Flavio Steimann «Krumholz», Edition Nautilus

„Krumholz“ ist ein Stück Wald, in dem Agatha ihr Leben liess. Aber vielleicht auch das Leben der beiden Protagonisten, deren Leben nie gerade verlief, das wie ein krummes Stück Holz abgerissen vom Ganzen weggeworfen wurde. Flavio Steimann ist ein Meister der stimmungsvollen Sätze, die in fast barockem Glanz so ganz anders klingen wie das Einerlei des Mainstreams.

Klar, es gibt den süffigen Wein, den süssen, den herben, den vollen, den trockenen. Wäre „Krumholz“ ein Wein, dann wäre es Portwein, schwer und nur in keinen Schlucken zu geniessen. Zwar las ich den Roman im Liegestuhl an einem breiten Fluss, aber im Wissen darum, dass ich dem Geschenk dieses Buches nicht gerecht werde. Da ist wohl eine Story, gar verbürgt und in seiner Abfolge amtlichen Akten nachempfunden. Was den Roman aber so genussreich macht, ist seine opulente Sprache, die Kontraste und Farben überzeichnet, das Lesen zu einem Schmaus mit jenen Sinnen wachsen lässt, die im Kopf Farben, Formen, Rhythmen und Empfindungen evozieren. Mag sein, dass meine Beschreibungen hymnisch werden. Aber als ich das Buch gelesen hatte, hatte ich das Gefühl, ihm nicht gerecht geworden zu sein. Ich hätte es langsamer lesen sollen, immer wieder weglegen, die Lektüre zu einem Zeremonie machend. Eben wie bei Portwein, und zwar mit jenem von der teuren Sorte.

Flavio Steimann «Krumholz», Edition Nautilus, 2021, 195 Seiten, CHF 30.90, ISBN 978-3-96054-247-6

Agatha kommt Ende des 19. Jahrhunderts zur Welt, irgendwo im Nirgendwo, in einer Bauernfamilie, die eh schon ums Überleben kämpft. Bei der Geburt entscheidet sich der junge Arzt, den die verzweifelnde Hebamme herbeiholt, für das Leben des Neugeborenen. Die Mutter stirbt, der Vater zerbricht. Der Hof geht vor die Hunde. Und als klar wird, dass das kleine Mädchen taub ist und der Vater es nicht mehr schaffen wird, gibt man das Mädchen vorübergehend Verwandten in Obhut, bis sich die Ämter melden und man das Mädchen in eine «Armen- und Idiotenanstalt» steckt. Wie Flavio Steimann, der auch als Theaterautor erfolgreich ist, das Geschehen in jenen Gemäuern beschreibt, zum Beispiel als der Störmetzger eine Sau schlachtet und die Schlachterei zu einem opulenten Szenenspektakel macht, zwingt mich der Autor am Ende der Lektüre noch einmal zu den markierten Stellen zurückzukehren, um noch einmal in den Bildern zu baden.

Als Agatha alt genug ist, um für ihren eigenen Lebensunterhalt aufzukommen, schickt man sie in eine der vielen Textilfabriken, die am Anfang des 20. Jahrhunderts aus dem Boden schiessen. Ganz allmählich beginnt die junge Frau die Welt zu erkennen, bis man bei einer der damaligen mobilen Reihenuntersuchungen bei ihr Tuberkulose diagnostiziert und die junge Frau auf einen Hof auf dem Land zur Erholung schickt. Und weil sie nicht arbeiten soll, zieht sich Agathe in den nahen Wald ins „Krumholz“ zurück, aus dem sie eines Tages nicht mehr zurückkehrt.

Im zweiten Teil des Romans erzählt Flavio Steimann von Innozenz Torecht, genannt Zenz. Zenz ist ein Vagabund, ein Herumtreiber, dauernd auf der Flucht, vor sich selbst, seiner Vergangenheit, dem Hunger, den Ämtern, mal in Paris als Modell in den Diensten eines Künstlers, mal als Halbwilder in den Wäldern. Bis zu jenem Tag, als er eine junge Frau im Wald antrifft, eine junge Frau, die die Begegnung mit dem Streuner und Ruhelosen mit ihrem Leben bezahlt. Man wird ihm habhaft, steckt ihn ins Gefängnis, macht ihm den Prozess und einen Kopf kürzer.

Flavio Steimann erzählt zwei Leben, die sich fatal kreuzen. Von zwei Menschen, denen die Gesellschaft von Beginn weg den Stempel des Verlierers auf die Haut brennt, die man auf die Seite der Bösen, Missratenen, vom Teufel Besessenen drängt, mit Unterstützung der Kirche und des Staates, in einer Zeit, die doch eigentlich im Aufbruch steckte. Aber Menschen, und vor allem die Armen, Rechtlosen, sind Material.

Gerade weil einem das Geschehen manchmal fast mittelalterlich dünkt und die Geschehnisse parallel mit den Errungenschaften der aufkommenden Psychologie einhergehen, reisst die Geschichte mit. Dass mich Flavio Steimann dabei fast überbordend in den Strudel seiner Sprache hineinzieht und dabei alle Regeln der Sprachbescheidenheit elegant umschifft, macht «Krumholz» zu einem Sonderling. So wie Portwein. Allen schmeckt er nicht! Aber mir!

Interview

Der Inhalt ist authentisch, beruht auf einem «Fall» aus dem Jahr 1914. Wie sind sie auf den Stoff gestossen? Solche Geschichten offenbaren sich ja meist durch aktives Suchen, wenn auch auf der Suche nach etwas ganz anderem.
Es war in der Tat so: Ich habe aus Interesse Akten zum Prozess gegen den Vierfachmörder Matthias Muff besorgt und bin dabei quasi als Beifang auf das Urteil über Wütschert gestossen. In groben Zügen war mir seine Geschichte bereits bekannt; in der Dokumentation durch die Behörde mit dieser speziellen formaljuristischen und gleichzeitig selbstgerechten Ausprägung aber hat mich die Sache dann nicht mehr losgelassen, insbesondere auch, weil das weibliche Opfer als Objekt des Delikts nur in wenigen Worten erwähnt wird. Um die Idee nicht am Faktischen ersticken zu lassen, habe ich das dünne Büchlein mit dem Urteil des Luzerner Obergerichts nach der Lektüre lange Zeit liegen lassen, bis sich eine Art Vergessen einstellte; ich wolle mich bewusst wieder vom authentischen Fall lösen und ihn nur noch modellhaft verwenden. Geblieben ist letztendlich der Umriss als Plot mit seinen beiden Hauptfiguren, die ich aber fiktional gestaltet habe – unter Beibehaltung gewisser Schnittmengen mit dem historischen Personal, wo ich es für wesentlich und adäquat erachtete.

Die Geschichte, der ganze Roman lebt vom Kontrast. Auf der einen Seite eine Gesellschaft im Aufbruch, der Wechsel von einer reinen Agrar- zu einer Industriegesellschaft, das Aufbrechen der Psychologie, der Kunst. Und auf der anderen Seite eine Gesellschaft, die noch immer in ganz klare Muster trennt; unten und oben, gut und böse, Privileg und Material. Auch in Agatha und Zenz offenbaren sich diese Kontraste. Lieben Sie den Kontrast?
Verschiedenheit, Ambiguität und Ambivalenz machen den Reiz der verschiedenen Literaturen und damit auch des Lesens aus. Jedes gelungene Erzählen lebt in irgendeiner Form von Unterschieden, Gegenteilen und Kontrasten – im Guten wie im Schlechten. Was in meinen Texten, nicht zuletzt aus eigener Erfahrung, dazukommt, ist die Realität des sozialen Gefälles, sowohl was den Lebensstandard als auch die Geistesschulung betrifft. Diese Diskrepanz ist auch auf unserer modernen Welt bei Weitem noch nicht überwunden. Ganz im Gegenteil. Hinsichtlich Armut, Bildungsmangel und Ausgrenzung sind Aga und Zenz gewissermassen Zwillinge. Trotz unterschiedlicher Charaktere leben aber beide ganz unten, und das Delikt macht die Fatalität ihrer Lebenskatastrophen zudem unabwendbar und endgültig.

Mein Deutschlehrer warnte uns einst vor einem übermässigen Gebrauch von Adjektiven. Trotzdem hätte mein Deutschlehrer wahrscheinlich Freude an ihrem Roman gehabt, denn es gibt nichts Heikleres im Schreiben, als eben diese Sorte Wörter richtig einzusetzen. Aber weil sie ihr Erzählen in einen so ganz eigenen Sound eintauchen, stört die Würze nicht. Es ploppt in den Rezeptoren! Drängte sich das von Beginn weg auf?
Literarische Texte schreibe ich mit der Feder unbeeinflusst von formalen Überlegungen aus der Hand heraus und folge dabei einer Intuition, die mir ohne ein gewolltes Zutun Duktus und Klang vorgibt. Das Beschriebene oder Erzählte wird somit Ergebnis eines unkontrollierten generativen Schreibakts und nicht eines absichtsvollen Konstruierens. Strukturelle Analysen auf der Metaebene mache ich keine, somit fehlt mir ein klar definiertes Bewusstsein für die Art meines Schreibens, und allfällige Überhänge von einzelnen Wortarten nehme ich nicht wahr. Dennoch: Einleuchtenden, nachvollziehbaren Vorschlägen zu Lektoratseingriffen entziehe ich mich nicht; letztlich gibt es aber so viele verschiedene Rezeptionen und Urteile wie Lesende, und jene sind nicht selten diametral, immer aber breit gestreut.

Es hätte eine Kampfschrift für die Verlorenen, Unterdrückten werden können. Und doch, trotz aller sprachlichen Nähe, bleiben sie beim Schreiben in erstaunlicher Distanz, halten sich mit jeglicher Interpretation zurück. Auf der einen Seite sprachliche Opulenz, auf der anderen Seite erzählerische Distanz. Wieder ein Kontrast?
Wenn man so will. Ich verstehe mich als Erzähler und nicht als Erklärer von Geschichten. Weil ich davon ausgehe, dass es ohnehin keinen Plot, keine Romanidee gibt, die nicht schon auf der Welt wäre, ist für mich in allererster Linie die Form, der sprachliche Zugriff auf das Gewählte entscheidend. Dieser bestimmt letztlich auch den Standpunkt und die Haltung der Autorschaft: Bei aller Empathie für mein Personal will und kann ich nicht aktiver Anwalt oder gar Interpret sein: Wertungen, Urteile, psychologische Einordnungen sollen nicht Elemente meiner Prosa sein. Zuzustimmen oder abzulehnen, Nähe oder Distanz zum Roman und seinen Figuren zu finden, ist in jedem Fall Angelegenheit des Lesepublikums.

Ihr vorheriger Roman „Bajass“ und „Krumholz“ sind verwandt. Ist das Programm?
In einem bestimmten Sinne, ja! Zusammen mit „Aperwind“ (1987) sind diese letzten Werke in einer weiten Klammer trilogisch zu verstehen. Die Bücher sind im Wesentlichen in drei verschiedenen Bereichen verortet, die auch Gegebenheiten und Biografien meines familiären Hintergrunds geprägt haben: Die technischen Errungenschaften der anbrechenden Moderne und die damit verbundene Emigration sowie die Reduktion des Menschen auf seine Arbeitskraft. Angesiedelt habe ich diese Texte bewusst in einer Periode des vielfältigen Aufbruchs vor und nach der Jahrhundertwende von 1900 – es gab da, neben viel anderem, Eisenbahnprojekte, die Erfindung der drahtlosen Telegrafie und der Kunstseide, die Blüte der Atlantikschifffahrt mit dem Traum von Amerika – fundamentale dramaturgische Elemente, die in meinem Erzählen mehrschichtig als Hintergründe oder Treiber wirken.

Flavio Steimann, geboren 1945 in Luzern, ist seit 1966 literarisch und als Theatermacher tätig und veröffentlichte Romane, Erzählungen, Kurzgeschichten und Theaterstücke. Er wurde ausgezeichnet mit dem Förderpreis von Stadt und Kanton Luzern, mit dem Schweizerischen Schillerpreis und mit dem Förderpreis der Marianne und Curt-Dienemann-Stiftung Luzern. Sein Roman «Bajass» erschien 2014 und wurde 2020 in Luzern als Theaterfassung uraufgeführt.

Michael Hugentobler «Feuerland», dtv

Was passiert, wenn sich Wissenschaftler:innen als Hüter eines oder des Grals verstehen? Was passiert mit ihnen, wenn sie feststellen müssen, dass ihre Gegenwart den Schatz, von dem sie wissen, nicht zu schützen weiss? Ein Buch wird zum letzten Tor einer untergehenden Welt. Michael Hugentobler nimmt mich mit und gewährt mir einen Blick auf das sich schliessende Tor.

Michael Hugentobler war 13 Jahre auf einer Weltreise unterwegs, auch in Südamerika, in Patagonien, in Feuerland, jenem Gebiet am südlichsten Zipfel des Kontinents, das man bei seiner Entdeckung für unbesiedelt hielt, das aber von nomadisch lebenden Indianern bewohnt wurde, unter andern auch von den Yámana. Aber von diesen Völkern ist fast nichts geblieben. Kolonialisierung, eingeschleppte Krankheiten, Goldrausch und Christianisierungsversuche setzten den Völkern derart zu, dass von den ehemaligen Wassernomaden fast nichts mehr geblieben ist. 

«Wörterbuch und Grammatik der Sprache der Yámana», auf dessen Umschlag man den Namen des Verfassers Thomas Biedres zu löschen versuchte.
Foto © Michael Hugentobler

Auf Michael Hugentoblers Reise durch dieses Land erfuhr er von der Geschichte eines argentinisch-britischen Missionars und seiner Leidenschaft für die Sprache der Yámana. Thomas Bridges wurde Zeit seines Lebens ein akribischer Erforscher der Sprache jener Ureinwohner und verfasste über Jahrzehnte ein Wörterbuch, das nicht einfach übersetzte, sondern die Wörter der Yámana in den Zusammenhang ihres Daseins schrieb. So wurde aus der Wörtersammlung das eigentliche Vermächtnis eines Volkes, dass zu Beginn des 20. Jahrhunderts zu verschwinden drohte. Thomas Bridges war aber nicht einfach ein fanatischer Sammler. Dieser Missionar wurde zum letzten Kämpfer dieses Volkes, wenn auch immer unter kolonialistischen Vorzeichen. Er gewann vom damaligen argentinischen Staatspräsidenten gar Landrechte, die er für die überlebenden Yámana-Indianer sichern wollte. Sein Wörterbuch, in dem er auf über 1000 Seiten mehr als 32000 Yámana-Wörter sammelte, trug er zeitlebens mit sich herum. Wie einen Schatz.

Michael Hugentobler «Feuerland», dtv, 2021, 224 Seiten, CHF 30.90, ISBN 978-3-423-28269-7

Schon gezeichnet von einer Krankheit starb Thomas Bridges auf einer seiner Reisen. Sein Wörterbuch gelangte in die Hände eines „erfolglosen Polarforschers“, der mit dem Buch seine Chance witterte, in den Olymp der Unsterblichen aufgenommen zu werden. Aber das Buch schien im Besitz dieses Mannes kein Glück zu bringen, bis es 1912 in London in die Hände des deutschen Völkerkundlers Ferdinand Hestermann fiel, dem sofort klar war, welchen Schatz er durch einen puren Zufall zu fassen bekam.

Ferdinand Hestermann spürte genau, dass in den Wirren des Krieges und zwei Jahrzehnte später in den Schatten des sich anbahnenden Tausendjährigen Reichs all jene Schriften und Bücher in Gefahr sind, die nicht dem wachsenden völkischen Bewusstsein des Nazis entsprachen. So wie damals Thomas Bridges machte sich Ferdinand Hestermann auf in einen Kampf. Diesmal ganz und gar nicht für ein Volk, schon gar nicht für das deutsche, sondern für die Wissenschaft, das Wissen, die Schätze, die sich über die Jahrhunderte in Bibliotheken ansammelten, die sich die Nationalsozialisten aber einverleiben wollten, um sie, wenn nötig, zu vernichten, so wie alles, dass ihnen nicht dienlich oder entartet erschien.

Michael Hugentobler erzählt die Geschichte nicht einfach chronologisch. Es stellt auch nicht den Anspruch, Historie nachzuerzählen, auch wenn ich als Leser bei meinen Verifikationen auf überraschend viele Fakten stosse. Es sind die beiden Männer, Thomas Bridges und Ferdinand Hestermann, die nicht nur aus heeren Gefühlen und purer Nächstenliebe zu Hütern eines Schatzes werden. Michael Hugentobler verwebt die beiden Männer und ihre Besessenheit miteinander. Er führt vor Augen, wie gross die Gefahr wird, wenn Wissen instrumentalisiert werden soll, sei es zum eigenen Nutzen oder im Dienst einer Ideologie. Was den Roman von Michael Hugentobler aber zu einem wirklichen Lesevergnügen macht, ist sein Detailreichtum, seine Buntheit, die kräftigen Farben, mit denen der Schriftsteller malt. Ich staune darüber, was der Autor alles mit in seinen Roman einpackt. Als hätte er sich nicht bloss unmittelbar an der Seite seiner beiden Protagonisten bewegt, als hätte er den Geist jenes Buches in jenen Augenblicken, als er es bei einem Besuch in der British Library in Händen hielt, in sich aufgesogen.

tūwunaiella — eine Wutrede beenden; zu bellen aufhören, linganāna — sich auf eine Wiese benehmen, dass sich die andere Person verpflichtet fühlt, ein Geschenk zu überreichen, māmihlāpinatapai — einander tief in die Augen schauen, wobei beide hoffen, der andere würde einen Vorschlag unterbreiten, der allgemein erwünscht ist, aber bislang noch nicht ausgesprochen wurde…

Michael Hugentobler offenbart das Geheimnis, wenn man für einen kurzen Augenblick im Licht einer untergehenden Sonne, einer verschwindenden Welt steht.

Michael Hugentobler wurde 1975 in Zürich geboren. Nach dem Abschluss der Schule in Amerika und in der Schweiz arbeitete er zunächst als Postbote und ging auf eine 13 Jahre währende Weltreise. Heute arbeitet er als freischaffender Journalist für verschiedene Zeitungen und Magazine, etwa ›Neue Zürcher Zeitung‹, ›Die Zeit‹, ›Tages-Anzeiger‹ und ›Das Magazin‹. Er lebt mit seiner Familie in Aarau in der Schweiz. Sein Debütroman «Louis oder Der Ritt auf der Schildkröte» erschien 2018.

«Der alte Mann im Nebel» auf der Plattform Gegenzauber

Webseite des Autors

Beitragsillustration © leafrei.com / Literaturhaus Thurgau

Hans-Ulrich Treichel «Schöner denn je», Suhrkamp

Vor ein paar Jahren lebte ich für einige Wochen in der Wohnung einer Cousine, die mit ihrer Familie in die Ferien gefahren war. Ein paar Wochen im Zuhause einer eigentlich fremden Familie, eines fremden Lebens. Türen, Schubladen, die Intimitäten verbergen, die mit einem Mal offen zu sein scheinen. Zumindest offen für Interpretationen. „Schöner denn je“ erzählt von einer Obsession. Hans-Ulrich Treichel nimmt mich mit in den Strudel eines Abdriftenden.

Ich liebe die Bücher von Hans-Ulrich Treichel. Da war es ganz selbstverständlich, dass ich den neuen Roman zur Hand nahm und zu lesen begann. So wie man einen Anruf eines alten Freundes doch nicht einfach abwürgt oder gar mitten im Telefonat aufhängt. Ich begann zu lesen, liess mich fesseln, auch wenn ich bis zum Schluss der Lektüre nicht genau weiss, was das Buch mit mir machte. Hält es mir einen Spiegel vor? Stellt es sich meinen Erwartungshaltungen quer? Entlarvt es mich gar?

Andreas hat sich von seiner Frau getrennt, ist ausgezogen, was in Berlin gar nicht so leicht ist, wenn einem die Brieftasche die Auswahl eingrenzt. Und weil es der Zufall wollte, dass er in einem Bistro Eric traf, einen ehemaligen Schulkameraden, den er für Jahrzehnte aus den Augen verlor, nie aber aus seinen Erinnerungen und ihm von seiner Wohnungsnot erzählte, bot dieser ihm seine Wohnung an, weil er für mehrere Wochen in die Staaten verreisen müsse. Andreas nimmt das Angebot an, zieht in die riesige Wohnung ein und lässt sich mitreissen vom Strom der Geschehnisse, die sich zu Beginn nur in seinem Kopf abspielen, denn aber immer mehr zu einer sich überschlagenden Realität werden.

Hans-Ulrich Treichel «Schöner denn je», Suhrkamp, 2021, 175 Seiten, CHF 32.90, ISBN 978-3-518-42973-0

Eric war schon in der Schule unnahbar, von einer anderen Welt, erst recht, weil Andreas alles dafür gegeben hätte, ein Freund von Eric zu sein. So blieb die Bindung der beiden stets eine einseitige, Andreas der stille Bewunderer. Weil die Sehnsucht nach Überschneidungen aber so gross war, schrieb sich Andreas gar in ein Architekturstudium ein, weil er der Überzeugung war, Eric dann während des Studiums ganz natürlich über den Weg zu laufen. Es war nie eine erotische Anziehung, umso mehr eine menschliche, weil Eric all das repräsentierte, was Andreas zu fehlen schien: Souveränität, Eleganz, Geheimnis und die Zugehörigkeit zu etwas Grossem. Aber Eric schlug einen anderen Weg ein, lernte erst Tischler und studierte später Filmarchitektur, um dann in der Welt des Films, im glamourösen Fluidum Hollywoods Karriere zu machen.

Wahrend Andreas als Romanist in der Lehrerfortbildung arbeitet und nie über den Status eines Beamten hinauskam, in seiner Ehe scheiterte und sich fragen musste, wo sein Leben hinführen sollte, schien Eric den Olymp der Glückseligkeit gefunden, die Quelle des Erfolgs angezapft zu haben; einen Beruf, der ihn in der Götterwelt des Films einliess, eine grosse Wohnung in bester Lage Berlins und nicht die Spur eines Unglücks. Und als dann in der Wohnung Eric auch noch das Telefon klingelt und sich Hélène Grossman, eine berühmte Schauspielerin meldet, die Andreas schon Jahrzehnte vergöttert und in ihrer Not statt Eric Andreas um einen Gefallen bittet, überstürzen sich die Ereignisse.

„Schöner denn je“ ist der Roman über einen Mann, der in seiner eigenen Welt, in seiner Obsession abdriftet, den Boden unter den Füssen verliert, sich in fremdem Leben verirrt. Darüber, wie Fantasie und Interpretation mit einem Leben spielen können und man sich in selbst gewählter Zurückgezogenheit in seiner eigenen Gedankenwelt verheddert. Hans-Ulrich Treichel macht das auf seine ganz eigene Art, beinahe analytisch, lakonisch erzählt. Ein ganz spezielles Lesevergnügen!

Hans-Ulrich Treichel, am 12.8.1952 in Versmold/Westfalen geboren, lebt in Berlin und Leipzig. Er studierte Germanistik an der Freien Universität Berlin und promovierte 1984 mit einer Arbeit über Wolfgang Koeppen. Er war Lektor für deutsche Sprache an der Universität Salerno und an der Scuola Normale Superiore Pisa. Von 1985-1991 war er Wissenschaftlicher Mitarbeiter für Neuere Deutsche Literatur an der FU Berlin und habilitierte sich 1993. Von 1995 bis 2018 war Hans-Ulrich Treichel Professor am Deutschen Literaturinstitut der Universität Leipzig. Seine Werke sind in 28 Sprachen übersetzt.

Rezension von «Tagesanbruch» auf literaturblatt.ch

Beitragsbild © Heike Steinweg

Peter Stamm «Das Archiv der Gefühle», S. Fischer

In Kellern lässt sich vieles lagern, verbergen, vergessen. Aber für eine ganz besondere Sorte Mensch kann ein Keller zu einem Lebensraum, einem Lebensspeicher werden, in dem sie horten, schichten, stapeln und selbst in einem scheinbaren Chaos zu ordnen versuchen.

„Das Archiv der Gefühle“ ist ein Roman der Entmaterialisierung, denn was bleibt, ist weder bedrucktes, noch beschriebenes Papier, selbst in der kurzen Einheit eines Lebens. Das einzige, was bleibt, ist der Nachhall von Gefühlen, etwas, das sich weder schichten, stapeln, noch horten lässt. Der Nachhall ist flüchtig.

Man hat den Icherzähler entlassen, nachdem er über Jahrzehnte verantwortlich war über das Recherchearchiv einer grossen Tageszeitung. Einst war er Vorgesetzter einer ganzen Equipe in den Kellerräumen des Unternehmens. Irgendwann war er übrig geblieben, der Letzte, den man entlassen musste. Und weil es in der digitalisierten Gegenwart weder Verwendung für ein Archiv, noch für die Rollregale gibt, liess man das Ganze, nachdem er seinen eigenen Keller im ehemaligen Wohnhaus seiner Mutter geräumt hatte, für wenig Geld und gegen vertraglich abgesicherte Nutzungsbestimmungen in sein Heim abtransportieren. Nicht der letzte Grund, warum ihn seine Frau Anita irgendwann aufgab und verliess.

„Das Archiv verweist nicht nur auf die Welt, es ist ein Abbild der Welt, eine Welt für sich. Und im Gegensatz zur realen Welt hat es eine Ordnung, alles hat seinen festgesetzten Platz…“

Seither spielt sich das Leben des Einzelgängers in den Mauern seines Hauses ab. Was sich nicht durch die wenigen Spaziergänge erledigen lässt, ordert er per Internet. Die Tagesabläufe blieben immer gleich, die Arbeitsstunden am Morgen, das karge Mal zu Mittag, die Arbeitsstunden am Nachmittag, das Buch am Abend.

Peter Stamm «Das Archiv der Gefühle», S. Fischer, 2021, 192 Seiten, CHF 29.90, ISBN 978-3-10-397402-7

Aber so sehr er Hüter seines Archivs ist, Hüter gegen das Vergessen, ein Manischer, der immer wieder neue Dossiers anlegt, beseelt davon, Ordnung in sein Leben zu bringen, wird er bedrängt von seinen Gefühlen, den Erinnerungen, der Ahnung, sein Leben verwirkt, vergeudet zu haben. Damals, noch in der Schule, war Franziska seine Freundin. Eine Freundin, in die er verliebt war, die seine Liebe nie verlor, auch als sie sich aus den Augen verloren und sein Leben den Anschein machte, in geordneten Bahnen zu verlaufen. Aber eine Liebe, der er sich nie offenbarte, die immer in der Schwebe blieb, auch als man sich später immer wieder einmal traf und das eine oder andere Mal geschwisterlich in Hotels ein günstiges Zimmer teilte.

Und als in der Gegenwart das Virus das Leben zeitweise zum Erliegen bringt, er seine Spaziergänge aus den Tiefen seines Archivs wieder länger werden lässt, wird auch Franziska immer mehr zu einer Begleiterin seiner Tage, manchmal so real, dass ihr Abbild beinah greifbar wird. Sollte er noch einmal Kontakt aufnehmen? Nach 40 Jahren?

Peter Stamms schrulliger Einzelgänger wendet sich immer mehr ab von jener Welt, die er zu schützen glaubte, immer mehr zu, jenem Gefühl noch eine letzte Chance haben zu müssen, seinem Leben einen Sinn zu geben. Ich mag ihn. Eigentlich hat er alles richtig gemacht und doch droht er, alles zu verlieren. Der Eigenwillige hat etwas von einem Künstler, einem Kämpfer, der sich nicht um ein Publikum schert.

Aus Franziska wurde Fabienne, ein Name, der sich auf der Bühne als Sängerin besser verkaufen liess. Aber auch ihr Leben ist aus der Spur geraten, vielleicht schon viel länger, als die Berichte in den Medien erahnen liessen. Durch einen ehemaligen Kollegen bringt er den Wohnort seiner ehemaligen Freundin in Erfahrung. Und während sich ihr Abbild immer mehr materialisiert, beginnt sich der Mann von der tonnenschweren Last seines Archivs zu entfernen.

Peters Stamms Sprache ist glasklar, seine Geschichte beinahe schlicht. Es ist das, was er mit seinem Erzählen in mir als Leser auslöst. Was machen Erinnerungen mit mir? Welches Bild von mir und der Welt trage ich in mir? Lebe ich das Leben, dem ich zugesprochen bin? Habe ich die Chancen genutzt, die sich mit stellten? Ist Ordnung alles oder letztlich das, was uns vom Leben trennt? Ergeben wir uns dem Konjunktiv unseres Lebens? Peter Stamms Protagonist lässt sich auf ein imaginäres Gegenüber ein. Dann jeweils kippt die Zeit. Peter Stamms Roman wird einmal mehr polarisieren. Erst recht, weil er so unspektakulär ist. Trotzdem, oder eben darum – ein starkes Buch!

Peter Stamm, geboren 1963, studierte einige Semester Anglistik, Psychologie und Psychopathologie und übte verschiedene Berufe aus, u.a. in Paris und New York. Er lebt in der Schweiz. Seit 1990 arbeitet er als freier Autor. Er schrieb mehr als ein Dutzend Hörspiele. Seit seinem Romandebüt »Agnes« 1998 erschienen sechs weitere Romane, fünf Erzählungssammlungen und ein Band mit Theaterstücken. «Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt» wurde ausgezeichnet mit dem Schweizer Buchpreis 2018.

Webseite des Autors

Beitragsbild © leafrei.com / Literaturhaus Thurgau

Georges-Arthur Goldschmidt «Der versperrte Weg. Roman das Bruders» Wallstein

Es ist ein schmales Buch, das aber von der ganzen Schwere einer Kindheit, einer Vergangenheit erzählt, die sich wie ein Alp durch das Leben und Wirken des grossen Autors zieht. Ein Roman über zwei Brüder, die durch die Geschichte getrennt werden. Nominiert für den Deutschen Buchpreis 2021.

Georges-Arthur Goldschmidt erzählt seine eigene Geschichte und die seines Bruders. Und doch tut er es in ganz spezieller Weise; nicht in der ersten Person, sondern in der dritten Person. Und nicht mit dem Fokus auf sich selbst, sondern auf den vier Jahre älteren Bruder Erich. Dabei ganz sachlich, in keinem Moment emotional und doch ganz nah, so dass ich als Leser sehr gut nachvollziehen kann, in welcher Zerrissenheit die Brüder und vor allem Erich aufwachsen mussten und wie sehr sich diese in das Leben der beiden eingefressen hatte.

Erich kam 1924 zur Welt, Jürgen-Arthur vier Jahre später, in Hostein, damals ein kleines Dorf in der Nähe Hamburgs. Ein Ort, in dem wie sein Vater, viele Beamte aus der nahen Stadt wohnten. Die Familie jüdischen Ursprungs konvertierte schon im Jahrhundert zuvor zum Protestantismus und verstand sich ganz und gar als deutsche Familie. Mit der Geburt seines kleinen Bruders Jürgen-Arthur kippte das kleine Universum des grösseren Bruders. Und weil man ihn mit einer Stricknadel in der Hand an der Bettstatt seines Bruders fand, waren die Rollen in der Familie für Jahre verteilt. Jürgen-Arthur war der, den man beschützen musste, Erich der, vor dem man sich schützen musste. Mutter und Vater rügten den Grossen, liebkosten und trösteten den Kleinen.

Georges-Arthur Goldschmidt «Der versperrte Weg. Roman des Bruders», Wallstein, 2021, 111 Seiten, CHF 28.90, ISBN 978-3-8353-5061-8

1934 hatte man den Vater wegen seiner nichtarischen Herkunft entlassen. In der Schule wurde das Leben der beiden Brüder nach und nach zu einem Spiessrutenlauf. „Judensau“ oder „Scheissjidd“ schimpfte man ganz offen. Dabei fühlte sich zumindest Erich ganz und gar als Deutscher. Mit 13 Jahren wäre er gerne Richter geworden wie sein Vater. Alles Deutsche war Lebensinhalt für ihn. Aber man drängte ihn in ein Leben, das er nicht wollte. Nichts wäre im lieber gewesen, als in die Hitlerjugend eintreten zu können, stramm in Reih und Glied zu stehen und „Die Fahne hoch“ zu singen. Statt dessen schloss man ihn aus und seine Eltern schickten ihn und seinen kleinen Bruder 1938 nach Florenz zu Bekannten.

Während alles um sie herum fremd geworden war, kamen sich die beiden Brüder immer näher. Jetzt wurde Erich zum Beschützer seines kleineren Bruders. Doch die Historie trieb sie weiter. Weil Mussolini ganz offen mit Hitler kooperierte und das Leben in Florenz unsicher wurde, verfrachtete man die beiden Brüder in den Süden Frankreichs zu einer Tante, in jenen Teil, der nicht im Einflussbereich des unterwürfigen Generals Pétain stand. Die Gefühlslage des jungen Erichs geriet immer mehr in Verwirrung. Er war Deutscher. Aber er war Feind. Nun lebte er in Frankreich und kam aus dem Land der Feinde. Er trug im Namen den Stempel einer für ihn verhassten Herkunft. Er gehörte zu jenem Volk, das in den Krieg gegen andere zog, zu jener zähen Masse, die alles zerstampfte, zertrat, zerbrach, eine stramme, korrekte Mörderbande.

Im südfranzösischen Internat, in dem Erich immer unnahbarer wurde und der jüngere Bruder alles tat, um von der Rute der Direktorin geschlagen zu werden, spitzte sich die Lage immer mehr zu. Man hungerte. Ende 1944 brach Erich aus, setzte sich ab und schlug sich zur Résistance und später zu den Streitkräften der Alliierten durch. Erich und Jürgen-Arthur verloren sich. Erich wusste, dass ihm seine verhasste Herkunft, sein Leben als Displaced Person die Existenz rettete. Aber auch nach dem Krieg blieb Erich „dazwischen“, sein Leben ein dauernder Kampf, sein Eintritt in die Fremdenlegion ein fast logischer Schritt.

„Der versperrte Weg“ ist exemplarisch für das verhinderte Leben vieler. Ein Mahnmal gegen das Vergessen!

Georges-Arthur Goldschmidt, geb. 1928 in Reinbek bei Hamburg, emigrierte als Kind nach Italien und später nach Frankreich
Auszeichnungen: Für sein umfangreiches Werk wurde er u. a. mit dem Nelly-Sachs-Preis, der Goethe-Medaille, dem Joseph-Breitbach-Preis und dem Prix de l`Académie de Berlin ausgezeichnet. 2015 erhielt er den Sigmund-Freud-Kulturpreis.

Beitragsbild © Sandra Kottonau

Stefanie vor Schulte «Junge mit schwarzem Hahn», Diogenes

Stefanie vor Schultes Debüt „Junge mit schwarzem Hahn“ fällt aus der Zeit. In der Art des Erzählens, seiner Geschichte, der Kulisse, der Sprache und dem Lesegefühl. Als befinde man sich irgendwie, irgendwo in einer fernen Vergangenheit, in einem Märchen, der Fantasie nicht weit entfernt. Aber genau das, dieses Querliegen, ist der Reiz dieses aussergewöhnlichen Romans.

Wir leben in keiner märchenhaften Zeit. Genauso wenig waren vergangene Zeiten märchenhaft. Und doch erinnert „Junge mit schwarzem Hahn“ an Märchen. Ein Junge mit reinem Herzen, in seinem Dorf ausgestossen und missverstanden, macht sich auf eine Suchwanderung, besteht „Prüfungen“ und wird am Schluss für seine guten Taten belohnt. Auch wenn keine Zwergen, Hexen, Riesen und Zauberer vorkommen, so doch ein schwarzer Hahn, der den Jungen überall hin begleitet und in grosser Not zu ihm spricht. Ein schwarzer Vogel, genauso nicht ernst genommen wie der Junge selbst. Ein Junge, den man im Dorf nach dem gewaltsamen Tod seiner ganzen Familie seinem Schicksal überlässt, der sich da und dort durch sein Tun einen faulen Apfel oder eine harte Kante Brot verdient. Man sprich kaum mit ihm. Er schläft in den Ruinen seines Elternhauses, seinen Hahn an seiner Brust, das einzige, was ihm geblieben ist.

Stefanie vor Schulte «Junge mit schwarzem Hahn», Diogenes, 2021, 240 Seiten, CHF 32.90, ISBN 978-3-257-07166-5

Bis ein Fremder im Dorf auftaucht. Ein Maler, der die Kirche ausmalen soll. Ein Mann, der das Helle im Herzen des Jungen erkennt und ihn an seiner Seite leben lässt, bis die Wirren im Dorf so unerträglich werden, dass sie beide gezwungen sind, den Ort in aller Heimlichkeit zu verlassen; Martin, der Junge mit reinem Herzen, weil er sah, wie ein schwarzer Reiter vor dem Dorf ein Mädchen mitnahm und der Maler, weil er sich mit dem, was er an die Wände der Kirche malte, an der Boshaftigkeit der Dorfbewohner rächen wollte. Sie machen sich gemeinsam auf den Weg durch eine Welt, die von Krieg und Anarchie gebeutelt wird, in der Banden und Wolfsrudel Angst und Schrecken verbreiten. Sie finden Schutz in den Mauern einer Stadt, in der der Maler ein Lustbild malen soll. Sie werden dabei in die Wirren von Eifersucht, Neid und Falschheit auseinandergerissen. Martin muss erneut fliehen, rettet einen Reiter vor dem sicheren Tod und landet auf dem Schloss seiner Gemahlin, einer Frau, die in ihrer unsäglichen, unstillbaren Eitelkeit das Leben von Kindern nimmt.

Stefanie vor Schulte erzählt mit einer ungeheuren Selbstverständlichkeit, schildert das Leben eines Jungen, den ein schwarzer Hahn, den man in jener Zeit allzu leicht zu einem Zeichen des Satans macht, immer weiter in die Wirren von Boshaftigkeit und Elend führt, ein Leben, das eine Bestimmung haben soll, einen Weg, der all dem etwas entgegensetzt, was sonst die Dunkelheit zu schlucken droht. Was den Roman so erfrischend macht, ist die Überraschung darüber, dass er so gar nicht in die Literaturlandschaft der Gegenwart passt und sich mit keinem Satz um jene Themen rankt, denen man sonst alles Papier der Welt opfert. Stefanie vor Schulte erzählt in einer Sprache, die holzschnittartig, kantig und mit kurzen Sätzen Stimmungen und Bilder erzeugt, die wiedergibt, was eine Welt bestimmt, die aus der Sicht des Jungen fast nur aus langen dunkeln Schatten besteht. Vielleicht wirken da die Fähigkeiten einer Bühnenbildnerin, die eine ausserordentlich plastische, fast theaterhafte Kulisse entwirft. Und zudem bedient sich der Autorin der Sehnsucht nach Helden, die mit klarem Blick, reinem Herzen und klugem Kopf gegen die Urgewalten der Welt bestehen. Der Sehnsucht nach einer deutlichen Stimme, die einem einflüstert, vor allem dann, wenn einem alles den Mut zu rauben scheint.

Ein erstaunliches Buch voller Überraschungen.

Stefanie vor Schulte, 1974 in Hannover geboren, ist studierte Bühnen- und Kostümbildnerin. Sie lebt mit ihrem Mann und vier Kindern in Marburg. «Junge mit schwarzem Hahn» ist ihr erster Roman, der im Rahmen des Harbour Front Literaturfestivals Hamburg für den Klaus-Michael Kühne-Preis nominiert wurde.

Beitragsbild © Gene Glover

Peter Weibel «An den Rändern», edition büchelese

Ein Erzählband eines Schriftstellers, der ein Leben lang als Arzt arbeitet, seit Jahrzehnten in der Geriatrie, dort wo gestorben wird. Ein Erzählband, der in Bildern von Erlebnissen an den Rändern des Lebens, an den Rändern des Seins erzählt, nicht nur mit Worten. Peter Weibel malt mit feinem Pinsel, transparenten Farben Szenen, die nicht durch Kontur gewinnen, sondern durch das Fluid, das sie erzeugen!

„An den Rändern“ lag eine ganze Weile da; auf dem Nachttischen, in der Bibliothek, auf dem grossen Tisch im Wohnzimmer, am Schluss auf dem Arbeitstisch in der Gästewohnung des Literaturhauses Thurgau. „An den Rändern“ hat mich lange begleitet, weil ich die Geschichten nicht trinken wollte wie ein Glas Wasser. Viel mehr wie einen Trank, eine Art Medizin, ein Heilmittel, das mir verspricht, dass selbst dort, wo es zu Ende geht, ein Zauber sein kann, dass selbst dort etwas beginnen kann, dass es meine Sichtweise ist, die aus Grenzerfahrungen Abgründe macht.

„Manchmal muss man an die Grenzen gehen, wenn alles nur noch ein Warten auf die allerletzte Grenze ist.“

Peter Weibel «An den Rändern», edition bücherlese, 2021, 144 Seiten, CHF 31.90, ISBN 978-3-906907-44-4

Ich traf Peter Weibel im Sommer 2020 in Bern. Ich war in der Stadt und rief ihn an, ob er Zeit für ein Treffen habe, obwohl wir uns höchstens vom Hörensagen kennen. Ich wartete auf der Münsterplattform, einem kleinen Park über der Aare, bis ich ihn mit Pfeife und wildem, weissen Haarschopf und einer Tasche an den Schultern in die Menschen schreiten sah. Wir kannten uns gleich, obwohl das letzte Treffen Jahre zurücklag und am Schluss einer Lesung eine Signatur lang dauerte. Als wären wir Freunde. Peter Weibel ist unmittelbar, lässt keinen Zweifel, dass sein Bemühen das eines Mannes ist, der keine Lust verspürt, in Spielchen das Gegenüber abzutasten. So sind auch seine Geschichten; unmittelbar und direkt, ehrlich und durchtränkt von gelebter Empathie.

„Die Liebe ist der letzte Hort der Utopie.“

Was ich damals nicht wusste; Peter Weibel malt. Nicht erst, seit die Arbeit als Arzt etwas weniger geworden ist (Andere wären schon ein Jahrzehnt pensioniert!), sondern schon lange. Ein Tun, das auch in die Geschichten in seinem Erzählband einfliesst. Und Peter Weibel erzählt wie er malt. Es sind nicht Zeichnungen mit harten Konturen, klaren Linien, die abbilden, was man sieht. Es sind Aquarelle mit fliessenden Übergängen, auslaufenden Farbflächen, Farben, die ineinanderfliessen. So wie seine Geschichten, die keine Szenerie nachzeichnen wollen, sondern ein Gefühl, eine Ahnung, eine sich ausbreitende Erkenntnis.

„Nicht alles, was wir sehen, können wir greifen, und nicht alles, was wir greifen wollen, können wir sehen, aber manchmal sehen wir durch die Zeit hindurch.“

Ich las „An den Rändern“, als hätte mir der Autor seine Hand auf meine Brust gelegt, um meinen schnellen Atem, meine Ängste zu bannen. Es sind Geschichten, die nur jemand schreiben kann, der weiss. Keine Tinkturen, keine Rezepturen, keine Kuren und keine Therapien, sondern dass uns letztlich nur die Liebe zu diesem mehr oder minder langen Stück Leben retten kann.

„Man kann nicht schreiben, ohne den Schmerz zu kennen.»

.. und ein wunderschön gestaltetes Buch mit Aquarellen des Autors!

Interview 

Dein Erzählband ist ein Buch des Innehaltens. Es sind Momente der intensiven Reflexion. Fällt dir das im Alter leichter oder muss es eine Eigenschaft des literarischen Schreibens sein?
Ich glaube, das Alter verändert den Schreibprozess bei jedem von uns, und bei jedem anders – bei mir vielleicht: Die Arbeit an der Verdichtung; Versuche, eine rythmische Prosaform zu finden, die leicht sein kann, auch wenn sie Schweres mittragen will, die zugleich reflektiv und bildkräftig sein soll. Auf mein eigenes Alter bezogen: Die kreative Kraft lässt nach, die Erfahrung erleichtert den Prozess der literarischen Gestaltung.

Du schreibst. Du malst. Wo liegen die Unterschiede in diesen beiden kreativen Tätigkeiten? Wo die Gemeinsamkeiten?
Schreiben und Malen: Schreiben als Profession – Malen als pure Freude; Aquarellieren als Poesie des Augenblicks… Aquarellieren ist etwas sehr Augenblick-bezogenes; selten gelingt der grosse Wurf mit dem Pinselstrich, dem auslaufenden Wasser, meistens aber nicht, und du kannst nicht mehr korrigieren… Die Knochenarbeit, die ja zum literarischen Gestalten gehört, kennt das Aquarellieren nicht.

Du beschreibst viele Begegnungen mit Menschen, die eine Krankheit, das Alter, Geschehnisse an den Rand gebracht haben. Du schreibst behutsam, weit weg vom Pointenzwang. Wenig Effekt, dafür viel Tiefe, viel Empathie. Lehrte dich das dein Beruf als Arzt?
Natürlich prägt mein Erstberuf als Arzt den Zweitberuf des Schreibenden («Der Zweitberuf als kritische Instanz des ersten»). Es ist wie bei Kurt Marti, der in seinen «Leichenreden» – und nicht nur da! – im literarischen Wort gestaltet, was er als Theologe auf der Kanzel nicht aussprechen konnte. Im kurzen Essay «Die literarische Sprache beginnt dort, wo die medizinische endet» habe ich vor kurzem versucht, ein paar Gedanken zur Verbindung von Medizin und Literatur festzuhalten.

Corona spielt in deinen Erzählungen eine marginale Rolle, ist aber da, mehr als ein hintergründiges Rauschen. In vielen Gesprächen mit Schreibenden kam die Frage immer wieder, wie und wann sich das Virus auch in der Literatur wie ein Sediment ablagern wird. Auch ein Sediment in dir?
Die Corona-Zeit hat mich natürlich sehr geprägt, in vielen Bereichen. In zwei Erzählungen habe ich versucht, der Verstörung eine literarische Form zu geben; einmal die erschütternden Erfahrungen in den Pflegeheimen, wo ich selbst arbeite, einmal die zeitlose Botschaft von Camus› Pestroman, die über Nacht mit Wucht zurückgekehrt ist; «Menschen haben Angst und werden klein, andere werden gross und lassen die Angst zurück».

© Peter Weibel / Aquarell

„Il n’y a pas de soleil sans ombre, et il faut connaître la nuit.“ Ein Satz von Camus. Mit ihm endet eine deiner Geschichten. Albert Camus scheint sich in der Gegenwart als wiederentdeckte Stimme aufgeschwungen zu haben. Wie sehr lässt du dich von anderen in deiner kreativen Arbeit beeinflussen?
Keiner und keine von uns lebt und schreibt ja in einem hermetischen Innenraum, wir alle sind geprägt von literarischen Erfahrungen, von Vorbildern, Leitfiguren. Bei mir sicher Böll, Christa Wolf, Büchner, und vor allem Albert Camus – er war für mich die erste Ikone der Literatur, als ich noch tief in der Schule steckte, und sein Pestarzt die erste Ikone der Medizin.

Ein Thema in einigen deiner Geschichten ist das Alter und das Gefühl, als alter Mensch nicht mehr ernst genommen zu werden. Ist das eine Erfahrung der Gegenwart?
Alte Menschen haben ja oft einen grossen – und ja verkannten – Lebensreichtum, der weiterfliessen könnte und selten weiterfliessen kann: Die lächelnde Lebensdistanz, das Schweben und Schaukeln der Dinge, das Durchschauen von Lebens-Täuschungen… In der Erzählung «Altern» habe ich versucht, einem dieser Alternden, denen ich täglich begegne, eine Stimme zu geben.

Peter Weibel, geboren 1947, hat Medizin studiert und arbeitet seit vielen Jahren als Allgemeinpraktiker und in der Geriatrie. 1982 erschien ein erster Prosaband «Schmerzlose Sprache», seither veröffentlich er regelmässig Prosa und Lyrik. Er erhielt unter anderem einen Buchpreis des Kantons Bern für den Erzählband «Die blauen Flügel» (2013) und den ersten Kurt Marti Literaturpreis für «Mensch Keun» (edition bücherlese, 2017). Für die Texte «Hannah» und «Kocherpark» wurde er beim Bund-Essay-Wettbewerb 2015 bzw. 2019 ausgezeichnet. Zuletzt erschien 2019 «Schneewand» (edition bücherlese).

Beitragsbilder © Ayse Yavas

Constantin Schreiber «Die Kandidatin», Hoffmann und Campe

Wenn sich ein Roman in meine Träume schleicht, wenn er mich auch tagsüber nicht loslässt, dann muss etwas bei der Lektüre passiert sein. Constantin Schreibers Roman „Die Kandidatin“ schlägt einem ins Gesicht, lässt mich ratlos, in einer Mischung zwischen Faszination und Ernüchterung zurück. Ein Leseerlebnis aber ist er mit Sicherheit.

Sabah Hussein ist vierundvierzig und Kanzlerkandidatin. Sie steht, wetzt, redet, networkt und reist vor den Wahlen, ist kurz davor das zu erreichen, was in einem Deutschland in naher Zukunft mehr und mehr logische Konsequenz wird. Sabah Hussein ist politisches Programm in Person. Ihre Eltern flohen aus Syrien, das in Krieg und Elend versank. Sabah kam in einem libanesischen Flüchtlingslager zur Welt, verbrachte die ersten sechs Lebensjahre dort, kam mit ihrer Familie über die Balkanroute nach Deutschland in eine Flüchtlingsunterkunft, fing mit acht an, Deutsch zu lernen, übersprang eine Schulklasse und begann sich früh in Gesellschaft und Politik zu engagieren, wurde Mitglied der ÖP, der „Ökopartei“ und als Sinnbild und Identivikationsfigur schnell zu einem grossen politischen Versprechen. Bis klar wurde, dass die nächste Kanzlerin feministisch, divers und moslemisch sein musste.

Constantin Schreiber «Die Kandidatin», Hoffmann und Campe, 2021, 208 Seiten, CHF 32.90, ISBN 978-3-455-01064-0

Während auf der grossen politischen Bühne China mit seiner aggressiven Wirtschaft und Politik sämtliche Systeme unterwandert, nichts mehr ohne den unzähmbaren Riesen im fernen Osten geht, Taiwan annektiert und von China überrannt wird und nichts im Internet mehr ohne den Riesen geht, rotten sich im Deutschland der Zukunft die Extreme auf den Strassen zusammen, schreien von rechts und von links, wüten wüste Strassenschlachten unter den Augen einer staatlichen Polizei, die  sich immer mehr im Einfluss rechter Kräfte verstrickt. Sabah Hussein weiss, dass sie all jene auf ihrer Seite hat, die sich weltoffen, antikapitalistisch, feministisch und antirassistisch heissen. Und seit in jenem Deutschland alle Sechszehnjährigen, auch jene mit Aufenthaltsstatus wählen dürfen, dafür die über Siebzigjährigen nicht mehr, scheint einem Wahlsieg der linken Kandidatin nichts mehr im Weg zu stehen.

Das spüren auch all jene, die mit der Politik Sabah Husseins nichts anfangen können, allen voran den Rechten und Ultrarechten, die sich nicht nur im Netz, sondern auch ganz offen nicht nur verbal bewaffnen und die Kanzlerkandidatin mit allen Mitteln in den Dreck zu ziehen zu diffamieren versuchen. Allen voran Jonas Klagenfurt, der mit anderen für das Boulevard-Magazin AKUT schreibt, einer Onlineplattform für Rechte und Rechtsextreme. Unabhängige, gedruckte Medien gibt es keine mehr. Meinungsbildung machen Blogger, YouTuber, Tritter-Stars und „Freie“ oder die offiziellen Accounts der Ministerien selbst. Während der Mob, Wutbürger und ewig Unzufriedene von allen Seiten mit Molotowcocktails aufeinander losgehen, schaut man aus der Ferne beunruhigt auf ein auseinanderbrechndes Deutschland. Auf jene menschenleere Ecke Deutschlands, wo ein Staat im Staat gedeihen soll, in dem sich unter dem Namen Neu-Gothafen rechtes Gedankengut gepaart mit evangelikal-konservativer Kirche, ein alternatives Deutschland, in dem kein einziger Nichtweisser leben darf, formiert. Während die gesellschaftliche Ursuppe kippt, kein Stein mehr auf dem anderen bleiben soll, liefern sich die Exponenten eines zukünftigen Deutschlands erbitterte Schlachten, bei denen kein Opfer zu viel sein kann.

Constantin Schreibers Szenario ist erschreckend. Erschreckend gut konstruiert, erschreckend realistisch aus der Sicht der momentanen Strukturen und Situationen, erschreckend realistisch gezeichnet und erschreckend blutleer in seiner Figurenzeichnung und einem Plot, der einem ganz einfachen Muster entspringt. Schreibers Roman schmerzt und fasziniert. Der Autor weiss, dass das Haus, das er baut, auf solidem Grund gebaut sein soll. Aber die Fassaden sind spiegelglatt und lassen keinen Blick in die Tiefe zu. Die Figuren bleiben Kontur, der Konflikt in den Protagonisten nur ansatzweise sichtbar. Ich fiebere nicht mit den Menschen, sondern mit dem Szenario. Und das Szenario ist bestechend. Die Feuer, die schon lange zu brennen begonnen haben, von denen man glaubte, sie würden sich von alleine löschen, sind unkontrollierbar geworden. Was heute wachsende Realität ist, ist in Constantin Schreibers Roman endzeitlicher Flächenbrand. All jene lesen dieses Buch gerne, die „Ich habs schon immer gesagt“ längst zu ihrer Maxime machten. All jene, die in die Tiefe schauen wollen, werden am grossen Spektakel abprallen.

Trotzdem ein wichtiges Buch, denn es bietet Zündstoff für Diskussionen!

Constantin Schreiber, geboren 1979, moderiert die Tagesschau und ist einer der besten Kenner der arabischen Welt. Für die deutsch-arabische Talkshow Marhaba – Ankommen in Deutschland, in der er Geflüchteten das Leben in unserem Land erklärt, wurde er 2016 mit dem Grimme-Preis ausgezeichnet. Mit seiner 2019 gegründeten Deutschen Toleranzstiftung setzt er sich für interkulturellen Austausch im In- und Ausland ein. Seine Bücher «Inside Islam, Kinder des Koran» und das von ihm herausgegebene Buch «1000 Peitschenhiebe» über den saudiarabischen Blogger Raif Badawi waren Spiegel-Bestseller. Bei Hoffmann und Campe erschien von ihm zuletzt «Marhaba, Flüchtling!» (2016). Schreiber lebt mit seiner Familie in Hamburg.

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Beitragsbild © Marlene Gawrisch

Max Küng «Fremde Freunde», Kein und Aber

Man wird in ein wunderschönes Haus im Burgund eingeladen, bekocht und nach Strich und Faden verwöhnt. Alles perfekt, wenn da nur die kleinen und grossen Katastrophen nicht wären, die wie heisses Magma unter der Oberfläche auf das Beben warten! Max Küngs neuer Roman «Fremde Freunde» ist ein Kammerspiel, das es in sich hat!

Saint-Jacques-aux-Bois liegt im Burgund. Ein Ort, von dem die meisten jungen Einheimischen weg wollen, solange sie können, weil es fast keine Verdienstmöglichkeiten gibt. Einer der Orte, wo es viele hinzieht, die sich mit entsprechender Brieftasche eines der grosszügigen Häuser und deren Renovation, Um- und Ausbau und Unterhalt leisten können, um ein paar Ferienwochen im Jahr etwas von dem zu zelebrieren, was ihnen in der Enge des Alltags unmöglich scheint, was ihnen Hochglanzmagazine vorbeten. Ein Haus mit Charme, ein grosser Garten, ein Obsthain hinter dem Haus, alte Bäume, unter denen man die Seele baumeln lassen kann – savoir vivre!

Jacqueline und Jean hatten sich eines gekauft, von einem in Geldnöte geratenen Freund, etwas unverhofft und schnell, das Haus mit grosser Kelle aus- und umgebaut und in jenes Idyll verwandelt, von dem sie erhofften, es würde sich als Paradies entpuppen, als Ort des Auftankens, der Ruhe, des Geniessens. Aber so sehr Jean bei dem Unternehmen den finanziellen Bogen überspannt hatte und die Kontostände zusammen mit der angespannten wirtschaftlichen Situation in Schieflache gebracht hatte, so sehr macht Jean jeden noch so kleinen Aufenthalt in dem Haus zur militärisch vorbereiteten Übung, die an der Gleichgültigkeit ihres halbwüchsigen Sohnes Laurent abprallt.

Max Küng «Fremde Freund», Kein & Aber, 2021, 432 Seiten, CHF 33.00, ISBN 978-3-0369-5838-5

Deshalb laden sie nicht ohne Hintergedanken zwei Paare ein, zum einen, weil man wusste, dass sich die Kinder verstehen würden, zum anderen weil man sich erhoffte, dass die Gäste ebenso ver- und bezaubert von dem Haus sein und im richtigen Moment formuliert mit wehenden Fahnen auf das Angebot des Miteigentümer-Seins einsteigen würden. Man würde vertrauter untereinander, käme sich näher, wären Gefährten – Fundamente einer Freundschaft. Eine Woche. Man lässt sich von den Gastgebern verwöhnen und bestaunen, beneiden und bewundern.

Aber wie erwartet zeigen sich schon in den ersten Tagen, in den ersten Stunden Risse im Konstrukt. Nicht nur in den von Jacqueline und Jean gehegten Plänen, sondern auch im Paradies in und ums Haus und in den Fassaden, die alle drei Paare mit Bedacht den anderen zu präsentieren versuchen. Die Wände sind dünn und manchmal auch die Haut. Während die einen die frische Liebe demonstrieren und es unter Tränen gar zu einem Hochzeitsantrag kommt, geben die andern die Trennung bekannt. Und während man in der Küche, am Tisch oder nachmittags im Garten unter den alten Apfelbäumen dem Genuss huldigt, verschwinden Schmuckstücke, bleibt das überdimensional grosse Geschäft im Klo liegen oder die Eingangstüre trotz gegenteiliger Versicherung tagsüber bei Abwesenheit sperrangelweit offen. Eines Tages liegt gar eine tote Ratte im Klo, die Jean nur unter Aufbietung letzter Kräfte im Kanal neben dem Haus zu entsorgen vermag. Etwas stimmt nicht. Nicht nur in den aufgesetzten Fassaden, nicht in der Freundlichkeit der Gastgeber, nicht in den Beteuerungen der Eingeladenen, nicht in den friedvollen, entspannten Tagen in Saint-Jacques-aux-Bois.

Bis Steine fliegen.

Als Kolumnist hält Max Küng der Gesellschaft und sich selbst schon seit Jahren einen Spiegel vor. Er kennt die Pappenheimer! Drei Ehepaare und ihre jugendlichen Kinder in einem Haus auftreten lassen – das machte dem geübten messerscharfen Beobachter ganz offensichtlich Spass. Spass, der sich auf mich als Leser überträgt, auch wenn sich am Ende des Romans die Geschehnisse für meinen Geschmack zu arg überstürzen, denn das, was in den drei Paaren und ihren Familien an grossen und kleinen Katastrophen schlummert, hätte für ein Finale gereicht. Trotzdem macht die Lektüre einen Heiden Spass. Max Küng entblösst. Nicht nur die Fassaden der Protagonist:innen, sondern auch die Gesellschaft, in der nur reüssiert, wer es auch zeigen kann. „Fremde Freunde“ entlarvt ohne zu karikieren und führt uns vor, was getarnte Absichten anrichten können. Eigentlich geht es im Roman um die Sehnsucht nach Freundschaft, nach Liebe und einem Zuhause, einem Heim, in dem man sich zu hundert Prozent geborgen und sicher fühlt. 

Max Küng liest am 10. September neben Usama Al Shahmani, Michael Köhlmeier, Philipp Theisohn, Stefan Keller, Valerie Fritsch, Silvia Tschui, Arno Camenisch, Yusuf Yesilöz, Peter Stamm und den Nominierten des 1. Weinfelder Buchpreises an den Weinfelder Buchtagen. Moderiert wird die Lesung von Max Küng von Gallus Frei-Tomic.

Max Küng, geboren 1969 in Maisprach bei Basel, ist seit 1999 Reporter und Kolumnist beim Magazin des Tages-Anzeigers. Neben diversen Musikkompositionen und Veröffentlichungen erschienen zuletzt seine Kolumnensammlung «Die Rettung der Dinge» und sein Roman «Wenn du dein Haus verlässt, beginnt das Unglück». Max Küng lebt in Zürich.

Weinfelder Buchtage

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Beitragsbilder © Maurice Haas

Peter Terrin «Blanko», Liebeskind

Viktor verliert seine Frau bei einem brutalen Überfall. Sie lag zusammengeschlagen auf der Strasse, so wie sein ganzes Leben zusammengeschlagen wurde. Was ihn einigermassen aufrecht hält, ist die Sorge um seinen Sohn Igor. Eine Sorge, die zur Obsession wird. Peter Terrin leuchtet in die abgerückte Welt eines immer zerstörerischer werdenden Irrsinns.

„Blanko“ ist eine Höllenfahrt in die quälenden Ängste eines Vaters, dessen einzige Aufgabe es wird, seinen Sohn vor der Schlechtigkeit der Welt zu retten. Eine nicht zu bremsende Höllenfahrt. Man liest mit Erschütterung, weil der Untergang nicht aufzuhalten ist, weil man den Mann letztlich versteht, weil die Interpretationen des zurückbleibenden Mannes ihm Recht zu geben scheinen, weil wir von all den Müttern und Vätern wissen, die ihre Kinder mit allen Mitteln vor dem allgegenwärtig Bösen dieser verkommenen Welt schützen wollen.

Peter Terrin «Blanko», übersetzt von Rainer Kersten, Liebeskind, 2021, 205 Seiten, CHF 28.90, ISBN 78-3-95438-125-8

„Blanko“ erzählt aber auch die Geschichte eines Mannes, dessen Wahrnehmung durch eine persönliche Katastrophe aus der Angel gehoben wird und sich ganz neu ausrichtet, der die Welt plötzlich in ganz anderer Perspektive sieht, der nicht mehr an all die Beteuerungen der offiziellen Wahrnehmung glauben will. Wir leben in einer Welt des Rückzugs. Durch die Pandemie noch verstärkt zementiert sich der Mensch in seiner Weltanschauung, die er nur noch mit dem füttert, was er seiner Meinung entsprechend zuträglich findet. Viktor hat mit dem tödlichen Verbrechen an seiner Frau viel mehr verloren als die Ehefrau, seine Liebe und die Mutter seines einzigen Sohnes. Die Tat katapultierte ihn aus seiner Welt, hinein in ein Reduit, das er mit allen möglichen und unmöglichen Massnahmen zu sichern versucht.

Peter Terrin konzentriert sich in seinem beeindruckenden Roman nicht auf die Gründe, wie es zum Verbrechen an seiner Frau kam, noch viel weniger um die Täterschaft. Peter Terrins erzählender Blick fokussiert sich einzig und allein auf das, was mit Viktor passiert, welche Schlüsse der Mann aus der Tat und den Reaktionen der Welt darauf für sein eigenes Leben, seine Zukunft und die seines Jungen zieht.

Viktor, wissenschaftlicher Mitarbeiter beim Gesundheitsministerium, kann wegen eines eingestützten Dachs an seinem Arbeitsplatz im Labor zuhause arbeiten. Was er für seine Untersuchungen braucht, steht zuhause. Und weil er seine Tage selber einteilen kann, begleitet er seinen Sohn zur Schule, holt ihn auch wieder ab und bleibt im Auto sitzen, während Igor in der Schule sitzt. Viktor beobachtet und versteht die Welt nicht mehr, versteht nicht, dass man sich ungehindert Zutritt ins Schulhaus verschaffen kann, dass die ausserschulischen Aktivitäten des Klassenlehrers seines Jungen nicht eingehender unter die Lupe genommen werden, dass man seinen Sohn von der Schule verweist, weil er sich doch nur gewehrt hatte, mit dem Springmesser, das ihm sein Vater zum Geburtstag schenkte – zur Selbstverteidigung.

Igor muss zuhause bleiben. Viktor lässt Gitter vor die Fenster montieren, Frischluftfilter, Panzertüren. Er unterrichtet seinen Sohn bei Tag und wird nachts von üblen Träumen heimgesucht, die ihm wie Spiegelbilder der Welt draussen erscheinen. Einzig seine Schwester bringt ihm ab und an etwas Lebensmittel und kann immer weniger verstehen, was sie zu sehen bekommt. Peter Terrin schlüpft in die Wahrnehmung dieses einsamen Mannes, sieht die Welt durch seine Augen, eine Welt, die mehr und mehr schrumpft und immer dunkler wird. Immer mehr zu einem selbst inszenierten Gefängnis. Aber nicht nur für Viktor, sondern auch für seinen Sohn Igor.

Viktor liebt seinen Sohn. Diese Liebe ist das einzige, das ihm geblieben ist. Eine Liebe, die vernichtend wird. Wer Mut hat, der lese – unbedingt!

Peter Terrin, 1968 im belgischen Tielt geboren, gehört zu den wichtigsten Stimmen der flämischen Literatur. Er veröffentlichte Erzählungen, Theaterstücke und bislang sieben Romane, darunter «Der Wachmann», für den er 2010 den Literaturpreis der Europäischen Union erhielt, und «Post Mortem», der 2012 mit dem AKO-Literaturpreis ausgezeichnet wurde. Seine Werke wurden in über fünfzehn Sprachen übersetzt.

Rainer Kersten, geboren 1964, übersetzt aus dem Niederländischen, u.a. Werke von Tom Lanoye, Dimitri Verhulst und Arnon Grünberg. 2016 wurde er mit dem Else-Otten-Übersetzerpreis ausgezeichnet.

Beitragsbild © Jef Boes