Herta Müller «Der Beamte sagte», Hanser

Romane erzählen Geschichten, manchmal auch mehr. Gedichte malen Bilder, manchmal mehr. Essays erklären, aber auch sie wollen manchmal mehr. Herta Müller will vielleicht gar nicht so viel, weder eine Geschichte erzählen noch die Welt erklären. Aber weil sie mit ihren Collagengedichten seit einem Jahrzehnt eine ganz eigene Ausdrucksart gefunden hat, war es nur eine Frage der Zeit, bis ihr durchaus ernst zu nehmendes Spiel bis in die Prosa wirkt.

Herta Müller schnipselt und klebt. Es gibt Fotos von ihr während ihrer Arbeit. Sie sitzt an einem Tisch, der übersät ist mit Wörtern und Wortfragmenten, kleinen farbigen Textbausteinen, mit denen sie bisher Lyrik und Kurzprosa zusammen mit kleinen Illustrationen zu eigentlichen Wortbildern zusammenfügte. Eine Technik, die ein wenig an Droh- und Erpresserbriefe erinnert, als sich Kriminelle noch die Zeit nahmen, aus Zeitungen Wörter zu schneiden und sie zu Texten zusammenzukleben. Was damals Angst und Schrecken auslöste, tut bei Herta Müller das genaue Gegenteil. Allein das Wissen, dass da jemand Text mit aller Akribie, Geduld und Muse so lange ordnet, arrangiert und platziert, macht das Lesen Herta Müllers Textseiten zu einer eigentlichen Meditation. Man wird ihnen nicht gerecht, wenn man einfach über sie hinwegliest, ihnen nicht jene Zuwendung schenkt, mit der die Autorin die Bilder erschuf.

Herta Müller «Das Beamte sagte», Hanser, 2021, 164 Seiten, CHF 35.90, ISBN 978-3-446-27082-4

Herta Müller erzählt von jemandem, der vorgeladen wird. Zuerst beim Beamten A, dann beim Beamten B, einem Herrn Fröhlich und schlussendlich bei einem Beamten in den oberen Etagen. Man wirft ihr fehlendes Heimatgefühl vor, heisst sie eine Staatsfeindin. Die Beamten führen Gespräche, Gespräche, die aneinander vorbeiführen. Sie, die Angeklagte, hält sich auf in dem Gebäudekomplex, dem Lager mit Kantine, nicht eingesperrt, manchmal auch in einem Café in der Stadt, begegnet Menschen, einem leeren Vogelkäfig und immer wieder einem Vogel mit Silberkragen. Doch, Herta Müller erzählt eine Geschichte. Aber sie breitet die Geschichte nicht aus, will keine Klarheit schaffen, nicht einmal Ordnung, obwohl die Schnipsel selbst doch so einen ordentlichen Eindruck machen. Aber vielleicht ist das das HertaMüller’sche. Wenn Ordnung gemacht werden kann, dann höchstens in die Form, aber nicht im Inhalt, der einem stets die Erklärung schuldig bleibt.

Ich habe Herta Müllers Buch ganz langsam gelesen. Einzelne Seiten wie Gebetstafeln vor mir auf dem Schreibtisch liegen lassen. Manches scheint sich erst mit vielfachem Lesen zu erschliessen, vieles bleibt nur eine Ahnung. Das Skurrile, Absurde wendet sich. Manchmal weht es den lichten Vorhang vor dem Hintergrund für einen kleinen Moment. Und manchmal geben mir einzelne Seiten einen Stoss. Schon der erste Satz der Erzählung (keine Satzzeichen!) Ist Programm für das ganze Buch: „Manchmal hab ich mich vermisst.“ Ein Satz, der mich mitnimmt. Ein Satz, der mich für einen langen Moment tief in mich zurückwirft. Oder: „Gegen Abend schob sich eine schrecklich müde körperwarme Ferne über unser Haus. Dann kam ein Wind und zog das letzte Hemd aus.“ Oder noch viel mehr!

Ein rätselhaftes, geheimnisvolles, zauberhaftes, wunderschönes Buch! Ein bisschen grösser als „normale“ Bücher, dickes Papier und so geklebt, dass man es offen auf einem Tisch liegen lassen kann, was sein muss, um es wirken lassen zu können. Eine Kostbarkeit!


Herta Müller
, 1953 in Nitzkydorf/Rumänien geboren, lebt seit 1987 als Schriftstellerin in Berlin. Ihr Werk erscheint bei Hanser. Sie wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet und ist die Literaturnobelpreisträgerin 2009.

Beitragsbilder © Laurence Chaperon

Dorothy Gallagher „Und was ich dir noch erzählen wollte“, aki

Dieses Buch ist weder Abrechnung noch ein Versuch, Ordnung in eine Beziehung zu bringen, die durch den Tod ein jähes Ende fand. „Und was ich dir noch erzählen wollte“ ist eine zarte Liebeserklärung über den Tod hinaus. Das Buch selbst ein Geschenk!

Ich lebe seit 40 Jahren mit meiner Frau zusammen, mit allen Krisen, die ein so langes Experiment birgt. Nach der Lektüre von Hansjörg Schertenleibs Novelle „Die Fliegengöttin“ fragte ich sie, wie es wohl sein würde, wenn jemand von uns sterben würde. Die Wahrscheinlichkeit, dass ein Ereignis uns beide gleichzeitig dem irdischen Dasein entreissen würde, ist verschwindend klein. Irgendwann würde der Moment da sein, wo entweder sie oder ich allein zurückgelassen sein und einer von uns erwachen würde, mit einem Mal unwiederbringlich darüber im Klaren, wen und wie viel man verloren hatte. Ich lebe mit einer an Naivität grenzender Selbstverständlichkeit, dass immer alles so bleiben wird, wie es jetzt ist, dass selbst Krisen bewältigt werden können. Aber dass mit dem Tod des Gegenübers, mit dem man Jahrzehnte teilte, alles mit einem Mal ganz anders wird, blende ich tunlichst aus.

Dorothy Gallangher „Und was ich nocherzählen wollte“, aus dem Afrikanischen von Monika Baark, 2021, 128 Seiten, CHF 29.90, ISBN 978-3-311-35002-6

Dorothy Gallagher ist ein Leben lang Fotografin und Autorin, eine Frau, die ihre Welt ganz genau wahrzunehmen versucht und alles zum Anlass nimmt, ihr Tun, ihr Denken zu reflektieren. Das tat sie auch, als sie nach einem Vierteljahrhundert Ehe mit ihrem Mann die Wohnung in New York räumen musste, weil sie wusste, dass sie ihr Leben nach dem Tod ihres Mannes nicht einfach so würde weiterführen können. So „kreativ“ dieses Leben, der Austausch zwischen den beiden war, so erschöpfend die Krankheit ihres Mannes (Multiple Sklerose) in den Jahren vor seinem Tod, die immer wieder aufflammenden Hoffnungen und die Einsicht, dass ihr Mann immer weniger werden würde, sein Sterben schon lange vor seinem Tod begonnen hatte. Und weil eben in der Zeit nach dem Tod ihres Mannes ein Buchprojekt seinen Abschluss fand und die schreibende Auseinandersetzung zu einer lieb gewonnenen Gewohnheit geworden war, begann sie in den Monaten nach dem Tod ihres Mannes und dem Auszug aus der gemeinsamen Wohnung aufzuschreiben. „Und was ich dir noch sagen wollte“ ist daraus geworden.

Keine rührselige Abschiedsrede, keine schmerzerfüllte Reflexion über ein gemeinsames Leben, das der Tod ihr genommen hatte. So wie die Partnerschaft mit ihrem Mann stets ein Leben des Gegenseitigen war, so sehr bleibt es das auch über den Tod hinaus, auch wenn die Schreibende nur mehr den Nachhall jener Stimme hört, die sie ein Leben lang begleitete. Ihre Sprache, ihr Erzählen ist durchsetzt von Liebe und Respekt. Selbst scheinbar Banales wird zum Geheimnisvollen, zu einer Offenbarung. Das schmale Büchlein ist eine Liebeserklärung an das Abenteuer einer Langzeitbeziehung. Ein Buch, das einem einen Abend lang lesend und dann mit Nachhall zu wärmen weiss, ein kleines Geschenk!

Dorothy Gallagher wurde 1935 als Tochter russisch-jüdischer Emigranten in New York geboren. Die Welt ihrer Kindheit in Washington Heights war bunt und wild: Im Wohnzimmer hing ein Porträt von Lenin, den sie für ihren Grossvater hielt. Obwohl ihre Eltern grösste Vorbehalte gegen alles Bourgeoise hatten, wurde die kleine Dorothy für Partys bei Macy’s eingekleidet. Behalten durfte sie die Kleider natürlich nicht, nach der Party wurden sie wieder zurückgebracht. Ihr Studium konnte Gallagher nicht beenden, weil sie vom College geschmissen wurde. Eine ganze Weile schrieb sie Artikel über die Welt der Reichen und Schönen, um sich finanziell über Wasser zu halten, ehe sie schliesslich Redakteurin beim Magazin Redbook wurde und als Journalistin reüssierte. Später machte sie sich selbstständig, schrieb u.a. für die New York Times und Grand Street. Zu ihren Büchern zählen das Memoir Life Stories, Hannah’s Daughters, ein Bericht über eine matrilineale Familie, und All the Right Enemies, die Biographie des italienisch-amerikanischen Anarchisten Carlo Tresca.

Monika Baark, geboren 1968 in Tel Aviv, gehegter Migrationshintergrund, studierte in Heidelberg Anglistik und Kunstgeschichte. Sie lebt in Berlin und im Wendland. Ins Deutsche übertragen hat sie unter anderem Werke von Margaret Atwood, Vendela Vida und Sheila Heti. Die Übersetzung von Dorothy Gallaghers Buch lieferte ihr den erneuten Beweis, dass sich die Menschheit in drei Lager teilt: Hundeliebhaber, Katzenliebhaber – und Hunde- und Katzenliebhaber.

Beitragsbild © Lisa Silvestri

Marijke Schermer «Sozusagen Liebe», Kampa

Auch wenn «Sozusagen Liebe» nie rosa schimmert und ich als Leser in die Wirrungen einer sich auflösenden Familie hineingezogen und gezwungen werde, all den Schmerz, der sich in diesem Roman offenbart, zu begleiten, ist der Roman eine Liebesgeschichte. Darüber was passiert, wenn man sich vergisst!

Definitionen der Grenze zwischen Verliebtheit und Liebe trauen wir uns sehr wohl zu. Aber wo hört Liebe auf und wird zum reinen Arrangement? Was in Liebe beginnt mit Treueschwüren „bis dass der Tod uns scheidet“ und der Unvorstellbarkeit, dass es einmal anders, ganz anders sein könnte, schleicht sich aber allzu leicht in einen Zustand gegenseitiger Abmachungen und zu erfüllender Erwartungen, bis man an einem gewissen Tag, einer Lebensituation oder ganz einfach im trügerischen Gefühl des Erwachens glaubt, etwas versäumt zu haben, auf dem falschen Weg zu sein, die entscheidende Abzweigung verpasst zu haben. Marine Schermer wagt es, genau eine solche Geschichte zu erzählen. Eine Geschichte, die tausendfach passiert, die keine Liebesgeschichte mehr ist, sondern die Geschichte von Verrat, Enttäuschung, tiefen Ängsten und der drohenden Einsicht, während Jahren oder Jahrzehnten das falsche Leben geführt zu haben.

Marijke Schermer «Sozusagen Liebe», aus dem Niederländischen von Hanni Ehlers, 2021, 240 Seiten, CHF 32.90, ISBN 978-3-311-10063-8

Terri und David sind seit fünfundzwanzig Jahren verheiratet. Ein Haus, Kinder und vorgezeichnete Bahnen. Bis sich Terri aus latenter Unzufriedenheit in einen anderen Mann verliebt – oder zumindest mit aller Kraft hingezogen fühlt. Denn Lucas ist so ganz anders als David, sei es im Drang, sich trotz aller Leidenschaft nicht zu binden oder in der Lust, auf dem Spielfeld seiner Leidenschaft alles auszuprobieren, auch mal die Sau rauszulassen. Und weil Terri unter dem permanenten Druck von Erwartungen und Verpflichtungen leidet, ausbrechen will, selbst aus ihrer Mutterrolle, stellt sie Ehemann und halbwüchsige Kinder vor vollendete Tatsachen und beschliesst Trennung und Scheidung. David ist am Boden zerstört, ahnt dass er Signale nicht wahrhaben wollte. Und als Krista, die eben erst die romantische Liebe mit Rafik entdeckt, im versehentlich liegen gelassenen Telefon ihrer Mutter das hemmungslose Hinundher zwischen ihrer Mutter und ihrem Lover zu lesen bekommt, droht auch der Rest von Familie und Zuhause zu zerbrechen.

«Sozusagen Liebe» ist kein Bericht aus dem Kriegsgebiet einer Kampfscheidung. Die Liebe in den beiden ist nicht gelöscht, aber von Bedürfnissen überlagert, die sich mit den tiefen Schichten darunter nicht mehr vereinbaren lassen. Der Roman beschreibt den Vorgang der ausbrechenden Entfremdung, die Trennung von jenem Moment weg, wo es kein Zurück mehr geben kann. Marijke Scherrer ist eine feine Beobachterin, die mit einem analytischen Gespür in Wunden bohrt, bis es weh tut. Aber ihr Drang in Tiefen vorzudringen entspringt nicht dem Bedürfnis des Sezierens, des Entblössens. Terri und David können nicht mehr verstehen. Und Marijke Scherrer will mit ihrem Schreiben jene Mechanismen verstehen, die ablaufen, wenn der Stein, der Fels ins Rollen gebracht wurde, wenn das, was geschieht, nur mehr eine Schneise der Verwüstung hinter sich herzieht.

Dass der Roman beim Schreiben dieser Rezension beim Buchhaus Lüthy-Balmer-Stocker den Verkaufsrang 6978 einnimmt, ist frustrierend – aber vielleicht der Beweis dafür, dass sich Leser:innen nicht gerne in Abgründe ziehen lassen wollen, in Kämpfe, aus denen schlussendlich nur Verlierer:innen resultieren. «Sozusagen Liebe» moralisiert in keinem Satz und doch mahnt einem der Roman, die Liebe nicht als Fundament zu sehen, sondern all das, was man für sie investieren muss, dass sie bleibt.

Lesen!

Marijke Schermer wurde 1975 in Amsterdam geboren, wo sie auch heute noch als Dramatikerin und Autorin lebt. Ihr Roman Unwetter wurde von der Kritik hymnisch gelobt, NRC Handelsblad nannte ihn «einen Roman, der keine Wünsche offen lässt», Trouw setzte noch einen drauf: «Ein explosives Thema, ein überraschender Höhepunkt und zutiefst menschliche Figuren. Marijke Schermer hat den perfekten Roman geschrieben.»

Hanni Ehlers, geb. 1954 in Ostholstein, studierte Niederländisch, Englisch und Spanisch am Institut für Übersetzen und Dolmetschen der Universität Heidelberg und ist die Übersetzerin von u.a. Joke van Leeuwen, Connie Palmen und Leon de Winter.

Beitragsbild © Tessa Posthuma Boer

Christine Fischer «Herz.Kranz.Gefäss», orte

Luise will über ihre Mutter schreiben, nachdem sie schon lange Textschnipsel gesammelt hatte. Jetzt in den Tagen des ersten Lockdowns, als die Mutter im Altenheim allein zu sterben droht. Eine Auseinandersetzung, die immer mehr eine mit ihr selber wird, dem eigenen Muttersein, den vielen kleinen angestauten, nie verarbeiteten Verletzungen, der Endlichkeit und der unstillbaren Sehnsucht nach Nähe.

Eine Erzählung im Corona-Licht, der Corona? Ich habe eigentlich gar keine Lust, solche Bücher zu lesen. Schon gar keinen Corona-Roman, eine Corona-Erzählung. Als ich im Juni die Erzählung „Corona“ von Martin Meyer zugesandt bekam, rutschte sie ungeöffnet, in der Plastikfolie eingeschlossen auf die Beige jener Bücher, die schon nach dem ersten Blick darauf unlesbar wurden. Vielleicht kann ich dereinst Literatur lesen, die sich mit dem Thema auseinandersetzt. Aber solange ein zu grosser Teil der Bevölkerung paralysiert von diesem Thema zu sein scheint, solange sich Menschen förmlich an der Auseinandersetzung aufgeilen und alle Contenance verlieren, Gift und Galle spucken, solange habe ich keinen Bock (Man verzeihe mir die Ausdrucksweise!), mich auch noch in der Welt der Literatur, im Sprachgenuss, meinen Sinnesreisen freiwillig in diese aufgeladenen, explosiven Gefilde zu wagen, in denen man immer mehr und aggressiver dazu gezwungen wird, Partei für eine der beiden Lager zu ergreifen.

„Vielleicht sind es Reisen, die nirgendwo hinführen.“

Christine Fischer «Herz.Kranz.Gefäss», orte Verlag, 2021, 44 Seiten, CHF 28.90. ISBN 978-3-85830-293-9

Aber weil es eine Erzählung von Christine Fischer war und nichts im Titel auf das Virus hinwies, begann ich zu lesen, ausgerechnet an jenem Sonntag, an dem ich ganz direkt an den Auswirkungen des Virus zu leiden hatte. Ich las das Buch, weil es mich auf eine seltsame Weise tröstete. Nicht weil da jemand litt, weil ich mit einem Mal ins grosse Kollektiv der Betroffenen gehörte, sondern weil es Christine Fischer in ihrer Erzählung nicht um das Virus, nicht einmal um die Auswirkungen geht, sondern weil „Herz.Kranz.Gefäss“ ein zärtliches Nachspüren ist. Christine Fischer beschreibt das Augenreiben, das Erwachen, die Aggregatzustände des Bewusstseins, wenn eine greise Mutter langsam entschwindet, wenn sie unsichtbar wird, wenn man sie zu verlieren droht im Wissen darum, dass es unvermeidlich ist. Eine Erzählung über Mutter-Tochter-sein, wenn man selbst schon alt und doch noch immer Tochter oder Sohn einer Mutter ist, wenn einem bewusst wird, dass Versäumnisse nicht mehr nachzuholen sind, wenn der Tod sich unmissverständlich ankündigt.

„Mütter sind das Plasma, das dir in den Adern kreist, denkt Luise. Sie sind die Schwelle an deiner Tür und der Riegel an deinem Fenster.“

Erinnern sie sich, als man während der ersten Corona-Monate von einem neuen Bewusstsein sprach, einer neuen Solidarität? Nichts ist geblieben davon. Mit jeder neuen Welle wird die Stimmung gehässiger. Menschen damals applaudierten den Tapferen in den Spitälern. Das war durchaus ein Zeichen, wenn auch wenig daraus geworden ist. Andere machten auf Balkonen Musik, man kaufte füreinander ein und spürte mit einem Mal, was eigentlich wichtig wäre, worauf man alles verzichten könnte, wie schnell ein Wandel vollziehbar wäre, wie dünn das Eis ist, auf dem wir uns mit schlafwandlerischer Selbstgefälligkeit bewegen. Nichts ist geblieben. Statt dessen keifen die einen, erpressen die andern. Des einen Wort wird des andern Speer!

Christine Fischer erzählt mit spürbarer Betroffenheit, grosser Empathie. Und doch ist ihre Erzählung weit weg von einer Abrechnung, von Stimmungsmache. Luise will verstehen, die Vergangenheit, die Gegenwart und das kleine Fitzelchen Zukunft, das noch bleibt.

Christine Fischer, 1952 in Triengen LU geboren, studierte Logopädie am Heilpädagogischen Institut der Universität Freiburg. Sie wohnt in St.Gallen und war vierzig Jahre lang als Sprachtherapeutin tätig. Veröffentlichung der Bücher «Eisland» (1992), «Lange Zeit» (1994), «Augenstille» (1999), «Solo für vier Stimmen» (2003), «Von Wind und Wellen, Haut und Haar» (2004), «Vögel, die mit Wolken reisen» (2005), «Nachruf auf eine Insel» (2009), «Els» (2014), «Lebzeiten» (2015) und «Der Zweifel, der Jubel, das Staunen» (2017). Ausgezeichnet mit verschiedenen Förder- und Werkpreisen. 

www.christinefischer.ch

Beitragsbild © Carmen Wuest

Anne Weber «Heldinnenepos», Matthes und Seitz

Noch lebt Anne Beaumanoir. 2023 wird sie hundert Jahre alt. Anne Beaumanoir wurde wegen ihres Einsatzes für Juden im besetzten Frankreich nach dem Krieg als „Gerechte unter den Völkern“ ausgezeichnet, eine Auszeichnung, die nur nichtjüdischen Personen für ihren Einsatz ein Denkmal setzen will. Anne Weber erschrieb Anne Beaumanoir ein weiteres, diesmal literarisches Denkmal.

Anne Weber lernte Anne Beaumanoir kennen, sprach mit ihr und erzählte ihr von ihrer Absicht, über ihr Leben ein Buch zu schreiben. Aber wie erzählt man über eine noch lebende «Heldin» ein Buch, das ihre Geschichte erzählen soll, das ganz nahe an der Geschichte bleiben soll, ohne die Handlung mit Fiktionalem aufzublasen? Wie soll man Dialoge gestalten, wenn die Person, über die man schreibt, noch lebt und man sich in der Pflicht fühlt, authentisch zu bleiben? Wie soll man so eine Geschichte schreiben, die nicht blutleer und leblos wirken soll? 

Als der Nationalsozialismus nach Frankreich überschwappte und grosse Teile des Landes mit der Hauptstadt Paris Teil eines Tausendjährigen Reiches werden sollte und die noch nicht einmal zwanzigjährige Anne Beaumanoir Medizin studierte, schlug sich die junge Studentin auf die Seite des Untergrunds, der Résistance und rettete Juden aus eigener Initiative vor dem sicheren Tod. Nach dem Krieg nahm Anne Beaumanoir ihr Medizinstudium wieder auf und ergriff in den 50ern Partei für die nach Unabhängigkeit strebenden Algerier, die sowohl in Frankreich selbst wie in ihrem Herkunftsland unter der Herrschaft Frankreichs zu leiden hatten. Eine Herrschaft, die sich zu oft an jenen Machtmitteln vergriff, gegen die sich die junge Anne Beaumanoir im besetzten Frankreich zur Wehr setzte. Es muss ein tief verwurzeltes Gerechtigkeitsempfinden gewesen sein, dass es der Medizinerin unmöglich machte, das an den Algeriern verübte Unrecht hinzunehmen. Zusammen mit ihrem Mann beteiligte sie sich an Geldbeschaffungsaktionen für den Algerischen Widerstand (FLN), wurde verraten, festgenommen, schwanger eingesperrt und zu zehn Jahren Haft verurteilt. Anne Beaumanoir allerdings entzog sich der Haft spektakulär, schlug sich allein bis nach Algerien durch und beteiligte sich dort nach der Unabhängigkeit am Aufbau eines funktionierenden Gesundheitswesens. Nach dem Putsch der damals noch durchaus liberalen Regierung floh Anne Beaumanoir in die Schweiz, wo sie in einer Klink als Neurophysiologin bis zu ihrer Pensionierung arbeitete. Bis in die Gegenwart engagierte sie sich gegen Faschismus und Rassismus, hielt Vorträge und besuchte Schulen. 

Anne Weber «Annette, ein Heldinnenepos», Matthes & Seitz, 2020, 208 Seiten, CHF 29.90, ISBN 978-3-95757-845-7

Während des 2. Weltkriegs war Anne Beaumanoir auf der Seite jener, die man nach dem Krieg zu Helden erklärte. Mit Recht. Ihr Kampf an der Seite der FLN, die sich bis heute als treibende Kraft in Algerien aber alles andere als liberal zeigt und zu einer korrupten Einparteienregierung mit Unterstützung des Militärs wurde, bekommt aus heutiger Sicht ein ganz anderes Licht. Was als Unabhängigkeitskampf gegen eine Kolonialmacht begann, kochte zu einem zähen Machtapparat ein, der sich weit von dem entfernte, was einst das Ziel gewesen war: ein liberaler, demokratisch funktionierender Staat.

Anne Beaumanoir folgte ihrer inneren Stimme, ob als Mitglied der Résistance, als Mitstreiterin im Algerienkrieg oder als Ärztin in einer Klinik. Mag sein, dass der Begriff einer Heldin heute kein unproblematischer mehr ist. Erst recht in einer Gegenwart, in der Film und Kino ein Heldenbild konstruiert, dass so gar nicht dem einer Anne Beaumanoir entspricht. Aber wie kann man heute von so einem Menschen erzählen, von einer Frau, die noch immer lebt, während man schreibt. Anne Beaumanoir ist eine Heldin mit Selbstzweifeln, dauernd zerrissen von Gefühlen zwischen Liebe und Hass. Anne Weber erzählt von einer Frau, die immer wieder Zweifel an ihrem eigenen Leben hegt, für die der Kampf für die Freiheit zu einer Kontinuität eines langen Lebens wurde.

Dass Anne Weber für ihr Erzählen die Form des Held(inn)enepos gewählt hat, zeigt, wie sehr die Form den Inhalt zu verstärken vermag. So sehr Anne Beaumanoirs Leben ein Experiment war, das immer wieder hätte scheitern können, das alles riskierte und dabei Leben schenkte, so sehr ist die Form dieses Buches ein Experiment, haben doch Epen eine Tradition zurück bis Homer. Eine Lebensgeschichte «Heldinnenepos» zu nennen, war ein Wagnis. Eines, das im vergangenen Jahr zu Recht mit dem Deutsch Buchpreis belohnt wurde.

Beitragsbild: Anne Weber nach einer Lesung im Kunstmuseum St. Gallen mit der Leiterin des St. Galler Literaturhauses Wyborada Anya Schutzbach

Daniela Krien «Der Brand», Diogenes

Ein Viertel Jahrhundert verheiratet. Eltern zweier Kinder. „Aus dem Gröbsten raus“. Aber die beiden Stadtmenschen Rahel und Peter ahnen, dass ihre Ehe an einem Wendepunkt angekommen ist. Daniela Krien leuchtet in ein Zerwürfnis. Wenn auch mit schwacher Funzel.

Zwischen Rahel und Peter ist das Brennen erloschen. Nach beinah dreissig Jahren ist ihnen die Leidenschaft abhanden gekommen. Sie ist Psychotherapeutin, er Literaturprofessor, beide fest eingebunden planen sie Ferien in den Bergen, Zeit füreinander. Obwohl das Virus sie zwang, ihre Ferien nicht allzu weit von ihrem Zuhause zu verbringen und sie beide nicht mehr wirklich an Aufwind glauben, erreicht sie kurz vor der Abreise die Mitteilung, dass das Haus in den Bergen abgebrannt sei und man ihnen eine Alternative im Dorf anbieten könne. Kaum abgesagt und den Ärger fürs erste geschluckt, erreicht sie ein weiterer Anruf einer Freundin Rahels Mutter, ihr Mann Viktor habe einen Schlaganfall erlitten und man suche jemanden, der für ein paar Wochen das Haus in der Uckermark hüten würden, während sie ihrem Mann in der Klinik beizustehen versuche.

Daniela Krien «Der Brand», Diogenes, 2021, 272 Seiten, CHF 29.90, ISBN 978-3-257-07048-4

Was am Anfang bloss einzige Alternative ist und ein Liebesdienst an einem Paar, mit dem man sich schon ein Leben lang verbunden fühlt, wird immer mehr zu einem Ort, der Klarheit und Perspektiven in das Leben der beiden Verlorenen bringen könnte. Rahel, geplagt von ihren Stimmungsschwankungen, vermisst Peters Leidenschaft. Auch wenn das noch nie viel war, das grosse Feuerwerk ausgeblieb, erklärt Peter ziemlich trocken, dass er keine Lust mehr verspüre. Die Lunte brennt nicht mehr. Rahel hat zu akzeptieren, mehr noch. Das Auseinanderleben, die immer grösser werdende Distanz, reisst an ihrem Selbstverständnis. Und Peter? Peter will einfach nur weg. Weg aus dem aufgeheizten Universitätsbetrieb. Weg von den Brandherden dort, weil er während einer Vorlesung mit einer non-binären Studierenden ungewollt und tollpatschig in einen Konflikt vor Publikum geriet. Ein Konflikt, dem man ihm aufzwang, für den er schlicht weder Lust noch Kraft hatte, sich zu stellen.

Drei Wochen auf einem Hof in der Uckermark. Mit Pferden, Hühnern und Katzen, einem grossen Haus mit vielen Zimmern, einem Stall und einem Nebengebäude, in dem Viktor, der den Schlaganfall erlitten hatte, schon Jahrzehnte ein Künstleratelier führt. Für Rahel ist der Ort ein Ort der Erinnerungen. Und als sie aus Neugier und Unruhe Schubladen öffnest und in Skizzen und Zeichnungen blättert, erhärtet sich ein Verdacht, den sie als Keim schon ein Leben lang mit sich herumträgt.

Daniela Krien erzählte in einem Interview, dass sie eben solche Ferien in einem Haus machte, weil ein Feuer einen Strich durch Ferienpläne machte. Der Hof dort draussen in der Einsamkeit wird zur Bühne eines Zweipersonenstücks. Während der Mann ganz unerwartet auf diesem Hof seine perfekte Erholung zu finden scheint, beginnt ein anderes Feuer, ein Schwelbrand aus Rahels Vergangenheit, der die Krise der sonst rational Denkenden noch potenziert. Eigentlich ein perfektes Setting über ein Paar, das sich aufgezwungenen Veränderungen stellen muss. Ein Geschichte, die mich eigentlich berührt, zumal es doch reichlich eigenartig ist, dass es noch immer Paare gibt, die sich dem Abenteuer einer Langzeitbeziehung oder gar einer lebenslangen Partnerschaft stellen. Trotzdem hätte ich mir in dieser Geschichte etwas mehr Pfeffer gewünscht. Die Figuren bleiben eigenartig blass. Die Geschichte kocht auf kleinem Feuer. Wo bleibt der innere Kampf um eine Ehe, die ausgelutscht zu sein scheint? Wo jener Kampf der Psychologin mit der eigenen Überforderung? Wo jener mit einer Vergangenheit, die sich immer mehr querstellt? Wo der Brand im Leben des Professors, der doch eigentlich nur seine Arbeit machen will und von gegenwärtigen Verbalauseinandersetzungen zerfressen wird?

„Der Brand“ ist ein schöne Geschichte, leicht zu lesen, gute Unterhaltung. Mehr nicht. Schade.

Daniela Krien, geboren 1975 in Neu-Kaliss, studierte Kulturwissenschaften und Kommunikations- und Medienwissenschaften in Leipzig. Seit 2010 ist sie freie Autorin, 2011 erschien ihr Roman «Irgendwann werden wir uns alles erzählen», der von Emily Atef verfilmt wird. Ihr letzter Roman, «Die Liebe im Ernstfall«, stand monatelang auf der Bestsellerliste und wurde in mehr als 20 Sprachen übersetzt. Daniela Krien lebt mit ihren zwei Töchtern in Leipzig.

Beitragsbild © Maurice Haas / Diogenes

Alem Grabovac «Das achte Kind», Hanser

Alem Grabovac ergründet in seinem Debüt „Das achte Kind“ die Geheimnisse seiner Familien. Seiner Familien? Alem wächst als Sohn einer kroatischen Mutter und eines bosnischen Vaters bei einer deutschen Pflegefamilie auf. Zwischen zwei Welten, zwei Familien, eine Kindheit und Jugend lang mit dem Mythos eines unglücklich verstorbenen Vaters.

Alem Grabovac erzählt die Geschichte von Alem Grabovac, nennt dessen Geburtsmoment auf die Minute genau am 2. Januar 1974 um 17.13 Uhr. Damit gibt Alem Grabovac seinem Roman jene dokumentarische Note, die die Diskussion um Fiktion oder Realität vorwegnimmt. Vielleicht ist das auch Alem Grabovac Art an seine Lebensgeschichten heranzugehen, weil Alem Grabovac Journalist ist, den Fakten verbunden. Ob dem Roman diese Nähe gut tut, lässt sich schwer beurteilen. Zumindest ist die Sprache seines Romans eine ebenso dokumentarische, weniger eine literarische. Alem Grabovac zeichnet auf. Da ist in nur ganz wenigen Szenen, dann wenn über dem Dokumentarischen die Emotion heller zu leuchten beginnt, jenes Momentum erkennbar, wo die Sprache über die Szenerie hinauswächst. Aber das tut dem Buch keinen Abbruch. Vielleicht hätte man „Das achte Kind“ nicht als Roman deklarieren müssen. Aber eine blosse Reportage ist das Buch dann doch bei weitem nicht.

Alem Grabovac «Das achte Kind», hanserblau, 2021, 256 Seiten, CHF 32.90, ISBN 978-3-446-26796-1

Was diese Geschichte eines Mannes, der in zwei Familien gross und sozialisiert wurde, in einer kroatisch-bosnischen Familie, die gegen Armut und versteinerte Strukturen zu kämpfen hatte und einer urdeutschen, die hinter der Rechtschaffenheit den Alp einer braunen Gesinnung zu verbergen hatte, ausmacht, sind seine Gegensätze, die Kontraste, die Grund genug hätten sein können, ein Leben scheitern zu lassen. Alems Mutter Smilja heiratet einen Säufer und Kleinkriminellen. Und weil sie das Geld der Familie einbringen muss, ganztags arbeitet und ihrem Mann den kleinen Sohn nicht anvertrauen kann, gibt sie den kleinen Alem in die Pflegefamilie Behrens, als achtes und letztes Kind. Zuerst nur an den Wochentagen und als die Situation zwischen Smilja und ihrem Mann, Alems Vater immer und immer länger mehr eskaliert, dann nur noch in den langen Sommerferien, wo Alem gegen seinen Willen die Tage an der Seite seiner Mutter durchstehen muss. Männliche Gewalt, Saufexsesse, Lügen und permanente Angst prägen Alems Leben mit seiner Mutter. Aber auch das Leben in der Pflegefamilie leidet unter einem Alp, denn Robert, der Vater, der meistens in seiner Kammer sitzt und für Motorradmagazine schreibt, ist alles andere als zurückhaltend, wenn es darum geht, seiner Sympathie für braune Gesinnung und Verehrung für die nationalsozialistische Vergangenheit Luft zu machen. Was Alem als Knabe bewundert, Roberts Liebe für Panzer, Robert vernarbtes Loch an dessen Schulter, Roberts «glorreiche» Vergangenheit als Soldat bei der Wehrmacht wird mehr zu einer übel riechenden Schlangengrube, der sich Alem immer weniger entziehen kann.

Und doch ist „Das achte Kind“ nicht einfach eine Milieugeschichte nach dem Muster „Ein Mann will nach oben“. So wie die Gesellschaft im ehemaligen Jugoslawien nach dem Tod Titos auseinanderbricht, der einstige Vielvölkerstaat, den Tito zum Musterstaat erklärte und in den Jahren 1991 bis 1999 in einen wirren Krieg versinkt, so kämpfen Familien und Ehen an den steinernen Strukturen einer männerdominierten Gesellschaft. Und so wie sich die Gesellschaft in den 80ern und 90ern in Deutschland das Mäntelchen der Rechtschaffenheit und des immerwährenden Fortschritts jeden Abend zufrieden einbürstet, so tief verborgen sitzt die Lüge und die Unfähigkeit, der Wahrheit ins Gesicht zu schauen. Alem wächst in genau diesen Kräften auf, in Kräften, die die einen zerreissen und den anderen alles abfordern, um nicht unterzugehen.

„Das achte Kind“ ist eine offene und direkte Analyse einer Gegenwart, die allzu leicht verborgen bleibt.

Alem Grabovac, 1974 in Würzburg geboren. Mutter Kroatin. Vater Bosnier. Er hat in München, London und Berlin Soziologie, Politologie und Psychologie studiert und lebt mit seiner Familie in Berlin. Als freier Autor schreibt er unter anderem für Die Zeit, Welt, taz.

 

Beitragsbild © Paula Winkler

Nina Bouraoui «Geiseln», Elster & Salis

Sylvie Meyer ist dreiundfünfzig, Mutter zweier Kinder und erfolgreiche Kaderfrau in einem Industrieunternehmen. Selbstständig und unabhängig. Zumindest äusserlich. Und doch bricht die Welt unter ihr und über ihr zusammen. Sie wird eine Geisel der Gesellschaft, eine Geisel der Wirtschaft, eine Geisel der Gier, eine Geisel ihres eigenen Lebens.

Nina Bouraoui ist im französischen Sprachraum schon lange kein Geheimtipp mehr. Das könnte und sollte sich mit ihrer ersten deutschen Veröffentlichung bei Elster & Salis ändern. Nina Bouraoui schafft mit ihrem Roman etwas, was sich mir als Leser nur selten offenbart. Klar lese ich ein Buch, dass sich kritisch und kämpferisch mit der Situation der Frau in unserer doch so fortschrittlichen Gesellschaft auseinandersetzt. Aber Nina Bouraoui hat sich das zumindest mit diesem Buch nicht auf eine Fahne geschrieben, mit der sie heftig winkt, wenn wieder einmal engagierte Debatten äussert kämpferisch und dezidiert zu noch immer grassierenden Vorurteilen und Ungerechtigkeiten poltern.

Nina Bouraoui schrieb einen Roman über eine ganz normale Frau, eine, die sich nach Kräften bemüht, alles richtig zu machen, die doch eigentlich nur nützlich und von einem ganzen Leben ausgefüllt sein will. Aber man entreisst Sylvie das Leben, drängt sie an einen Ort, in eine Situation, aus der sie sich nur noch mit Gewalt befreien kann, ausgerechnet sie, die von sich selbst sagt: „Ich kenne keine Gewalt.“

Nina Bouraoui «Geiseln», übersetzt von Nathalie Rouanet, Elster & Salis, 2021, 125 Seiten, CHF 28.90, ISBN 978-3-906903-16-3

Es beginnt in der Familie, in der Ehe. Nach fünfundzwanzig Jahren verlässt sie ihr Mann, zieht aus, lässt sie sitzen. Von einem Moment auf den anderen, als wäre er Brötchen holen gegangen. Sie nahm es hin, weinte nicht, kämpfte nicht, obwohl es unfassbar war, dass plötzlich nichts von dem mehr sein sollte, was ein Viertel Jahrhundert lang Fundament war. Sylvie stürzt sich umso mehr in ihre Arbeit, die Stelle, für die sie neben ihren Aufgaben als Ehefrau und Mutter mehr als zwei Jahrzehnte alles gab und nun noch mehr zu geben hatte. Cagex, eine Firma für Plastikprodukte, und ihr Chef Victor Andrieu sind vom Kurs abgekommen. Andrieu umgarnt seine eifrige und gewissenhafte Mitarbeiterin, erklärt sie zu seiner, ihrer Vertrauten, zum langen Arm. Jenem Arm, der aushorchen, kontrollieren, denunzieren und entlassen soll, weil die Firma ausweglos in Schieflache gekommen ist. Während ihr Mann sie verliess und sie sprach- und kommentarlos vor vollendete Tatsachen stellte, bearbeitet sie ihr Chef und nötigt sie immer mehr in eine Situation, aus der sie sich nur mit Gegengewalt befreien kann. Sylvie droht zu ersticken, verliert all ihre Freiheit, durch das Verlassen-werden gleichermassen wie durch die Instrumentalisierung.

Sylvie büsst jede Selbstkontrolle ein. Irgendwann während der Lektüre wird klar, dass der Roman, der lange Monolog, eine Erklärung dafür ist, was sie bis zur Eskalation in ihre missliche Situation brachte, dorthin, wo die Polizei das Szepter übernimmt. Sie, die nie Gewalt wollte.

Nina Bouraoui kreiert in ihrem Roman eine klaustrophobische Stimmung. Eingefügt in den Text sind die Beschwörungs- und Umgarnungstriaden ihres in die Enge getriebenen Chefs, der mit allen Mitteln versucht, den rot blinkenden Sprengknopf an seine Mitarbeiterin weiterzugeben. Keine Entgegnungen von Sylvie, denn sie sind gar nicht gefragt. So wie das, was Sylvie fühlt, im Ehedesaster keine Stimme bekommt. Man verfügt und schafft es schlussendlich, in Sylvie die Täterin zu orten. Ein starkes Stück Literatur! Und alles andere als „bloss“ ein Frauenbuch!

Nina Bouraoui, geboren 1967, ist eine der führenden französischen Schriftstellerinnen ihrer Generation. Sie verbrachte ihre Kindheit und Jugend in Algerien, mit Zwischenstationen in Zürich und Abu Dhabi, und lebt seitdem in Paris. Sie ist Preisträgerin des Prix Renaudot, Prix du Livre Inter und Prix Emmanuel Roblès, und Commandeur de l’ordre des Arts et des Lettres. Ihre Romane sind weltweit in zahlreiche Sprachen übersetzt. «Geiseln» wurde mit dem Prix Anaïs Nin 2020 ausgezeichnet. Nina Bouraoui schrieb «Geiseln» bereits 2016 – noch vor der Bürgerbewegung der Gilets jaunes und vor #MeToo – «als Hommage an die wirtschaftlichen und emotionalen Geiseln, die wir alle sind».

Nathalie Rouanet, 1966 in Frankreich geboren, lebt und arbeitet seit 1990 in Klosterneuburg bei Wien – von 2010 bis 2013 in Istanbul. Selbstständige Übersetzerin (Belletristik, Kunst, Film, Theater, Lyrik) und Autorin (Romane, Erzählungen, Kurzprosa, Aufsätze zur Literatur- und Übersetzungswissenschaft, Poetry Slam Texte). Sie ist Aktivmitglied des Vereins Bieler Gespräche.

Beitragsbild © Patrice Normand

Doris Knecht «Die Nachricht», Hanser

Es ist vier Jahre her, seitdem Ruth ihren Mann Ludwig durch einen tragischen Skiunfall verloren hatte. Aber statt sich auf ein neues Leben zu fokussieren, erschüttern anonyme Nachrichten ihr Leben. Obwohl sie sich mit aller Kraft gegen den Kontrollverlust stemmt, werden aus den hereintropfenden Nachrichten überhohe Wellen, die ihr Leben zu kippen drohen.

Mit der Wasserfolter können Menschen durch stetig auf den Körper tropfendes Wasser um den Verstand gebracht werden. Jeder einzelne Tropfen ist ein Nichts. Das permanente Tropfen allerdings reisst am Verstand.

Ruth hat sich nach dem Tod ihres Mannes in ihrem neuen Leben eingerichtet, zumindest einigermassen, denn der Schmerz sitzt noch immer tief. Sie lebt in einem kleinen Holzhaus, das sie einst zusammen mit Ludwig baute. Zwei ihrer drei Kinder führen ein eigens Leben. Und der Jüngste, auch wenn er in der Schule nicht sein Möglichstes tut, schickt sich immer deutlicher an, ein eigenes Leben führen zu wollen. Ruth ist erfolgreich in ihrer Arbeit, zufrieden mit ihrem „Alleinsein“, an dem sie gar nichts ändern will. Eine Ruhe, die nicht leicht zu erreichen war, denn Ruth hatte nach dem Tod ihres Mannes feststellen müssen, dass Ludwig nicht der war, für den sie ihn ein Leben lang hielt, zumindest was seine Treue betraf. Ludwig führte ein Nebenleben, von dem Ruth erst beim Aufräumen seiner Hinterlassenschaft erfahren musste. Ein Stachel, der ihr nicht einfach nur Schmerzen bereitete. Er verunmöglichte jene Trauer, mit der sie sich gerne von ihrem Mann verabschiedet hätte.

Doris Knecht «Die Nachricht», Hanser Berlin, 2021, 256 Seiten, CHF 32.90, ISBN 978-3-446-27103-6

Und als mit einem Mal, wie aus dem Nichts, Nachrichten über Social Media in ihr Dasein eindringen, Nachrichteten, die von Mal zu Mal verletzender und zerstörerischer werden, Nachrichten, die nicht nur an sie gelangen, sondern an alle, die zu ihrem Umfeld gehören, bis zu ihren Arbeitgebern, bröckeln all jene Sicherheiten, auf denen Ruth ihr neues Leben einzurichten versuchte. Es sind Nachrichten, die nicht nur sie und ihren verstorbenen Mann beschmutzen. Es sind Nachrichten, die sich in der Brutalität ihrer Sprache ins Unterbewusstsein schleichen und dort zu steuern beginnen – nicht nur bei ihr, sondern aus Ruths Sicht auch in den Leben um sie herum, hinein bis in ihre Arbeit. Ein zerstörerisches Tropfen, gepaart mit der dauernden Frage, wer der Verfasser oder die Verfasserin dieser Nachrichten sein könnte. Bis hin zu Verdächtigungen, die sie an sich selbst zweifeln lassen, die ihre Familie, ihre Freundschaften belasten. Nachrichten, die zu einem immerwährenden Alp werden.

Wie wenig braucht es, dass ein Leben in Schieflache gerät. Wie verletzend können Wörter und Sätze sein, selbst wenn sie mit der Wahrheit rein gar nichts zu tun haben. Wie einsam kann man sich fühlen, wenn man sich nicht zu wehren weiss, wenn sich Dinge in ein Leben einmischen, die nicht zu beeinflussen sind. So sehr wie Krebs Ruths Freund von innen zerfrisst, sich unaufhaltsam an seine Zerstörung macht, so kann das zersetzende Gift von Unwahrheit und Beleidigung das Denken und Handeln zerfressen. „Die Nachricht“ offenbart diesen Zersetzungsprozess, den Sog, den diese Zersetzung auszulösen vermag. Ebenso eindrücklich beschreibt Doris Knecht unterschwellig aber auch jene Kraft, mit der man sich diesem Zersetzungsprozess entgegenstellen kann, auch wenn er damit nicht aufgehalten werden kann.

Klar liest man den Roman mit der Spannung, wer wohl der Verfasser dieser Nachrichten ist und was  die Gründe dafür sein könnten. Aber die eigentliche Spannung des Romans liegt ganz woanders: Ich will wissen, wie es Ruth schafft. Ich will sie siegen sehen. Ich will, dass sie ihr Leben zurück bekommt. „Die Nachricht“ dringt tief ein. Nicht nur, weil es Doris Knecht meisterlich versteht, die Spannung hochzuhalten, sondern weil ich weiss, dass das, was Ruth geschieht, auch mir passieren könnte, jetzt.

Interview

Obwohl es für Ruth immer klarer wird, wer der Verfasser dieser „Nachrichten“ sein könnte, bleibt jene Person eigentlich ein Gespenst, unfassbar. So wie anonyme Verfasser:innen von irgendwelchen Texten immer Geister sind. Wir leben im Zeitalter der Geister. Inhalte sind wichtiger als ihre Verifizierung, als ihre Verfasser:innen. Alles wird kommentiert, behauptet, erfunden. Gleichzeitig steigt das Bewusstsein, dass Wahrheit subjektive Wahrnehmung ist. Ruth ist diesem Geist lange hilflos ausgeliefert, eine ganze Welt den Fake-News. Müssen wir kapitulieren?
Es ist jedenfalls sehr schwer, sich dagegen zur Wehr zu setzen. Bzw: sich gegen einen unfassbaren, anonymen Stalker zu wehren, braucht Fokussierung und eine Menge Energie, die einem dann woanders fehlt. Und meistens bringt es am Ende nichts, man verliert also. Ruth wird das bald klar, und sie wählt einen anderen Weg: Sich zu stärken gegen solche Angriffe, weniger verwundbar zu werden, das abperlen zu lassen. Allerdings: Das führt auch dazu, dass viele Frauen verstummen und sich unsichtbar machen, um nicht zum Ziel von Angriffen zu werden.

Warum schaffen wir das „einfache Leben“ nicht mehr? Ruth will doch eigentlich nur den Frieden mit sich selbst und der Welt. Ist unser Leben derart kompliziert geworden, dass wir uns nicht mehr auf die wesentlichen Dinge konzentrieren können?
Es wird immer schwieriger, sich nicht ablenken zu lassen, wenn man nicht auf die Bequemlichkeiten des Internets, der digitalen Kommunikation, der sozialen Medien verzichten möchte. Da tun sich halt Welten auf, auch Wissens-Welten, in denen man sich gut verlieren kann. Das Problem ist: Wenn man darauf verzichtet, wird das Leben vielleicht ruhiger, konzentrierter, fokussierter, aber einfacher wird es nicht.

Es gibt in ihrem Buch, das eigentlich auch ein Liebesroman ist und ein Roman einer „Ernüchterung“ ist, ein ganzes Kapitel, dass sich wie eine Liebeserklärung liest. „Ludwig war ein kräftiger Mann…“ (S. 69). Ein Text wie eine Hymne. Ein Kapitel, dass deutlich macht, wie tief der Stachel der Enttäuschung sitzt und wie sehr sich das Ganze „entzündet“ hat. Pumpen wir Begriffe wie „Liebe“, „Familie“, „Ehe“ nicht zu sehr auf?
Unsere Gesellschaft macht Liebesglück, eine gelungene, funktionierende Ehe oder Beziehung, ein harmonisches Familienidyll leider noch immer zu einem Massstab eines erfolgreichen Daseins. Das schafft einen Erwartungsdruck auf Frauen und Männer, die für sich andere Existenzformen gewählt haben, der sich mitunter schwer abschütteln lässt.

Ruth steigert sich in das Rätsel dieser Nachrichten hinein. Das Fundament ihres Lebens scheint zu zerbröseln. Der Grat über den menschlichen Abgründen wird immer schmaler. Gibt Ihnen das Schreiben Halt, weil es ordnet? 
Tatsächlich ja. Man beschäftigt sich ja jahrelang mit dem Thema und den Figuren eines Romans, und mit diesem Thema habe ich mich besonders lange auseinandergesetzt. Daraus eine Geschichte zu machen, sie aufzuschreiben, sie für andere fühlbar zu machen, schafft ein gute Distanz, aus der sich auch komplizierte, schwierige Dinge klarer sehen lassen.

Am Schluss ihres Romans könnte das Wörtchen „Ende“ nicht stehen. Ich mag Geschichten, die nicht „zu Ende“ erzählt sind, weil keine Geschichte ein Ende hat, meist nicht einmal einen Anfang. Hätte die Geschichte im Prozess des Schreibens auch einen anderen Verlauf nehmen können oder war der Plan von Beginn weg festgelegt?
Ganz zu Beginn habe ich noch die Möglichkeit eines Rache-Exzesses erwogen, aus dem das Opfer als strahlende Siegerin hervorgeht. Mir war dann gleich klar, wie utopisch und märchenhaft das wäre. Ich wollte eine realistische Geschichte mit einem realistischen Ausgang erzählen, und das Match Feminismus gegen Patriarchat wird halt leider so gut wie immer vom Patriarchat gewonnen. Viele finden das Ende unbefriedigend, aber genau so ist das Leben nun mal.

Doris Knecht laust aus «Die Nachricht» am 5. November um 19.30 Uhr in der Kantonsbibliothek Frauenfeld. Reservationen bei der Organisatorin Marianne Sax (saxbooks.ch).

Doris Knecht, geboren in Vorarlberg, ist Kolumnistin (u.a. beim Falter und den Vorarlberger Nachrichten) und Schriftstellerin. Ihr erster Roman, Gruber geht (2011), war für den Deutschen Buchpreis nominiert und wurde fürs Kino verfilmt. Zuletzt erschienen «Besser» (2013), «Wald» (2015), «Alles über Beziehungen» (2017) und «weg» (2019). Sie erhielt den Literaturpreis der Stiftung Ravensburger und den Buchpreis der Wiener Wirtschaft. Doris Knecht lebt mit Familie und Freunden in Wien und im Waldviertel.
 
 
Beitragsbild © Heribert Corn

Michael Hugentobler «Feuerland» #SchweizerBuchpreis 21/9

Was passiert, wenn sich Wissenschaftler:innen als Hüter eines oder des Grals verstehen? Was passiert mit ihnen, wenn sie feststellen müssen, dass ihre Gegenwart den Schatz, von dem sie wissen, nicht zu schützen weiss? Ein Buch wird zum letzten Tor einer untergehenden Welt. Michael Hugentobler nimmt mich mit und gewährt mir einen Blick auf das sich schliessende Tor.

Michael Hugentobler war 13 Jahre auf einer Weltreise unterwegs, auch in Südamerika, in Patagonien, in Feuerland, jenem Gebiet am südlichsten Zipfel des Kontinents, das man bei seiner Entdeckung für unbesiedelt hielt, das aber von nomadisch lebenden Indianern bewohnt wurde, unter andern auch von den Yámana. Aber von diesen Völkern ist fast nichts geblieben. Kolonialisierung, eingeschleppte Krankheiten, Goldrausch und Christianisierungsversuche setzten den Völkern derart zu, dass von den ehemaligen Wassernomaden fast nichts mehr geblieben ist.

«Wörterbuch und Grammatik der Sprache der Yámana», auf dessen Umschlag man den Namen des Verfassers Thomas Biedres zu löschen versuchte.
Foto © Michael Hugentobler

Auf Michael Hugentoblers Reise durch dieses Land erfuhr er von der Geschichte eines argentinisch-britischen Missionars und seiner Leidenschaft für die Sprache der Yámana. Thomas Bridges wurde Zeit seines Lebens ein akribischer Erforscher der Sprache jener Ureinwohner und verfasste über Jahrzehnte ein Wörterbuch, das nicht einfach übersetzte, sondern die Wörter der Yámana in den Zusammenhang ihres Daseins schrieb. So wurde aus der Wörtersammlung das eigentliche Vermächtnis eines Volkes, dass zu Beginn des 20. Jahrhunderts zu verschwinden drohte. Thomas Bridges war aber nicht einfach ein fanatischer Sammler. Dieser Missionar wurde zum letzten Kämpfer dieses Volkes, wenn auch immer unter kolonialistischen Vorzeichen. Er gewann vom damaligen argentinischen Staatspräsidenten gar Landrechte, die er für die überlebenden Yámana-Indianer sichern wollte. Sein Wörterbuch, in dem er auf über 1000 Seiten mehr als 32000 Yámana-Wörter sammelte, trug er zeitlebens mit sich herum. Wie einen Schatz.

Michael Hugentobler «Feuerland», dtv, 2021, 224 Seiten, CHF 30.90, ISBN 978-3-423-28269-7

Schon gezeichnet von einer Krankheit starb Thomas Bridges auf einer seiner Reisen. Sein Wörterbuch gelangte in die Hände eines „erfolglosen Polarforschers“, der mit dem Buch seine Chance witterte, in den Olymp der Unsterblichen aufgenommen zu werden. Aber das Buch schien im Besitz dieses Mannes kein Glück zu bringen, bis es 1912 in London in die Hände des deutschen Völkerkundlers Ferdinand Hestermann fiel, dem sofort klar war, welchen Schatz er durch einen puren Zufall zu fassen bekam.

Ferdinand Hestermann spürte genau, dass in den Wirren des Krieges und zwei Jahrzehnte später in den Schatten des sich anbahnenden Tausendjährigen Reichs all jene Schriften und Bücher in Gefahr sind, die nicht dem wachsenden völkischen Bewusstsein des Nazis entsprachen. So wie damals Thomas Bridges machte sich Ferdinand Hestermann auf in einen Kampf. Diesmal ganz und gar nicht für ein Volk, schon gar nicht für das deutsche, sondern für die Wissenschaft, das Wissen, die Schätze, die sich über die Jahrhunderte in Bibliotheken ansammelten, die sich die Nationalsozialisten aber einverleiben wollten, um sie, wenn nötig, zu vernichten, so wie alles, dass ihnen nicht dienlich oder entartet erschien.

Michael Hugentobler erzählt die Geschichte nicht einfach chronologisch. Es stellt auch nicht den Anspruch, Historie nachzuerzählen, auch wenn ich als Leser bei meinen Verifikationen auf überraschend viele Fakten stosse. Es sind die beiden Männer, Thomas Bridges und Ferdinand Hestermann, die nicht nur aus heeren Gefühlen und purer Nächstenliebe zu Hütern eines Schatzes werden. Michael Hugentobler verwebt die beiden Männer und ihre Besessenheit miteinander. Er führt vor Augen, wie gross die Gefahr wird, wenn Wissen instrumentalisiert werden soll, sei es zum eigenen Nutzen oder im Dienst einer Ideologie. Was den Roman von Michael Hugentobler aber zu einem wirklichen Lesevergnügen macht, ist sein Detailreichtum, seine Buntheit, die kräftigen Farben, mit denen der Schriftsteller malt. Ich staune darüber, was der Autor alles mit in seinen Roman einpackt. Als hätte er sich nicht bloss unmittelbar an der Seite seiner beiden Protagonisten bewegt, als hätte er den Geist jenes Buches in jenen Augenblicken, als er es bei einem Besuch in der British Library in Händen hielt, in sich aufgesogen.

tūwunaiella — eine Wutrede beenden; zu bellen aufhören, linganāna — sich auf eine Wiese benehmen, dass sich die andere Person verpflichtet fühlt, ein Geschenk zu überreichen, māmihlāpinatapai — einander tief in die Augen schauen, wobei beide hoffen, der andere würde einen Vorschlag unterbreiten, der allgemein erwünscht ist, aber bislang noch nicht ausgesprochen wurde…

Michael Hugentobler offenbart das Geheimnis, wenn man für einen kurzen Augenblick im Licht einer untergehenden Sonne, einer verschwindenden Welt steht.

Mein Fazit: Der Roman hätte den Preis verdient. Der Autor hätte den Preis verdient!

Michael Hugentobler wurde 1975 in Zürich geboren. Nach dem Abschluss der Schule in Amerika und in der Schweiz arbeitete er zunächst als Postbote und ging auf eine 13 Jahre währende Weltreise. Heute arbeitet er als freischaffender Journalist für verschiedene Zeitungen und Magazine, etwa ›Neue Zürcher Zeitung‹, ›Die Zeit‹, ›Tages-Anzeiger‹ und ›Das Magazin‹. Er lebt mit seiner Familie in Aarau in der Schweiz. Sein Debütroman «Louis oder Der Ritt auf der Schildkröte» erschien 2018.

«Der alte Mann im Nebel» auf der Plattform Gegenzauber

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