Alena Mornštajnová «Stille Jahre», Wieser

Selbst wenn man seine Vergangenheit zu leugnen versucht, eine schwere Decke über alles legt, was einst Leben ausmachte, ein tiefes Loch gräbt und alles verschwinden lässt – Vergangenheit, Geschichte lässt sich nicht leugnen. Sie wirkt, auch im Verborgenen. Alena Mornštajnová schrieb mit „Stille Jahre“ nicht nur eine mitreissende Familiengeschichte, sondern die Geschichte einer verlorenen Ideologie.

Bohdana wächst in der Tschechoslowakei auf, als Mädchen noch vor dem Einmarsch der Sowjets 1968 und als junge Frau in der Tschechoslowakei danach. Die Geschehnisse 1968, zuerst der Prager Frühling, die aufkeimende Hoffnung, eine demokratische Bewegung und im Sommer der Einmarsch der Truppen des Warschauer Paktes, werden zu einem Wendepunkt. Nicht nur in der Geschichte jenes Staates, der 1992 in zwei Staaten, in die Tschechei und die Slowakei aufgelöst wurde, sondern in der Geschichte vieler Familien, vieler Menschen, die sich nach dem Krieg ganz den sozialistischen Idealen verschrieben und mit Hilfe des grossen sowjetischen Bruderstaates hofften, eine neue Gesellschaftsordnung, ein neues Menschenbild mitgestalten zu können.

«Schweigen hat den Vorteil, dass einem niemand beim Lügen erwischen kann und jeder sich das Schweigen auf seine Weise auslegt.»

Alena Mornštajnová «Stille Jahre», aus dem Tschechischen von Raija Hauck, Wieser, 2021, 306 Seiten, CHF 31.90, ISBN 978-3-99029-466-6

Svatopluk kommt 1935 zur Welt, erlebt die Schrecken des Krieges, das Sterben bis in seine Familie hinein. Als der Krieg 1945 für beendet erklärt wird, ist er das nur auf dem politischen Parkett, aber noch lange nicht in den Köpfen und Herzen all jener, die Blut und Leben verloren haben. Schon als junger Mann gibt es für Svatopluk keine Alternative, als sich ganz dem Aufbau eines neuen Staates zu verschreiben, alles daran zu setzen, dass eine neue Ordnung aus den Trümmern des Krieges entsteht und den Menschen zu einem wertvollen Dasein verhilft. Dazu gehört auch eine eigene Familie, selbst gegen den Grimm und Groll seines verbitterten Vaters, selbst gegen die beengten und ärmlichen Verhältnisse, aus denen er selbst auszubrechen versucht. Svatopluk lernt Eva kennen, eine Frau aus aristokratischer Herkunft, heiratet sie gegen den Willen seiner Familie. Und während Svatopluk in den Hierarchien des Staates als junge Kraft steil aufsteigt, stellt sich auch das Familienglück mit der Tochter Blanka ein. Doch Svatopluks Glück beginnt zu bröckeln, zum einen in der Familie, zum andern in den politischen Verhältnissen, die mit der immer stärker werdenden Öffnung dem kapitalistischen Westen gegenüber so gar nicht mehr seinem Verständnis einer sozialistischen Ordnung entsprechen. Auch an seiner Tochter ist der Wandel sichtbar. Und dann, in einer Nacht, als Blanka mit ihrer Band, in der sie singt, unterwegs ist, betrunken einen Fahrradfahrer mit dem von ihrem Vater geliehenen Auto umfährt, den Verletzten aus lauter Verzweiflung mit ihren Gefährten in ein Gestrüpp am Strassenrand zieht und liegen lässt, kippt das Glück endgültig. Svatopluk lässt sich von seiner verzweifelten Tochter hinreissen, ihr zu helfen, sich in den Westen abzusetzen. Die Flucht gelingt, aber mit ihr beginnt der Abstieg Svatopluks, seine Ächtung und sein langer Zorn nach der Einsicht, von seiner Tochter missbraucht worden zu sein.

Alena Mornštajnová erzählt chronologisch, aber nicht nur aus der Sicht Svatopluks. 20 Jahre nach Svatopluks Heirat, weggezogen aus Prag, ein neues Leben begonnen, wird Eva noch einmal Mutter. Mit dem Versprechen, nichts und niemandem vom alten Leben preiszugeben. Alena Mornštajnovás zweiter Erzählsprung ist jener von Bohdana, Svatopluks zweiter Tochter, die aber erst als junge Frau aus erwachender Neugier zu ahnen beginnt, dass es in ihrer Familie unausgesprochene Geheimnisse gibt. Alena Mornštajnová erzählt in wechselnder Folge Vater- und Tochterkapitel. Von einem Mann, der sein Herz an ein Ideal verliert, den Glauben an Vater Staat und Mutter Familie. Von einer jungen Frau, die zu erklären versucht, warum sie von ihrem eigenen Vater wie Luft behandelt wird, warum die Mutter ihren Vater verlässt, als sie selbst eine Familie gründet, warum dieses eine Klavier im Haus steht, auf dem nie jemand spielt.

„Stille Jahre“ ist berührend nah geschrieben, von vereinnahmender Intensität, sowohl erzählerisch wie sprachlich. Alena Mornštajnová spannt einen Bogen durch ein halbes Jahrhundert, konstruiert geschickt, leuchtet das Geschehen von innen aus, bis es mir als Leser wie Schuppen von den Augen fällt. Und ganz beiläufig erfahre ich ein Stück Geschichte aus einer mir wenig vertrauten Perspektive. Ich fühle mich in ein Leben, einen Mann, der eigentlich stets nur das eine wollte; das Gute, das Wahre, das Kluge, der aber erfahren muss, wie Ideologie gewordener Glaube brechen kann, wenn der Wind dreht.

Vielleicht ist es eines der stärksten Bücher, die ich in den letzten Monaten gelesen habe, ein Buch, das noch lange nachhallen wird.

Alena Mornštajnová, geboren 1963, ist eine tschechische Schriftstellerin und Übersetzerin. Sie schrieb vier Romane und ein Kinderbuch. Alena Mornštajnová studierte Englisch und Tschechisch an der Universität Ostrava. Ihr Debüt gab sie 2013 mit dem Roman «Slepá mapa» (Blinde Karte) und 2015 erschien ihr zweiter Roman «Hotýlek» (Das kleine Hotel). Vor allem auf Grund ihres dritten Romans, «Hana», zählt Alena Mornštajnová seit 2017 zu den beliebtesten zeitgenössischen tschechischen Schriftstellern. Ihr Roman «Hana» wurde unter anderem mit dem Tschechischen Buchpreis 2018 ausgezeichnet und auf der Website Databáze knih (Datenbank der Bücher) zum Buch des Jahres 2017 gekürt.

Raija Hauck, geboren 1962, Slawistik-Studium in St. Petersburg und Brno. Promotion an der Universität Greifswald und dort bis 2019 Lektorin für Tschechisch und Russisch. Liebt das Saarland und lebt als freie Übersetzerin in Saarbrücken.