Endlich macht Thierry mit Vanessa und ihrer gemeinsamen Tochter Evie Urlaub. Sogar die Katze Pizza ist dabei. Ein Urlaub ohne Pizza geht nicht. Ein Urlaub in einem Luxusressort in den Bergen. Ein Urlaub, der sich letztlich aber gar nicht als das entpuppt, was er zuerst zu sein scheint.
Thierry arbeitet mit seinem Chef und Freund an einem Film. „Theorie von allem“. Ein Film, der sich mit der Formel des Lebens beschäftigt, der klären soll. Selbst jetzt in seinen Familienferien kann er nicht von dem lassen, was ihn schon seit langem einnimmt und beschäftigt, einlullt und nicht mehr loslässt. Ob wir die Dinge in Einklang bringen können. Warum scheint alles im Chaos zu enden? Wann beginnt das Chaos? Thierry hat seinen Computer nicht zuhause gelassen, auch sein Mobilphone nicht. Es meldet sich immer wieder.
„Ich habe in diesem Augenblick das Gefühl, dass ich auf etwas zuhalte, dem ich nicht ausweichen kann.“
Michèle Minelli «Wie es endet», lectorbooks, 2024, 144 Seiten, CHF. ca. 32.90, ISBN 978-3-906913-46-9
Während sich in dem mit allem Luxus ausgestatteten Chalet in den verschneiten Bergen, mit beeindruckender Aussicht, auch nachts auf einen kolossalen Sternenhimmel, mit einer Jurte und einem Jakuzzi vor dem Haus, überfreundlichen jungen Frauen an der Rezeption im Hotel, die jede Konversation mit der Frage, ob sie noch etwas Gutes für sie tun können, anfangen oder enden, langsam etwas wie Alltag zu entfalten beginnt, häufen sich Zeichen, dass etwas zu kippen droht. Thierry weiss, wie brüchig sein Leben geworden ist, wie nahe die Familie am Auseinanderbrechen war und ist. Erst recht, als man ihm mitteilt, dass eine drohende Lawine ganz in der Nähe nicht ungefährlich sein könnte. Und noch viel mehr, als die Katze in einem Moment der Unaufmerksamkeit durch ein Fenster nach draussen entwischt.
«Ich rede weiter von Dingen, die nicht mehr zueinanderfinden, die auseinanderbröseln, expandieren.»
Äussere Anzeichen der Bedrohung. Ein Mobilphone, dass sich dauernd meldet, Telefonate, die man an der Rezeption ausrichtet und ihn um Rückruf bittet. Und eine Ehefrau mit Kind, die sich zwar im gleichen Gebäude befinden, aber abgekoppelt von ihm die Stunden verbringen. Vanessa ist erfolgreiche Schauspielerin. Während sie mit ihrer Tochter den Urlaub zu geniessen scheint, verschiebt sich Thierrys Wahrnehmung immer mehr in einen Zustand der Entrücktheit. Thierry versucht alles, um die Kontrolle über ein Leben in zunehmender Schieflage zurückzugewinnen.
„Wie es endet“ überrascht mit einer subtilen Dramaturgie. Was im ersten Teil des Romans wie ein Rettungsversuch eines Mannes aussieht, der nun endlich eingesehen hat, dass das Leben nicht nur aus Arbeit besteht, dass eine Familie Zeit und Zuwendung braucht, Inseln, die nur ihnen gehören, erfahre ich als Leser, wie sich das Schlingern des Schiffes immer mehr aus Thierrys Wahrnehmung entfernt. Je länger ich lese, umso mehr erahne und erfahre ich, dass die drohende Katastrophe längst Realität geworden ist. Dass sie Lawine draussen Thierrys klaren Blick längst zugedeckt hat. Kursiv gedruckte Sätze zerschlagen scheinbare Realität, lassen erahnen, dass Thierrys Welt längst bloss noch ein verzweifelter Versuch ist, Normalität zu spielen.
«Menschen dringen in die Herzen von Atomen ein und erforschen die Tiefen des Weltalls, aber ihre eigenen Herzen bleiben ihnen verschlossen.»
„Wie es endet“ ist das Psychodrama eines Verlorenen. Ein Mann, der sich aus eigener Kraft längst nicht mehr zu retten weiss. Ein Mann, dessen Wahrnehmung nach seinen Maximen funktioniert, der alles auszublenden weiss, was nicht in sein Selbstverständnis passt. „Wie es endet“ taugt nicht als Strandlektüre. Nicht einmal als In-den-Schlaf-Begleitung. Man spürt, dass die Schriftstellerin weiss, wie filmisches Erzählen funktioniert. „Wie es endet“ ist ein Psychotripp, ein Alp. – Und nicht zuletzt ziemlich singulär in der Literaturlandschaft! Ein Roman mit grossen amerikanischen Paten!
Michèle Minelli, geboren 1968. Schriftstellerin und Filmschaffende. Koordinatorin der Franz-Edelmaier-Residenz für Literatur und Menschenrechte in Meran, Vorstandsmitglied Deutschschweizer PEN-Zentrum. Seit 2000 sechs Sachbücher und sieben Romane mit Übersetzungen ins Französische, Chinesische und Albanische. Die Arbeit an »Kapitulation« wurde mit einem Werkbeitrag der Kulturstiftung des Kantons Thurgau gefördert. Minelli lebt und arbeitet auf dem Iselisberg.
Jaap hat alles erreicht. Die Welt liegt ihm zu Füssen. Er ist ein Abräumer, ein Sieger. Bis seine Tochter mit ihrem Freund auf ihrer ersten grossen Reise spurlos verschwindet. Bis Jaap erfahren muss, dass das Schicksal sich einen Deut um die Erwartungen eines Siegers kümmert. Bis ein Hund ihm den Weg zeigt.
Jaap Hollander ist ein gefragter Gehirnchirurg, wahrscheinlich einer der besten in seinem Fach. Aber so aussergewöhnlich sein Talent mit dem Skalpell, so hölzern und wenig empathisch seine Beziehungen. Frauen sind Objekte der Selbstbestätigung, Projektionsflächen seiner Libido. Kein Wunder ist es dann eine Krankenschwester, die Mutter ihrer gemeinsamen Tochter wird, eine Beziehung, die allerdings den Belastungen einer innerfamiliären Katastrophe nicht standhält. Ihre gemeinsame Tochter Lea, auf ihrer ersten grossen Reise allein mit ihrem Freund Joshua, verschwindet spurlos in Israel, weit weg von zuhause, in der Wüste Negev. Obwohl eine grossangelegte Suchaktion gestartet wird, bleibt diese erfolglos.
Erst recht nach seiner Pensionierung fährt Jaap jedes Jahr um die immer gleiche Zeit in die Wüste Negev zu dem einen Stein, auf dem er die beiden Namen der beiden spurlos Verschwundenen eingravieren liess. In das immer gleiche Hotel, auf den immer gleichen Strassen zu dem Ort, an dem sich die Spuren seiner einzigen Tochter verloren. Sein Schmerz um diesen Verlust ist ihm das einzige, das geblieben ist, das einzige, was zählt. Auch wenn er weiss, dass diese Endlosschlaufe auch das war, was seine Frau damals, die Mutter seiner Tochter, aus dem Haus vertrieb. Sie ist nicht geblieben. Stellvertretend dafür die grosse leere Villa in Holland, die trotz aller Umbauarbeiten nie zu einem Zuhause wird.
Leon de Winter «Stadt der Hunde», Diogenes, 2025, aus dem Niederländischen von Stefanie Schäfer, 272 Seiten, CHF ca. 35.00, ISBN 978-3-257-07281-5
Bei einem dieser jährlich wiederkehrenden Ausflüge in die Wüste Negev kommt es zur Begegnung mit einem Hund, einem Wesen, das ihn aus einer anderen Welt zu betrachten scheint. Gleichzeitig, mittlerweile sind es zehn Jahre seit dem Verschwinden seiner Tochter und ihrem Freund, erreicht ihn die Bitte des israelischen Ministerpräsidenten persönlich, mit ihm Kontakt aufzunehmen. Er brauche seine Hilfe. Was will das israelische Staatsoberhaupt von einem pensionierten Gehirnchirurgen? In grösster Geheimhaltung wird ihm mitgeteilt, dass sie einzige Tochter des saudischen Prinzen an einer Missbildung im Gehirn leidet, die jederzeit das noch junge Leben auslöschen kann. Aber weil der saudische Prinz beabsichtigt, seine Tochter dereinst zur ersten weiblichen Nachfolgerin in seinem Land zu machen, eine Revolution von oben, ist Jaap Hollander die einzige Hoffnung, die der Zukunft der jungen Frau und ihres Heimatlandes geblieben ist. Jaap soll operieren, auch wenn die Chancen auf Erfolg verschwindend klein sind.
Selbst wenn die Operation nicht gelingen sollte, würde Jaap so viel Geld verdienen, dass er ein Team von Archäologen damit beauftragen könnte, das noch unerforschte Höhlensystem am Ort des Verschwindens seiner Tochter zu finanzieren, erst recht, würde die Operation gelingen. Es würde eine Chance geben, endlich Klarheit zu schaffen, der einen grossen Frage seines Lebens eine Antwort entgegenzustellen.
Mag sein, dass „Stadt der Hunde“ jenen Leserinnen und Lesern nicht genügt, die wie ich sonst mit dem Bleistift lesen, die auf der Suche sind nach Sätzen, die bleiben, Szenen, die sich einbrennen. Leon de Winter ist ein Geschichtenerzähler. Einer, der sein ganzes Können einzusetzen weiss, wie eine Geschichte gebaut werden muss, dass ich als Leser auf seiner Spur bleibe. Versteckt baut der Meister der Spannung ein, was uns durch die Medien permanent mit Wirklichkeiten konfrontiert; ein Jude im Spannungsfeld zwischen arabischer Tradition und nahöstlicher Filigranität. „Stadt der Hunde“ ist ein Roman über einen Mann, den das Schicksal prügeln muss, um sich dessen bewusst zu werden, was Leben ausmacht. „Stadt der Hunde“ ist ein Roman über einen Mann, der alles erreicht und doch nichts gewonnen hat. Aber auch ein Roman darüber, dass es Wirklichkeiten gibt, die weder mit dem Skalpell wegzuschneiden, noch mit feinster Technik lokalisierbar zu machen sind.
Wie ich mich freue über die Begegnung mit dem Schriftsteller beim Wortlaut Literaturfestival in St. Gallen, weil es Leon de Winter meisterhaft versteht, mich als Leser zu überraschen, die Grenzen des Wahrscheinlichen auszuloten.
Leon de Winter, geboren 1954 in ’s-Hertogenbosch als Sohn niederländischer Juden, arbeitet seit 1976 als freier Schriftsteller und Filmemacher und lebt in den Niederlanden. 2002 erhielt er den ›Welt‹-Literaturpreis, 2006 die Buber-Rosenzweig-Medaille für seinen Kampf gegen Antisemitismus, und 2009 wurde er mit dem Literaturpreis der Provinz Brabant für «Das Recht auf Rückkehr» ausgezeichnet. Seine Romane wurden in 20 Sprachen übersetzt, zuletzt erschienen bei Diogenes «Ein gutes Herz» (2013) und «Geronimo» (2016).
Stefanie Schäfer studierte Dolmetschen und Übersetzen an den Universitäten Heidelberg und Köln. Für herausragende übersetzerische Leistungen wurde sie mit dem Hieronymusring ausgezeichnet. Sie lebt in Köln.
Lucas Cejpek ist ein formidabler Beobachter und Nachdenker. Ein Mann, der sich mit Oberflächlichkeiten nicht begnügt und dem der Blick über die eigene Nasenspitze hinaus längst zur Lebensaufgabe geworden ist. Sein neuestes Buch, eine Mischung aus Essaysammlung, Tagebuch, Betrachtungen und Nachforschungen ist ein schillerndes, hochliterarisches Kalaidoskop. Die ideale Lektüre, um dem nächtlichen Schlaf die richtige Färbung zu geben!
Schreiben sie Tagebuch? Ich schreibe seit mehr als 40 Jahren, möchte aber niemandem die Lektüre dieser Bücher zumuten, weil es sehr subjektive Wahrnehmungen eines Menschen sind, der sich allzuoft in den mehr als menschlichen Verstrickungen seines eigenen Dasein verheddert. „Du siehst Gespenster und nichts in der Minibar“ erscheint wie ein Tagebuch. Aber Lucas Cejpeks Blick auf die Welt ist weder der eines Hypochonders noch jener eines auf sich selbst Zurückgeworfenen, obwohl Lucas Cejpek mit dem Schreiben dieser äusserst vielfältigen, vielstimmigen und vielseitigen Texte während der Zeit der Pandemie begonnen hatte, einer Zeit, in der viele wirklich Gespenster sahen und der „Blick in die Minbar“ wirklich eine grosse Leere auslöste.
Lucas Cejpek «Die siehst Gespenster und nichts in der Minibar», Sonderzahl, 2024, 240 Seiten, CHF ca. 36.90, ISBN 978-3-85449-660-1
Lucas Cejpek sieht und denkt nach, lässt sich von Kleinigkeiten ins Grosse tragen, leuchtet hinter Geheimnisse, öffnet Türen und weiss immer und immer wieder zu überraschen. Dabei ist das Thema „Gespenster“ immer wieder anzutreffen. Als man während der Pandemie im Hotelzimmer stranden konnte, die Welt sich auf einen Mikrokosmos reduzierte, ein Hotelzimmer zu einem „utopischen Ort“ wurde, begann Lucas Cejpek aufzuschreiben, aufzutun. „Du siehst Gespenster und nichts in der Minibar“ sind Gedankenspaziergänge in die Tiefen menschlicher Existenz.
Zwei solcher „Einträge“ stellte mir Lucas Cejpek für diesen Beitrag zur Verfügung:
Im Buch Seite 64, 65, 66: «Als ich am Morgen des 3. November 2020 durch die Liniengasse ging, die ich in meinem letzten Buch beschrieben habe – es war der erste Tag des zweiten Lockdows, den die Regierung zur Rettung des Gesundheitswesens verhängt hatte, und ich war auf dem Weg zum Krankenhaus derBarmherzigen Schwestern, wo ich noch am selben Tag einer Leistenoperation unterzogen werden sollte, nachdem ich fast ein Jahr lang eine Operation aufgeschoben hatte, auch wegen des ersten Lockdowns Mitte März, als nur noch lebensrettende Operationen durchgeführt werden durften – ich ging durch die Liniengasse, den Kurier unter dem Arm, die Titelseite war schwarz, die Schlagzeile in weißen Lettern: Terror im Herzen von Wien – am Vorabend hatten, wie in den Dauersendungen im Fernsehen berichtet wurde, mehrere Attentäter im Ausgehviertel rund um den Schwedenplatz wahllos auf Passanten geschossen – wie sich später herausgestellt hat, war es ein Einzeltäter, ein 20jähriger IS-Anhänger aus Wien, der neun Minuten, nachdem er begonnen hatte, um sich zu schießen, von der Polizei erschossen wurde – in neun Minuten hatte er vier Menschen getötet und 22 weitere zum Teil schwer verletzt – als ich am Tag danach durch die Liniengasse zum Krankenhaus in der Stumpergasse ging, fiel mir zum ersten Mal ein Schaufenster an der Ecke Hirschengasse auf, wo früher die Installationsfirma Karl Jäger war – die Aufschrift an der Fassade war immer noch da, ein Feld des 16teiligen Fensters war mit einem handgemalten Plakat beklebt: ZEIT/FEN/STER und am Boden standen Kakteen in bunten Töpfen, während der Blumentrog vor dem Fenster mit Unkraut überwuchert war.
Der letzte Eindruck, bevor ich nach der Einnahme einer Schlaftablette das Bewusstsein verlor, war grün, die Farbe des Paravents neben meinem Bett, in dem ich von einem Pfleger aus meinem Zimmer im dritten Stock in die Anästhesie gefahren wurde, mit dem Lift in den ersten Stock, die Dokumentenablage auf der Theke vor mir, hinter der das medizinische Personal in Grün verschwand, war grün, ebenso wie die Abfalltonne am Rand des Gangs zum Operationssaal. – Als ich wieder im Krankenzimmer aufgewacht bin, das ich mit einem Tischler teilte, dem die Gallenblase entfernt worden war und der in tiefem Schlaf lag, begann ich das Buch, das ich mitgenommen hatte, zu lesen, Marie-Claire Blais› Roman Drei Nächte, drei Tage, um auf die erste Mahlzeit seit Mitternacht zu warten – vor einer Vollnarkose muss man nüchtern sein. Die barocke Fülle von Blais› Buch hat mich in die Wirklichkeit zurückgeholt, die über Seiten gehenden Sätze – ich habe mir die wenigen Punkte und Fragezeichen angezeichnet, mit denen sich Blais unterbricht, um ihre Figuren zusammenzuführen, und alle Stellen, an denen von Grün die Rede ist, was selten geschieht, obwohl sich alles auf den Antillen abspielt, die ich mir lichtgrün vorstelle und nicht dunkelgrün wie das Pfarrhaus und das Militärgebäude am Beginn des Romans, auf die der grüne Tisch des Spielcasinos folgt, die grüne, neonfarbene Spur von Inlineskates, die graugrünen Sümpfe am Meer, der grün angestrahlte Swimmingpool und die Zeiger auf dem grünen Wecker, der auf neun Uhr steht, die Stunde, in der sie geboren wurde, die Stunde, in der sie sterben würde, Renata, die Wiedergeborene.»
***
Diese Texte sind sehr wohl aus einer Not entstanden, aus der totalen Reduktion, in einer Zeit, in der sich alles zu schliessen begann. Du machst in deinen Texten genau das Gegenteil; du öffnest, nicht nur dich selbst, sondern die reduzierte Welt um dich herum. Du steigst in überraschende Tiefen, offenbarst Geschichte und Geschichten, durchbrichst gar formal den Text, die Gestalt. Da ich annehme, dass das Schreiben für dich über die Jahrzehnte zu einem ständigen Begleiter wurde, frage ich mich, wann eine Sammlung von Texten zu einer Buchidee wird. Zuerst die Idee oder zuerst eine gewisse Anzahl Texte, die sich als zugehörig erweisen? Liest man die Titel deine Bücher, dann scheint es immer und immer wieder ein „Umkreisen“ zu sein. Buchideen entwickeln sich bei mir unterschiedlich, je nachdem wo ich gerade in meiner Arbeit als freier Schriftsteller und Regisseur bin, welche Obsessionen deutlich werden in einem wiederholten Umkreisen, wie Du es nennst.
Es gab schon während der Pandemie „Coronabücher“, die aber kaum jemand lesen wollte. „Du siehst Gespenster und nichts in der Minibar“ ist ein Coronabuch und doch kein Coronabuch. Aber mit Sicherheit entstanden viele dieser Texte aus diesem „Zurückgeworfensein“. Hat jene Zeit aus Lucas Cejpek einen anderen gemacht? Was ist geblieben? Zumindest aus meiner Sicht gab es auch das eine oder andere, das sich mit der Pandemie zu verändern schien. Allerdings hat sich die Ernüchterung längst darübergelegt.
Die Coronazeit hat mir gezeigt, dass mein aufgeklärtes Selbstverständnis fragwürdig ist, auch unter demokratischen Bedingungen wie in Österreich. Ich wurde ausgesperrt, als unverheirateter Mann, als Kaffeehausbesucher und Spaziergänger in staatlich verwalteten Parks, die in Wien die weitläufigsten sind.
Im Buch Seite 135: «Als ich nach dem Jahreswechsel die Leerflaschen in den Altglaskontainer am Naschmarkt warf, sah ich neben dem Verkaufsstand für Mäntel, Jacken, Schals, Schirmmützen, Pudelhauben, Strickwesten, Gürtel, Hosenträger, Rucksäcke, Brieftaschen einen afrikanischen Maskenstand, den ich zum ersten Mal auf dem Vorweihnachtsmarkt gesehen hatte, aber der Händler, mit dem ich damals gesprochen hatte, war nicht da, und auch nicht die Maske, die mir sofort aufgefallen war, ein threeface – wir redeten Englisch miteinander – eine unbemalte Drei-Gesichter-Maske: drei Augenbrauen, drei Augen, zwei Nasen, ein Mund.
Wo kann man hier noch solche Masken sehen?, hatte er mich gefragt. – Im ‹Weltmuseum›. – Ich habe ihm die Adresse auf einen Zettel geschrieben: Heldenplatz, 1010 Wien.
Als ich ein drittes Mal über den fast leeren Marktplatz ging, war der Maskenhändler gerade dabei, seine Verkaufsstücke in Koffer und Taschen zu packen: bunte Masken und Holzfiguren, große Fische und mit Schnitzereien verzierte Türblätter. – Wo ist der threeface?, fragte ich ihn, und er holte die Maske aus einer Plastiktasche. – Wollen Sie sie? – Das kann ich mir nicht leisten, sagte ich, Sie wollen 250 Euro dafür. – 220 für Sie. – Das nächste Mal vielleicht, sagte ich. – Ich fliege morgen nach Paris. – Mit dem ganzen Gepäck? – Ich komme in drei Monaten wieder, sagte er, inschallah. – Dann sehen wir uns im März. – Wie viel haben Sie jetzt dabei?, fragte er, und ich zeigte ihm meine Brieftasche: 60 Euro. –Dann heben Sie noch 100 ab, sagte er und zeigte auf den Geldautomaten gegenüber. (Montag, 3. Jänner 2022)
Ich habe die Drei-Gesichter-Maske im Vorzimmer aufgehängt, über der Küchentür, damit ich sie möglichst oft sehe. Sie ist aus Gabun am Golf von Guinea, wo der Äquator den Nullmeridian kreuzt.»
***
Du widmest dich in den Texten immer und immer wieder den Gespenstern, tust es lustbetont, manchmal mit Akribie, nicht verwunderlich in einer Zeit, in der uns allerlei Welterklärer die bösen Geister erklären. Edgar Allan Poe glaubte allen Ernstes an Gespenster. Die Fotografie beschäftigte sich immer wieder mit Gespenster – und nicht zuletzt die Literatur ist voller Gespenstergeschichten. Hat nicht die Literatur selbst etwas gespenstisches? Ist sie doch Abbild einer nicht existierenden Zwischenwelt. Literatur hat insofern etwas Gespenstisches – um Deine vorletzte Frage zu beantworten –, als sie nie abbildend ist, sondern immer Erinnerung und Entwurf. Insofern gibt es eine Zwischenwelt, während die Malerei für mich etwas Gegenwärtiges hat, der Film ist reine Projektion.
Bei dir zuhause hängt eine Drei-Gesichter-Maske. Bei uns zuhause hängst auch eine afrikanische Maske, die ich mir vor ein paar Jahren auf einem Markt in Paris kaufte. Auch eine Art Geist. Ich habe dir das Foto „angehängt“. Nicht eigenartig? Eine Geistermaske, um uns diese vom Leib zu halten – oder sie gar einzuladen? Meine nächtlichen Geister mag ich nicht so sehr. Du aber scheinst sie zu mögen? In meinen Träumen geht es meistens darum, dass ich den Anschluss an etwas verpasse – beim Umsteigen in Zügen – oder etwas liegenlasse. Vielleicht ist meine Genauigkeit im Schreiben eine Vorsichtsmaßnahme?
Lucas Cejpek, geboren 1956 in Wien, Studium der Germanistik und Anglistik in Graz. 1982 Promotion zum Dr. phil. Lehraufträge an den Universitäten Graz, Klagenfurt und Wien. Seit 1981 als Theaterregisseur tätig. 1983-90 freier Mitarbeiter des ORF Steiermark, seit 1990 freiberuflicher Schriftsteller. Lebt in Wien. Preise, Auszeichnungen: 1984 Literaturförderungspreis des Forum Stadtpark Graz und 1992 Förderungspreis der Stadt Wien für Literatur, veröffentlicht Essays, Romane und Gesprächsbücher.
Ein Sommer zwischen Kindsein und Erwachsensein. Vielleicht der letzte Sommer, in dem die Welt als grosses Abenteuer erscheint, sich das Gift unleugbarer Realitäten noch nicht eingefressen hat. „32. August“, ein Sommerbuch, eine Liebeserklärung an die Grosseltern, die einem alles schenken und nichts nehmen.
Leo ist dreizehn und wird von seinen Eltern zu den Grosseltern spediert, in das kleine Haus am Rand des Dorfes, ganz nahe beim Wald, wie so oft im Sommer. Ferientage, auf die sich Leo freut, in einem Haus, das in der Erinnerung des Erzählers alle Geheimnisse des Lebens barg, eine Burg war, behütet von der festen und bestimmten Hand der Grossmutter. Der Erzähler erinnert sich gern, weil die Wochen, jene Wochen in jenem Haus eine Zäsur bedeuteten, in der der sonst meist abwesende Grossvater mit einem Mal eine ganz andere Rolle bekommen sollte, wie in all den Sommern zuvor.
Leo spürt, dass er sich in ein fremdes Land begibt. Das spürte er schon im Jahr zuvor, weil Lilia zu Beginn des Schuljahres neu in die Klasse kam, ein Mädchen mit schwedisch-argentinischen Wurzeln, so ganz anders wie die anderen Mädchen in der Klasse, unerreichbar für sie alle. Bis es Leo kurz vor den Sommerfrien doch noch gelingt, die Zuwendung seiner Angebeteten zu erhaschen und sie sich gegenseitig bezeugen, sich während der langen Sommerferien zu vermissen.
Mischa Kopman «32. August», Osburg, 2024, 200 Seiten, CHF ca. 29.90, ISBN 978-3-95510-356-9
An einem der ersten Tage bei der Grossmutter macht der Grossvater ganz überraschend den Vorschlag, Leo solle ihn auf seinen Touren durchs Land, seiner Arbeit als Vertreter begleiten, er wäre alt genug und sei ihm durchaus eine Hilfe. Leo geht mit, setzt sich in den 190er Mercerdes seines Grossvaters und begleitet ihn, der sonst stets schon unterwegs war, wenn sich Leo aus dem Bett im Gästezimmer schälte und erst zum Abendessen wieder von seinen langen Touren zurückkehrte. Leo erfährt, dass sein Grossvater ein ganz anderer ist, wenn er in seinem Auto unterwegs ist, dass er stets nach ein paar hundert Metern am Strassenrand hält, mit seinem Kamm die Haare nach hinten kämmt, eine Sonnenbrille aufsetzt, eine Zigarette anzündet und Kassetten abspielt, die beim ersten Mal Hören so gar nicht nach Grosseltern klingen; Hank Williams und Billie Holiday. Grossvater fährt mit Leo in die Stadt, von Ort zu Ort, wo man seinen Grossvater überall zu kennen scheint, lernt Monette kennen, eine Frau in engen Kleidern, die so ganz anders ist als Grossmutter, die Grossvater unterwegs nur „Feldwebel“ nennt.
Leos Grossvater liebt Grossmutter, ohne Zweifel. Trotzdem wird Leo mit einem Mal klar, dass es verschiedene Welten gibt, solche, die man voreinander verborgen hält, auch wenn der Vorhang löchrig ist. Grossvater, der auf seinen Fahrten mehr und mehr zu erzählen beginnt, Dinge, von denen Leo bisher keine Ahnung hatte, von den Jahren in Brasilien, wo er unfreiwillig hinkam und länger hängenblieb, als er vorhatte, von den ersten grossen Enttäuschungen seines Lebens, blickt Leo in eine ihm bisher verschlossene Welt, in die Welt der Erwachsenen. In eine Welt, die im Gegensatz zu der der Kinder voller Kompromisse, Lügen und schwarzer Löcher ist.
„32. August“ ist ein leichtfüssiger Roman, der viel verlorene Sehnsucht birgt und trotzdem ohne Sentimentalität erzählt. Ein Buch, dass für einmal Familie nicht bloss zur Grossbaustelle, zum Krisengebiet macht. Wie gerne hätte ich diese Grosseltern gehabt!
Mischa Kopmann wurde 1968 in Celle geboren. Anfang der 2000er gewann er mehrere Literaturpreise, unterbrach dann jedoch sein literarisches Schaffen, um seine Kinder grosszuziehen. Im Osburg Verlag liegen bisher drei Romane vor: «Aquariumtrinker» (2017), «Dorfidioten» (2019), «Haus in Flammen» (2022). Kopmann lebt als Lern- und Begabtenförderer sowie als freier Schriftsteller in Hamburg.
Barbara Bonhage, Historikerin und Autorin, ahnt, dass in ihrer Familie Dinge totgeschwiegen werden, ein Stück Familiengeschichte ausgeblendet wird. Bis ein Brieffund im Familienarchiv die Büchse der Pandora öffnet und Licht in ein düsteres Kapitel eben jener Familie bringt. „Zwischen Herd und Hakenkreuz“ ist die Lebensgeschichte einer Grossmutter, die selbst nach dem Krieg mit „Mein Kampf“ an ihrer Seite sterben sollte.
Es hätte der Beginn einer tausendjährigen Geschichte sein sollen. Es hätte die Weltordnung erneuert und den Germanen endlich jenen Platz zugestanden, der ihnen seit Ewigkeiten gebürt. Deutschland wäre wie Phönix aus der Asche des ersten Weltkriegs auferstanden. Im Glanz einer neuen Bewegung hätte die arische Rasse vollbracht, was der Führer in weiser Voraussicht in die Wege gebracht hätte. Hilde Bonhage, die Grossmutter der Autorin dieses Buches, glaubte bis zu ihrem Tod im November 1945, über das Ende des 2. Weltkriegs hinaus, an die Ideale der Nationalsozialisten. Als sie starb, sank sie ins Vergessen. Es brauchte mehr als sieben Jahrzehnte, bis die Enkelin den Mut aufbrachte, eine wahre Geschichte zu erzählen, die einem angesichts der Erstarkung rechtsextremer Bewegungen nicht kaltlassen kann. Dass Barbara Bonhage die Geschichte der eigenen Grossmutter zu einem Exempel macht, verdient vielfachen Respekt. Nicht nur, dass sie sich selbst in der Auseinandersetzung mit der Familiengeschichte mit keinem Detail schont, nicht einmal mit nicht belegbaren Möglichkeiten und fürchterlichen Eventualitäten, sondern weil die Autorin kühl und ehrlich erzählt, ohne dass mir als Leser nicht immer und immer wieder die Ahnung wie ein kalter Schauer über den Rücken fliesst, dass dieses exemplarische Leben eines von Millionen war.
Barbara Bonhage «Zwischen Herd und Hakenkreuz. Hilde Bonhage. Ehefrau, Mutter, Nationalsozialistin», elfundzehn, 238 Seiten, CHF ca. 29.80, ISBN 978-3-907243-05-3
Hildes Vater war vor dem ersten Weltkrieg ein erfolgreicher deutscher Geschäftsmann in England, der mit seiner Familie ein grossbürgerliches Leben in London führte. Aber die geopolitischen Folgen des ersten Weltkriegs machten aus der deutschen Familie in England Feinde. Man zwang die Familie, das Königreich zu verlassen, vertrieb sie aus ihrem Haus „Glückauf“ in ein Land, das von Krieg und Krisen gebeutelt wurde und sie aller ihrer Privilegien beraubte. Hilde, 1907 geboren, musste mitansehen, wie schwierig es ihren Eltern, ihrer Familie fiel, in ihrer „Heimat“ Fuss zu fassen. Schon als junge Frau war Hilde klar, dass es ihrer eigenen Familie, ihren zukünftigen Kindern einmal viel besser gehen sollte. Früh begann sie sich in Bewegungen zu engagieren, dem Jungnationalen Bund. In Briefen glühte sie für ein Leben nach „völkischen“ Prinzipien, „ganz rein in ihrer Rasse“. 1930 heiratete Hilde Andreas Bonhage, einen Juristen, der wie Hilde zu einem glühenden Verehrer der nationalsozialistischen Idee werden sollte. Und weil die Karriere ihres Mannes nur schleppend in Gang kam, man immer noch gezwungen war, im Haus der Eltern zu leben, begann sich Hilde, obwohl sie schnell Mutter wurde, in der NSF, der Frauenorganisation der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei (NSDAP), zu engagieren. Gleichzeitig legte sie sich und ihrer Familie einen über Generationen makellosen Ariernachweis zu, trat wie ihr Mann der Partei bei und begann mit wachsendem Erfolg beider Eheleute immer mehr von den Privilegien der reinen Rasse zu profitieren. Ein makelloses völkisches Leben wurde zum Massstab, ein elitär germanisches Bewusstsein zum einzigen Weg. Dass sie ihre Kinder auch danach erzog, man sich über Juden, Polen, alles Nichtarische herablassend äusserte, gehörte zum Selbstverständnis eines reindeutschen Bewusstseins.
Als Hitlers Partei 1933 an die Macht kam, schien ein Leben in einer neuen Ordnung Tatsache zu werden. Der Erfolg gab der Familie recht, man zog nach der Annektierung vieler Gebiete und dem Einmarsch der Wehrmacht in Polen, nach grossen militärischen Erfolgen des Dritten Reiches in ein 14-Zimmer-Haus in Posen, wo Hilde die Kreisfrauenschaftsleitung der NS-Frauenschaft übernimmt. Endlich die Aufgabe, für die Hilde geschaffen schien! Hilde bekommt ihr sechstes Kind. Andreas ihr Mann leistet seinen Dienst als Freiwilliger an der russischen Front. Ein Leben mit offener Perspektive.
Aber so wie sich das Kriegsgeschehen 1943 mit aller Deutlichkeit zu drehen beginnt, so nehmen Hildes gesundheitliche Probleme zu. An Tuberkulose erkrankt wird Hilde immer länger aus ihrem Leben als Streiterin der Naziideologie herausgerissen. Was sie vom immer näherkommenden Kriegsgeschehen hört und liest, nimmt ihr den Atem. Aber selbst als im April 1945 die Kapitulation unterzeichnet wird, glaubt Hilde weiter an den Mann mit Schnurrbart, an die Ideologie, die fast ganz Europa in Schutt und Asche legte.
Am 14. Dezember 1945 stirbt Hilde Bonhage in einem ehemaligen Kurhaus in Schwarzwald. Obwohl ihr Mann Andreas noch vier Jahrzehnte weiterlebte, noch einmal heiratete und trotz fragwürdiger Vergangenheit seine Karriere als Jurist wieder aufnehmen konnte, blieb die völkische Euphorie Hildes in der Familiengeschichte der Bonhages lange verborgen. Bis zur Veröffentlichung dieses mutigen, wichtigen und sogfältig geschriebenen Buches.
„Zwischen Herd und Hakenkreuz“ ist nicht einfach ein Stück Geschichte. Das Buch ist exemplarisch für ein geblendetes Leben. Während sich in Deutschland “völkische Siedlergemeinschaften“ in aller Öffentlichkeit tummeln, sich rechtsradikales Gedankengut wie ein Flächenbrand ausbreitet und Antisemitismus grassiert, sind historisch fundierte Auseinandersetzungen von Gesinnungsverwerfungen bitternötig. Was für ein Irrtum zu glauben, im April 1945 wäre das Schiff mit der Hakenkreuzfahne untergegangen!
Interview
Vor vielen Jahren, ich war noch jung und es ging an einer Weiterbildung um geschichtliche Zusammenhänge, meinte der Kursleiter vor den vier Dutzend Anwesenden; rein statistisch wäre wohl nur eine Person der Anwesenden aktiv im Widerstand gegen den Nationalsozialismus gewesen. In jenem Raum wurde mir klar, wie anmassend es ist zu glauben, man wäre diese eine Person, man hätte doch ganz bestimmt das Zeug gehabt, die Dinge richtig zu lesen und danach zu handeln, mit allen möglichen Konsequenzen. Mit ihrer Offenheit, der Klarheit der Sprache und Tatsachen zeigen sie viel Mut. Sie haben gefragt. Sie haben geforscht. Sie haben sich ausgesetzt. Sie sind Historikerin und damit wohl auch einer Aufgabe verpflichtet. Aber war da nie die Angst, sich damit der Unberechenbarkeit auszusetzen? Es gab eine Reihe von Ängsten. Es gab die Angst, als Enkelin, Tochter, Nichte, Schwester, Cousine „Nestbeschmutzerin“ zu sein und verstossen zu werden. Stattdessen haben sich die Verwandten bedankt. Sie zeigten sich in Gesprächen erleichtert darüber, dass ich recherchiert und erzählt habe. Viele liessen mich wissen, dass sie endlich verstünden, woher gewisse Gefühle, die sie ein Leben lang begleitet hatten, kämen. Dann gab es die Angst, als Historikerin kritisiert zu werden: als Studie sei das Buch zu unwissenschaftlich, als Romanbiographie sprachlich unterentwickelt, als Biographie nicht sachlich und umfassend genug. Nichts davon ist eingetreten. Unberechenbar ist Geschichte immer; damit leben alle HistorikerInnen. Es kann immer sein, dass jemand Dokumente vorlegt, die man nicht kannte, dass Ergänzendes zutage kommt, das noch nicht zugänglich war, dass man bei aller Sorgfalt Fehler gemacht hat. Dann muss man eine einmal gefasste Position ergänzen, vertiefen, vielleicht korrigieren. Das gehört zur historischen Arbeit.
Hilde Bonhage war eine Frau voller Ideale. Sie wollte eine neue Welt, ein neues Deutschland. Sie setzte sich mit all ihrer verfügbaren Kraft für ihre Ideale ein. Sie schickte sich hinein, für ein grosses Ziel, die Gemeinschaft der Auserwählten. Damals war es die Ideologie der Nazis, die längst nicht untergegangen ist. Sektiererische Gemeinschaften leben genauso vom bedingungslosen Engagement ihrer AnhängerInnen – bis in den Tod. Haben wir nichts gelernt? Sie sprechen vermutlich die Parallelen an – es gibt sie heute, zweifelsohne. Trotzdem finde ich: Wir haben viel gelernt. Wir schauen hin, erzählen die Geschichte der Opfer, erzählen die Geschichte der Täter – wenigstens tun wir dies in einigen wenigen Familien. Wir setzen Stolpersteine, eröffnen Gedenkstätten und Museen, schreiben Sachbücher und Romane, lesen sie, drehen Filme und schauen sie uns an, durchblättern gemeinsam Fotoalben. Und wir gehen mit dem Stoff so um, dass auch die nächste Generation, die Urenkelgeneration, den Faden aufnehmen und weiterführen kann. Oft werde ich von Gymnasien zu Lesungen eingeladen. Das ist wichtig. Ich habe aber vor allem eins gelernt: Mensch sein bedeutet immer gut und böse in einer Person zu sein. Menschliches Verhalten tritt nicht nur dann zutage, wenn jemand in einer friedvollen, konstruktiven Zeit lebt und sein Leben so zu gestalten vermag, dass nur die guten Seiten zum Ausdruck kommen. Das ist zwar wünschenswert. „Menschlich“ verhalten sich aber leider auch die, welche Böses anrichten. Sie sind Menschen wie wir alle. Das, denke ich, das müssen wir noch besser zu verstehen lernen. Erst wenn wir akzeptieren, dass wir es an Stelle von Hilde vielleicht nicht besser vermocht hätten, können wir erkennen, dass es einfach nur Menschen gibt – es gibt keine bösen oder guten Menschen. Es gibt keine Religion, keine Herkunft, keine Geburt, kein Geschlecht oder kein Sonstwas, das uns zu besseren oder schlechteren Menschen macht. Solches Denken ist überheblich. Im Verlauf eines Lebens kann es sein, dass wir gut und böse handeln. Deshalb müssen wir unser Tun immer wieder neu hinterfragen, um das Gute zu suchen – und es kann sein, dass wir uns trotzdem irren.
Ich stelle mir Hilde mit ihren Kindern auf einem Spaziergang im von den Deutschen besetzten Polen vor, wie die Kinder von der Mutter ermutigt, die „Einheimschen“, Zwangsarbeiter beleidigen und applaudieren, wenn sie an verrammelten und beschmierten Läden ehemaliger jüdischer Geschäftsleute vorbeigehen. Ist dieses Buch der Versuch, mit einer nicht zu negierenden Scham fertigzuwerden? Erzählen zu können, ist befreiend. Schämen sollten wir uns nur dann, wenn uns bewusst wird, dass wir selbst Unrecht getan haben. Wenn das Unrecht die Tat anderer ist, sogar eines Vorfahren oder Familienangehörigen, brauchen wir uns eigentlich nicht zu schämen. Solange ich nicht genau wusste, was Hilde getan hatte, habe ich mich trotzdem geschämt. Wofür, wusste ich eigentlich nicht. Sobald ich Hildes Geschichte dann aber öffentlich erzählt hatte, ist meine Scham verschwunden.
Die Fotoalben meiner Familie sind stumm. Sie erzählen nur wenig, je weiter sie zurückliegen. Als mein Vater starb, wurde mir bewusst, wie viel Geschichte und Geschichten er mit ins Grab nahm. War dieses Buch der Versuch, Fotos, Bilder zum Sprechen zu bringen, Idyllen zu hinterfragen? Zuerst war es der Versuch, die vielen Briefe zu verstehen und in einen Kontext zu bringen. Dann haben mir die wenigen Fotos geholfen, noch mehr zu sehen, als ich aus den Texten herausgelesen hatte. Manche Fotos decken viel auf, daher gefällt mir die Idee, man könnte Fotos zum Sprechen bringen. Und ja, insbesondere bilden Fotos, die vor hundert Jahren entstanden, oft Idyllen ab, da es aufwändig war, ein einzelnes Bild zu produzieren. Es ist daher richtig und wichtig, die alten, vielleicht idyllischen Bilder zu hinterfragen.
Die Verehrung ihrer Grossmutter Hilde Bonhage für Adolf Hitler hatte religiöse, missionarische Züge. Nichts und niemand konnte dieses Bild in Frage stellen. In der Geschichte zeigt sich immer wieder, wie sehr sich Menschen im blinden Glauben an Personen oder Überzeugungen verlieren können. Sie sind Historikerin. Muss man sich die Hand verbrennen, um die Gefahren von heissen Herdplatten zu „be-greifen“? Nein, das glaube ich nicht. Diskutieren, lesen, Filme anschauen, nachdenken, recherchieren, und immer wieder auf Fremde und Fremdes zugehen hilft! Man kann viel lernen von anderen Menschen. Gut hinzuhören und mit allen Sinnen wahrnehmen zu versuchen, was gerade geschieht, ist eine wichtige Voraussetzung dazu.
Ich habe das Buch in einer Nacht durchgelesen, erschüttert und belehrt, Man erfährt – ich erfahre – zum ersten Mal, wie geschlossen und lebenfüllend und -erfüllend das NS-System war. Es ist ein im besten Sinn empfindliches Buch, das ohne summarisches Todesurteil auskommt und eben dadurch überzeugt. Adolf Muschg, Schriftsteller
Barbara Bonhage wurde 1972 in Zürich geboren und lebt heute mit ihrer Familie am Zürichsee. Sie studierte Germanistik und Geschichte in Zürich und Paris. Das Schwerpunktthema der promovierten Historikerin ist die Geschichte des Nationalsozialismus. Ihre wissenschaftlichen Publikationen sowie ein Lehrbuch befassen sich mit der Wirtschaftsgeschichte des «Dritten Reichs» aus Schweizer Perspektive. Barbara Bonhage arbeitete als Professorin für öffentliches Management an der Hochschule Luzern und heute als Beraterin im Auftrag von öffentlichen und Nonprofit Organisationen sowie als Autorin.
«Meine Grossmutter war Nationalsozialistin» SRF-Kontext von Sabine Bitter, Host: Monika Schärer, Produktion: Anna Jungen, Technik: Lukas Fretz (22.10.2021, 06:05 Uhr)
Als das Buch zum ersten Mal 2006 erschien, war es gar kein Bestseller, obwohl es Zündstoff gehabt hätte. Obwohl die Reaktion aus Politik und Kultur zwiespältig waren, von Bewunderung bis Entrüstung. Während man auf das Buch in Deutschland und Frankreich mehrheitlich positiv reagierte, schimpfte man in der Schweiz den Schriftsteller als linken Terroristen.
Da steigt ein junger Architekt mit seiner Angebeteten in die verschneiten Berge über dem berneroberländischen Gstaad, mit einem Brecheisen und Utensilien für einen Brandanschlag in seinem Rucksack. Er steigt durch ein aufgebrochenes Fenster in ein Ferienchalet des Medienmoguls Axel Springer, von dem er überzeugt ist, er sei im Krieg Nazi gewesen oder hätte zumindest von ihnen profitiert, der Besitzer der Boulevardzeitung „Bild“, für jeden Linken Flaggschiff all dessen, was die 68er-Bewegung ins Rutschen bringen wollte. Das Chalet brannte bis auf die Grundmauern nieder. Man vermutete Zusammenhänge mit einem weiteren Brandanschlag auf Sylt, erklärte nach einer Untersuchung, man habe es hier mit Profis zu tun. Man verdächtigte ‘Elitekommandos, die aus der Kälte kamen’. De Roulet blieb unbehelligt.
Dass Daniel de Roulet 2006 mit „Ein Sonntag in den Bergen“ seine Tat öffentlich, das Buch zu einer Rechtfertigungsschrift machte, offen über seine damalige Naivität schrieb, nahm man ihm zum Teil sehr übel. Nicht zuletzt lud man den streitbaren Schriftsteller mit diesem einen Buch zu keiner einzigen Lesung in der deutschsprachigen Schweiz ein. Im Gegenteil, man forderte den Schriftsteller gar zur finanziellen Wiedergutmachung auf, was er dann in gewisser Weise auch vollzog.
Daniel de Roulet «Ein Sonntag in den Bergen», Limmat 2024, aus dem Französischen von Maria Hoffmann-Dartevelle, 128 Seiten, CHF ca. 30.00, ISBN 978-3-03926-086-7
So harmlos der Titel des Buches, so brisant der Inhalt. „Ein Sonntag in den Bergen“ ist Erklärungsversuch, Schuldeingeständnis, Rechtfertigungsversuch, Liebesgeschichte und historisches Zeugnis einer Zeit, in der in Deutschland die RAF operierte und in Europa nach dem Attentat auf Rudi Dutschke Tausende auf die Strasse gingen, weil man den Staatsapparat, die Polizei mit den Machtstrukturen der Nazizeit verband.
Daniel de Roulet, Sohn eines Pfarrers, dem er immer wieder den Vorwurf machte, während der Nazizeit nicht genug für den Widerstand, für die verfolgten Juden getan zu haben, reagierte äusserst empfindlich auf den Vorwurf seiner damaligen Geliebten, auf die grossspurigen Reden endlich Taten folgen zu lassen. „Du bist nichts weiter als ein Sprücheklopfer!“, schimpft sie ihn, die Frau, die er damals als die Frau seines Lebens sah. Daniel de Roulet schiebt die Schuld nicht weiter. Aber sein Stolz, sein Selbstverständnis, schien irreparabel in Schieflage zu geraten, würde es nicht irgendwie zum Knall kommen. Und weil Roulet wusste, dass Axel Springers sperriges Chalet über Gstaad nur sehr selten bewohnt war, sollte es logisches Ziel einer Attake werden, die ‘Operation Berchtesgaden’, in Anlehnung an Hitlers Berghof auf dem Obersalzberg.
Aber warum eine Neuauflage jetzt, ein halbes Jahrhundert nach der Tat? Zum einen nehmen die Jahre seit der Erstveröffentlichung viel Emotionalität aus der Tat von damals. Mitttlerweile scheint Gras über die Sache gewachsen zu sein, nicht aber über die Tatsache, dass eine Gesellschaft ganz offensichtlich Feindbilder und Schuldige braucht, dass es immer wieder brennen muss, wo Ohnmacht keine anderen Ventile findet und wie sehr Desinformation, Manipulation und Naivität lebensbedrohlich werden kann.
Interessant ist „Ein Sonntag in den Bergen“ auch deshalb, weil mit den Jahren weitere Ebenen dazugekommen sind. Neben der fatalen Geschichte eines Liebespaares, den Folgen eines Grossbrandes in den verschneiten Alpen, die zur Staatsaffäre wurde, ist das Buch Roulets ein Dialog mit seinem Gegenüber Axel Springer, einer durchaus streitbaren Figur der Nachkriegsgeschichte, die Konfrontation mit einer Tat, die den Schriftsteller nie losliess, einer Schuld, zu der er sich unbedingt bekennen musste, nicht zuletzt der endgültigen Klärung willen, einer Klärung, die Auswirkungen bis in die dortige Bevölkerung hatte.
Was einmal zwingend erschien, wird im Nachhinein zur unleugbaren Dummheit. Eine Erfahrung, die im Kleinen oder Grossen allen blüht.
Daniel de Roulet, geboren 1944, war Architekt und arbeitete als Informatiker in Genf. Seit 1997 Schriftsteller. Autor zahlreicher Romane, für die er in Frankreich mit verschiedenen Preisen ausgezeichnet wurde. Für sein Lebenswerk erhielt er 2019 den Grand Prix de Littérature der Kantone Bern und Jura (CiLi). Daniel de Roulet lebt in Genf.
Maria Hoffmann-Dartevelle, 1957 in Bad Godesberg geboren, studierte Romanistik und Geschichte in Heidelberg und Paris. Seit Mitte der Achtzigerjahre u.a. als freiberufliche Übersetzerin tätig. Übersetzte neben Sach- und Kinderliteratur Romane, Essays, ein Hörspiel und Liedertexte französischer, Schweizer, spanischer und südamerikanischer Autoren.
„Die Gleichzeitigkeit der Dinge“ – ein ungeheures Stück Literatur. Ein seltsamer Roman, bei dem die Autorin alles tut, was Literatur kann und gleichzeitig alles wagt, woran man scheitern könnte. Husch Josten erzählt, fabuliert, meditiert, philosophiert, bohrt und denkt nach. Sie erzählt die Geschichte eines jungen Mannes, von Sourie, der sich vom Sterben und Tod faszinieren lässt ohne todessehnsüchtig zu sein. Von der Liebe zu einer älteren Frau, die nicht nur mit dem Sterben zu kämpfen hat, sondern sich im Schweif ihres viel jüngeren Geliebten fotografisch mit den letzten Bildern des Lebens beschäftigt, die Gesichter jener fotografiert, bei denen sich die Geschichten in den Falten eingegraben, die sich von den Anfängen verabschiedet haben. Von der Freundschaft zu einem Mann, der eine Gastwirtschaft führt, in der Sourie und Tessa Stammgäste werden.
Husch Josten wagt alles, weil sie sich in ein Thema schreibt, dem die meisten Menschen ein Leben lang geflissentlich aus dem Weg gehen und sich nur dann damit beschäftigen, wenn sie durch Umstände dazu gezwungen werden, durch einen Unfall, Krankheit, durch scheinbares Unglück, die Unwiederbringlichkeit der Endgültigkeit. Ich selbst habe die ersten fünfzig Jahre meines Lebens so getan, als gäbe es meine Endlichkeit nicht, als wäre ich unsterblich, wäre Lebenszeit ein Kontinuum. Selbst als vor 25 Jahren mein Vater starb, damals war er jünger als ich jetzt, war es sein Tod. Noch Monate später sah ich im Blick auf einen Männerrücken in der Strassenbahn meinen Vater, hätte mich nicht gewundert, wenn er seine Hand auf meine Schulter gelegt hätte. Heute bin ich ein alter Mann, zumindest aus der Sicht meiner Enkel. Eben Grossvater. Ich lebe noch immer, als wäre ein nächster Morgen logische Konsequenz, absolute Selbstverständlichkeit. Und wenn mich in langen Nächten dann doch einmal ein kalter Atem anhaucht, dann packt mich Panik. Wir hätten ein Leben lang Zeit, uns mit dem letzten grossen Abenteuer anzufreunden, oder zumindest jene letzte Reise nicht einfach auszusperren.
Husch Josten beschäftigt sich einen Roman lang mit Sterben und Tod mit einer Unmittelbarheit, die schaudern lässt. Der Sog ihres Erzählens zieht mich nicht in die Tiefe, auch nicht hin zu sentimentaler Trauer, sondern rüttelt mich auf, weckt mich zumindest einen Roman lang, aber wahrscheinlich, wie in diesem Brief sichtbar, noch lange darüber hinaus.
Husch Josten «Die Gleichzeitigkeit der Dinge*, Berlin, 2024, 224 Seiten, CHF ca. 32.90, ISBN 978-3-8270-1513-6
Ich hatte das grosse Bedürfnis, diesen Roman langsam, stückweise zu lesen, in kleinen Portionen, nicht nur, weil ich den Genuss des Mäanderns so lange wie möglich geniessen wollte, sondern weil mich ihre Sprache betörte, die Intensität der Bilder und Situationen, der Dialoge und Gedanken.
Du warst ein Leben lang Arzt und bist mit Sterben und Tod viel intensiver in Kontakt gekommen als ich. Was du mir nur an jenem einen Abend am Kamin erzählt hast, hat mich nicht wegen der Thematik erschüttert, sondern weil mir bewusst wurde, wie gut ausgerichtet meine Scheuklappen sind. Wie ging es Dir bei der Lektüre dieses Romans?
Ich freue mich auf Deine Gedanken.
Liebgruss
Gallus
***
Lieber Gallus
Durch Mitmachen in einem neuen Lesezirkel kam ich zum Buch «Die Gleichzeitigkeit der Dinge» von Husch Josten. Zuerst dachte ich: Was für ein komischer Name, noch nie gehört! Nun bin ich froh, diese Autorin kennengelernt zu haben. Ein Werk, das mich als pensionierten Hausarzt sofort packt und beschäftigt. Klug, anregend und spannend zu lesen ist das Zusammentreffen der drei Hauptprotagonisten Sourie, Tessa und Jean gestaltet. Der Student Sourie arbeitet als Pförtner in einem Pflegeheim, wo die Fotografin Tessa nach dem Tod ihres Vaters das Zimmer räumen muss. So lernen sie sich kennen und treffen sich bei Jean im Restaurant Tobelmann. Jean hat sein Literaturstudium aufgegeben, den elterlichen Betrieb übernommen und wurde von seiner Partnerin Sanya verlassen.
Sourie freute sich auf den Tod. Der erste Satz dieses Buches führt direkt zur Auseinandersetzung um Leben und Sterben. Sourie weiter: «Um den Tod erklären zu können, muss man sterben. Ich glaube, dass wir Verstorbene vor allem deswegen ehren, weil sie uns diesen Schritt voraus sind: Sie wissen`s jetzt und können es uns nicht mehr erzählen.» «Wir ehren sie für ihr Leben», korrigierte Tessa entschieden. «Für ihr Dasein. Ihr Vermächtnis. Nicht für ihren transzendentalen Vorsprung.»
Sourie hat bei einem Attentat überlebt, wo sein Freund erschossen wurde. Er muss sein Leben neugestalten. Tessa ihrerseits hat in kurzer Zeit die Eltern verloren und trauert. Trauer ist nicht rational. Sie besteht aus vielen Gedanken und Gefühlen.
Der Tod spielt eine wichtige Rolle, aber es geht eigentlich um das Leben. Wie ein Mitbewohner des Pflegeheims sagt: «Es gibt ja grundsätzlich zwei Philosophien zur Frage des Alters. Die eine lautet: Alles zu regeln, in Ordnung und zu Papier zu bringen, wie es so schön heisst, und dann beruhigt und entspannt abzuwarten, was noch kommt. Die andere: den Tod nach Kräften ignorieren, immer neue Pläne machen, und bloss nichts regeln, da sowieso alles anders kommen wird, als man denkt.»
Die Liebe zwischen dem jungen Sourie und der fast dreissig Jahre älteren verheirateten Tessa und Jean’s Reaktion, als Sanya mit ihrem Kind plötzlich vor der Türe steht und zurückkehren will, zeigen uns, was möglich wird, wenn Konventionen und Erwartungen in den Hintergrund treten. Es gibt keine allgemeingültige Richtigkeit. Wir geben den Dingen einen Sinn, wenn und weil wir es wollen, aber an sich haben sie keinen. Was dazu geführt hat, dass Sourie so über das Leben und den Tod denkt, erfahren wir erst gegen Ende des Romans.
Ein Buch, das auf literarisch meisterhafte Weise zum Nachdenken anregt. Es ist eine Lektüre, die uns auch am Ende unserer Tage ermuntert, Neues noch zu planen.
Husch Josten, geboren 1969, studierte Geschichte und Staatsrecht in Köln und Paris. Sie volontierte und arbeitete als Journalistin in beiden Städten, bis sie Mitte der 2000er-Jahre nach London zog, wo sie als Autorin für Tageszeitungen und Magazine tätig war. 2011 debütierte sie mit dem Roman «In Sachen Joseph», der für den aspekte-Literaturpreis nominiert wurde. 2019 wurde ihr der renommierte Literaturpreis der Konrad Adenauer Stiftung verliehen. Husch Josten lebt heute wieder in Köln.
Wie filigran die Normalität ist, wie leicht scheinbare Harmonie in Schieflage geraten kann und wie nagend und zerstörerisch Schuldgefühle sein können, davon erzählt Jessica Linds Roman „Kleine Monster“. Familie ist alles. Aber eben nicht nur im Guten.
Pia und Jakob werden für ein Gespräch in die Schule geordert. Man glaubt, dass es zwischen Luca, ihrem Sohn, und einem Mädchen in der gleichen Klasse zu einem Übergriff gekommen sein muss. Luca ist sieben und ein „lieber Junge“. So sehr Jakob davon überzeugt ist, dass das, was zwischen den Kindern vielleicht passiert war, nur eine Bagatelle sein kann, so sehr lässt sich Pia verunsichern, weil sie nicht erst seit diesem Vorfall und der Verstocktheit ihres Sohnes, der Weigerung, endlich zu erzählen, was in jenem unbeobachteten Moment passiert war, spürt, dass der Anteil dessen, was ihr an ihrem Sohn fremd, immer grösser wird. Es wächst die Erkenntnis, dass ihr Sohn mehr und mehr ein eigenes Leben führt, dass der Anteil an deckungsgleichem Leben, an Harmonie und totaler Verbundenheit immer kleiner wird. Da wächst ein Mensch, der eigenständig wird, mit all dem Hellen und Dunklen.
Pias Verunsicherung gründet in ihrer eigenen Geschichte, der Geschichte ihrer Familie, ihrer Kindheit, jenem einen Trauma, jenem einen Tag, den die Familie damals zerriss. Was mit Luca passiert, spiegelt die Verwundung aus einer Zeit, die sie lange überwunden glaubte. Pias Eltern wollten Kinder. Weil der Kinderwunsch aber nicht gleich in Erfüllung gehen wollte, entschlossen sich ihre Eltern zu einer Adoption, obwohl sich dann doch noch Kindersegen einstellte. So hatte Pia eine grosse Schwester, Romi – und etwas später gar eine kleine Schwester, Linda. Bis zu jenem Tag, als Pia krank zuhause war. Romi und Linda liefen in den Wald hinterm Haus, zum kleinen See. Pia wunderte sich noch über eine offen gelassene Haustür, dass niemand mehr zuhause war und Romi plötzlich ohne Linda nach Hause kam, alles drunter und drüber ging, Vater und Mutter am Abend am Tisch weinten und man ihr erklärte, es wäre etwas Schlimmes passiert. Linda sei ertrunken.
Jessica Lind «Kleine Monster», Hanser Berlin, 2024, 256 Seiten, CHF ca. 35.90, ISBN 978-3-446-28144-8
Der Titel des Romans bezieht sich nicht nur auf die Einsicht, dass sich selbst in kleinen Kindern kleine „Monster“, Ungeheuerlichkeiten verbergen können. Viel mehr sind es die kleinen Monster in jedem von uns, die uns blenden, verleiten, die uns Dinge tun lassen, die wir sonst so niemals gedacht oder getan hätten, die die Wahrnehmung verzerren und uns zu Handlungen nötigen, die eigentlich nicht unserem Naturell entsprechen.
Pia sieht in ihrem Sohn ihre kleine Schwester, einen Engel, der ein Geheimnis birgt. Gleichzeitig spült die Verstimmung zwischen Pia und ihrem Sohn Luca ein altes Schuldgefühl hoch.
Pias Mutter liebte ihre Kinder alle, wenn auch die leiblichen anders wie das adoptierte. Die drei Schwestern empfanden sich stets als Einheit und Linda tat alles, um ihrer grossen Schwester Romi zu gefallen. Mit jener Katastrophe zerbrach, was zuvor fast alles ausmachte; jenes untrennbare Dreiergespann, die Liebe ihrer Mutter, die in masslose Strenge kippte und nicht zuletzt die Ehe zwischen den Eltern. Irgendwann verschwand Romi aus der Familie, weil man sie für den Tod der Jüngsten verantwortlich machte, weil jener schwarze Tag den Eltern die Gewissheit brachte, einen Kuckuck ausgebrütet zu haben, die drohende Katastrophe nicht früh genug erkannt zu haben.
Zwar weiss Pia auch als Erwachsene von Romi, die mittlerweile zu einer erfolgreichen Influenzerin geworden ist, aber da ist nicht mehr, keine Verbindung. Genauso wie zu den Eltern, die zwar da sind, aber hinter dem schweren Vorhang des Schweigens verborgen.
Mit dem Konflikt Mutter Sohn bricht auf, was im Untergrund über Jahrzehnte mottete. Warum fühlt man sich so sehr ausgeschlossen von der Welt der Nächsten? Warum hat man so wenig Einfluss auf die Reaktionen dessen, was ein Unglück auslöst? Jessica Lind verwebt geschickt zwei Handlungsstränge, die sich gegenseitig spiegeln, die sichtbar machen, wie sehr man geführt, geleitet und bestimmt wird von Erfahrungen und Erlebtem aus der Vergangenheit. Jessica Lind erzählt, ohne zu psychologisieren, ohne die Szenerie über die Massen aufzuladen. Aber weil die Autorin durch ihre Erfahrungen als Drehbuchschreiberin sehr gut weiss, dass gut dosiertes Erzählen reicht, um im Kopf von Leserinnen und Lesern Kaskaden von Deutungen auszulösen, leuchtet die Autorin mit Bedacht aus.
„Kleine Monster“ ist auch ein Roman über das überstrapazierte Soziobiotop Familie. In diesem kleinen, vermeintlich stillen See blubbert es ganz ordentlich aus dem Untergrund. Ein Roman, der mich begeisterte!
Interview
Ich bin mir nicht sicher, ob sich der Titel Ihres Buches so sehr auf die unguten, verborgenen Schattenseiten eines Kindes, auf die Art und Weise, wie Kinder die Situation so ganz anders einschätzen können, bezieht. Sind kleine Monster nicht auch all die Schuldgefühle, Versäumnisse, die wir ein Leben lang mit uns herumschleppen, die dauernd in unser Tun eingreifen? Ich verstehe meine Texte immer als Einladung an die Lesenden, mitzufabulieren. Dafür arbeite ich sehr gerne mit Leerstellen, Versatzstücken aus der Mythologie und auch Metaphern. Ich freue mich also, wenn der Titel auf verschiedene Weisen interpretiert werden kann. Auch das Cover, auf dem eine Kinderhand die Idylle durchbricht, hat einen doppelten Boden. Ihre Interpretation trifft den Kern der Erzählung sehr gut, wenn wir uns nicht mit unserer Vergangenheit auseinandersetzen, wird sie uns irgendwann einholen.
Familien sind heikle Gebilde. Ich bin Vater von fünf Kindern. Zusammen mit meiner Frau haben wir es geschafft, uns einigermassen schadlos durch die intensivste Familienzeit zu schiffen. Wobei ich mir dessen nicht restlos sicher bin, würden wir wirklich in die Tiefe tauchen. Geholfen hat uns damals unsere unverkrampfte, instinktive Art, mit Problemen umzugehen. Und doch gibt es kein Rezept, wie man an Katastrophen vorbeischippern kann. Was wird sein, wenn dereinst Ihre Kinder Ihre Romane lesen? Mir ist es sehr wichtig, meinen Kindern die Freude am Lesen zu vermitteln. Bis jetzt hat das ganz gut geklappt und ich hoffe, dass sie zu neugierigen Lesern heranwachsen werden. Bücher sind eine hervorragende Übung zur Empathiebildung und ermöglichen in ganz verschiedene Lebensrealitäten einzutauchen. Ich bin gespannt, in welchem Alter sie sich für die Probleme meiner Hauptfigur interessieren werden.
Familie wird seit Jahrhunderten idealisiert. Die „heilige Familie“ steht ganz oben an der Spitze aller Ideale. Heute macht es den Eindruck, als wäre für viele Paare die Familie ein Projekt. Man hat eine Familie, ohne je eine Familie zu sein. Familie ist Arbeit, Auseinandersetzung, Konfrontation, Hingabe und Kraftakt. Die Angriffsflächen für Familien werden immer grösser, sei es der Einfluss der Medien, die düster scheinende Zukunft oder all die Ängste, die im Netz geschürt werden. Ist ihr Roman nicht auch ein verschriftlichter Kippzustand zwischen den Extremen? Für meine Arbeit sind Familien vor allem ein wunderbares Experimentierfeld. Die Familie ist eine Kernzelle, in die sich von aussen schwer hineinschauen lässt, die einzelnen Rollen sind stark aufgeladen – jede*r hat eine Vorstellung davon, wie eine gute Mutter, wie ein guter Vater zu sein hat. Diese grosse Nähe ist auch ein idealer Nährboden für alles Unheimliche, was ja meinem Schreiben auch innewohnt. Politisch betrachtet, finde ich es immer wieder Schade, wie eng Familien gedacht und wie sehr sie dazu benutzt werden, Entscheidungen auf die individuelle Ebene abzuwälzen, Stichwort Kinderbetreuung.
Pia ist eine Gefesselte, eine Mutter, die auf Abwehr geht, jenen Teil eines Geheimnisses nicht lüften will, das Pia wie einen Alp durch ihr Leben begleitet. Ein Mann, dem scheinbar alles viel leichter fällt, nicht zuletzt der Zugang zu seinem Sohn in einer schwierigen Zeit. Warum lassen wir uns so leicht fesseln, zurückbinden? Was mich seit meinem ersten Roman sehr beschäftigt, sind Rollenbilder. Welche Erwartungen an eine Rolle sind in uns eingeschrieben? Und was passiert, wenn sie nicht erfüllt werden? Dabei braucht es die Verurteilung von aussen nicht einmal unbedingt, weil wir selbst streng mit uns ins Gericht gehen. Die Rolle des Vaters hat sich in den letzten Jahrzehnten mehr verändert, als die der Mutter. Väter werden immer mehr in die Erziehung eingebunden. Dadurch ist das klassische Rollenbild aufgebrochen und mir kommt es vor, als könnten sie freier agieren. Zum Beispiel, bringt der Vater das Kind zu spät in den Kindergarten, wird er trotzdem gelobt, weil er sich kümmert. Ist die Mutter zu spät dran, hat sie ihr Leben nicht im Griff. Das ist natürlich überspitzt formuliert – aber ich schaffe ja auch in meinen Romanen Situationen, die die Figuren über ihre Grenzen hinaustreiben.
Sie sind selber Mutter. Dass man ihren Roman zu ihrer eigenen Geschichte machen will, kann leicht passieren. Es scheint in der Literatur zu einer Mode zu werden, Texte nach ihrem „Wahrheits-, Realitätsgehalt“ prüfen zu wollen. Man scheint der Fiktion nicht mehr zu trauen. Dabei ist doch alles ebenso Realität wie Fiktion. Aber in Zeiten, in denen Schreibende wie Annie Ernaux zu Göttinnen der Literatur erklärt werden und autobiographisches Schreiben zum Mass aller Dinge (zumindest bei einem Teil der LeserInnen). Braucht Literatur bald einen Beipackzettel? Ich glaube, der Unterschied zwischen Fiktion und Autofiktion ist gar nicht so gross. Von der „Realität“ ist beides entfernt, weil ja jeder Roman gestaltet wird. Der Unterschied liegt im Material, benutze ich Selbst-Erlebtes, bediene ich mich an Fabeln oder mache ich eine ausgiebige Recherche und verwende die gewonnenen Erkenntnisse, um daraus meine Geschichte zu bauen? Beipackzettel halte ich für unnötig, weil ja so oder so das Ergebnis tragfähig sein muss.
Jessica Lind, 1988 in St. Pölten, Österreich, geboren, lebt heute mit ihrer Familie als Drehbuchautorin und Schriftstellerin in Wien. Sie studierte an der Filmakademie Wien und schrieb u. a. mit der Regisseurin Magdalena Lauritsch den Film «Rubikon«. 2015 gewann sie mit der Erzählung «Mama» den open mike, woraus ihr gleichnamiger Debütroman hervorging.
Der Supergau in jeder Familie; ein Kind stirbt. Nichts ist mehr so wie zuvor. Es gibt das Leben davor und ein Restleben danach. Daniela Krien beschreibt ein Paar, das nach dem Tod der 17jährigen Tochter feststellen muss, dass da viel mehr ist, als bloss eine Lücke, ein Verlust. Linda und Richard fallen aus ihrem Leben, aber nicht als Paar, sondern in die Einzelteile.
Linda hat sich in ein altes Haus zurückgezogen, in einem Strassenkaff unter einer Anflugschneise zu einem Flughafen, in vier Wände, in denen nichts an Sonja spiegelt, weit weg von den Menschen, die sie an sie erinnern, von den Strassen und Plätzen, auf denen sich das Leben ihrer Tochter abspielte. Linda erträgt weder sich selbst, noch ihren Mann, der so ganz anders mit der Trauer und dem Schmerz umgeht wie sie selbst. Der nach ihr blossem Aktionismus verfällt. Noch viel weniger erträgt sie die Ermahnungen ihrer Mutter, nach vorne zu schauen, sich dem Leben nicht zu verschliessen, sich zusammenzureissen, ihre Aufsässigkeit am Telefon. Aber am allerwenigsten erträgt sie sich selbst, das Treten am Ort, den Blick in den Spiegel, dass sich die Welt einfach so weiterdreht. Sie hadert mit sich, fühlt sich schuldig, ihre Tochter nicht wirklich gekannt, sie missverstanden zu haben, Erinnerungen an sie zu verlieren. Es gibt keine Normalität mehr, weder in ihrer Gefühlswelt, nicht im Blick auf das, was übrig geblieben ist.
Richard, ihr Mann, der zu Beginn noch im gemeinsamen Haus geblieben ist, besucht sie immer wieder, bringt ungefragt, was er glaubt, brauche sie, bleibt, in der Hoffnung, es würde ein Gespräch entstehen, wieder ein Miteinander. In den Tagen und Wochen nach dem Tod funktionierte man noch gemeinsam, stellte sich den Aufgaben und Pflichten, bis zusammenbrach, was nur noch als Gerippe übriggeblieben war. Mittlerweile ist da neben dem Schmerz um die Tochter ein ebenso grosser um den Verlust einer Liebe. Es scheint nichts geblieben zu sein. Nicht dass die Liebe verschwunden wäre. Aber sie hat das Gegenüber verloren. Da hilft auch sein Flehen nicht, schon gar nicht sein Bitten und Drängen.
Daniela Krien «Mein drittes Leben», Diogenes, 2024, 304 Seiten, CHF ca. 35.00, ISBN 978-3-257-07305-8
Selbst in dem Dorf, in dem sie das Haus einer Mitpatientin bewohnt, einer Frau, die wie sie an Krebs erkrankte, aber im Gegensatz zu ihr sterben musste, begegnet man Linda mit respektvoller Distanz. Sieht, dass sich da eine Frau um Haus und Garten kümmert, sogar um den Hund und die Hühner, die von den einstigen Tieren geblieben sind. Im Haus hängen die Fotos jener Frau, eines Lebens, das nicht das ihre ist. Linda ist aus der Haut gefahren, während ihr Mann sich mit einem neuen Leben, irgendwann gar mit einer neuen Frau an seiner Seite, zurechtzufinden versucht.
Einzige Bezugsperson ist Natascha und ihre authistische Tochter. Eine Frau, die es schafft, in ihrer ganz direkten, ungeschönten Art, die Linda die Tür zur Welt doch immer wieder aufzureissen, eine Frau, die sich nicht unterkriegen lässt und alles versucht, ihrer Tochter die Mutter zu sein, die sie braucht.
Durch den Verkauf des gemeinsamen Hauses zu Geld gekommen, eröffnet sich für Linda mit einem Mal die Möglichkeit, Menschen aus der Enge zu befreien. Der selbstzerstörerische Blick auf sie selbst wird herumgerissen oder weicht zumindest auf. Obwohl der Schmerz bleibt, der Verlust noch immer nagt, beginnt Linda zaghaft ein neues Leben.
Obwohl „Mein drittes Leben“ ein Roman über Verlust ist, ist dieses Buch vor allem eine Liebesgeschichte. Die Liebesgeschichte eines Paares, aus deren Liebe eine Tochter wurde, der man die Tochter genommen hatte und das verzweifelt versucht, das Leben irgendwie zurückzugewinnen. Obwohl sich Linda in ihrem Schmerz einigelt, sind die zaghaft vorsichtigen Besuche ihres Mannes im Restleben seiner Frau etwas vom Ergreifendsten, was ich in der letzten Zeit gelesen habe. Sie schildern derart viel Zartheit, Geduld, Menschlichkeit und Trauer darüber, nicht die richtigen Worte und Gesten zu finden, dass man das Buch an solchen Stellen für einige Momente ablegen muss.
Daniela Krien, geboren 1975 in Neu-Kaliß, studierte Kulturwissenschaften und Kommunikations- und Medienwissenschaften in Leipzig. Seit 2010 ist sie freie Autorin. Ihre Romane «Die Liebe im Ernstfall» und «Der Brand» standen monatelang auf der Bestsellerliste und wurden in viele Sprachen übersetzt. Daniela Krien hat zwei Töchter und lebt in Leipzig.
Die ganze Erde schien zu duften und still zu liegen wie ein schlafendes Mädchen. Das grosse dunkle Rund des nächtlichen Himmels breitete sich über alle Augen aus, über die Berge und die Lichter. Der See hatte etwas Raumloses bekommen und der Himmel etwas den See Umspannendes, Einschliessendes und Überwölbendes.
Lieber Bär
Ich weiss, Du liest „Geschwister Tanner“ von Robert Walser. Keine Ahnung, ob zum ersten oder zum wiederholten Mal.
Grab Carl Seelig auf dem Friedhof Sihlfeld, Zürich
Robert Walser zählt heute zu den wichtigsten, deutschsprachigen Autoren der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, obwohl es schon zu Lebzeiten in absolute Vergessenheit geriet und nur Dank der Anstrengungen des Publizisten Carl Seelig zurück ins Bewusstsein der Öffentlichkeit geriet. Ein grosses Glück, denn selbst Franz Kafka schätzte den stillen Dichter.
Heute ist Robert Walser ein Stück Schweizer Kulturgut. Seit 1973 kümmert sich das Robert-Walser-Zentrum um den Nachlass, die Forschung, Ausstellungen und Editionen zum Werk des Dichters. Kaum zu glauben, dass er in seinen letzten Jahren entmündigt und fast ohne jegliche Kontakte sein Leben in einer Nervenheilanstalt fristete. Selbst Carl Seelig musste sich das Vertrauen des Stillgewordenen verdienen.
Das langsame Verschwinden Robert Walsers begann schon lange vor seinem Tod am Weihnachtstag 1956. Nach seiner letzten Veröffentlichung in Buchform («Die Rose») 1925 schreibt Robert Walser nur noch kürzere Prosastücke für Zeitungen und seine mittlerweile berühmt gewordenen Mikrogramme mit Bleistift. Texte, die erst Jahrzehnte nach Walsers Tod von den Publizisten Bernd Echte und Werner Morlang detektivisch entziffert und zum grössten Teil auch veröffentlicht wurden.
Parallel zur Machtergreifung der Nationalsozialisten in Deutschland, jenem Land, in dem seine Bücher Beachtung und eine kleine, aber nicht unbedeutende Leserschaft fanden, verschlechterte sich der psychische Zustand Robert Walsers. Irgendwann so sehr, dass sich seine Schwester Lisa, zu der Robert grosses Vertrauen hatte, gezwungen sah, ihren Bruder zum Psychiater zu bringen. 1929 tritt Walser in die Klinik Waldau unweit von Bern ein. Diagnose Schizophrenie. Und nachdem man ihn vier Jahre später gegen seinen Willen in die Heil- und Pflegeanstalt Herisau verlegte, gab es sein Schreiben vollständig auf, kapselte sich mehr und mehr ein. Ein Rückzug, der schon mit der geringen Resonanz seiner Bucher zwei Jahrzehnte zuvor begonnen hatte.
Warum Robert Walser lesen? Weil die Stimme, der Walser-Kosmos ganz eigen ist. Weil sich Robert Walser Zeit seines Lebens nie vereinnahmen liess. Weil Robert Walsers Stimme etwas Rebellisches hatte, ohne aufbegehren zu wollen. Weil er sich ganz gegen das stemmte, wonach heute eine ganze Generation lechzt; Aufmerksamkeit, Scheinwerferlicht. Weil Robert Walsers Stimme trotz seiner Einsamkeit eine nach Aussen gewandte, eine naturnahe, elementare, äusserst sinnliche war und man auch heute bei der Lektüre von der Musikalität und Intensität der Sprache ergriffen ist, einem Erzählen, das vollkommen plotabgewandt ist.
Robert Walser «Geschwister Tanner», erste Seite der Handschrift. Das 192 Seiten umfassende Manuskript zeigt über weite Strecken keinerlei Korrekturen. Für sie Makellosigkeit seiner Manuskripte war Walser, der einstige Commis, schon früh berühmt.
Heute ist man sich sicher, dass Robert Walser noch weit mehr geschrieben haben muss, weit über das, was im Nachlass des Dichters verfügbar geblieben ist. Aber weil Robert Walser sehr oft seinen Wohnort wechselte und man bei Hinterlassenschaften des immer schrulliger werdenden Mannes nichts von seiner Bedeutung ahnen konnte, gingen mit Sicherheit etliche Manuskripte verloren. Auch deshalb, weil Robert Walser selbst kein Interesse zu haben schien, sein eigenes Schreiben in irgend einer Weise zu dokumentieren.
Umso bedeutender ist die Tatsache, dass sich sowohl das Robert Walser Zentrum wie der Suhrkamp Verlag darum bemühen, das Werk des Dichters zugänglich und kommentiert zu erhalten.
Nachdem sein erstes Prosawerk «Fritz Kochers Aufsätze» ein grosser wirtschaftlicher Misserfolg war und nur ganz wenige Bücher verkauft wurden schreibt Walser seinen zweiten Roman «Geschwister Tanner» in Berlin in der Obhut seines Bruders Karl in wenigen Monaten, ein Roman, der selbst bei seinem Lektor Christian Morgenstern gemischte Gefühle hervorrief. Wenn ich „Geschwister Tanner“ lese, in die Welt des „Taugenichts“ Simon trete, mit ihm all die Wirrungen und Begegnungen mitmache, die das Leben eines Menschen ausmacht, der sich ganz dem Jetzt zuwendet, der sich nicht um Kariere, Sicherheit und Besitz kümmert, und das derart unbekümmert erzählt, dann wird aus der Lektüre beinahe Meditation.
Ich bin gespannt, was Dir bei der Begegnung mit dem walser’schen Kosmos durch den Kopf geht. Sei freundschaftlich gegrüsst.
Gallus
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Lieber Gallus
Die «Geschwister Tanner» sind ein Märchen, und sie sind für mich das erstaunlichste Märchen, das je geschrieben wurde, weil es kein anderes gibt, das so nahe an der Realität spielt. Peter Bichsel
Der Walser`sche Kosmos in diesem Buch beglückt, bedrückt, begeistert, berührt, belehrt und bereichert mich auf rätselhafte Weise. Einzigartige Naturschilderungen von unglaublicher Schönheit umhüllen in poetischen Worten geschilderte menschliche Abgründe und Sorgen. Wie Peter Bichsel in meiner Ausgabe anmerkt, ist es ein Märchen sehr nahe an der biografischen Realität, ein Text in einer einzigartigen Sprache, der sich kaum einer Analyse unterziehen lässt. Ich habe das Buch mit Genuss (zum zweiten Mal nach fast zwanzig Jahren) gelesen und finde, es hat eine unfassbare Ausstrahlung.
Es gibt keine echten Dialoge zwischen den Geschwistern, für mich beleuchten ihre Aussagen verschiedene Seiten des Protagonisten Simon (=Robert Walser) aus ihrer Perspektive, geschrieben alle im Walser`schen Stil. Aus Sätzen, die Alltägliches beschreiben, leuchten plötzlich Weisheiten und philosophische Gedanken auf. Was denkt Robert Walser wirklich, was will er uns sagen? Leidet er? Liebt er? Kämpft er? Es bleibt auf wunderbare Weise offen. Mir gefällt dieses Meditative und Mystische sehr, voller Naivität und Unbekümmertheit.
Es lohnt sich, langsam und nicht zu viel auf einmal zu lesen. Wie Werner Hegglin («Menschsein ist schon ein Beruf») mir einmal sagte: «Walser ist konzentriert in homöopathischen Dosen zu geniessen.»
Hier ein paar eindrückliche Mosaiksteinchen aus diesem Buch:
Sie haben mich enttäuscht, machen Sie nur nicht ein so verwundertes Gesicht, es lässt sich nicht ändern, ich trete heute aus ihrem Geschäft wieder aus und bitte Sie, mir meinen Lohn auszubezahlen.
Das Rechnervolk: Sie hatten alle langen Nasen von dem vielen Rechnen und gingen in zersessenen, zerschabten, zerglätteten, zerfalteten und zerknickten Kleidern.
Gott ist das Nachgiebigste, was es im Weltraum gibt. Er besteht auf nichts, will nichts, bedarf nichts.
Ich bin demütig, nicht geknickt, nicht etwa gebrochen, aber voll flammender, bittender, flehender Demut. Ich will mit Demut gut machen, was ich mit Liebe verbrochen habe.
Wie kann ich länger zusehen, dass ich mich zu einem solchen Leben verdamme, das nur Achtung einbringt und nur Achtung von anderen, die einen immer so haben wollen, wie es ihnen am besten passt.
Simon hatte den Sommer noch nie so sehr als Wunder empfunden, wie dieses Jahr, wo er vielfach auf der Strasse arbeitssuchend lebte. Es kam nichts dabei heraus, trotz den Bemühungen, aber es war wenigstens schön.
Wahrlich ein Kosmos von grosser literarischer und menschlicher Qualität. Unfassbar, aber beglückend! Walser lesen entschleunigt und wirkt lange nach.
Das Einfachste von der Welt: Alle mit Freundlichkeit zu behandeln! Sind wir nicht alle zusammen, wir Menschen auf diesem einsamen, verlorenen Planeten, Geschwister?
Mit diesem Satz Robert Walser’s wünsche ich dir und uns allen ein angenehmes friedliches 2025.
Herzlich
Bär
Robert Walser wurde 1878 in Biel, Schweiz, geboren. Nach seiner Schulzeit absolvierte er eine Banklehre und arbeitete als Commis in verschiedenen Banken und Versicherungen in Zürich. Seine ersten Gedichte, die 1898 erschienen, liessen ihn rasch zu einem Geheimtip werden und verschafften ihm den Zugang zu literarischen Kreisen. Nach Erscheinen seines ersten Buches «Fritz Kochers Aufsätze» im Insel-Verlag folgte er 1905 seinem Bruder Karl nach Berlin, der dort als Maler und Bühnenbildner den Durchbruch erzielt hatte. In rascher Folge publizierte Walser nun seine drei Romane «Geschwister Tanner», «Der Gehilfe» und «Jakob von Gunten». Infolge einer psychischen Krise geriet Walser Anfang 1929 gegen seinen Willen in die Psychiatrie, deren Rahmen er nie mehr verlassen konnte. 1933 von der Berner Klinik Waldau nach Herisau verlegt, gab er das Schreiben vollständig auf und lebte dort noch 24 Jahre als vergessener anonymer Patient. Robert Walser starb 1956 auf einem Spaziergang im Schnee.