Ana Marwan «Verpuppt», Otto Müller Verlag

Es gibt eine Eintagsfliegenart aus der Gattung Ephemeroptera, die zwanzig Jahre als Larve im Schlamm verbringen kann, um dann für einen Tag Flügel zu bekommen. Die junge Rita im Buch der Bachmannpreisträgerin Ana Marwan ist weder hier noch dort, verpuppt in Lauerstellung. „Verpuppt“ lässt sich lesen wie ein Zustand dazwischen, zwischen Fiktion und Realität, zwischen Traum und Tag, zwischen hier und dort.

Ich las das Buch zweimal, bevor ich es wagte, nur einen einzigen Satz darüber zu schreiben. Ich las es zweimal, um sicher zu sein und habe bei der erneuten Lektüre kaum an Sicherheit und Gewissheit gewonnen. Es war, als wäre ich stundenlang alleine vor einem riesigen Gemälde gesessen, um es zu ergründen, mit dem Resultat, dass scheinbare Einsichten immer wieder kippen, dass ich durch die ineinander fliessenden Perspektiven nie jene Sicht gewonnen hätte, die Klarheit verschafft. Aber vielleicht habe ich verstanden, dass es Ana Marwan eben nicht darum geht, eine stringente Geschichte zu erzählen. Sie will mich auch nicht unterhalten. Die Lektüre ihres Buches versetzte mich in einen elektrisierten Zustand, als müssten meine Synapsen permanent neue Verbindungen suchen, weil ich dem Roman mit meiner krampfhaft kausalen Sichtweise nicht gerecht werden kann.

Ana Marwan «Verpuppt», Otto Müller Verlag, aus dem Slowenischen von Klaus Detlef Olof, 220 Seiten, CHF 29.90, ISBN 978-3-7013-1302-0

Rita ist jung. Ritas Zustand ist jener der Larve im Sumpf. Verpuppt sieht sie ihre Welt nicht mit den Augen der Objektivität, sondern nach innen gerichtet – subjektiv. Ganz offensichtlich ist sie für unbestimmte Zeit in einer psychiatrischen Einrichtung, regelmässig zu Gesprächen herbeigeholt, von TherapeutInnen ermunterst zu erzählen, aufzuschreiben, jene inneren Bilder in Worte zu fassen, nicht in erster Linie, um sie zu begreifen oder zu verstehen, mehr in der Hoffnung, auf Ordnungen zu stossen. Rita schreibt, schreibt nie von einer Klinik, aber von einem «Ministerium für Verkehr und Kommunikation, Abteilung Raumfahrt», in dem sie arbeitet. Von Ivo Jež, einem 30 Jahre älteren Mitarbeiter, einem Bürokraten, dem sie einige Nähe zulässt. Von ihrer viel schöneren Freundin Anja, der alle Sympathie zufällt, ganz im Gegensatz zu ihr, die sich lieber mit Büchern anfreundet. Oder von Frau Klammer, wie Rita ihre Mutter nennt, wenn sie sich in ihrem Schreiben inszeniert. Rita erzählt, wie sie mit aller Souveränität das Leben auf der Bühne des Erzählens ausbreitet. Ein Leben, das für mich als Leser ziemlich verwirrend erscheint. Rita ist gefangen in einem Zustand dazwischen. Ana Marwans Roman spielt mit den „Unwahrnehmungen“ dieses Dazwischens. Rita ist eine junge Frau, der die Realität abhanden gekommen ist, ohne dass das ein Verlust geworden wäre. Ana Marwan nimmt mich mit in den Irrgarten, das Labyrinth einer jungen Frau, die sich in den Zwischenräumen verloren hat.

Ana Marwans Roman erzählt von Ängsten, der „Angst, die menschliche Sprache zu vergessen“. Rita schafft sich in ihrem selbst erschaffenen Kosmos die Welt in ihrer Einsamkeit, eine Insel in ihren Ängsten. Vielleicht erzählt der Roman auch von den Ängsten der Autorin selbst. Aber alle Versuche einer Interpretation bleiben hängen, weil es der Autorin zu allerletzt darum geht, eine „ordentliche“ Geschichte zu erzählen.

Wie bei kaum einem anderen Roman macht es Spass, in der Rezeption darüber zu lesen, den mehr oder minder hilflosen Versuchen, den Roman verstehen zu wollen. Manchmal bin ich mir nicht sicher, ob es nicht so sehr um das Geschriebene selbst geht, sondern um dessen Wirkung. Ana Marwans Roman ist ein kunstvolles Verwirrspiel, als hätte sie ihn im Rausch geschrieben, im Wörterrausch. Der Roman ist gespickt mit bühnenhaften Szenerien, voller Sätze, die sich einbrennen, Wendungen, die mich als Leser vom Boden der Gewissheiten wegreissen.

Man muss für ein Abenteuer bereit sein und wird belohnt mit etwas Einzigartigen.

Das Original „Zabubljena“ (Ljubljana: 2021, Beletrina) wurde mit dem Kritiško sito 2022 als bestes Buch des Jahres 2021 in Slowenien ausgezeichnet.

Ana Marwan, 1980 in Murska Sobota/SLO geboren, aufgewachsen in Ljubljana. Studium der Vergleichenden Literaturwissenschaftin Ljubljana und der Romanistik in Wien. Lebt als freie Autorin in Wien und schreibt Kurzgeschichten, Romane und Gedichte auf Deutsch und Slowenisch. Augezeichnet mit dem exilliteraturpreis „schreiben zwischen den kulturen“ 2008, dem Kritiško sito 2022 für das beste Buch des Jahres in Slowenien 2021 und dem Ingeborg- Bachmann-Preis 2022. „Der Kreis des Weberknechts“ (2019, 3. Aufl.) ist ihr Romandebüt. Im Oktober 2022 ist der TDDL-Siegertext „Wechselkröte“ als zweisprachige Ausgabe (D/SLO) im Otto Müller Verlag erschienen.

Klaus Detlef Olof, geb. 1939 in Lübeck; Slawist und Übersetzer (Studium in Hamburg und Sarajewo); seit 1973 Lehrtätigkeit an der Universität Klagenfurt; Arbeitsschwerpunkt: südslawische Literaturen; zahlreiche Übersetzungen aus dem Slowenischen, Kroatischen, Bosnischen und Serbischen.

Rezension von «Der Kreis des Weberknechts» auf literaturblatt.ch

Beitragsillustration © leafrei.com / Literaturhaus Thurgau

Dörte Hansen «Zur See», Penguin

Eine Insel in der Nordsee. Es sind nicht mehr die Gezeiten, nach denen sich das Leben auf dieser Insel richtet, sondern nach den Touristenströmen, die sich mit den Fähren auf die Insel ergiessen. Man fischt nur noch für die Gäste, Gastrozulieferer bringen vorgefertigte Kost, in den Läden verkauft man Souvenirs und jedes Zimmer, das vermietet werden kann, bedeutet Kasse.

Wie sehr wir uns vom Idyll gezogen fühlen, beweist die Tatsache, dass von der vorübergehenden Flugscham wenig bis gar nichts geblieben ist. Ob Alpenidyll, Lagunenidyll, ob Dschungelidyll, Safariidylll oder Inselidyll – nur für jene Idyllen, die mit fettem Portmonee und sicherem Rückreisedatum jenen Mythen huldigen, die von Hochglanzbildern, InfluenzerInnen und Werbestrategien dem gestressten Zeitgenossen jenen Teil des Lebens durch die Nase ziehen wollen, der sich beinahe paradiesisch anfühlen soll.
Zugegeben, dieser Sehnsucht nach einem solchen Idyll bin auch ich schon unzählige Male erlegen, ob nun ganz weit oben in den Kärntner Bergen mit Sicht nach Slowenien mir Aussicht auf bewaldete Täler, schroffe Berge und einen immensen Himmel oder in einem Landhaus im Burgund unter dem Dach eines Freundes.

Von einem solchen Idyll erzählt Dörte Hansen, die sich mit „Zur See“, ihrem dritten Roman, fulminant im Literaturzirkus zurückmeldet. Nach „Altes Land“ und „Mittagsstunde“, die beide preisgekrönt viel Resonanz erfuhren, schrieb Dörte Hansen mit „Zur See“ einen Roman, der in nichts, seinen Vorgängern nachsteht, ganz im Gegenteil.

Dörte Hansen «Zur See», Penguin, 2022, 256 Seiten, CHF 34.90, ISBN -3-328-60222-4

Vordergründig erzählt die Autorin die Geschichte der Familie Sander, die seit Generationen auf der kleinen Nordseeinsel lebt. Einer Insel, die sich über Jahrhunderte vom Fisch- und Walfang ernährte, einer Insel, von der ihre BewohnerInnen nur in den seltensten Fällen ungezwungen den Weg zum Festland wählten.
Im Haus von Hanne Sander ist es ruhig geworden. Obwohl ihr Mann und ihre drei erwachsenen Kinder alle auf der Insel geblieben sind, treffen sich ihre Wege nur noch dann, wenn es nicht zu vermeiden ist. Jens, der Vater, hat sich nicht nur von der Seefahrt verabschiedet, sondern gleich auch von seiner Familie. Er hockt viel lieber in den Dünen, beobachtet Vögel oder stopft welche aus. Ryckmer Sander, der Älteste, einst Kapitän auf einem Frachter, dem Alkohol verfallen, mogelt sich durch ein Leben, das alles zur Fassade macht. Eske, die Tochter, arbeitet als Altenpflegerin auf der Insel, sieht, was bleibt, wenn aus ehemaligen Nachbarn Geister werden, dröhnt sich ihre Wut mit lauter Musik weg und macht ihre Haut mit Tätowierungen zur Kampfansage. Zufrieden mit sich selbst scheint einzig des Jüngste, Henrik, der aus Strandgut Dinge zusammenbaut, die andere als Kunst kaufen, der genügsam in seiner Hütte lebt, den Dingen mehr verbunden als allem, was lebendig ist.

Als auf der Insel der Tourismus begann, änderte sich alles. Auch im Haus von Hanne. So still es in den Wintermonaten war, ausser es lärmten Stürme, so hektisch wurde es in den warmen Monaten, wenn die Kinder ihre Zimmer für Gäste räumen mussten, wenn sich alles, jeder Gegenstand im Haus, in den Dienst der Gäste zu stellen hatte, wenn Hanne etwas bekam, was sie von niemandem sonst bekam. Aber nicht nur im Haus der Sanders drehte der Wind. Auch überall sonst; in den Gasthäusern, den Läden, der Schifffahrt, am Strand, ja selbst in der Kirche. Alles bettelte um die Aufmerksamkeit der zahlenden Gäste. Es war unendlich viel einfacher, als täglich zur See zu fahren, um dem Meer den einen oder andern guten Fang abzutrotzen, immer mit dem Risiko, Leben draussen zu lassen.

Hintergründig erzählt Dörte Hansen die Gegenwart der Insel, eines Touristenorts. Von den Menschen, die geblieben sind, an einem Ort, an dem nichts so geblieben ist, wie es einmal war und alles nur noch Geschichte erzählt. Hannes Haus ist zu einem Museum geworden, Ryckmer, ihr Ältester zur Karikatur eines Seefahrers. Eine Insel, die sich verkauft hat, nicht zuletzt weil sich viele Inselbewohner selbst das Leben auf der von aggressiver Imobilienpekulation heimgesuchten Idylle nicht mehr leisten können. Sie arbeiten noch auf der Insel, leben aber auf dem Festland.

Bis eines Tages ein ausgewachsener Pottwal am Ufer der Insel strandet. Ein riesiges Tier, das vor den Augen der Inselleute verendet, das man auf den Parkplatz zieht und von Menschen zerlegt wird, die nicht von der einstigen Fisch- und Walfängerinsel kommen. Ein Tier aus den Tiefen der See, das zu stinken beginnt. Hanne versuch mit aller Kraft, in Besitz des Skeletts zu kommen, als Attraktion für ihr Museum.

Was für Touristen wie Idylle aussieht, ist wie ein toter Wal am Strand, stilles Spektakel. Dörte Hansen beschreibt den langsamen Kippvorgang, jenen in der Familie Sander, jenen auf der Insel selbst. Jenes Kippen, das keinen Touristen interessiert. Er will bespasst werden. Dörte Hansen erzählt vielschichtig, feinmaschig und äusserst emphatisch. Man kann vom Roman exzellent unterhalten werden. Aber „Zur See“ ist auch ein Statement, ein überaus kraftvolles und überzeugendes!

Dörte Hansen, geboren 1964 in Husum, arbeitete nach ihrem Studium der Linguistik als NDR-Redakteurin und Autorin für Hörfunk und Print. Ihr Debüt «Altes Land» wurde 2015 zum «Lieblingsbuch des unabhängigen Buchhandels» und zum Jahresbestseller 2015 der SPIEGEL-Bestsellerliste. Ihr zweiter Roman «Mittagsstunde» erschien 2018, wurde wieder zum SPIEGEL-Jahresbestseller und mit dem Rheingau Literatur Preis sowie dem Grimmelshausen Literaturpreis ausgezeichnet. Dörte Hansen, die mit ihrer Familie in Nordfriesland lebt, war Mainzer Stadtschreiberin 2022.

Beitragsbild © Sven Jaax

Kristin Valla «Das Haus über dem Fjord», mare

Elin ist Journalistin in Oslo und kehrt in ihr Heimatdorf an der norwegischen Küste zurück. Ihre Mutter ist gestorben, das Elternhaus leer und Elin hat kein Interesse, jenes Haus wieder zu ihrem Zuhause zu machen. Während sie Ordnung in die Geschichte ihrer Familie zu bringen versucht, offenbaren sich Geheimnisse, die ein Leben dahinter öffnen.

Elins Kindheit war keine einfache. Sie endete abrupt, wie aus heiterem Himmel, an einem Sonntag, an dem man die Verwandtschaft besuchen wollte. Elin hätte mit ihren Eltern und den beiden Brüdern fahren sollen. Aber weil es mit der Zehnjährigen wie immer Probleme gab, sie nicht wollte, wie es die Mutter wollte, fuhren Vater und die Brüder alleine – und kamen nie zurück.

Bauarbeiten wegen einer Umfahrungsstrasse und ungünstiger Untergrund verursachten an jenem Sonntag einen gewaltigen Erdrutsch an Norwegens Küste, liessen scheinbar festen Untergrund zu einem zähen Brei werden und riss alles mit und weg, was der Zufall nicht zu retten wusste. Elins Brüder fand man tot und ihr Vater wurde irgendwann für tot erklärt, obwohl man seine Leiche nie finden konnte.

Kirstin Valle «Das Haus über dem Fjord», mare, aus dem Norwegischen von Gabriele Haefs, 2022, 320 Seiten, CHF 34.90, ISBN 978-3-86648-649-2

Mehr als zwei Jahrzehnte später ist Elin wieder da. Das Trauma der Zehnjährigen ist in den Tiefen ihrer Vergangenheit versenkt. So wie sich die Mutter in den Jahren vor ihrem Tod mit Nippes zudeckte, jeden Zentimeter im Haus mit leerem Zeug belegte, so legte sich Schicht um Schicht über die Trauer, die Angst, die Ungewissheit und eine Ordnung, die geholfen hätte.
Jetzt will sie Ordnung, ein letztes Mal sauber machen, das Haus verkaufen, abschliessen, was vom alten Leben übrig ist. Beim Aufräumen findet sie auch den letzten Terminkalender ihres Vaters. Sie blättert und stellt mit Befremden fest, dass alle Einträge ihres umtriebigen Vaters mit dem Tag seines Verschwindens enden. Die Seiten nach jenem Sonntag vor 22 Jahren blieben leer. Wie kann jemand, der bei einer Naturkatastrophe ums Leben kommt, wissen, dass es danach nichts mehr zu tun und zu erinnern gibt? Elin stutzt. Elin erfährt auch von Konten auf der Bank, die wohl grosse Beträge auswiesen, aber Elin im Unklaren lassen, wofür das Geld verwendet wurde oder liegen blieb. Elin stutzt immer mehr.

Während Elin nicht nur im Haus ihrer Eltern Ordnung zu machen versucht, schläft sie nicht im Haus, das sie verkaufen will. So kommt sie unweigerlich auch mit jenen Leuten in Kontakt, die geblieben waren. Auch mit Ole, dem Freund ihrer Brüder, zu dem sie sich schon in ihrer Jugend hingezogen fühlte, der im kleinen Ort geblieben war und sich als Schriftsteller versucht. So sehr Elin spürt, dass Gewissheiten zu bröckeln beginnen, so sehr spürt sie auch, dass die Menschen von damals mehr mit sich herumtragen, als sie über die Jahre preisgaben.

Kristin Valla hat einen Roman geschrieben, der einem bewusst macht, wie unbedacht wir mit scheinbaren Gewissheiten umgehen. Wie leicht wir uns in falscher Sicherheit wiegen, wie schnell fest geglaubter Untergrund wegrutschen und alles mitreissen kann. Die Autorin beschreibt die Reise einer jungen Frau, die nicht nur von ihrer journalistischen Neugier getrieben wird, sondern von einem alles durchdringenden Wunsch, Ordnung in ihr Leben zu bringen. Eine Ordnung, die eine echte Zukunft erst möglich werden lässt. Elin geht auf eine Reise, eine Reise bis nach Frankreich, eine Reise in die Vergangenheit, eine Reise zu einer Familie, die sie verloren und verschollen glaubte, die man ihr weggenommen hatte. 

„Das Haus über dem Fjord“ erzählt von den Geheimnissen einer Familie, vom Versteckspiel, das einem eine Gesellschaft der Angst und Vorurteile aufzwingt. Was sich spannend wie ein Krimi liest. Ein Roman über den Versuch, mehr als ein Leben zurückzugewinnen. Ein Roman über eine Gesellschaft, die sich verschliesst, über versteckte Leben und verlorene Existenzen. Ein Roman darüber, was die Einsicht bewirkt, feststellen zu müssen, dass einem die Nächsten am weitesten entfernt sind.

Kristin Valla, aufgewachsen im norwegischen Nordland, ist Autorin, Journalistin und Lektorin und schreibt u.a. für das Dagbladet Magasinet und das Kulturmagazin K der Zeitung Aftenposten. Ihr Romandebüt «Muskat» erschien im Jahr 2000 und wurde in sieben Sprachen übersetzt. «Das Haus über dem Fjord» ist ihr dritter Roman.

Gabriele Haefs, geboren am Niederrhein, studierte Volkskunde, Vergleichende Sprachwissenschaft und Keltologie und promovierte über das Irenbild der Deutschen. Heute lebt sie in Hamburg und ist seit vielen Jahren freie Autorin und Übersetzerin u.a. aus dem Irischen. Zu den von ihr übersetzten Autoren zählen Máirtín Ó Cadhain, Eilís Ní Dhuibhne und Eimar O’Duffy. Ihre Arbeit wurde vielfach prämiert, u.a. mehrmals mit dem Hamburger Förderpreis für literarische Übersetzungen.

Beitragsbild © Birgit Solhaug

Lukas Bärfuss «Vaters Kiste», Rowohlt

Was von Lukas Bärfuss Vater geblieben ist, hatte in einer Del-Monte-Bananenschachtel Platz und fand als Hinterlassenschaft ihre vorläufige Ruhe in den dunklen Ecken der Wohnungen seines Sohnes. Bis es nicht mehr auszuhalten war und der Sohn den Deckel lüften musste. Lukas Bärfuss nimmt mich mit und zeigt, dass Schuldscheine der Vorfahren noch lange nachwirken.

Dass wir uns durchaus von anderen Lebewesen unterscheiden, lässt sich nicht abstreiten, haben wir es doch immerhin geschafft, uns parasitär über den ganzen Globus auszubreiten, wie kein anderes Lebewesen. Aus christlicher Sicht, um uns die Erde untertan zu machen. Was wir bravurös geschafft haben, ohne uns im Klaren darüber zu werden, was es heisst, diesen Globus einem Zweckdenken zu unterwerfen. Ein Unterschied zu allen anderen Lebewesen ist unsere Fähigkeit zu denken. Mag sein, dass diese Fähigkeit das Zeug hat, uns in höhere Sphären zu bringen. Aber ganz offensichtlich bewegen wir uns in unserem Denken in derart vorgespurten Bahnen, ohne das wir uns darüber im Klaren wären, dass von Sphären keine Rede sein kann. Statt dessen graben wir uns immer tiefer hinein in jene Denkmuster, die wir uns in den vergangenen Jahrhunderten angeeignet haben.

Lukas Bärfuss öffnet eine Kiste. Jene mit der Hinterlassenschaft seines Vaters, lange mitgeschleppt, nie geöffnet, als wär es jene der Pandora, eine Bananenkiste voller Papiere, Zeugnisse eines Lebens, das sich nie dem Chaos entwinden konnte. Zeugnisse eines zerrissenen Lebens, eines lebenslangen Scheiterns. Da die meisten Menschen irgendwann an den Punkt kommen, an dem das Bedürfnis nach Ordnung gekoppelt mit den Fragen nach dem Woher und Wohin zum Handeln zwingt, kann man sich dem Ordnen wollen nicht mehr entziehen. Lukas Bärfuss öffnet diese Kiste, diese Schachtel, diese Büchse. Wahrscheinlich auch darum, weil er, nun selbst Vater, sich fragen musste, ob er mit dem damaligen Ausschlagen seines Erbes nur jenen Teil ausschlagen konnte, der sich in eine Bananenkiste wegsperren liess.
Und er öffnet die Kiste mit der Hinterlassenschaft einer Weltanschauung, die uns längst jener Freiheit beraubt, die wir so grossartig feiern, während die Welt im Müll versinkt, in den menschlichen Hinterlassenschaften, im Erbe einer ungebremsten Konsumgesellschaft.

Lukas Bärfuss «Vaters Kiste. Eine Geschichte über das Erben», Rowohlt, 2022, 96 Seiten, CHF 24.90, ISBN 978-3-498-00341-8

Wir erben dauernd. Alles ist Erbe. Wenn ich staubsauge, entsorge ich mein Erbe. Wenn ich spaziere, bewege ich mich auf dem permanent anfallenden Erbe meiner Umgebung. Wenn ich ein Buch lese, ist das nicht anderes als die Erbschaft eines anderen, einer Schriftstellerin, eines Dichters. Darwin hat uns gelehrt, dass wir in einer langen Abfolge von Erbschaft stehen, ein genetischer Code nichts anderes als ein Erbe ist, eines, dass wir nie und nimmer ausschlagen können, dem wir unausweichlich ausgesetzt sind. Darwins Erbe ist, dass wir uns permanent in dieser Abfolge gefangen sehen, bis hinein in gesellschaftliche Phänomene, bei denen Sozialhilfebezügerïnnen wieder solche erschaffen und Erfolgreiche und Reiche ihr Erbe an die nächste Generation weitergeben. Ausnahmen bestätigen die Regel.

Lukas Bärfuss Vater war kein Vater, den man sich wünscht; kaum vorhanden, meist vor sich selbst und dem Gesetz auf der Flucht. Auch die Mutter war keine, die mit liebender und geduldiger Hand den Knaben Lukas an ihre Seite genommen hätte. Der junge Lukas Bärfuss war früh sich selbst überlassen, schien zu Beginn in die Fussstapfen seines Vater zu steigen, war als Jugendlicher obdachlos, fing sich aber, fand Arbeit in einer Buchhandlung und begann früh zu schreiben. Mag sein, dass er das Bild des Aufsteigers, von dem, der aus der Gosse kam, zuweilen etwas strapaziert, auch wenn unklar ist, wie sehr ihn der Kulturbetrieb selbst in diese Rolle drängte.

Lukas Bärfuss denkt. In seinem Essay „Vaters Kiste“ geht es durchaus um die Frage, was und wie weit man von seinen Eltern erbt. Ob man ausschlagen kann oder es eigentlich nur die Frage ist, wie man mit diesem Erbe umgeht. Lukas Bärfuss sieht das Erben aber viel umfassender. Auch unser Denken ist in einer Abfolge von Erbschaften unterworfen. Ist es tatsächlich Naturgesetz, dass wir uns eigentlich unfrei in Erbfolgen ketten lassen, sei es in unserem Denken oder in unserem Tun und Handeln?

Die Veranstaltung im Literaturhaus Thurgau ist AUSVERKAUFT!

Lukas Bärfuss leichtfüssiger Essay zwingt mich zur Reflexion. Und das ist gut so, denn es läge in meiner Verantwortung, mich mehr um meine Hinterlassenschaften zu kümmern. Nicht nur, was an Hinterlassenschaften in meiner Wohnung oder meinen Konten nach meinem Ableben liegenbleibt, sondern was von mir überall zurückgelassen wird, scheinbar entsorgt und beseitigt.

Lukas Bärfuss, geboren 1971 in Thun (Schweiz), ist Dramatiker und Romancier, Essayist und Dramaturg. Seine Stücke werden weltweit gespielt, seine Romane sind in zwanzig Sprachen übersetzt. 2003 wurde er für «Die sexuellen Neurosen unserer Eltern» als bester Nachwuchsdramatiker ausgezeichnet und bekam 2005 den Mülheimer Dramatikerpreis für «Der Bus». Mit «Hagard» stand er 2017 auf der Shortlist für den Preis der Leipziger Buchmesse. 2019 wurde Lukas Bärfuss mit dem Georg- Büchner-Preis ausgezeichnet. Zuletzt wurden 2018 «Der Elefantengeist» am Nationaltheater Mannheim, 2020 «Julien – Rot und Schwarz» am Theater Basel und 2021 «Luther» bei den Nibelungenfestspielen Worms uraufgeführt. 2019 erschien «Malinois. Erzählungen», 2021 der Essayband «Die Krone der Schöpfung». Lukas Bärfuss lebt in Zürich.

Webseite des Autors

Illustration © leafrei.com

 

Claire Keegan «Kleine Dinge wie diese», Steidl

Aus der Irischen Proklamation von 1916: „… Die Republik garantiert allen ihren Bürgern religiöse und bürgerliche Freiheit, gleiche Rechte und gleiche Chancen und erklärt ihre Entschlossenheit, nach Glück und Wohlstand der ganzen Nation und aller ihrer Teile zu streben, indem sie alle Kinder der Nation gleichermassen wertschätzt.“ Ob 1916 oder 1984 – i wo!

Ein kleiner Ort in Irland. Winter, Weihnachten 1984. Furlong, Eileen und ihre fünf Mädchen machen sich an die Vorbereitungen zum Weihnachtsfest. Furlong spürt Unruhe in sich. Diese Unruhe wird zu einem Beben, als er bei einer Kohlelieferung zum nahen Nonnenkloster ein verschrecktes Mädchen, eingesperrt im klösterlichen Kohlekeller, findet. Und schlussendlich nimmt er ein Mädchen ohne Schuhe, in Lumpen gekleidet, mit Haaren, als wären sie blind geschnitten worden mit nach Hause, in die Wärme seiner Familie. Eine Weihnachtsgeschichte?

Ein kleiner Ort in Irland. Ganze Schwärme von Raben machen sich über alles Fressbare in dem kleinen Dorf her, besetzen Dachgiebel, machen aus kahlen Bäumen schwarze, krächzende Gebilde. Furlong sieht eines Tages bei einem seiner Spaziergänge durch sein Dorf, das seine Welt ist, eine Katze über dem Kadaver eines Raben. Dreht sich die Welt? Werden die schwarzen Schwärme, die den Ort in den Weihnachtsvorbereitungen regelrecht heimsuchen, mit einem Mal zum „Opfer“? Eine Umkehrung? Doch nicht eine Weihnachtsgeschichte?

Claire Keegan «Kleine Dinge wie diese», Steidl, übersetzt von Hans-Christian Oeser, 112 Seiten, CHF 28.90, ISBN 978-3-96999-065-0

Ein kleiner Ort in Irland. Nicht weit vom Ort steht seit Urzeiten ein Nonnenkloster mit Wäscherei. Alle im Ort, die es sich leisten können, bringen ihre Wäsche ins Kloster, denn zum Kloster gehört ein Magdalenenheim, wie es damals viele in Irland gab und das letzte erst Jahre nach den Geschehnissen dieser Geschichte schliessen würde. Ein Heim für „gefallene“ Mädchen. Mädchen, denen man sich in der konservativen, katholischen Gesellschaft entledigen (was für ein Wort!) wollte. Was von aussen aussehen sollte, als wäre es Zeichen christlicher Mildtätigkeit, institutionalisierter Fürsorge, war in Wirklichkeit ein perfides System grausamer Peinigung, Zwangsarbeit und Humanentsorgung. Zehntausende junge Frauen wurden bis zur totalen Erschöpfung in konzentrationslagerähnlichen Zuständen wie Tiere gehalten und zur Arbeit gezwungen. Und die Kinder dieser Mädchen wurden zu Hunderten hinter den hohen Mauern dieser Klöster in Massengräbern verscharrt. Alles unter dem Schutzmantel der Kirche, erst in der Gegenwart in seiner fatalen Tragweite realisiert, immer noch ein irisches Trauma. In einem Land, das in seinen Traumata wohl noch lange nicht zur Ruhe kommen wird.

Claire Keegan erzählt genau dort, an der Schnittstelle dieser Geschehnisse. Sie erzählt die Geschichte eines Mannes, der seinen Vater nie kennenlernte, dessen Mutter, in ihrer Schwangerschaft allein gelassen, das Glück hatte, eine wohlgesinnte Arbeitgeberin zu haben, ihre Stelle als Haushälterin nicht verlor und den kleinen Furlong im Haus ihrer Arbeitgeberin aufziehen konnte. Furlong, zeitlebens Aussenseiter, findet Eileen, geniesst sein kleines Glück als Vater von fünf gesunden Töchtern. Die einen gehen sogar in die Musikschule des nahen Nonnenklosters! Aber Furlong weiss und spürt, wie brüchig dieses Glück ist. Und jetzt, in den Vorbereitungen zu Weihnachten, die Töchter schreiben Briefe an Santa Claus und man backt Kuchen, ahnt Furlong, dass hinter den Klostermauern nicht die Liebe regiert und es Leben gibt, die vom Glück verlassen sind. Selbst Eileen und er reagieren ganz unterschiedlich auf die Bedrohungen des Glücks. Bis Furlong die Zeichen nicht mehr leugnen kann und er sich gezwungen sieht, ein Zeichen zu setzen. Bis er eines der blossfüssigen Mädchen an der Hand nimmt und es in seinen Mantel gehüllt durch sein Dorf nach Hause zieht, während man auf den Strassen raunt oder die Strassenseite wechselt.

Claire Keegan stellt sich einem Trauma ihres Landes. Vordergründig erzählt sie eine zärtliche Geschichte von einem feinsinnigen Mann, der nicht mehr wegschauen kann. Hintergründig erzählt sie von diesen schwarzen Gestalten, die in Schwärmen ihren unbegrenzten Hunger stillen, die sich hinter Mauern verstecken und sich über Jahrhunderte in Mechanismen hineinmanövrierten, aus die sie nur die Umkehrung zwingen kann.

Claire Keegan erzählt so feinsinnig und zart, wie Furlong seiner Welt begegnet. Seine Art Licht ins Dunkel zu bringen, ist seinem Wesen geschuldet. Er tut es in Liebe. Claire Keegan hätte die alten Mauern des Schweigens auch mit Knall und Rauch niederreissen können, effektheischend und mit aller Macht anklagend. Tat sie aber nicht, weil die Autorin weiss, dass die Wirkung mit ihrer Art des Erzählens viel subtiler ist.

Es dauerte bis 2013, bis sich die Irische Regierung öffentlich entschuldigte!

Claire Keegan, geboren 1968, wuchs auf einer Farm in der irischen Grafschaft Wicklow auf. Sie hat in New Orleans, Cardiff und Dublin studiert. Bei Steidl sind von der vielfach ausgezeichneten Autorin bereits die Erzählungsbände
«Wo das Wasser am tiefsten ist» und «Durch die blauen Felder» (in einem Band: «Liebe im hohen Gras», 2022) erschienen. Ihre Erzählung «Kleine Dinge wie diese» (2022) stand auf der Shortlist des Booker Prize.

Hans-Christian Oeser, geboren 1950 in Wiesbaden, ist literarischer Übersetzer, Herausgeber, Reisebuchautor, Publizist, Redakteur und Sprecher. Er hat zahlreiche Klassiker ins Deutsche übertragen, darunter Mark Twains Autobiographie. Zahlreiche Auszeichnungen, u. a. Heinrich Maria Ledig-Rowohlt-Preis, Helmut-M.-Braem-Übersetzerpreis und Straelener Übersetzerpreis.

Beitragsbild © Murdo McLeod

Peter Weibel «Akonos Berg», edition bücherlese

Er ist geflohen. Immer wieder. Und jetzt noch einmal. Hinauf auf den Berg in der Fremde, die ihn nicht haben will. «Akonos Berg» erzählt von einer letzten Flucht, einem letzten Akt der Verzweiflung, der Hoffnung auf ein letztes Licht in einem Leben, das auszulöschen droht.

Im Jahr 2022 starben weit über tausend Flüchtlinge auf ihrer verzweifelten Fahrt übers Mittelmeer. Eine solche Zahl ist Statistik. Mit Sicherheit starben viel mehr. Sie starben auch schon vorher auf dem Marsch durch die Wüste. Oder nachher durch Krankheit, Kälte und Erschöpfung irgendwo auf der Balkanroute. Dann sitzen sie Monate später irgendwo in einem Durchgangsheim, einem Auffanglager, isoliert, nicht willkommen, zur Untätigkeit verdammt, jeder Würde beraubt, getrennt von ihren Familien, verlassen von all den Träumen und Erwartungen, für die sie einst alles Geld in ihrer Verwandtschaft erbettelten, zu Hoffnungsträgern wurden, alles zurückliessen, was ihnen in ihren Ländern geblieben war, ewig bedroht durch Hunger, Krieg und die dramatischen Klimaveränderungen. Klimaveränderungen in der Natur, aber auch in den Gesellschaften, im Umgang miteinander, im Zusammenhalt der Generationen, Klimaveränderungen der Politik.

Was in der Gegenwart passiert, ist logische Folge dessen, was wir uns selber eingebrockt haben, der Westen durch gnadenlose Ausbeutung, global durch grenzenlose Gier und der Süden, die Länder Afrikas als Folge dessen, was wir mit der Einteilung und Fixierung in eine erste, zweite und dritte Welt anrichteten.

Nun reibt sich die erste Welt die Augen, will nicht wahrhaben, dass das, was den Menschen in der Fremde als Paradies auf Bildschirmen präsentiert wird, nicht auch ein Teil ihrer Welt sein könnte. Man muss sich nur kräftig in die Hände spucken (ein paar Tausender hinblättern, alles zurücklassen) und sich aufmachen in eine bessere Welt. Weiss man doch, ohne Fleiss kein Preis.

Peter Weibel «Akontos Berg», edition bücherlese, mit Aquarellen des Autors, 2022, 64 Seiten, CHF 24.90, ISBN 978-3-906907-66-6

Wir reiben uns die Augen über die Entschlossenheit all dieser Menschen, die sich mit kleinen Kindern und ihren greisen Müttern und Vätern auf den Weg machen. Wir reiben uns die Augen und wollen nicht verstehen, dass sich auch sie einen schmalen Streifen des Kuchens abschneiden wollen. Wir reiben uns die Augen mit der Ahnung, dass das, was von Süden auf uns zurollt weder mit schärferen Gesetzen, besser ausgerüsteter Grenzpolizei oder grenzübergreifenden Massnahmen in den Griff zu bekommen ist.

„Akonos Berg“ erzählt von einem jungen Mann, der aus lauter Verzweiflung einen Berg besteigt, um sich selbst zu einer Fackel werden zu lassen, einem Mahnfeuer für all die Entkräfteten und Entrechteten. Ein letztes Aufbäumen hinein in den Schnee, hinauf in das Licht, weil es in seinem Dorf einst hiess; auf dem Berg stehen die Glücklichen. Weil er seine Familie verliess, seine beiden toten Schwestern, denen man das Leben stahl, seine Eltern, denen er einzige Hoffnung war.

Jonas und Sara, zwei junge Bergführer machen sich trotz unsicheren Wetters auf die Suche nach dem jungen Mann, weil es die Pflicht eines Bergführers ist, Leben zu retten, weil man nicht tatenlos zuschauen kann. Und weil es vielleicht die einzige Möglichkeit ist, mit dem eigenen Leben ins Reine zu kommen. Hilfe als Selbsthilfe. Die beiden machen sich auf den Weg, auf einen vielspurigen Weg, auf die Suche nach einem Mann, der mit Sicherheit erfrieren, verhungern oder abstürzen wird, wenn er nicht rechtzeitig gefunden wird. Auf den Weg zu sich selbst, um sich nicht seiner Tatenlosigkeit wegen vor sich selbst entschuldigen zu müssen. Und auf den Weg zueinander, denn die beiden hatten sich aus den Augen verloren.

Peter Weibel webt Geschichten und Leben zusammen. Die verschneiten Berge, die abweisende, weisse Kälte sind mehr als Metapher. Der Autor macht die Kälte vielfach spürbar. Sie schleicht einem während der Lektüre in die Glieder, erzeugt ein tiefes Frösteln. Da schreibt ein Mann, der von den Ängsten aller weiss, der die Menschen kennt, der mit seinem Schreiben an die Ränder des Erträglichen geht.

„Akonos Berg“ ist keine Wohlfühlliteratur. Und doch ist die Geschichte mit grosser Zärtlichkeit geschrieben. Mit dem Wissen um die wahrhaftigen Dinge der Welt, ohne Pathos, mit aller Verletzlichkeit.

Peter Weibel, geboren 1947, hat Medizin studiert und arbeitet seit vielen Jahren als Allgemeinpraktiker und in der Geriatrie. 1982 erschien ein erster Prosaband «Schmerzlose Sprache», seither veröffentlich er regelmässig Prosa und Lyrik. Er erhielt unter anderem einen Buchpreis des Kantons Bern für den Erzählband «Die blauen Flügel» (2013) und den ersten Kurt Marti Literaturpreis für «MENSCH KEUN» (2017). Für die Texte «Hannah» und «Kocherpark» wurde er beim Bund-Essay-Wettbewerb 2015 bzw. 2019 ausgezeichnet. Zuletzt erschien 2019 «Schneewand» und 2021 «An den Rändern». Peter Weibel lebt in Bern.

Beitragsbild © Sandra Kottonau

Katja Schönherr «Alles ist noch zu wenig», Arche

Bleiben wir letztlich alle allein? Verspechen wir uns im Gefüge „Familie“ nicht viel zu viel? Katja Schönherrs Roman „Alles ist noch zu wenig“ erzählt aus dem „Kampfgebiet Familie“, von den Kollateralschäden permanenten Verdrängens und der Unfähigkeit, das Gegenüber zu akzeptieren. Ein Roman, der nichts beschönt!

Inge ist 84 Jahre alt und wohnt allein in einem Haus auf dem Land, in der ostdeutschen Provinz. Dass man sie fand, war dem Umstand zu verdanken, dass die Nachbarin Ulrike zwischendurch zum Rechten schaut. Oberschenkelhalsbruch. Inge liegt im Spital. Irgendwann wird sie zurückkehren müssen, in das Haus mit Treppe, zurück in ein Haus, das sie so für lange Zeit nicht halten können wird. Inge hat zwei Söhne, Jens und Carsten. Jens, zwei Jahre älter als Carsten, hat sich schon vor Jahren im Streit auf die andere Seite des Atlantiks abgesetzt, möglichst weit weg. Und Carsten lebt von seiner Ex getrennt in der Stadt und teilt das Sorgerecht für seine halbwüchsige Tochter.

Inge telefoniert Carsten. Sie braucht ihn. Auch wenn Carsten wie so oft eine Dienstreise vorschiebt, um dem zu entfliehen, was ihn an ein Leben kettet, dem er nicht wirklich entfliehen kann. Er lügt gegen seine Ex, seine Tochter Lissa, lästig werdende Liebschaften und seiner Mutter. Aber irgendwann steht er dann doch da, weil er der einzig Verbliebene ist und bringt seine Mutter zurück in ein Haus, das für Carsten zum Gefängnis wird. Zwischen ihm und seiner Mutter haben sich über die Jahrzehnte Mechanismen eingeschliffen, die nicht zu überwinden sind; sein permanent schlechtes Gewissen und ihre ewig schlechte Laune, sein linkisches Tun und ihre dauernde Unzufriedenheit.

„Mit Mutter zu reden, ist wie der Versuch, einen Beipackzettel nach dem Lesen wieder zusammenzufalten: Nie kriegt man es richtig hin.“

Katja Schönherr «Alles ist noch zu wenig», Arche, 2022, 320 Seiten, CHF 29.90, ISBN 978-3-7160-2801-8

Carsten zieht während Lissas Ferien zusammen mit seiner Tochter ins Haus seiner Mutter, für ein paar Tage, höchstens einige Wochen. Weg von seiner Arbeit, einer Firma für Frischhaltefolien, einem perfekten Feindbild seiner zur Klimaaktivistin werdenden Tochter. Carsten spürt, wie sich die Schlinge um seinen Hals immer enger zuzieht, eine Schlinge, die ihm den Atem nimmt, weil alles in seinem Leben zum Kampf geworden ist; die vergiftete Beziehung zu seiner handicapierten Mutter, zu seinem verlorenen Bruder, seiner hämischen Ex und seiner aufmüpfigen Tochter. Aber auch an seiner Arbeitsstelle spürt er eisigen Gegenwind. Erst recht jetzt, wo ihn seine Mutter zwingt, seinen Arbeitsplatz im Nirgendwo einzurichten, abgeschnitten von der Welt.

Was von Familie übriggeblieben ist, ist ein Trümmerfeld. Sein Bruder Jens haute damals ab, weil die Eltern nicht wahrhaben wollten, dass Jens anders war als die anderen Männer. Der Bruch seines Bruders damals war aber auch nur der letzte Schritt einer langen Leidensgeschichte, die sich auch in der Familie abspielte. Inge weiss um ihre Fehler, um ihre Schwächen. Carsten weiss es auch. Und Lissa spürt, dass nicht sie es sein kann, die die Felsbrocken und Trümmersteine ins Rollen bringt. Dass Carsten in seiner Verzweiflung und seiner beruflichen Not auch immer wieder die Hilfe der Nachbarin sucht, die mit einer sterbenden Mutter unter dem gleichen Dach genauso wenig vom Glück begünstigt wird, vertieft das Misstrauen zwischen Carsten und seiner Mutter Inge nur noch mehr. Nicht zuletzt darum, weil die Nachbarin einst ein Verhältnis mit ihrem Sohn hatte.

„Die Menschen bilden sich so viel ein auf ihr Sprechenkönnen, ihre Vorstellungskraft. Auf die Fähigkeiten, die sie angeblich wertvoller machen als jedes Tier. Und trotzdem bleibt ihnen ein wirkliches gegenseitigs Verständnis versagt.“

„Alles ist noch zu wenig“ beschreibt eine innerfamiliäre Pattsituation. Einen Ausnahmezustand, ohne sichtbaren Ausweg. Ein Kampfgebiet, das durch keine Friedenstruppe entwaffnet werden kann. „Alles ist noch zu wenig“ stellt die Frage, ob man als Sohn oder Tochter verdammt ist, um jeden Preis seinen „hinfällig“ gewordenen Eltern zu helfen. Ob man als Mutter oder Vater das uneingeschränkte Recht hat, Hilfe einzufordern, koste es, was es wolle. Niemand wählt sich seine Familie selber aus. Wie schafft man es, sich aus einer solchen Situation zu schälen? Reicht es, vom Gegenüber eine Veränderung, einen ersten Schritt, ein Entgegenkommen zu erwarten?

Katja Schönherr erzählt mit viel Empathie und grossem psychologischen Feingefühl. Sie schildert nicht auf Kosten ihrer Figuren, im Gegenteil. Ich als Leser leide mit. Man wünscht sich bei der Lektüre förmlich, die Protagonistïnnen anstossen zu können. Ihnen allen fehlt der Mut, über den eigenen Schatten zu springen, den ersten Schritt zu tun. Sie alle warten und harren, bis die Verwerfungen wie tektonische Platten Erdbeben verursachen. Sie alle stecken fest in ihrem Zorn.

Interview

Ihr Roman beschreibt auch den Knick innerhalb der Generationen. Inge wuchs in einer Zeit auf, in der es noch eine Selbstverständlichkeit zu sein schien, dass sich nachfolgende Generationen um die Verwandten kümmern. Inge sagt einmal „Wozu hat man denn Familie?“. Carsten und erst recht seine Tochter Lissa gehören der Generation an, die alles auf die Karten „Individualismus“ und „Selbstverwirklichung“ setzt. So wie Sippe einst eine Rückversicherung war, ist Familie heute bloss noch eine Form der Selbstverwirklichung?
Ich glaube, viele hadern damit, beispielsweise ihre pflegebedürftigen Eltern nicht selbst umsorgen zu können. Viele würden diese „Rückversicherung“ gerne sein. Aber die Lebensumstände machen es ihnen schlichtweg unmöglich: Man wohnt zu weit weg, man muss arbeiten, man zieht gerade die eigenen Kinder gross. Alle haben immer zu tun, niemand sieht Land in seinem Alltag.
Gleichzeitig sind die staatlichen Strukturen für die Versorgung bedürftiger Menschen alles andere als zufriedenstellend. Das Pflegepersonal ist zu knapp bemessen und unterbezahlt etc. 
Für Carsten ist klar, dass er seine Mutter nicht pflegen kann. Er ist dazu nicht bereit, und diese Abgrenzung steht ihm meiner Meinung nach auch zu. Aber er weiss auch, dass er das schlechte Gewissen gegenüber seiner Mutter nie wieder loswerden wird.

In Inge und Carstens Geschichte liegen Eiterherde verborgen, die nie aufbrachen, für die man nie den Mut aufbrachte hineinzustechen. Eiterherde, die zu Entzündungsherden wurden. Jens, Carstens Bruder, hat Reissaus genommen. Ein Schicksal vieler Familien, in denen sich Töchter, Söhne, Mütter oder Väter für ewig verabschieden. Was würden Sie jungen Eltern raten, wenn die Sie fragen, was sie tun müssten, um nicht in den Sümpfen einer Familiengeschichte steckenzubleiben?
Ich bin da nicht die beste Ratgeberin;-) Ich stecke ja selbst noch mittendrin in diesem Vorhaben, mit meinen Kindern nicht in irgendwelche ungesunden Muster zu verfallen.
Ich reflektiere zwar viel, aber das heisst nicht, dass es mir jedes Mal gelingt, innerhalb meiner Familie so besonnen zu handeln und geduldig zu reagieren, wie ich es eigentlich gerne möchte.
Das Wichtigste – wie in jeder Beziehung – dürfte aber eine offene Gesprächskultur sein. In der jede und jeder sagen kann, was sie oder ihn stört, was sie oder er braucht. Ausserdem sollte man sich entschuldigen können. Und: Ständiges Beleidigtsein (wie es Inge in meinem Roman tut, einfach, weil sie es nicht anders gelernt hat) ist etwas, das keine Beziehung zum Besseren verändert

„Niemand willigt in seine Geburt ein. Es handelt sich also um keinen Deal, den beide Seiten vorab untereinander ausgehandelt hätten. Deshalb schulden Kindern ihren Eltern nicht mehr, als sie jedem andern Menschen auch schulden: Respekt.“ Das proklamiert Lissa ihrem Vater Carsten gegenüber. Eine klare Ansage. So klar die Ansage oder auch ihre Absicht dahinter ist. Begriffe wie „Respekt“ können aber äusserst schwammig interpretiert werden. Oder nicht?
An diesen Punkt kommt ja auch Lissa: Theorie und Praxis klaffen weit auseinander. Was nützt es Lissas Grossmutter denn, respektiert zu werden, wenn gleichzeitig niemand in ihrem Umfeld bereit ist, so für sie zu sorgen, dass sie weiterhin daheim leben kann? Wenn alles darauf hinausläuft, dass sie in ein Heim muss, obwohl sie das überhaupt nicht will? Einen Wunsch, den wahrscheinlich alle nachvollziehen können.

Manchmal ruft meine Mutter an mit dem Kommentar, wenn ich nicht anrufen würde, dann müsse sie es eben tun. Ich gebe zu, ich rufe zu wenig an. Hier ein kleiner Funke permanent schlechten Gewissens, dort ein permanenter Funke leiser Enttäuschung. Ihr Roman erklärt nicht und will schon gar keinen „Lösungsweg“ präsentieren. Ihr Roman beschriebt und tut zuweilen weh. War das Schreiben ein Ordnen oder ein wilder Ritt ins Ungewisse?
Es war ein Ordnen. Ich wusste ziemlich genau, wo ich hinwill. Ich wollte diese drei Generationen (die 15-jährige Lissa, deren Vater Carsten und dessen Mutter Inge) nebeneinanderstellen. Wollte ihre Lebenswelten und Denkweisen zeigen, genauso wie das Fehlen einer gemeinsamen Sprache. Alle drei haben ihre Wünsche und Anforderungen, aber keine und keiner ist bereit, auch nur ein Stück davon abzuweichen. Kompromisse sind unmöglich.
Die Darstellung im Buch ist natürlich zugespitzt. Aber ich wollte damit aufgreifen, was ich gesamtgesellschaftlich beobachte: Dass jede Generation, jede Interessensgruppe nur an sich denkt, und das Aufeinanderzugehen immer schwieriger wird. 

„Alles ist noch zu wenig“ ist ein bestechend guter Titel. Wahrscheinlich hat Carstens Mutter in ihrem Leben alles gegeben. So wie Carsten. Sie wie seine Töchter Lissa es auch versucht. Bei den einen scheint es zu reichen. Bei den andern reicht es nie. Pech?
Der Titel war nicht meine Idee, sondern die des Verlags. Ich mag ihn auch und bin auch sehr glücklich damit, weil er für jede der drei Hauptfiguren steht. Für Inge ist es immer zu wenig Fürsorge, für Carsten ist es immer zu wenig Freiheit, und für Lissa ist es angesichts der Klimakrise und diverser internationaler Konflikte zu wenig Zukunftsperspektive.

Katja Schönherr, geb. 1982, ist in Dresden aufgewachsen. Sie hat Journalistik und Kulturwissenschaften an der Universität Leipzig studiert sowie Literarisches Schreiben an der Hochschule der Künste Bern. Ihr erster Roman «Marta und Arthur» wurde 2019 von der Presse hochgelobt. Er war in Deutschland für den Klaus-Michael-Kühne-Preis als bestes Romandebüt nominiert und in Frankreich für den Prix Les Inrockuptibles als bestes ausländisches Buch. 2020 nahm Katja Schönherr am Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb teil. Sie lebt als Journalistin und Schriftstellerin in der Schweiz. Der Kanton und die Stadt Zürich haben ihre Arbeit bereits mehrfach ausgezeichnet und gefördert.

Beitragsbild © Suzanne Schwiertz

Antoinette Rychner «wo auch immer wir sind», verlag die brotsuppe

Antoinette Rychners Buch „wo auch immer wir sind“ ist auf dem Buchdeckel als Erzählung deklariert. Aber diese Erzählung ist ein ganz persönlicher Bericht aus ihrer Familie, ein Nacherzählen dessen, was nach einer Diagnose wie ein Tsunami über die Familie der Autorin hereinbrach.

Betroffenheits- oder Verarbeitungsliteratur, Nabelschauen sind nicht mein Ding. Bücher, die einen siegreichen Kampf beschreiben oder wie man trotz eines zerstörerischen Schicksals doch wieder auf die Beine kam, sind nicht meine Sache. Wäre die Autorin dieses Buches nicht Antoinette Rychner gewesen, eine vielseitige und erfolgreiche Autorin, hätte ich das Buch nicht einmal zur Hand genommen. Das ist gewiss ein Vorurteil. Aber weil Antoinette Rychner aus einem persönlichen Kampf, einem beinahe tödlichen Schicksal ein Stück Literatur machte, interessierte mich das Buch dann doch und hielt mich bis zur letzten Seite in Bann.

Familien sind filigrane Gefüge, die ganz schnell in Schieflache geraten können. Das wissen alle, die sich in dieses Abenteuer stürzen oder man weiss es aus eigenen Erfahrungen als Kind. Dafür, dass „Familie“ noch immer als Grundpfeiler eines Staates bezeichnet wird, eine ziemlich wacklige Grundfeste.

Stellen Sie sich vor; eines ihrer Kinder klagt über Schmerzen. Es ist noch nicht in der Schule und kann nur ganz ungenau verorten, woher der Schmerz kommen könnte. Stellen Sie sich vor, der Schmerz nimmt ihr Kind immer mehr ein, überfällt es wellenartig, zerreisst es vor Ihren Augen. Stellen Sie sich vor, Sie fahren mit Ihrem Kind ins Spital, Sie tragen es in die Notaufnahme und man teilt Ihnen nach Stunden mit aller Freundlichkeit und Vorsicht mit – Leukämie – Burkett Leukämie – eine der schnellstwachsenden Tumorarten.

Antoinette Rychner «wo auch immer wir sind», verlag die brotsuppe, aus dem Französischen von Yla M. von Dach, 2022, 152 Seiten, CHF 31.90, ISBN 978-3-03867-062-9

Antoinette Rychner erzählt dem kleinen Bruder von Aloys, Benjamin, der bei der Diagnose drei Monate ist, von dem einen halben Jahr, das über Leben und Tod des grösseren Bruders entscheidet. Sie erzählt es ihm, um ihm im Nachhinein zu erklären, warum jene Zeit nicht so verlief, wie sie hätte verlaufen sollen, wie sich es eine junge Familie wünscht, eine Familie, in der sich Mutter und Vater lieben, in der eigentlich alles ist, wie es sein sollte. Von einem halben Jahr, in dem alles wie im Sturm durch die Familie fegt. In dem alles bedroht scheint, alle Normalität aufgehoben ist, kein Stein auf dem andern zu bleiben scheint. Von einem halben Jahr, in dem alles neben der Krankheit und der Sorge um den fünfjährigen Aloys zur Nebensache wird, auch das Familienleben. In der alles bloss noch funktionieren muss, um das Überleben aller zu sichern.

Mutter und Vater, Aloys und Benjamin überstehen das halbe Jahr. Nicht weil sie gesiegt haben, nicht weil sie der Krankheit getrotzt haben, nicht weil sie Übermenschliches geleistet hätten. Sie überstanden, weil sie es schafften, sich ihrem Elend nicht zu ergeben, weil sie es schafften, die Lasten in diesen Monaten auf viele Schultern zu verteilen, weil sie an die Liebe glaubten, auch wenn sie tief unter Automatismen begraben wurde. Weil sie sich ihrer Grenzen bewusst waren, weil sie Schwäche eingestehen konnten, weil sie nicht in erster Linie zu siegen hatten.

„wo auch immer wir sind“ ist ein zärtlicher Monolog mit dem kleinen Benjamin, von dem die Mutter weiss, das er irgendwann verstehen will. Und nicht zuletzt ist dieses Buch ein Zeugnis für all jene Privilegien, die wir ganz unbekümmert in einem Land geniessen, dessen Gesundheitssystem in aller Regel alles tut, um mit Respekt der Gesundheit zu dienen. „wo auch immer wir sind“ macht demütig, auch gegenüber dem filigranen Gefüge „Familie“.

Antoinette Rychner, 1979 geboren, studierte in Vevey Theatertechnik, arbeitete danach in verschiedenen Westschweizer Theatern, bevor sie selbst Bühnenstücke zu schreiben begann. Sie hat am Literaturinstitut in Biel studiert und wurde 2016 für ihren ersten Roman «Der Preis» (ebenfalls von Yla M. von Dach ins Deutsche übersetzt und im verlag die brotsuppe erschienen) mit dem Schweizer Literaturpreis ausgezeichnet. »Peu importe où nous sommes« erschien 2019 in den éditions d’autre part.

Yla M. von Dach lebt als freischaffende Autorin, journalistische und literarische Übersetzerin in Paris und Biel. Für ihre literarischen Übersetzungen wurde die Autorin mehrfach ausgezeichnet, für ihr übersetzerisches Gesamtwerk 2018 im Rahmen der Schweizer Literaturpreise mit dem Spezialpreis Übersetzung. Sie hat unter anderem Nathacha Appanah, Nicolas Bouvier, Catherine Colomb, Sylviane Chatelain, François Debluë, Marie-Claire Dewarrat, Sandrine Fabbri, Alice Ferney, Janine Massard, Henri Troyat, Sylviane Roche, Catherine Safonoff und Alexandre Voisard übersetzt.

Webseite der Autorin

Beitragsbild © guillaumeperret.com

Abdulrazak Gurnah «Nachleben», Penguin

Der 2021 mit dem Literaturnobelpreis gekürte Abdulrazak Gurnah schrieb mit seinem Roman „Nachleben“ ein Panorama einer Familiengeschichte, eines Stücks Kolonialgeschichte und erweist sich als brillanter Geschichtenerzähler, dem man gebannt bis in die feinsten Verästelungen folgt.

„Nachleben“ ist die Geschichte zweier Askari, jenen einheimischen Soldaten, die sich im 20. Jahrhundert in den Dienst ihrer Kolonialmächte stellten und sich als „Schutztruppen“ in Afrika als elitär und privilegiert sahen, obwohl die meisten von ihnen im Kampf umkamen, an Krankheiten und Entbehrungen starben, desertierten und verschwanden.

Ilyas ist noch ein Kind, als er sein Zuhause in Ostafrika verlässt, in eine deutsche Missionsschule gerät, dort Lesen und Schreiben lernt und schlussendlich in den Dienst eines Kaufmanns gestellt wird. Aber Ilyas, der sich der deutschen Sprache mehr als verbunden fühlt, lässt sich in den Wirren zu Beginn des ersten Weltkriegs in Afrika zu eben diesen Schutztruppen anheuern, obwohl er eine kleine Schwester, die einzig Übriggebliebene seiner Familie in der Obhut jenes Kaufmanns zurücklässt. Ilyas wird Soldat, ein Askari und taucht trotz seines Versprechens an seine kleine Schwester nie mehr auf. Afyia wächst als Zurückgelassene auf, führt ein Schattendasein im Haushalt des Kaufmanns, von dessen Frau mit Argwohn beobachtet und drangsaliert.

Abdulrazak Gurnah «Nachleben», Penguin, aus dem Englischen von Eva Bonné, 2022, 384 Seiten, CHF 37.90, ISBN 978-3-328-60259-0

Hamza kehrt als Verwundeter aus dem Krieg an der afrikanischen Front zurück. Als Askari gelang es ihm nur knapp, dem Gräuel, dem Tod zu entkommen. Lebensgefährlich verletzt wird er weitab vom kriegerischen Geschehen von einem deutschen Missionarenpaar gesund gepflegt, bevor er Jahre später verunsichert, scheu und traumatisiert an jenen Ort zurückkehrt, der einst sein Zuhause war. Er findet neben Arbeit bei eben jenem Kaufmann auch dessen Vertrauen. Nicht nur weil er lesen und schreiben kann und Deutsch versteht, sondern weil Hamza in seiner vertrauensseligen, ruhigen Art den unruhigen Kaufmann zu faszinieren versteht. Hamza wird zu einer Stütze in den vielfältigen Geschäften des Kaufmanns und lernt die junge Frau kennen, die wie ein Schatten im Haus seines Patrons wohnt.

Hamza und Afyia werden ein Paar. Und obwohl beide nichts als nur sich selbst besitzen und nichts in ihrem Leben in Richtung Glück zeigt, gewinnen die beiden immer mehr das Vertrauen ihres Umfelds, ziehen nach der Heirat gar ins Haus des Kaufmanns und gründen nach schmerzhaften Fehlgeburten eine kleine Familie. Der kleine Junge heisst Ilyas, so wie der verschollene Bruder seiner Mutter. Ein Umstand, der den Verschollenen in Erinnerung halten soll, so wie die Hoffnung, er würde dereinst doch noch auftauchen. Aber mit dem Namen legt sich auch ein „böser“ Geist auf den kleinen Jungen, der sich immer mehr in sich zurückzieht und von einer Stimme heimgesucht wird. Irgendwann wird klar, dass Hamza sich darum bemühen muss, nach Klarheiten um das Verschwinden seines Schwagers zu suchen, um Ruhe in seine Familie zu bringen. Aber erst als der junge Ilyas, mittlerweile selbst erwachsen zu Weiterbildungen in Deutschland unterwegs sich für seine Familie auf die Suche nach seinem gleichnamigen Onkel macht, kehrt jene ersehnte Ruhe in die Familie von Hamza und Alyia ein.

Was am Roman des Nobelpreisträgers fasziniert, ist seine Sicht auf die Geschichte, sein Erzählton und wie er mit Akribie bis in die feinsten Verästelungen hineinerzählt. Was unter Kolonialisierung auf den verschiedensten Kontinenten in den vergangenen Jahrhunderten Länder, Völker, Schicksale zerriss, ist von keiner dieser Kolonialmächte mit Ernsthaftigkeit und den entsprechenden Konsequenzen aufgearbeitet worden. „Nachleben“ ist ein Nachbeben. Er erzählt von einem gewaltsamen und blutigen Stück Geschichte, das viel zu wenig ins Bewusstsein Europas eingedrungen ist und viel lieber verdrängt wird. Abdulrazak Gurnah erzählt ohne Verurteilung, ohne Groll. Nicht einmal den Schrecken des Krieges schildert er so, wie man ihn der Geschichte entsprechend hätte schildern können, brutal und vernichtend. Abdulrazak Gurnah konzentriert sich auf die Verwundungen der Seele. Dass jede Grausamkeit ein Nachleben hat, eines, dem man sich stellen muss. 

Und dann diese Meisterschaft bis ins Kleinste. Abdulrazak Gurnah beschreibt ein Panorama, aber stets mit der Perspektive hinein in das Kleine, Feine, ohne dass er das Innenleben seiner Protagonistïnnen aufbläht. Selbst Gefühle zeichnet er durch die feinen Beschreibungen ihres Tuns. Mag sein, dass man seinen Erzählstil etwas altmodisch empfindet. Für mich schreibt da einer mit grösster Sorgfalt und unendlichem Respekt für sein Personal.

Abdulrazak Gurnah (geb. 1948 im Sultanat Sansibar) wurde 2021 mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet. Er hat bislang zehn Romane veröffentlicht, darunter «Paradise» (1994; dt. «Das verlorene Paradies»; nominiert für den Booker Prize), «By the Sea» (2001; «Ferne Gestade»; nominiert für den Booker Prize und den Los Angeles Times Book Award), «Desertion» (2006; dt. «Die Abtrünnigen»; nominiert für den Commonwealth Writers› Prize) und «Afterlives» (2020; dt. «Nachleben»; nominiert für den Walter Scott Prize und den Orwell Prize for Fiction). Gurnah ist Professor emeritus für englische und postkoloniale Literatur an der University of Kent. 

Eva Bonné, 1970 geboren, studierte amerikanische und portugiesische Literaturwissenschaft in Hamburg, Lissabon und Berkeley. Seither übersetzt sie Literatur aus dem Englischen, unter anderem von Rachel Cusk, Anne Enright, Michael Cunningham und Abdulrazak Gurnah. Sie lebt in Berlin.

Beitragsbild © Anna Weise

Edith Gartmann «Schongebiet», edition bücherlese

Edith Gartmann hat mich mit ihrem Debüt tief beeindruckt. Ein Buch wie ein Bergkristall, der das Licht in alle Farben bricht. Ein Buch, das mit grosser Zärtlichkeit aus der Sicht eines Mädchens erzählt, der kaum jemand hilft, ihre noch kleine Welt zu entschlüsseln. Ein Buch, das man nach der Lektüre ans Herz drückt und gar nicht ins Regal schieben will.

Lisa ist zehn und lebt mit ihrem kleinen Bruder, ihren Eltern und ihren Grosseltern, die nicht weit von ihrem Haus wohnen und die sie oft besucht, in einem Tal in den Bergen, weit ab vom urbanen Leben, weit ab von den Annehmlichkeiten eines Lebens in materieller Sorglosigkeit. Ihr Vater führt den kleinen Hof, ihre Mutter versinkt immer wieder in Phasen tiefster Schwermut und irgendwann muss sogar die Grossmutter für ihre letzten Monate in die ungeheizte Kammer neben der Stube genommen werden. In Lisas Familie wird mehr geschwiegen als gesprochen. Fragen finden keine Antwort, weder beim wortkargen, distanzierten Vater, noch bei der so oft in sich versunkenen Mutter, die in einem abgedunkelten Zimmer manchmal tagelang in Ruhe gelassen werden muss.

„Was ist anstrengender, die Wahrheit wissen oder die Wahrheit vergessen?“

Nicht einmal der Fernseher, der in die Stube getragen wird, kann die Stille im Haus vertreiben. Eine Stille, die die Furcht, die Erklärungsnot der beiden Kinder nur noch verstärkt. Lisas einziger Lichtblick ist die Dorfschule, die Lehrerin, ihre freundliche Art und die Bücherkiste, die mit dem gelben Postauto ins Dorf, in die Schule, ins Klassenzimmer gebracht wird. Eine Kiste voller Bücher, die sich die Schulkinder ausleihen, die sie mit auf die langen Schulwege nach Hause nehmen dürfen, Lisa in ein Haus in dem das Ticken der Stubenuhr zum Dröhnen werden kann, in ein Haus, in dem es keine Bücher gibt, nur Geschichten, die wie düstere Ahnungen im dunklen Holz des Hauses eingeschlossen sind. In Büchern öffnet sich Lisa die Welt. Dort werden all die Geschichten erzählt, nach denen sie dürstet, die ihr höchstens der Grossvater erzählt, bei dem es aber immer nur das eine Thema gibt; die Jagd.

„Warum tönt leise manchmal so laut?“

Edith Gartmann «Schongebiet», edition bücherlese, 2022, 96 Seiten, CHF 28.90, ISBN 978-3-906907-65-9

Zu Weihnachten bekommt Lisa Schokolade, von einer Tante wieder zwei Silberlöffel und von den Eltern eine kleine Schmuckschatulle mit schwarzem Stoff ausgekleidet. Eine leeres Schächtelchen, das Lisa mit Fragen füllt, die sie auf kleine Zettel schreibt und mit dem kleinen Schlüssel, den sie um den Hals trägt, wegschliesst. Nach dem gleichen Weihnachtsfest, auf der Suche nach einer Vase für einen verfrühten Krokus findet Lisa die Weihnachtsplätzchendose, die ihre Mutter nicht mehr finden konnte, die sie versteckte, damit man sie vor dem Fest nicht finden würde. Hinter der Dose im Schrank mit dem Festtagsgeschirr war noch eine Dose. Eine Dose mit einer rosa Schleife, eine Dose mit Briefen, weggesperrten Briefen. Briefe an ihre Grossmutter, Briefe ihrer Grosstante, Briefe über ein früh gestorbenes Kind, einem Kind, das den gleichen Namen wie Lisa trug, einem Kind, das in keiner Geschichte in der Familie vorkommt, schon gar nicht in den Geschichten ihrer Grosseltern.

„Was das Schwierige ist, muss man nicht auch noch wissen.“

Lisa traut sich nicht. Und wenn sie Fragen so stellt, die sich ganz nahe an dieses früh gestorbene Mädchen annähern, beisst sie auf Stein. Der einzige, der wirklich mit Lisa spricht, ist ihr kleiner Bruder. Aber ausgerechnet ihm muss sie Antworten und Geschichten liefern, Erklärungen für all die Schatten, die das Licht wirft. Antworten auf ihre Fragen, die Lisa in ihrer Schatulle sammelt, findet sie keine. Der einzige Weg, das Tor zur grossen Welt aufzustossen, bleibt die Hoffnung, Antworten und Geschichten in Büchern zu finden.

„Schongebiet“ ist der Raum zwischen all den unbeantworteten Fragen, den Geheimnissen, dem Leben, das durch das Dunkel tappt. Edith Gartmanns Debüt ist von durchdringender Poesie. Was sie an Bildern evoziert, beeindruckt sehr und hat so gar nichts Unausgegorenes, das einem bei der Lektüre den Genuss trübt. „Schongebiet“ ist geradlinig erzählte, feinsinnige Prosa, die sich nicht am Effekt orientiert, die einem mit fast kindlicher Unvoreingenommenheit mitnimmt in eine Welt, die man als Erwachsener vergessen hat, die die Schriftstellerin Edith Gartmann mit Bildern noch immer mit sich trägt. Ich bin der Autorin unsäglich dankbar für dieses Buch!

Interview

Aus der Sicht eines Kindes zu erzählen, ist heikel. Es gibt immer wieder AutorInnen, denen das nicht glaubhaft gelingt, ein Umstand, der einem Buch schnell den Glanz rauben kann. Dir gelingt das sehr gut. Nicht zuletzt deshalb, weil Lisa, das Mädchen in einer Welt lebt, die in ein grosses Schweigen eingehüllt ist. Sie stellt die Frage an sich selbst. Wie gelang es dir, jene unsichtbare Grenze nie zu überschreiten, die das Erzählen schnell unglaubhaft macht?
Frühere Fassungen des Textes standen in einer starken Aussenperspektive mit einer auktorialen Erzählerin. Es war dann gerade das Wagnis Ich-Perspektive, das mir half, Aufgesetztes und Unglaubwürdiges wie Belehrung oder Deutung auszumerzen. Wir nehmen jetzt sozusagen aus erstem Mund an Lisas Innenleben teil. Da dieses Innenleben, wie Du es auch erwähnst, zu einem grossen Teil innen bleibt, konnte ich es beim Schreiben besser schützen vor sprachlichen Anpassungen, vor Konvention oder Kitsch.
Ich denke, auch das Alter von Lisa spielt eine Rolle. Oft empfinden Kinder in diesem Alter das Wegbrechen «der magischen Jahre“ als Verlust, sie fühlen sich heimatlos, manche denken, sie seien bestimmt nicht das leibliche Kind dieser Familie. Lisa befindet sich in dieser Phase ihrer Entwicklung, in der sie einerseits noch stark eingebunden, anderseits aber aus der Ur-Kindheit heraus gefallen ist. Sie schaut bereits mit einem Aussenblick auf ihre Familie und kann nur noch in den Spielen mit ihrem kleinen Bruder zurück in die Welt, in der alles mit allem verbunden ist. Vor diesem Hintergrund bekam ich Raum, auch Widersprüchliches in Lisas Innenwelt glaubhaft zu machen.

Hier die Familie ohne Erklärungen, ohne das Erzählen, wo sich die beiden Kinder selbst die Geschichten erfinden müssen, um das Schweigen auszufüllen. Dort diese Kiste in der Schule, die Lehrerin, der geheimnisvolle Nachbar mit seinem Ferienhaus voller Bücher oder der auf handliche Grösse zugerissene Klozettel aus einer Illustrierten mit einem Foto eines Bücherregals und der noch lesbaren Beschriftung „iftsbibliothek St. Gallen“. Lesen ist viel mehr als eine Kulturtechnik. Bücher sind viel mehr als Unterhaltungsfutter. Wer deinen Roman liest, wird mit Leidenschaft bestätigt. Aber was mit all jenen, die die Geheimnisse der Literatur nicht einmal erahnen?
Verloren für immer…nein, die Literatur ist ja nicht das einzige Tor zu Begeisterung, Identifikation, Gänsehaut, Überlebenswille, Teilnahme, Rausch. Da sind noch die andern Künste, vielleicht auch die Natur oder die Religion. Entscheidend ist, glaube ich, die Sehnsucht. Dann findet sich eines der Tore. Dass offenbar ein immer grösserer Teil unserer Gesellschaft dieses Sehnen und Suchen nicht mehr kennt, oder jedenfalls irgendwie an den Oberflächen haften bleibt, stimmt mich mit Blick auf die Zukunft schon pessimistisch.

Lisa lebt in einem beklemmenden Klima. Ein schweigsamer Vater, der allem aus dem Weg geht. Eine schwermütige Mutter. Auch die Grosseltern können die Tür nicht aufstossen, schon gar nicht der Fernseher. Lisa hat Kraft. Sie überlebt das Schweigen, baut sich ihr eigenes, kleines Glück. Glaubst Du noch immer an die Macht der Literatur?
Zumindest setze ich auf die Kraft des Schöpferischen. Aus dieser Kraft speist sich die Kunst, aber auch das kindliche Spiel, in beiden geht es, meine ich, stark um Hingabe und Freiheit. 
Das Beklemmende und Verlorene spielt sich in Lisas Familie vor allem auf der Beziehungsebene ab. Abgesehen davon sehe ich in ihrem Umfeld aber auch Stärken: das Leben mit den Jahreszeiten, die Rituale, selbst die begrenzte Welt im engen Tal können ihr Halt geben. Vielleicht tragen Spracharmut auf der einen und Naturreichtum auf der andern Seite dazu bei, dass Lisa die Macht der Literatur sucht und findet. 

Ein Bergroman, aber die Berge sind nicht aus Fels. Kein Heimatroman, ohne ein Fitzelchen verklärte Romantik, ein Stück Geschichte eines Mädchens, dem genau jene Heimat fehlt. Und doch sind deine Bilder archetypisch, erzeugen in mir Sepiafarben, als wäre die Geschichte aus tiefster Vergangenheit, als hätte die Gegenwart, die Moderne jenes Tal in den Bergen vergessen. Dein Roman umschifft mit grosser Virtuosität Klischees, Verklärung und Effekte. Entstand das intuitiv oder gab es bewusst Grenzen, die Du beim Schreiben nicht überschreiten wolltest.
«…die Berge nicht aus Fels», welch schönes Bild. 
Wie darauf antworten? Vielleicht so: Als Bergkind befrage ich meine persönliche Beziehung zur Bergwelt seit ich erwachsen bin. Ich kenne mich also zwischen Bergen, bei denen ich auf Granit beisse und Bergen, die ich zu Tobleroneschokolade mache (und allen Stufen dazwischen) ziemlich gut aus. Demnach leiteten mich bei diesem Bergroman wohl beide, Intuition und Bewusstheit.

Lisa stellt Fragen an die Welt. Fragen, die ihr niemand beantwortet. Sie sucht nach Antworten, die ihr verschlossen bleiben. All die Fragen, die Lisa in ihrer Schatulle sammelt, würden jede für sich Diskussionen füllen. Ist Dein Schreiben eine Form des „Nach-Antworten-Suchens“?
Ich glaube nicht, jedenfalls interessiert mich das Suchen nach Fragen mehr als das Suchen nach Antworten, gerade auch im Alltag.
Ich bewundere Freunde, Politikerinnen, Pädagogen oder Künstlerinnen, die zum richtigen Zeitpunkt die richtige Frage stellen. Eine solche Frage wirkt inspirierend und rollt den Teppich aus für die nächsten Schritte. Oft sind wir aber so lösungsorientiert unterwegs, dass wir das Fragen überspringen und gleich zur Antwort übergehen wollen.
Mein Schreiben erlebe ich eher als Befragung und nicht als Beantwortung. Ich habe jedoch nichts dagegen, wenn sich dabei für mich Teilantworten ergeben; besonders in der Befragung der Sprache selbst freue ich mich über jedes bisschen Antwort.

Edith Gartmann, geboren 1967, wuchs im Safiental, Graubünden, auf. Ausbildung am Kindergarten-Seminar Chur, anschliessend Lehr- und Wanderjahre in der Schweiz, Deutschland, Frankreich und England. Sie besuchte die neueKUNSTschule Basel mit Schwerpunkt Malerei und absolvierte den Literaturlehrgang der SAL Zürich. Edith Gartmann lebt in Basel.

Beitragsbild © Ayse Yavas