scheinbar einfacher Melodie. Mit Zwischen-, Unter- und Obertönen.

Haben sie „Momo“ von Michael Ende gelesen und dabei irgendwann das Gefühl gehabt, sie würden eine Kindergeschichte lesen? Eine einfache Geschichte für einfache Gemüter? „Momo“ spiegelt genauso wie Dave Eggers „Die Augen und das Unmögliche“ die Welt und was passiert. Diese Geschichte ist auch keine Tiergeschichte, auch wenn der Protagonist Johannes ein Hund ist. Ein Hund mit einer Aufgabe, denn in diesem grossen, riesengrossen Park ist Johannes ‹Das Auge›. Kein Wachhund, aber der Blick fürs Ganze, das Auge für die drei alten, weisen Bisons Freya, Meredith und Samuel, die seit ewigen Zeiten das Sagen über die Geschicke der Tiere haben und stets in ihrem Gehege bleiben, von Wärtern gefüttert.

Dave Eggers «Die Augen und das Unmögliche», Atlantis, 2024, Illustrator Shawn Harris, aus dem amerikanischen Englisch von Ilse Layer, 240 Seiten, CHF ca. 33.00, ISBN 978-3-7152-3013-9

In diesem riesigen Park hat es auch Menschen, mal wenige, mal viele. Solche, die mit Rädern an den Füssen über Wege und Strassen flitzen, manchmal mit eigenartigen Geräuschen aus tragbaren Kisten. Solche, die tanzen. Aber auch solche, die unerklärlichen Lärm verursachen, Dinge zerstören oder Müll zurücklassen. Oder solche in Uniformen. In diesem Park gibt es neben Wegen und Strassen auch Gebäude. Manch eines ist riesig. Und in der Mitte des Parks geschehen seltsame Dinge, denn dort wächst ein riesiges Ding mit nur wenigen Fenstern, das die Tiere im Park verunsichert.

«Lebendig sein heisst, seinen Weg zu gehen.»

Überhaupt scheint im Park eine Zeit des Umbruchs anzubrechen. Der immergleiche Alltag des Parks wird mehr und mehr gestört. Eines Tages stehen rund um das neu entstehende Gebäude Tafeln mit Bildern. Bilder, die Johannes eine Wirklichkeit zeigen, von der er nichts wusste, einer Wirklichkeit, die in über die Massen in Bann zieht, die in so sehr fesselt, dass er nicht einmal merkt, dass er von einem der Menschen gestreichelt wird. Eine Berührung durch dieses Bild und eine Berührung durch diese Hand.

Johannes ist der einzige seiner Art. Es gibt wohl noch andere Hunde, aber diese werden an Leinen von Menschen geführt. Sie sind auch nicht so schnell wie er, denn Johannes ist, wenn er denn will, so schnell wie das Licht. Man achtet Johannes, denn ohne ihn gäbe es ‹Das Auge› nicht für die drei alten Bisons. Und ohne Freya, Meredith und Samuel gäbe es die tausendjährige Ordnung nicht.

Doch eines Tages gerät Johannes, erstarrt im Bann jener Bilder vor dem eigenartig grossen Gebäude mitten im Park, in die Fänge von Menschen. Sie packen ihn und zerren ihn in eine metallene Kiste auf Rädern. Nur mit Hilfe seiner vielen Freunde im Park gelingt Johannes die Flucht vor den Dieben. Und weil ihm Gutes getan wurde, weil man ihn unter Aufbietung aller Kräfte rettete, meint auch Johannes etwas Grosses tun zu müssen; Die drei Bisons Freya, Meredith und Samuel sollen frei sein.

In „Die Augen und das Unmögliche“ geschieht das Unmögliche. Es ist eine Geschichte über Freiheit und Mut, über die Grenzen dieser Freiheit und die Kraft der Gemeinschaft. Wie leicht wir uns fesseln lassen, weil wir zu wissen glauben. Dave Eggers Roman ist eine phantastische Parabel über eine Welt, die aus den Fugen gerät. Über die Macht von Bildern, äussere und innere.

Ich bin sicher, dass meine Enkelinnen mir gerne beim Vorlesen zuhören würden. Und ich bin sicher, dass ich dieses Buch immer und immer wieder lieben werde.

Berndt Lindholm, Forest Interior, 1878, Finnische Nationalgalerie, Helsinki, Finnland

PS Die Gemälde in diesem Buch sind klassische Landsachftsgemälde längst verstorbener Künstler. Der Illustrator Shawn Harris malte Johannes den Hund in alle diese Bilder hinein, ohne die Gemälde sonst zu verändern.

Dave Eggers (*1970) ist einer der bedeutendsten zeitgenössischen Autoren. Sein Werk umfasst zahlreiche Bücher für Erwachsene, darunter «Every»,»»Der Circle» und «Ein Hologramm für den König». Ebenso hat er bereits mehrere Bücher für junge Leser*innen geschrieben, darunter «Die Mitternachtstür» und «Her Right Foot» und «What Can a Citizen Do?», die beiden letzteren illustriert von Shawn Harris. Dave Eggers ist Gründer von McSweeney’s, einem unabhängigen Verlag, und Mitbegründer von 826 National, einem Netzwerk von Schreib- und Nachhilfezentren für Jugendliche. Er lebt mit seiner Familie in Nordkalifornien.

Die neun Gemälde in diesem Buch sind klassische Landschaftsgemälde längst verstorbener Künstler. Shawn Harris, mit dem Dave Eggers schon häufig zusammengearbeitet hat, hat Johannes in alle Bilder hineingemalt, ohne sie ansonsten zu verändern. Shawn Harris lebt in Nordkalifornien, wo er auch gerne Songs schreibt, surft und Racquetball spielt.

lse Layer arbeitete nach ihrem Studium zunächst im Kulturbereich und in einem Verlag, bevor sie sich 1991 als Literaturübersetzerin für Spanisch und Englisch selbstständig machte. Sie lebt in Berlin. Für ihre Übersetzungen hat sie diverse Auszeichnungen und Preise erhalten, darunter den Deutschen Jugendliteraturpreis.

Dave Eggers «Die Parade», Rezension auf literaturblatt.ch

Beitragsbild © Brecht van Maele

Lukas Hartmann «Martha und die Ihren», Diogenes

«Martha und die Ihrigen» ist Lukas Hartmanns persönlichstes Buch, ein Buch über seine Herkunft. Ein Buch, aus dem viel Dankbarkeit spricht, weil Martha, die Grossmutter von Lukas Hartmann, die einzige Person im Roman, die den wirklichen Namen auch im Buch trägt, mit ihrem kargen Leben alles in den Dienst ihrer Familie steckte. Ein Buch – ein Denkmal.

Lukas Hartmann ist ein Mann der starken Biographien, ob über Le Corbusier und seinen Cousin, den Maler Louis Soutter („Schattentanz“), über Lydia Welti-Escher, die reiche Erbin Alfred Eschers („Ein Bild von Lydia“), über John Webber, einen Schweizer Expeditionsmaler, der 1788/89 an der Seite des Entdeckers James Cook bis „Ans Ende der Meere“ vorstiess oder vor bald einem halben Jahrhundert über den Pädagogen und Schulreformer Heinrich Pestalozzi („Pestalozzis Berg“). Lukas Hartmann ist ein literarisches Urgestein der Schweiz. Wer liest, begegnet ihm immer wieder, ob in Kinder- und Jugendbüchern oder in Romanen, die mit umsichtiger und penibler Recherche Vergangenheiten öffnen, ob an Schullesungen oder in Botanischen Gärten für Erwachsene. Was Lukas Hartmann in seinem künstlerischen Schaffen gelungen ist, ist in der Form nur ihm und Franz Hohler gelungen: Generationen von Fans.

Dass nach einer schwierigen, gesundheitlichen Phase nun zum ersten Mal ein Roman aus seiner Feder erscheint, der sich ganz offensichtlich mit seiner eigenen Herkunft und Geschichte auseinandersetzt, erstaunt nicht. Lukas Hartmann feierte am 29. August seinen 80. Geburtstag. Vielleicht einer der Gründe, warum sich Lukas Hartmann nach fast 50 Romanen für Kinder und Erwachsene mit der Geschichte seiner Familie auseinandersetzt. Aber vielleicht auch, weil die Geschichte seiner eigenen Familie beispielhaft ist für viele Familiengeschichten; Geschichten, die aus Armut, Zwängen und Mühsal in die Freiheiten der modernen Zeit münden, auch wenn diese Freiheiten trügerisch bleiben.

Lukas Hartmann «Martha und die Ihren», Diogenes, 2024, 304 Seiten, CHF ca. 34.00, ISBN 978-3-257-07273-0

In seinem neusten Roman ist Martha, seine Grossmutter, Dreh- und Angelpunkt der Geschichte. Martha wächst auf einem bitterarmen Bauernhof auf, der Vater nach einem Unfall schwach und kränklich, die Mutter stets kurz vor dem Zusammenbruch. Man reisst die Familie amtlich auseinander und verteilt die Kinder als Verdingkinder in alle Richtungen. Martha kommt wieder in eine Bauernfamilie, zeichnet sich als willige und flinke Arbeitskraft aus, selbst dort, wo niemand sonst die Hände schmutzig machen will. Sie glänzt in der Schule, aber niemand hat das Geld, sie länger als notwendig in die Schule gehen zu lassen. Sie schuftet in der Fabrik, heiratet einen Schuhmacher, der aber bald mehr und mehr krank stirbt und sie mit Kindern alleine lässt. Martha lässt sich nicht unterkriegen, tut alles, dass es ihren zwei Söhnen besser als ihr ergeht, heiratet ein zweites Mal und erweist sich als geschickte Geschäftsfrau, auch wenn das Eheglück erneut nicht auf ihrer Seite steht.

Toni, der ältere Sohn von Martha, wird nach den Wirren des Weltkriegs Postbeamter, eine sichere Stelle, heiratet und wird selbst auch Vater zweier Söhne, von denen der ältere, im Buch Bastian, unverkennbar die Züge des Autors hat.

Martha ist genau das, was viele Grossmütter damals waren; aufopfernd, fleissig, anpassungsfähig und zäh. Martha ist weit weg von den Idealen einer modernen Frau, auch wenn nicht einmal ein Jahrhundert dazwischensteht. Ein Leben voller Grenzen, Zwänge und Erwartungen. Ein Leben in Arbeit und Pflicht. So sehr darin trainiert und von Schicksalschlägen gepeitscht, dass selbst in Zeiten, in denen es wirtschaftlich besser geht, über Jahrzehnte Eingefleischtes nicht einfach abgelegt werden kann. Ein Leben in absoluter Disziplin, ohne Ansprüche, schon gar kein Luxus. Liegenbleiben erst, wenn man krank oder ernsthaft verletzt ist.

Toni, ihr Sohn, Bastians Vater, schnuppert in seinem Leben an den Annehmlichkeiten der Moderne, auch wenn ihm das Beispiel seiner Mutter lehrt, dass man es nur unter Aufbietung aller Kräfte zu etwas bringen kann. Toni macht Karriere bei der Post. Aber weil auch ihm seine Gesundheit, die durch masslosen Kräfteverschleiss kontinuierlich schlechter wird, den Lebensabend schwer macht, er sich zerreiben lässt in den Pflichten eines Sohnes, eines Ehemanns und Vaters, wird aus Bastians Elternhaus, wie damals im Haus seiner Mutter Martha, kein Nest. Das Leben ist Kampf.

Was den Roman besonders macht, ist die Sachlichkeit, mit der Lukas Hartmann erzählt. Der Erzählton ist in eine fast trockene Schicksalshaftigkeit getaucht, genau wie die Leben seiner Grossmutter und seines Vaters. Sie hatten nie die Chance einer Wahl. Sie hatten zu funktionieren. Erst seine Generation, erst Bastian, kann sich sein Leben nach eigenen Vorstellungen formen. Nichts nach dem Motto „Früher war alles viel besser“. Die Lektüre dieses Romans macht unsäglich demütig und dankbar.

Lukas Hartmann, geboren 1944 in Bern, studierte Germanistik und Psychologie. Er war Lehrer, Journalist und Medienberater. Heute lebt er als freier Schriftsteller in Bern und schreibt Bücher für Erwachsene und für Kinder. Er ist einer der bekanntesten Autoren der Schweiz und steht mit seinen Romanen regelmäßig auf der Bestsellerliste.

Lukas Hartmann «Der Sänger», Rezension mit Interview

Lukas Hartmann «Ein passender Mieter», Rezension

Beitragsbild © Bernard van Dierendonck