Die von Kat Menschik illustrierten Bücher aus der Reihe „Lieblingsbücher“ überraschen immer wieder und sind für Büchermenschen wie mich Geschenke für alle Sinne. Sie schmeicheln allem, den Augen, den Händen, meinem Herz, meiner Seele und sind eindrücklicher Beweis dafür, was nur das gedruckte Buch kann; beseelen.
Es ist der 18. Band einer illustren Reihe kleiner, üppig illustrierter Bücher im kleinen Format, mit farbigem Schnitt und Lesebändchen, fadengeheftet – das ideale Geschenk – an sich selbst und all jene, die das schöne Buch mögen. „Der Landarzt“ von Franz Kafka, „Romeo und Julia“ von William Shakespeare, „Die Bergwerke von Falun“ von E.T.A. Hoffmann, „Unheimliche Geschichten“ von Edgar Allan Poe, „Djamila“ von Tschingis Aitmatov bis hin zu „Tomaten“ und viele andere Perlen.
Der neuste Band entstand aus einer Zusammenarbeit mit dem Schriftsteller Maxim Leo. Beide, fast gleich alt, verbrachten ihre Kindheit und Jugend in Ost-Berlin, in der DDR. „Das wir uns nicht kannten, ist merkwürdig, denn unsere Freundeskreise überschneiden sich bis heute. Wir lebten im selben Bezirk, ein paar Strassen voneinander entfernt. Wir erlebten die letzten Monate vor dem Fall der Mauer…“
Maxim Leo, Kat Menschik «Junge aus West-Berlin», Galiani, 2024, Illustrierte Lieblingsbücher Band 18, 80 Seiten, CHF ca. 33.90, ISBN 978-3-86971-304-5
In „Junge aus West-Berlin“ erzählt Maxim Leo von Marc, einer nicht ganz einfachen Jugend in West-Berlin in den zehn Jahren vor der Wende. Marc fehlt es an vielem, vor allem an Selbstbewusstsein. Er hangelt sich durch ein Leben, in dem alles, nicht nur die Stadt in ein klares Gut und Schlecht geteilt ist. Nach einem Ausflug mit der Schule nach Ost-Berlin und einer Schicksalsbegegnung mit einem Mädchen dort und dem Bewusstsein, in der grauen Hälfte der Stadt die Chance zu haben, ein ganz anderer zu sein, macht sich Marc nicht nur immer und immer wieder auf die Reise in den Osten; er macht sich zu einem Boten eines Traums, schleppt sackweise Geschenke mit in den Osten, die er vertickt oder verschenkt, nicht zuletzt, um sich Bedeutung zu verschaffen, den Nimbus des Grosszügigen, Interessanten.
Bei einer der unzähligen Partys in den Jahren vor dem Mauerfall, als die ganze Stadt, sowohl im Westen wie im Osten den Aufbruch zu spüren bekam, als in besetzten Häusern im Osten eine Parallelwelt zur Gegenkultur wurde, lernt Marc Nele kennen. Obwohl Nele Marcs Masche schnell auf die Spur kommt und sich ihre beiden Welten nur marginal überschneiden, beginnt zu wachsen, was anfangs unöglich schien. Nele und Marc werden ein Paar, das über die Dächer der Stadt streift, ein verlassenes Haus zu ihrem Schloss macht und die Geheimnisse des Verborgenen erkundet, nicht nur in der Stadt.
Wenn nur Marcs Unehrlichkeit nicht wäre. Er erzählt ihr zwar immer wieder aus seiner Welt, seiner Vergangenheit, seiner Familie und seiner Kindheit. Aber weil er noch immer fürchtet, sein Leben selbst könnte zu langweilig sein, verheimlicht er, wie er sein Geld verdient und dichtet sich ein Leben als einer von der Musikbranche an. Um in seinem Traum zu bestehen! Aber wie es kommen muss; am 9. November 1989 fällt nicht nur die Mauer. Die Erschütterungen gehen nicht nur durch das bisher geteilte Land.
Da will einer vom Westen in den Osten. Nicht weil es im Osten besser wäre, aber für ihn selbst schon. Dort ist er wer. Dort lebt Nele. Dort liebt ihn Nele. Es braucht den Osten, dass der Junge aus dem Westen bestehen bleibt. Während die Mauern fallen, droht sein Konstrukt zu fallen. Während sich Ossis und Wessis in die Arme fallen, verlieren sich Marc und Nele. „Junge aus West-Berlin“ ist eine gelungene Umkehrung dessen, was der Fall der Mauer für die meisten bedeutete.
Und dann das Buch selbst – die Illustrationen von Kat Menschik. Der Illustratiorin gelingt, was keinem Foto gelingt. Sie vergegenwärtigt ein Gefühl unmittelbar. Da filtert keine Unschärfe, kein Sepia, keine Körnung. In der Verschränkung zwischen Text und Illustration ist dieses Buch ein wahres Kunstwerk!
Maxim Leo, 1970 in Ostberlin geboren, ist gelernter Chemielaborant, studierte Politikwissenschaften, wurde Journalist. Heute schreibt er gemeinsam mit Jochen Gutsch Bestseller über sprechende Männer und Alterspubertierende, außerdem Drehbücher für den »Tatort«. 2006 erhielt er den Theodor-Wolff-Preis. Für sein autobiografisches Buch »Haltet euer Herz bereit« wurde er 2011 mit dem Europäischen Buchpreis ausgezeichnet. 2014 erschien sein Krimi »Waidmannstod«, 2015 »Auentod«. 2019 erschien sein autobiografisches Buch »Wo wir zu Hause sind«, das zum Bestseller wurde. Maxim Leo lebt mit seiner Frau und zwei Kindern in Berlin.
Kat Menschik ist freie Illustratorin. Ihre Reihe Lieblingsbücher gilt als eine der schönsten Buchreihen der Welt. Zahlreiche von ihr ausgestattete Bücher wurden prämiert. Zuletzt erschienen:Asta Nielsen: Im Paradies, Selbstgemachte Geschenke zum Aufessen und Das Haus verlassen.
Geschichten wie dunkle Gemälde! Dass Fleur Jaeggy bei vielen Leserinnen und Lesern nicht auf dem Schirm ist, mag verschiedene Gründe haben. Zum einen schreibt die Schriftstellerin italienisch, zum andern lebt sie scheu und zurückgezogen in Norditalien. Aber wahrscheinlich liegt der Grund auch in der männerdominierten Vergangenheit der Kultur- und Literaturszene.
Dass Suhrkamp in den kommenden Jahren das Werk von Fleur Jaeggy nach und nach wieder in seiner Breite einem deutschsprachigen Publikum zugänglich machen will, ist löblich und mit einem Seitenblick auf Annie Ernaux mehr als verständlich. So wie die grosse Französin entwickelte Fleur Jaeggy in den fünf Jahrzehnten ihres Schreibens einen ganz eigenwilligen Stil, weit weg vom blossen Geschichtenerzählen. Jaeggys Texte, ihre Kurzgeschichten im 2014 in Italienisch erschienenen Band „Ich bin der Bruder von XX“, schildern in einer dunkel gefärbten Sprache vom Unerklärlichen des Lebens. Fleur Jaeggy erzeugt eine ganz eigene Tiefe in Geschichten, die mich als Leser stets mit einem Rest Ratlosigkeit zurücklassen. Einem Rest, der durch seine Verschlüsselung noch lange nachwirkt. Sie erzeugt Bilder, die über die Grenzen zum Surrealen hinausgehen, manchmal von einer ganz alltäglich, fast banalen Eingangsszene bis in den Alp.
Fleur Jaeggy «Ich bin der Bruder von XX», Suhrkamp, aus dem Italienischen von Barbara Schaden, 114. Seiten, CHF ca. 34.90, ISBN 978-3-518-43166-5
Mit ihrer im appenzellischen Teufen spielenden Internatsnovelle «Die seligen Jahre der Züchtigung», erlangte Fleur Jaeggy 1989 Beachtung weit über Europa hinaus, Beachtung, die ihr in ihrem Ursprungsland stets verwehrt blieb. Erst in diesem Jahr ehrte man die 84jährige in der Schweiz mit dem Gottfried-Keller-Preis, einem Preis, die die Schriftstellerin endlich in die Reihe der Grossen in der CH-Literatur stellt.
„Ich bin der Bruder von XX“, 20 Prosaminiaturen, liest sich wie eine Bilder- und Fotoausstellung. Ausschnitte eines Lebens, die Stimmungen aus ihrem Leben schildern, aber nicht, um sie zugänglich zu machen. Fleur Jaeggy verschleiert. Manchmal scheint sie auch mit Absicht in die Tiefenschärfe einzugreifen, als wolle sie mich zwingen, durch ihre Sinneseindrücke Fragen zu verändern, den Blick umzuleiten. Selbst in Familienszenen dominiert das Bedrohliche, die Enge, das Fremde. Als wäre sie in der Welt, in die sie hineingeboren wurde, nie heimisch geworden, auf eine ganz seltsame Weise einsam geblieben.
In einer der kurzen Texte beschreibt Fleur Jaeggy gar eine Begegnung mit ihrer Freundin Ingeborg Bachmann. Darüber, was sein wird, wenn sie dereinst alt sein werden. „Jeden Tag ging ich ins Sant‘Eugenio, Abteilung Schwere Brandverletzungen. Zweimal betrat ich ein Zimmer, das aseptisch sein musste.“ Etwas, was ihre Kurzprosa ganz und gar nicht ist.
Ein Juwel und ein Stück grosse CH-Literatur!
Fleur Jaeggy ist eine schweizerische und italienischsprachige Autorin, Ex-Model, Intellektuelle, Mystikerin, inzwischen etwas über 80 Jahre alt, ehemals enge Vertraute Ingeborg Bachmanns, Witwe des Adelphi-Verlegers Roberto Calasso, heute lebt sie weitgehend zurückgezogen in Mailand. Ihr weltweit gefeiertes Werk umfasst Romane, Erzählungen und Geschichten – beginnend mit «Ich bin der Bruder von XX», wird es fortan vollständig im Suhrkamp Verlag erscheinen. 2025 wird Fleur Jaeggy mit dem Schweizer Grand Prix Literatur ausgezeichnet.
Barbara Schaden studierte Romanistik und Turkologie in Wien und München, arbeitete anschliessend als Verlagslektorin und ist seit 1992 freiberufliche Übersetzerin aus dem Englischen, Französischen und Italienischen. Sie übersetzt neben Kazuo Ishiguro unter anderem Patricia Duncker und Nadine Gordimer. Barbara Schaden lebt in München.
Fleur Jaeggy «Die Seeligen Jahre der Züchtigung», Suhrkamp, 2024, aus dem Italienischen von Barbara Schaden, Broschur, 110 Seiten, CHF ca. 18.90, ISBN 978-3-518-47427-3
Ein Mädcheninternat im Appenzell der sechziger Jahre. Gehorsam und Disziplin prägen die Ordnung des Hauses. Die heitere Landschaft vor den Fenstern treibt die vierzehnjährige Ich-Erzählerin zu stundenlangen einsamen Spaziergängen. Eines Tages erscheint eine Neue während des Mittagessens: Frédérique, schön, streng, verächtlich und voller Überdruss. Frédérique ist anders, etwas Leises und Schreckliches umgibt sie. Ihr sind Beherrschung, Gehorsam und Perfektion bereits zur zweiten Natur geworden. Die Erzählerin ist gebannt von ihrer Erscheinung, sie will sie erobern, sucht ihre Freundschaft. Empfänglich für den morbiden Reiz der Disziplin verfällt sie Frédérique mehr und mehr. Und erst ein ganzes Leben später kann die Erzählerin ihre abgründige Liebe in Worte fassen.
Gruma ist ein kleines Dorf im Apennin. Ein Dorf mit Eigenheiten – wie jedes von der Aussenwelt weitgehend abgeschirmte Dorf. Ein Dorf, in dem die Neuzeit, die Gegenwart mit zerstörerischer Kraft Änderungen provoziert, die nicht nur die Jungen vertreiben, sondern den Verbliebenen auch noch das Letzte an Würde und Stolz zu nehmen drohen.
Wenn in Gruma jemand im Sterben liegt, ruft man seit Jahrhunderten den Geschichtenabnehmer. Ein Amt, das von Mann zu Mann weitergeben wird, eine Aufgabe, die den Träger aussucht, die erst weitergegeben wird, wenn jener der Aufgabe nicht mehr gewachsen ist. Als man Walter zum Geschichtenabnehmer macht, ist er noch ein Junge, ein Schüler, ein stiller Knabe, der auch ohne dieses Amt genug an seinem Leben zu tragen hat. Wenn der Geschichtenabnehmer an ein Sterbebett gerufen wird, stellt man einen Stuhl neben die Sterbenden und lässt den Lauschenden so lange dort sitzen, bis das Lebenslicht erlöscht. Es ist die letzte Gelegenheit für sie Sterbenden, Dinge loszuwerden, Geheimnisse zu offenbaren, Bekenntnisse abzulegen. Der Geschichtenabnehmer nimmt die Geschichten und Geheimnisse zu sich, darf sie niemandem weitererzählen.
Walter, den man im Dorf seiner pechschwaren Haare wegen nur Nerì nennt, gibt sich in die Aufgabe, als wäre es etwas Unabwendbares. Eine Aufgabe, die ihm im Dorf einen Sonderstatus gibt, nicht ausgeschlossen von der Gemeinschaft, aber auch nie mehr ganz einer der ihren. Ein Zeuge, ein Geheimnisträger, eine Hoffnung, eine Stütze, eine Hilfe. Eine Aufgabe, die ihn ans Dorf bindet, an die Menschen dort. Eine Aufgabe, die ihn auch immer mehr belastet, nicht nur, weil er für sich behalten muss, was man ihm erzählt – auch weil ihm das Gewicht dieser Geschichten mehr und mehr zur Fussfessel wird.
Vincenzo Todisco «Der Geschichtenabnehmer», Atlantis, 2024, 256 Seiten, CHF ca. 35.90, ISBN 978-3-7152-5041-0
Gruma ist klein. Eine Bar, ein Lebensmittelladen mit dem Notwendigsten, eine Kirche, ein Pfarrhaus, ein Friedhof, eine Schule und ein Friseur. Über Jahrhunderte waren Geschichten alles, ob in der Kirche, am Stammtisch, an der Theke oder vor dem Spiegel in Sciugars Friseursalon. Aber jene Geschichten sind ganz andere Geschichten als jene, die man Nerì erzählt, der eigentlich Walter heisst, ein eigenartiger Name mitten im Apennin. Geschichten, die am Sterbebett wie Mühlsteine auf die Schultern des Jungen gebunden werden, Geschichten, die unter Verschluss bleiben müssen und dem Heranwachsenden alles abverlangen, bis zur totalen Erschöpfung. Und Nerì selbst darf weder fragen noch entgegnen. Er ist nur der, der als Allerletzter zuhört.
Geheimnisse, Verborgenes, Zugeschüttetes liegen wie ein Geflecht aus Pilzen, ein Mycel unter der Oberfläche des Dorfes. Angestautes, Verkrustungen über Jahrzehnte. Nie verdaut, nie besiegt, nie vergessen. Schon zu Beginn des Romans wird klar, dass Walter irgendwann fluchtartig das Dorf zusammen mit seiner Mutter verlassen musste. Dass das Leben in jener Gemeinschaft ein jähes Ende fand, vergiftet wurde. Denn eines Tages tauchte im Dorf ein Mann auf. Walter war kein Kind mehr und fasziniert von dem Fremden, der seine Nähe suchte und so sehr wissen wollte, was denn seine Aufgabe ist, denn sonst begegnet man ihm im Dorf mit einer Distanz, die über Jahrhunderte mit dem Amt gewachsen war. Ein Geschichtenabnehmer war jemand zwischen Leben und Tod, ein Begleiter ins Jenseits, ein Geheimnisträger. Walter lässt sich auf einen gefählichen Deal ein, einen Handel, der alles aus dem Gleichgewicht bringt und das Dorf in einem Sturm zu überfluten droht.
Vincenzo Todisco schildert ein Dorf an der Kippe zur Neuzeit, eine archaische Welt voller Traditionen, die die Gegenwart wegzuspülen droht. Einen Jungen, einen Mann, der sich in einer Welt wiederfindet, in der nichts so ist, wie damals im Dorf. Eine Welt, die geschrumpft auf die kleine Wohnung in der Stadt und die Arbeit in der Fabrik jeden Zauber verloren hat. Das Amt des Geschichtenabnehmers ist nichts, was man wie ein schmutzig oder löchrig gewordenes Hemd ausziehen kann. Erst recht nicht, wenn da ein Brief auf dem Küchentisch liegt, mit der Bitte ins Dorf zurückzukehren.
„Der Geschichtenabnehmer“ ist ein Roman, der sich mit ganz feinem Strich mit den grossen Themen des Lebens und Sterbens auseinandersetzt. Ein Roman von grosser Sprachkraft, starken Bildern und einem Protagonisten, dem man die Last seiner Aufgabe durch und durch nachspüren kann. Ein Roman, der sich bis an die Grenzen des Lebens begibt. Ein starkes Stück Literatur!
Interview
Ich gratuliere Dir zu Deinem einfühlsamen und überraschenden Roman. Ich staune über die Zartheit Deiner Sprache, über die starken Bilder. Es ist erstaunlich, wie selten das Thema Sterben im Mittelpunkt eines Romans steht. Wahrscheinlich ein Spiegel der Gesellschaft, die sich ebenfalls schwertut, sich mit dem Thema zu konfrontieren. Davon schliesse ich mich selbst nicht aus, obwohl ich in einem Alter bin, in dem rundum schon heftig gestorben wird. War die Auseinandersetzung mit dem Sterben eine Urmotivation oder war es einfach die sterbende Tradition eines kleinen Dorfes, das bis zur Neuzeit weitgehend autark funktionierte?
Es stimmt, in meinem Roman «Der Geschichtenabnehmer» wird viel gestorben (und es gibt doch noch viele andere Romane, die sich mit diesem Thema beschäftigen). Walter, der Geschichtenabnehmer und Protagonist des Romans, sitzt stundenlang am Sterbebett der alten Leute von Gruma und hört ihnen zu, bis sie für immer ihre Augen schliessen. Er sieht und hört zu, wie sie sterben, aber im Grunde genommen geht es immer um das Leben, denn die Sterbenden erzählen rückblickend von ihrem Leben. Kein einziges Mal wird darüber spekuliert, was nach dem Tod passieren könnte. «Der Geschichtenabnehmer» ist eine Ode an das Leben, zu dem auch der Tod gehört. Der Tod ist zweifellos ein Tabuthema, der Mensch hat natürlicherweise Angst davor, es ist etwas, das man nicht verstehen, nicht ergründen kann. In meinem Roman finden sich die Menschen durch Erzählen mit dem Tod zurecht. Was nicht verstanden werden kann, wird erzählt. Der Tod wird mit dem Erzählen überwunden und das Leben stellt sich gerade in diesem Moment mit all ihrer Wucht in den Vordergrund. Zu Beginn des Romans kann man dieses Zitat von Gabriel García Márquez lesen: «Das Leben ist nicht das, was man gelebt hat, sondern das, woran man sich erinnert und wie man sich daran erinnert – um davon zu erzählen.» Genau das tun im Roman die alten Menschen, die sich kurz vor ihrem Tod Walter anvertrauen, sie erinnern sich und dadurch finden sie vor dem endgültigen Ende nochmals ins Leben zurück. Meine Motivation war es, einen Roman über das Erinnern und das Erzählen zu schreiben. Ich habe in den letzten Jahren einige Situationen erlebt, wo eine Person einem Sterbenden lauscht. Das erschien mir ein schönes Motiv, das ich in einen Roman kleiden wollte. Und natürlich spielt da die Metapher des aussterbenden Dorfes mit. Wenn ein Dorf ausstirbt, stirbt die Erinnerung mit. «Der Geschichtenabnehmer» will gewissermassen gegen dieses Vergessen anschreiben.
Du schreibst so eindringlich, mit einer derartigen Selbstverständlichkeit, dass ich mir nicht vorstellen kann, dass das „Amt“ eines Geschichtenabnehmers so einfach erfunden ist. Ein Amt, das sich seinen Träger aussucht. Erstaunlich genug, dass ausgerechnet hier der Einflussbereich eines Priesters „untergraben“ wird. So bleibt dieses Amt frei von Moral und der Pflicht einer Absolution. Man lädt ab. Man erleichtert sich. Walters Vorgänger sank im Alkoholismus ab. Walter selber ist eines Tages seinen Pflichten entflohen. Warum neigen kleine Gemeinschaften zu derart pragmatischen Lösungen?
Der Roman erzählt eine fiktive Geschichte. Ich schöpfe aus eigenen Erfahrungen aus der Kindheit. Im Apennin gibt es ein Dorf, das Gruma ähnelt, die Menschen dort sind eigensinnig und etwas schräg, aber Gruma, so, wie es im Roman beschrieben wird, ist erfunden und die Figuren ebenfalls. Dass alles so glaubhaft herüberkommt, empfinde ich natürlich als Kompliment, aber das ist ja gerade die Herausforderung, mit der man beim Schreiben konfrontiert wird: man will eine erfundene Geschichte so erzählen, dass sie plausibel und echt wirkt. Walter entledigt sich selber seiner Aufgabe, weil er mitschuldig ist, dass Gruma entzaubert wird. Erzählen, die Erinnerung weitergeben, tragen immer etwas Magisches in sich. «Der Geschichtenabnehmer» ist ein Buch über die Kraft des Erzählens. Beim Verfassen des Romans bin ich irgendwann auf ein Essay vom Philosophen Byung-Chul Han mit dem Titel «Die Krise der Narration gestossen». Darin kann man folgenden Satz lesen: «Die lärmende Müdigkeitsgesellschaft ist taub. Die kommende Gesellschaft könnte daher eine Gesellschaft der Zuhörenden und Lauschenden heissen.» Sobald Gruma kein erzählendes, aber gleichzeitig auch kein zuhörendes und lauschendes Dorf mehr ist, wird es entzaubert. In diesem Sinne, um auf die Frage zurückzukommen, gibt sich die Gemeinschaft auf. Mit «lärmender Müdigkeitsgesellschaft» meint Byung-Chul Han unsere moderne Welt, die schon lange sich selber entzaubert hat, weil sie so transparent geworden ist. Walter ist ein Hüter der Geheimnisse, die ihm die Sterbenden anvertrauen und ja, im Gegensatz zum Dorfpfarrer ist er frei von jeglicher Moral und Wertung. Geschichtenabnehmer zu sein ist Segen und Bürde zugleich, heisst es im Roman. Dieses Gleichgewicht galt es beim Schreiben zu halten, aber auch aufzuzeigen, was passiert, wenn das Gleichgewicht aus den Fugen gerät.
Obwohl man landauf, landab von Dichtestress berichtet, eine Stadt wie Tokio mehr als 4000 Einwohner pro km2 zählt, sterben jedes Jahr unzählige Menschen unbemerkt in ihren Behausungen, unabhängig vom materiellen Status. In ursprünglichen Gemeinschaften wie jener in dem von Dir beschriebenen Dorf wäre das undenkbar gewesen. „Privatsphäre“ wie wir sie kennen, gab es nicht. Du wohnst mit Deiner Familie auch in einem Dorf. Gibt es Gemeinschaft noch?
Das Buch erzählt auch vom Altwerden, von der Einsamkeit und der Verlassenheit, die oft damit verbunden sind. Vor der Entzauberung war Gruma eine Gemeinschaft. Die Gemeinschaft entsteht aus der mündlichen Überlieferung von Lebensgeschichten, sie nährt sich davon. In Gruma geht kein Mensch von dieser Welt, bevor er nicht eine Nacht lang erzählen und letzte Dinge loswerden kann. Nach der Entzauberung verlässt Walter das Dorf und zieht zu seiner Mutter in die Schweiz, in die Einsamkeit. Bezeichnend sind die etwas düsteren, aber auch rauen Kapitel im zweiten Teil des Romans, wo Walter seine Mutter (vorübergehend?) ins Altersheim bringt. Bevor er sie dort alleine lässt, muss sie das Alleinsein üben. In diesem Teil des Romans wird die Verlassenheit spürbar, aber auch als Walter nach vielen Jahren nach Gruma zurückkehrt. Das Dorf ist entvölkert, ohne Erinnerung, die Menschen sind einsam. Um auf die «lärmende Müdigkeitsgesellschaft» von Byung-Chul Han zurückzukommen: sie produziert Einsamkeit, sie verunmöglicht Gemeinschaft, denn sie ist die Antithese des Einande-Geschichten-erzählens. Die Frage ist also berechtigt, denn das Erzählen bringt Gemeinschaften hervor. Im Roman wird Gruma unter anderem so beschrieben: «Zu jeder Familie gehörten Grosseltern, Tanten und Onkel, die zusammen mit den Eltern und den Kindern das Haus füllten. Es wimmelte nur so von Kindern und jungen Leuten. Die Alten merkten nicht, dass sie alt wurden. Sie wurden selbst wieder zu Kindern, und der Kreis schloss sich.» Ganz anders die Stimmung viele Jahre später, im Altersheim: es «beherbergt Menschen, die mit dem Abschied vor Augen ins Leere träumen.» In diesem Sinne schreibe ich im Roman gegen diese Einsamkeit an.
In allen Deinen bisherigen Romanen spielt Italien eine zentrale Rolle, obwohl Du in der Innerschweiz geboren ist. Versteckt sich da eine Portion Sehnsucht? Eine genetische Verbundenheit?
Italien ist mein Herkunftsland. Ich bin nicht dort geboren, ich bin in der Schweiz geboren, hier aufgewachsen und von Anfang an integriert worden, aber meine Eltern stammen aus Italien. Sie sind Ende der Fünfzigerjahre in die Schweiz eingewandert, um hier zu arbeiten. Wie Max Frisch einmal gesagt hat, hat die Schweiz Arbeitskräfte gerufen, aber es sind Menschen gekommen. Und diese Menschen, meine Eltern, haben ihre Herkunft, ihre Erinnerungen mitgebracht und haben sie weitergegeben. Als ich noch ein Kind war, gingen wir jedes Jahr nach Italien die Verwandten besuchen, zuerst ans Meer und anschliessend auf dem Apennin. Dort oben, in einem Dorf ähnlich wie Gruma, ist meine Mutter aufgewachsen. Erstaunlicherweise war ich viel lieber dort als am Meer, wo so viel los war. Heute weiss ich weshalb. In diesem kleinen, abgelegenen Dorf, das ich jetzt Gruma nenne, war schon alles da, was im Leben wirklich zählt, Liebe, Lebensfreude, Freundschaft, Treue, aber auch Neid, Tragik und Tod. Alles war so essentiell, archaisch. Es war für mich wie ein Übungsfeld für das Leben. Und natürlich hat all das mit Sehnsucht zu tun. Ohne Sehnsucht auf irgendwas kann man nicht schreiben.
Der Roman „Das Eidechsenkind“ (2018) mit dem Du auch für den Schweizer Buchpreis 2018 nominiert warst, war Dein erster in Deutsch verfasster Roman, nachdem die vorausgegangenen Bücher alle in Italienisch, Deiner Muttersprache, geschrieben wurden. Was veränderte sich damit? Änderte sich die Herangehensweise, die Optik, das Spiel mit dem „Instrument Sprache“?
Ja, das stimmt, mit dem Roman «Das Eidechsenkind» hat bei mir beim Schreiben ein Sprachwechsel stattgefunden. Wechsel ist eigentlich das falsche Wort, denn ich schreibe immer noch auch auf Italienisch. Deutsch ist hinzugekommen. Deutsch war lange Zeit für mich eine Kopfsprache. Mit dem «Eidechsenkind» ist sie zu einer Bauchsprache geworden. Um zu schreiben braucht es eine Bauchsprache. Ich bin jetzt ein zweisprachiger Autor. «Das Eidechsenkind» habe ich selber auch in italienischer Sprache verfasst. Das möchte ich auch beim «Geschichtenabnehmer» tun. Dieses Vorgehen ist für mich sehr interessant, denn beim Übersetzen (und eigentlich ist es kein Übersetzen, sondern eher ein Nochmalschreiben) lerne ich immer wieder etwas von der anderen Sprache, sehe und erlebe sie aus einer anderen Perspektive. Beim «Eidechsenkind» waren die Unterschiede krass. Das deutsche Neutrum, das Kind, erlaubte mir, den Protagonisten sowohl im Plot, aber auch in der Sprache selbst zu verstecken. Das Neutrum erlaubte mir das Kind ganz nahe an die Eidechse heranzubringen, einem Tier (das Tier). Im Italienischen ist das nicht möglich, da muss man sich sofort für mehr Transparenz und also auch mehr Licht statt Schatten entscheiden, il bambino oder la bambina, männlich oder weiblich, das verändert sofort den Ton. Ich habe erst begonnen, den «Geschichtenabnehmer» ins Italienische zu übertragen. In der Originalversion verwende ich eine andere, elaboriertere Sprache als beim «Eidechsenkind». Ich bin gespannt, was ich über die beiden Sprachen diesmal entdecken werde.
Vincenzo Todisco, 1964 in der Zentralschweiz geboren, lebt in Rhäzüns. Er hat Romanistik in Zürich studiert und mehrere Romane auf Deutsch und Italienisch veröffentlicht. Für sein literarisches Schaffen wurde er 2005 mit dem Literaturpreis und 2024 mit dem Anerkennungspreis des Kantons Graubünden ausgezeichnet. Sein Roman «Das Eidechsenkind» war 2018 für den Schweizer Buchpreis nominiert und hat mehrere Auflagen erlebt. Todisco lehrt und forscht an der Pädagogischen Hochschule Graubünden in Chur.
Elisa und Jakob lernten sich erst spät kennen und lieben. Elisa, von einer geschiedenen Ehe verwundet, zieht in das Haus, in dem Jakob hoch über dem Tal seit Jahrzehnten lebt, in ein Haus, in dem die Welt in Ordnung ist, alles seinen Platz hat, auch die späte Liebe zwischen Elisa und Jakob. Bis Jakob stirbt.
„All das Schöne. Die Geschichte von Jakob und Elisa“ ist eine Liebesgeschichte, auch wenn der Tod etwas Grosses wegbrechen liess. Dieser Roman ist eine Liebeserklärung an einen Mann, von dem Elisa erst nach viel Schmerz und Verwundungen neues Vertrauen schöpfte und zu ihm in das Haus über dem Tal zog. In ein Haus mit Weitsicht, ein Haus, das sich über die Jahrzehnte wie eine erweiterte Seelenlandschaft um diesen einen Mann ordnete. Die Liebeserklärung an ein Lieben zu zweit in gegenseitigem Respekt, ohne diese permanente Angst, betrogen und enttäuscht zu werden. Die Liebeserklärung an einen Garten, eine kleine, intakte Welt, voller Leben und Gegenstände, die alle in einer Ordnung zueinander stehen. Die Liebe an ein Leben in Ruhe und Beständigkeit, in dem plötzlich aufbrechen kann, was über lange Zeit blockiert war.
Bis Jakobs Husten, seine Krankheit das Leben im Haus über dem Tal mehr und mehr einnimmt und selbst Jokobs Schwester mit ihrer Hilfe nicht darüber hinwegtäuschen kann, dass die Zweisamkeit in diesem kleinen Paradies endlich ist. Jakob stirbt und Elisa bleibt alleine in dem Haus mit Garten und Katzen zurück. Elisa muss sich neu finden. Da ist die Trauer, die Lähmung, der Schmerz und die Sehnsucht. Aber in und um dieses Haus erinnert alles an ein gemeinsames Leben, ist alles durchsetzt von Jakobs Ordnung, seiner sanften Kraft an Garten, Haus und Tieren, der Wärme, die sein Tun und Sein begleitete. Mit einem Mal werden Gemeinsamkeiten zu Erinnerungen, das, was sie wie einen Schatz in sich trägt, wie ein Garten, für dessen Früchte man etwas tun muss.
„Trauer verläuft nicht in geregelten Bahnen. Trauer kennt keinen Massstab und kein Mass.“
Michèle Minelli «All das Schöne. Die Geschichte von Jakob und Elisa», Saatgut, 2024, mit 11 Schwarz-Weiss-Illustrationen von Janine Grünenwald, 96 Seiten, CHF ca. 28.00, ISBN 978-3-9525244-8-0
Elisas Leben ist an einem Wendepunkt. Kann aus Trauer neuer Mut wachsen? Wie viel stirbt mit? Elisa lebte einst in der Stadt, schälte sich aus einem Leben, mit dem sie sich in den Jahren zusammen mit Jakob versöhnen konnte, das sie besiegte, das zusammen mit Jakob so viel möglich werden liess, dass Elisa sogar für eine Familie bereit gewesen wäre. Jakob war der Mann, der ihr Sicherheit gegeben hatte, sie auch jetzt, nach seinem Tod, noch immer gibt. Selbst in jenen Zeiten, als sich keimendes Familienglück dann doch nicht einstellte und es wieder Jakob war, der sie vor dem Wegsinken rettete.
„All das Schöne“ spielt über vier Jahreszeiten, spiegelt ein Leben, das sich von einem Winter, in dem der Tod sie aus ihrem Glück riss bis in den Winter danach hangelt, in dem Elisa neuen Mut findet, über ein Jahr in Haus und Garten, das ein langes Abschiednehmen ist. „All das Schöne“ ist ein ungeheuer zärtliches Buch, das nie in Rührseligkeit abdriftet, eine buchlange Liebeserklärung an ein Leben, einen Plan, eine Ordnung, ein Sein, das von gegenseitigem Respekt getragen ist. Aber „All das Schöne“ ist auch ein Trauerbuch, ein Abschiedsbuch, ein Buch der Selbstvergewisserung. Ein Buch von einer Frau, die mit einem Mal auf sich selbst zurückgeworfen ist, die mit jedem Schritt in eine neue Ordnung ihr Leben zurückgewinnen muss.
„In dem ein Leben mit einer Geburt beginnt und mit dem Tod endet, wird es zu einer Geschichte. Alles was mit dir und durch dich war, ist nun zu einer Geschichte geworden. Jakob, mit einem fest verfugten Anfang. Und einem Ende. Auf dieser Wiese vor mir. Ich ziehe die Jacke enger.“
Ein Buch, das wärmt!
Michèle Minelli, Schriftstellerin und Filmschaffende, lebt und arbeitet auf dem Iselisberg. Koordinatorin der Franz-Edelmaier-Residenz für Literatur und Menschenrechte in Meran, Vorstandsmitglied Deutschschweizer PEN-Zentrum. Seit 2000 sechs Sachbücher und acht Romane mit Übersetzungen ins Französische, Chinesische und Albanische. Minelli ist verheiratet mit dem Schriftsteller Peter Höner.
Janine Grünenwald malte schon als Kind im Architekturbüro ihres Vaters stundenlang. Seit 2015 illustriert sie eigene Comics, Postkarten, Kalender u.a. im Hasenbureaux.ch. Sie lebt und arbeitet in Zürich. All das Schöne ist der erste Roman, den sie illustriert.
Martin R. Dean erzählt in seinem autobiographischen Roman „Takab und Schokolade“ von Erkundungen über seine Herkunft, dem Gefühl einer Rastlosigkeit, der Suche nach Zugehörigkeit, Familie und Vergangenheit. Auch ein Roman darüber, was Verleugnung und drohendes Vergessen anrichten kann und nicht zuletzt ein Buch über Verlust.
Wir tragen nicht nur Geschichten mit uns, auch Geschichte. Und mit jedem Sterben, jedem Tod brechen Geschichten und Geschichte weg, sinken ins Vergessen. Es sind nicht nur die eigenen Erlebnisse eines Lebens, die sich ins Bewusstsein eingraben, mit denen man lebt, entscheidet, denen man folgt und von denen man zehrt. In unserem Unterbewusstsein begleitet uns mit Sicherheit Eingeschriebenes aus früheren Generationen, als wäre es ein genetischer Code, der erst dann reaktiviert wird, wenn wir uns mit unserer Geschichte auseinanderzusetzen beginnen.
Der Schriftsteller Martin R. Dean beschäftigt sich nicht erst mit seinem akuellen Buch mit Herkunft, Zuschreibung und Heimat. Seit drei Jahrzehnten kreist der Schriftsteller immer wieder um seine Herkunft, seine Familie aus mehreren Kulturen, einer aus Norddeutschland stammenden Familie seiner schweizer Mutter und eines aus Trinidad stammenden Vaters. Martin R. Dean, aufgewachsen in kleinbürgerlichen Verhältnissen im Kanton Aargau, ist sich seinem Anderssein schon sehr früh bewusst, nicht nur wegen seiner dunkleren Hautfarbe, sondern weil seine Mutter sich nach der Trennung von jenem Vater und eines gescheiterten Traums, in Trinidad heimisch zu werden, nie mehr in jenes Land zurückkehrt. Ein Land, ein Stück Vergangenheit, das die Mutter mehr und mehr aus ihrem Leben verdrängt, nicht zuletzt darum, weil neue Beziehungen der Mutter das Gravitationsfeld der Familie nachhaltig verändern, bis zur totalen Verdrängung.
„Von Raum zu Raum gerate ich immer tiefer in die Geschichte meiner Vorfahren.“
Martin R. Dean «Tabak und Schokolade», Atlantis, 208 Seiten, CHF ca. 32.90, 2024, ISBN 978-3-7152-5039-7
Mit Sterben und Tod seiner Mutter macht sich Martin R. Dean auf auf eine Suche nach der Familie seines leiblichen Vaters. Im Bewusstsein, dass sich hinter den Schwarzweissfotos seiner Mutter, die er aus ihrer Hinterlassenschaft retten konnte, nicht nur ein paar Lebensjahre eines versuchten Familienglücks verbergen, sondern die Geschichte eines ganzen Landes. Es beginnt eine Reise in die Tiefen eines andern Kontinents, ganz anderer Geschichten, einer ganz anderen Geschichte. Jene von Sklaverei, Ausbeutung, Verschleppung, Unmenschlichkeit und Entwurzelung. Jedes Treffen mit Verwandten öffnet neue Türen, Leben, die aus dem Vergessen hervortreten, Leben, die zum eigenen werden. Mit einem Mal offenbart sich ein Wurzelgeflecht, das sich zum Reichtum wandelt. Was ein Leben lang zu einengenden Zuschreibungen und Ausgrenzungen führte, wird durch diese Reise nach Innen und Aussen zu Weite und Perspektive, zu Reichtum und Heimat.
„An den Dingen kleben die Geschichten, und selbst wenn sie nicht mehr in Gebrauch sind, sprechen sie von dem, was sie uns einmal wert waren.“
„Tabak und Schokolade“ ist auch eine Rückeroberung der Mutter, die Suche nach dem verlorenen Paradies, jenen wenigen Jahren unter Palmen, einer Kindheit in der Karibik, die mehr und mehr erlosch. Jene junge Frau, die über dem Ozean ein neues Leben wagte, deren Ehe aber scheiterte und sie mit einem dunkelhäutigen Jungen an der Hand zurück in die Schweiz zwang, starb gleich mehrfach. Damals, als sie einen Traum aufgeben musste, mit der Dominanz eines Stiefvaters und dem Rassendünkel eines späten Lebenspartners.
Den Roman „Takab und Schokolade“ damit aber zu einer reinen Familienerkundung zu machen, wird dem Buch keineswegs gerecht. Sehr schnell wird mir bei der Lektüre bewusst, wie wenig ich über meine eigene Herkunft weiss, wie unbedarft ich mich über all den Schichten meines Seins bewege, wie gedankenlos ich mich in meinen westeuropäischen Privilegien bewege und wie viel Kampf, Leid und Erniedrigung unter den Grundfesten meiner Existenz verborgen sind.
Martin R. Dean wurde 1955 in Menziken, Aargau, als Sohn eines aus Trinidad stammenden Vaters und einer Schweizer Mutter geboren, studierte Germanistik, Ethnologie und Philosophie an der Universität Basel, unterrichtete an der Schule für Gestaltung in Basel und am Gymnasium in Muttenz. Dean ist vielfach ausgezeichneter Buchautor. Zu seinen jüngsten Werken gehören «Meine Väter» (Neuausgabe 2023), «Ein Stück Himmel» (2022), «Warum wir zusammen sind» (2019) und «Verbeugung vor Spiegeln – Über das Eigene und das Fremde» (2015). Martin R. Dean lebt in Basel.
Zora del Buonos Roman „Seinetwegen“ ist ein Vaterbuch. Vaterbücher gibt es viele. Aber weil sie damals, als ihr Vater nach einem Autounfall starb, noch nicht einmal ein Jahr alt war, blieb dieser wie ein Geist im Hintergrund verborgen. „Seinetwegen“ ist eine literarische Vergegenwärtigung, eine vielfache Auseinandersetzung zwischen Opfer und Täter – der Roman in seiner Art ganz eigen.
Das Unglück, den Vater mit acht Monaten zu verlieren, bleibt nicht nur an der Tochter ein ganzes Leben haften. Damals verlor sie ihren Vater. Ihre Mutter ihren Mann. Er wurde 33 Jahre alt und war vielversprechender Radiologe am Kantonsspital in Zürich. Ihre Mutter heiratete nie mehr. Und während die Autorin mit ihrem 60. Geburtstag immer mehr den Wunsch nach Klärung verspürt, sinkt ihre Mutter im Heim in eine Demenz. Wer war der Mann, der bei einem waghalsigen Überholmanöver mit dem Auto ihres Vaters kollidierte? Lebt er noch? Wie lebt es sich, wenn man vor Gericht seine Schuld bekennt? Und wie konnte es sein, dass jener Mann, der mutmasslich zu schnell und mit ungenügenden Bremsen unterwegs war, mit 200 Franken Busse und einer bedingten Strafe davonkam? Warum war der Tod des Vaters nie ein Thema zwischen Mutter und Tochter?
Zora del Buono «Seinetwegen», C. H. Beck, 2024, 204 Seiten, mit Abbildungen, CHF ca. 29.90, ISBN 978-3-406-82240-7
Am Steuer jenes weissen VW-Käfers sass damals der Bruder der Mutter. Er überlebte schwer verletzt, während Zora del Buonos Vater im Spital nach einer Woche an seinen Verletzungen starb. Vom Unfallverursacher, den die Autorin nicht Täter, sondern Töter nennt, weiss sie, dass er ebenso alt war wie ihr Vater damals und sie kennt seine Initialen; E. T. Was die Tochter über ihren Vater weiss, ist, das, was man sich erzählt, nicht die Mutter, aber in der Familie. Einige Fotos, aus denen mit den Jahren Erinnerungen werden. Zora del Buono besucht ihre demente Mutter, eine Frau, die ein ganzes Leben eine elegante Erscheinung war, attraktiv, die sich aber nie mehr wirklich auf einen Mann einliess, geschah das doch in einer Zeit, in der man erwartet hätte, dass die Witwe noch einmal heiraten würde, nur schon wegen der kleinen Tochter.
Zora del Buono macht sich auf die Suche. Auf die Suche nach Antworten auf immer und immer wieder gestellte Fragen, nach Klärung, nach jenem Mann, der sich hinter den Initialen E.T. verbirgt, nach Gründen, warum die Geschichte ihrer Familie und ihre eigene Geschichte jene Richtung eingeschlagen hatte. Warum das Schweigen überall durchbrochen werden muss. Warum das Wohin ins Wanken gerät, wenn das Woher im Dunkeln bleibt. Was wäre geworden, wenn der Unfall nicht passiert wäre? Was wäre aus ihrem Leben geworden, einem Leben, das in keine Familie münden sollte?
Aber „Seinetwegen“ ist nicht einfach eine literarische Recherche. Zora del Buono mäandert. Ihre Suche ist alles andere als geradlinig, manchmal durchaus entschlossen, mutig und unnachgibig. Dann wieder zerstreut, auf Nebenstrassen und Umwegen, zögerlich. Eine Mischung aus Fragmenten aus Leben, die aus dem Nebel auftauchen, Recherchefetzen, die hängen bleiben, Notaten, die nur noch rudimentär mit dem Ursprünglichen zu tun haben, bis hin zu Statistiken über Verkehrstote, in denen sich die Autorin Fingerzeige erhofft oder Geschichten prominenter Opfer wie Albert Camus oder James Dean. Sie macht sich auch örtlich auf den Weg, mit dem Auto auf jener Strasse, auf der die beiden Autos zusammenkrachten, bis in den Kanton Glarus, jenes Tal, aus dem der Töter gefahren kam, mit seinem protzigen Chevrolet. Sie fragt nach, im Tal, auf Ämtern, in Archiven. Bis aus dem Töter ein Mensch wird. Bis aus den Initialen ein Name wird. Aus der Untat ein Leben.
„Seinetwegen“ ist voller Spiegelungen in die Lebensgeschichte der Autorin, ihre Vergangenheit in Bari, ihre Familie, das Leben ihres Vaters, der aus dem grossgeschrieben Del ein kleingeschriebens machte, das Leben ihrer Mutter bis in die Demenz der Gegenwart und jenen Moment, wo eine Einweisung ins Heim unausweichlich wird. „Seinetwegen“ ist weder Abrechnung noch Anklage. Dafür ein vielstimmiges Eintauchen, eine beinahe zärtliche Annäherung, nicht nur an den Vater, auch an die Mutter und all die Schicksale ihrer Familie.
Du mäanderst, Du lauscht allen Stimmen, auch jenen, die Dich nicht zielgenau auf den Punkt bringen. Und Du stellst Dich Fragen, denen sich viele nicht stellen wollen, Fragen gegen das Schweigen. Auch dein letzter Roman „Die Marschallin“ beschäftigt sich mit Deiner Familie, Deiner Herkunft. Es gibt zwei Philosophien, sich mit seiner Vergangenheit zu beschäftigen. Die eine sagt „Blick nach vorne“, „Bloss keinen Dreck aufwühlen“, „Lass die Vergangenheit ruhen“. Die andere mahnt, dass es keinen klaren Blick nach vorne gibt, wenn das Woher vernebelt ist. Die Politik zeigt uns sehr gut, was mit vernebelten Blicken in die Vergangenheit geschieht. Steckt in Deinem Buch auch ein Stück Mahnung? Als Mahnung ist es nicht gedacht, höchstens als Mahnung an Autofahrer, verantwortungsvoll zu sein, weil ein Moment der Unaufmerksamkeit viele Leben zerstören oder beenden kann – ein Thema, das in unserer Gesellschaft zu wenig beachtet wird. Das Auto ist eine heilige Kuh. Deswegen habe ich auch Statistiken eingebaut. Aber ja, ich denke, es ist meistens besser, sich dem Vergangenen zu stellen. Allerdings gibt es auch gute Gründe, Dinge ruhen zu lassen, zum Beispiel, wenn sie zu mächtig sind für einen, zu angsteinflössend, einen zu überwölben drohen. Dann kommt vielleicht später der Zeitpunkt, sich ihrer anzunehmen.
Mich erstaunt die Resonanz, die seit dem Erscheinen Deines Romans die Scheinwerfer lenkt. Ist es das Vaterthema? Die Vielfalt an Themen, mit denen Du Dich in Deinem Buch auseinandersetzt? Das musst du eigentlich die LeserInnen und das Feuilleton fragen. Ich denke nicht, dass es das Vaterthema ist, sondern eher die Vielfalt, die daraus folgende Architektur des Textes. Die Konzentration. Die Ehrlichkeit. Und die Dynamik. Es ist ja ein schnelles Buch. Ich versuche, die Leser und Leserinnen mitzunehmen auf meine Reise, lade sie gewissermassen dazu ein, mit mir die Welt zu entdecken, die äussere und die innere, das spüren sie vielleicht. Und es ist versöhnlich (in diesen so unversöhnlichen Zeiten), das haben mir Leute nach der Lektüre geschrieben, tröstlich auch. Es spricht viele Themen an: Verlust, Tod, Alleinsein, Mut, Schuld, Lebenslust, Liebe, Liebe auch zur Landschaft (und zu Hunden), aber auch Dinge wie der Umgang mit demenzkranken Angehörigen und Familie überhaupt. Das sind Themen, die uns alle betreffen, universelle Themen. Da geht es um viel mehr als um meine eigene kleine Biografie.
Literatur beschäftigt sich immer mit der Frage, dem Thema „Was wäre wenn“. Auch wenn in der Gegenwart das autofiktionale Schreiben die reine Fiktion fast zu verdrängen scheint. So wie in Filmen mit „nach einer wahren Begebenheit“ Sentimentalitäten noch gefühlsschwerer werden. Obwohl Du Dich mit Deiner Geschichte beschäftigst, vermeidest Du alles, was emotional abdriften könnte. Ist dieses „Mäandern“ ein Stilmittel gegen zu viel Emotion? Sehr schön gesagt. Ich versachliche zu emotionale Themen, zum Beispiel mit der «Liste der eigenen Deformationen». Das wird dann nüchterner. Hätte ich diese Stelle als Fliesstext geschrieben, hätte es ins Weinerliche umschlagen können, ins Sentimentale. So betrachte ich mich von Aussen, nüchtern eben. Ich mag Nüchternheit.
Der „Töter“ Deines Vaters macht im Buch eine erstaunliche Wandlung durch. Nicht er als Person, aber Deine Wahrnehmung, Deine Sicht. War das für Dich im Schreibprozess überraschend? Geschah die Wandlung während des Schreibens oder war sie Teil Deiner Absicht? Es war für mich die grosse Überraschung. Was ich über ihn rausgefunden habe, hat ihn mir näher gebracht. Ein zeitlebens negativ besetztes Phantom wird im Laufe der Recherche Mensch. Das war bewegend. Auch traurig. Weil ich sah, was die Schuld mit ihm angerichtet hat. Es hat sich alles während des Schreibens entwickelt. Drum war das Schreiben auch so schön, weil es für mich selber überraschend war, immer wieder passierten neue Dinge, knüpften sich verblüffende Fäden, geschahen unglaubliche Zufälle, wahrscheinlich, weil ich ganz offen war. Das ganze Buch war ein einziges schnelles Abenteuer.
Du mischst ganz verschiedene Stilmittel. Manches liest sich wie ein Essay, anderes wie eine Reportage. Man findet Protokolle neben Erinnerungen. Du wolltest nicht in erster Linie die Geschichte Deiner Familie nachzeichnen. Schon gar nicht Verlustschmerz oder den Fall einer fahrlässigen Tötung und deren Auswirkungen beschreiben. War das geplante Absicht oder begann das Buch erst an einem gewissen Punkt Gestalt anzunehmen? Ich bin eine sprunghafte Person. Diese Textform entspricht meinem Wesen sehr. Ich hüpfe von hier nach da, finde etwas Interessantes, gehe dem nach, kehre wieder zurück und nehme den roten Faden wieder auf, finde wieder etwas Neues, sause hin (auch im wörtlichen Sinn, gehe also raus in die Welt, schaue mir Orte an, rede mit Leuten). So ist auch der Text geworden, das hat sich ganz organisch entwickelt. Zudem liebe ich Bücher mit kurzen Absätzen. Habe ich immer geliebt, das gehört zu meiner literarischen Sozialisation. Das zweite Tagebuch von Max Frisch etwa. Fragmente einer Sprache der Liebe von Roland Barthes oder Träume von Räumen von George Perec. Ich habe sowieso mehrere Seelen in meiner Brust, ich bin Architektin, Redakteurin, Reporterin, Schriftstellerin. Jede von ihnen schaut anders, schreibt anders. Grundsätzlich hat sowieso jede Textform ihre Berechtigung und Schönheit. Und ich konnte einige davon in einem Buch vereinigen, das war herrlich.
Mit diesem Roman schaust Du in einen Spiegel. Es gibt Menschen, die brauchen den Spiegel bloss, um Pickel auszudrücken oder die Haare zu richten. Die Politik ist voller Menschen, die den Spiegel nur noch für die Frage brauchen „Wer ist die/der Schönste im Land?“. Dein Schreiben ist Selbstreflexion in Reinkultur. War da nie ein bisschen Angst, zu viel preiszugeben? Doch, natürlich hatte (und habe) ich Angst davor, zu viel preiszugeben. Ich bin sehr nackt in dem Buch. Aber das gehört zum autofiktionalen Schreiben eben dazu. Dass man ein Risiko eingeht.
Zora del Buono, geboren 1962 in Zürich. Studium der Architektur an der ETH Zürich, fünf Jahre Bauleiterin im Nachwende-Berlin. Gründungsmitglied und Kulturredakteurin der Zeitschrift mare. Autorin von Romanen und Reisebüchern.
Helena Adler starb Anfang 2024 an einem Hirntumor, nicht einmal 40 Jahre alt. Sie war verheiratet, Mutter eines Sohnes – und begnadete Schriftstellerin. Vielleicht eine der vielversprechendsten im deutschsprachigen Raum, eine der innovativsten, mutigsten. Nach nur drei Romanen brach etwas ab, was grossartig und bahnbrechend immer neue Blüten getragen hätte.
Helena Adler, eigentlich Stephanie Helena Prähauser, war Schriftstellerin und Malerin. 2018 erschien ihr Debüt „Herz 52“, der auf jenen „Hertz 52“ genannten Wal anspielt, der aufgrund seiner falschen Tonhöhe beim Singen von seinen Artgenossen keine Antwort erhält und deshalb völlig einsam ist. 2020 dann ihr vielbeachteter und hochgelobter Roman „Die Infantin trägt den Scheitel links“ und zwei Jahre später „Fretten“, beide beim Verlag Jungundjung. „Die Infantin trägt den Scheitel links“ und „Fretten“ sind Unikate der deutschsprachigen Literatur. Obwohl es in Österreich eine regelrechte Tradition des Wutromas gibt, die mit Thomas Bernhard eine unvergessliche „Leitfigur“ hervorbrachte, sind die beiden Romane Helena Adlers viel mehr. Sie sind sprachliche Feuerwerke, wilde Fahrten, Lichtspiele.
Sie kennen das Gefühl, in ihrem Leben das eine oder andere versäumt zu haben? Vorsätze, die sie nie umsetzten, die ins Leere liefen, die nie mehr nachzuholen sind, weil etwas abgerissen ist? Als ich von Helena Adler ihren zuletzt erschienenen Roman „Fretten“ gelesen hatte, nahm ich Kontakt mit der Autorin auf und bat sie um ein Mailinterview. Daraus wurde ein kleiner Mailverkehr, bei dem sie mir auch ein paar Fotographien ihrer Gemälde zusandte, Bilder die man bei meiner Rezension noch immer entdecken kann, Bilder, die wie ihr Schreiben aufs Ganze gehen und gar nichts mit Schmuck zu tun haben. Schreiben und Malen waren ultimativ, griffen bis aufs Mark, kompromisslos und schonungslos ihrem eigenen Selbst gegenüber. Damals versprach ich ihr, auf einer meiner nächsten Reisen nach Kärnten, ins Heimatland meiner Frau, in ihrem Atelier einen Besuch abzustatten. Ein paar Monate später erhielt sie die Diagnose Hirntumor.
Die Künsterin, die wie manch andere Schriftsteller*innen auch der Malerei zugewandt war, schrieb auf die Frage, was in ihrem Fall das Malen vom Schreiben unterscheide: „Das Schreiben verlangt mehr ab, hinter der Leinwand kann ich mich besser verstecken. Beim Schreiben bin ich viel ausgesetzter. Das Schreiben ist mein Hirn und Herz, das Malen mein Körper.“
Helena Adler «Miserere», Jungundjung, 2024, 72 Seiten, CHF ca. 24.90, ISBN 978-3-99027-407-1
Im Sommer 2023 war Helena Adler zum Bachmann-Preislesen in Klagenfurt eingeladen, musste diesen Auftritt aber wegen ihrer Diagnose absagen. Nun legt Jungundjung mit „Miserere“ drei Texte vor, die für die Autorin als abgeschlossen galten, aber nie in ein Buch Einzug hielten. Der längste der drei Texte „Miserere Melancholia“ wäre Helena Adlers Beitrag in Klagenfurt zum Bachmannpreislesen gewesen, eingeladen vom Juroren Klaus Kastenberger. Drei Texte, die das konzentrieren, was die Besonderheiten Helena Adlers Schreiben ausmachen. Die Intensität, die pralle Bilderflut und die opulenten Satzkaskaden, die von kaum zu bändigender Musikalität sprühen. „Miserere Melancholia“ hätte mit Sicherheit eingeschlagen und Helena Adler zu noch viel mehr Aufmerksamkeit verholfen, einer Aufmerksamkeit, nach der sie nicht suchte, die ihr aber gebührt hätte.
Im Mailinterview zu ihrem Roman „Fretten“ schrieb die Autorin auf die Frage, was ihr das Schreiben bedeute: „Für mich ist das ganze Leben ein einziges Gfrett. Ein Passionsweg. Ein ständiges «Sichabmühen und Durchwursteln, ein Über-Abhänge-hangeln, ein unentwegtes Luftanhalten, eine Aneinanderreihung von Augen-zu-und-durch-Momenten, ein andauerndes Aushalten, Überwinden und Fortschreiten ohne Rast.“ Diese Aussage passt mit Sicherheit auch zu dem schmalen Band „Miserere“ (lateinisch ‚Erbarme dich‘). „Miserere Melancholia“, der eigentliche Kerntext des Buches, ist ihre Auseinandersetzung mit der Melancholie, der Schwermut, der Depression, dem Selbstzweifel, manchmal monologisch, manchmal im Dialog mit dem Gnom, dem Mistkerl, der Ausgeburt. Der Text sprüht, badet in Metaphern. Nicht zuletzt beschreibt Helena Adler darin auch ihren Kampf im Schreiben: „Jeder Morgen ein Grauen, in dem es mir dämmert, dass es in mir dämmert“. Helena Adler schrieb nicht, um Geschichten zu erzählen, schon gar nicht zur Unterhaltung. So wie ihre Bilder nie Schmuckstück und Zierde sein sollten. Helena Adlers Texte sind Sprachkunst gewordene Auseinandersetzung, die Spur durch eine gebeutelte Seele. Ein Denk- und Mahnmal dafür, was Kunst sein muss und kann.
Wer sich traut, liest Helena Adler!
Helena Adler, geboren 1983 in Oberndorf bei Salzburg, starb am 5. Januar 2024 an einem Hirntumor. Helena Adler ist eine der wesentlichen Stimmen der jüngeren deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Die Autorin und Künstlerin studierte Psychologie und Philosophie an der Universi-tät Salzburg sowie Malerei am Salzburger Mozarteum und debütierte 2018 mit dem Roman „Hertz 52“. Helena Adlers schwarzhumoriger, sprachkünstle-rischer Anti-Heimat-Roman „Die Infantin trägt den Scheitel links“ gelangte 2020 auf die Longlist des Deutschen Buchpreises und auf die Shortlist des Österreichischen Buchpreises. Im August 2022 erschien im Verlag Jung und Jung ihr Roman „Fretten“, der für den Österreichischen Buchpreis 2022 nominiert wurde.
Die japanische Schriftstellerin Hiroko Oyamada, deren zweiter Roman „Das Loch“ in Japan schon 2014 erschien, ist eine Spezialistin der Zwischenwelten, eingetaucht in Fantastisches und Traumhaftes. So realistisch der Roman „Das Loch“, die Geschichte einer jungen Frau, die in der Langeweile ertrinkt, beginnt, so bizarr und unerklärlich werden die Ereignisse.
Asa ist noch nicht lange verheiratet und zieht mit ihrem Mann, der innerhalb seiner Firma versetzt wurde, von der Stadt aufs Land. Es ist ihr ganz recht, dass sie ihre Arbeit kündigen kann, zum einen, weil sie die Arbeit wohl müde machte aber nie erfüllte, zum andern, weil ihre Schwiegereltern ihnen das Haus neben dem ihrigen mietfrei überlassen und mit einem Mal der ganze Stress des Alltag von ihr abfällt. Ein Neubeginn, auch für die noch junge Ehe. Aber weil ihr Mann mit dem Auto zur Arbeit pendelt und es auf dem Land auf die Schnelle keinen neuen Job zu finden gibt, beginnt sich Asa mehr und mehr treiben zu lassen. Ihr Mann, der am Morgen früh das Haus verlässt und erst spät abends nach Hause kommt und dann sein Handy kaum aus der Hand legt, spürt die Einsamkeit seiner Frau nicht. Und die Schwiegereltern im Haus daneben sind so sehr in ihren Alltag eingebunden, sind beide kaum zuhause und die Schwiegermutter, wenn doch, mit guten Ratschlägen und altklugen Kommentaren. Auch der seltsame Grossvater ihres Mannes, der mit seinem Grinsen bloss seine Zähne zeigt und zu jeder Tages- und Nachtzeit den Garten giesst, auch wenn es regnet, wird ihr kein Gegenüber.
Hiroko Oyamada «Das Loch», Rowohlt, aus dem Japanischen von Nora Bierich, 2024, 128 Seiten, CHF ca. 32.90, ISBN 978-3-498-00486-6
Es ist heiss, heisser als in den Sommern zuvor. Nach dem bisschen Haushalt macht Asa Spaziergänge ums Haus, an den wenigen Häusern vorbei bis zum Fluss. Die einzigen, die sich ihr zuzuwenden scheinen, sind die Zikaden. Bis sie im Gebüsch ein schwarzes Tier zu sehen glaubt, ein Tier, weder Hund noch Wolf. Asa folgt dem Rascheln im Gebüsch und stürzt dabei in ein Loch, brusttief gefangen, bis sie eine Nachbarin, die sie bis jetzt nicht kennenlernte, aus der misslichen Lage befreit. Aber warum ein Loch? Warum hatte sie das Gefühl, auf etwas Weichem zu stehen? Fortan scheint nichts mehr so zu sein, wie es im Einerlei der heissen Sommertage war.
Asa lernt hinter ihrem Haus und dem Haus ihrer Schwiegereltern einen noch jungen Mann kennen. Er behauptet, der Bruder ihres Mannes zu sein, obwohl Asa bisher der Überzeugung war, ihr Mann sei Einzelkind. Es war nie die Rede von einem Bruder. Er wohne in dem kleinen Schuppen im Garten, habe sich schon lange von der Welt zurückgezogen und selbst mit seinen Eltern schon lange keinen Kontakte mehr. Ein Hikikimori. Er stellt Fragen, die sie sich nicht einmal selbst gestellt hätte. Und warum weiss sie von diesem Bruder nichts? Warum ein solches Geheimnis? Asa rutscht immer tiefer in die Gegenwart unwirklich scheinender Personen. Eine Nachbarin schenkt ihr seltsame Früchte und auf einem Spaziergang zum Fluss, bei dem sie wieder von diesem seltsam unsichtbaren, schwarzen Tier begleitet wird, trifft sie werneut auf ihren Schwager und eine ganze Meute Kinder, die sich ins Wasser werfen, herumtoben und sich um den Schwager scharen.
Asa traut sich nicht, ihren Mann darauf anzusprechen, schon gar nicht ihre Schwiegereltern. Und als der seltsame Grossvater nach einem Spaziergang viel zu weit weg von seinem Haus an einer Lungenentzündung stirb und man sich im Haus der Schwiegereltern vom Toten verabschiedet, verliert sich Asa mehr und mehr in einer Welt zwischen Sein und Schein.
Hiroko Oyamada erzählt die Geschichte einer jungen Frau, die in den Traditionen und Konventionen ihrer Heimat gefangen ist. Asa fällt in ein Loch. Und Hiroko Oyamada macht dieses Loch zu einem traumhaften Tripp in ein seltsames Zwischenreich. Asa, die in sich und der Situation gefesslt ist, fällt durch eine Art schwarzes Loch in eine andere Welt, die sich immer und immer wieder als Traumwelt entpuppt. Asa lässt sich treiben, weil es die einzige Möglichkeit ist, dem Zustand der Lethargie und Langeweile zu entfliehen.
„Das Loch“ ist ein vielfach seltsamer Roman. Ein Roman, der mich schwindlig und in meinem Zwang nach Ordnung ratlos macht. Ein seltsames Abenteuer in flirrender Hitze.
Hiroko Oyamada, 1983 in Hiroshima, Japan, geboren, studierte Japanische Sprache und Literatur. Nach ihrem Abschluss arbeitete sie in wechselnden Jobs, u. a. als Aushilfskraft bei einem Autohersteller. Diese Erfahrung diente ihr als Inspiration für ihren Debütoman «Kōjō» (2013; deutsch: «Die Fabrik»), der mit dem Shinchō Prize for New Writers und dem Oda Sakunosuke Prize ausgezeichnet wurde. Für ihren zweiten Roman «Ana» (2013; deutsch: «Das Loch») erhielt sie den Akutagawa-Preis, den wichtigsten Literaturpreis Japans. Ihre Werke wurden bereits in mehrere Sprachen übersetzt, u.a. ins Englische. Hiroko Oyamada lebt mit ihrer Familie in Hiroshima.
Nora Bierich, geboren 1958, hat Philosophie und Japanologie in Berlin und Tokio studiert. Aus dem Japanischen übersetzte sie u. a. Werke von Ōe Kenzaburō und Mishima Yukio. 2019 erhielt sie den japanischen Noma Award for the Translation of Japanese Literature.
Ein alt gewordener Maestro, dessen Chopin-Interpretationen den Pianisten berühmt machten, wird nach Barcelona an ein Konzert eingeladen. Zwischen Beatriz in den Mitvierzigern, Mitorganisatorin und Ehefrau eines Bankiers, und ihm entfacht eine Beziehung aus gnädiger Zuwendung und leidenschaftlicher Liebe. Der Nobelpreisträger überrascht mit einer «Künstlernovelle», die zwischen Befremden und Faszination pendelt.
Der Pole hätte einen Namen. Witold Walczykiewicz. Aber weil ihn niemand in dem gediegenen Kreis, in der Sala Mompou in Barcelona aussprechen kann, nennen ihn alle nur den Polen. Witold Walczykiewicz ist Pianist, eingeladen nach Barcelona, um ein Konzert zu geben, einer der bekanntesten Chopininterpreten, auch wenn er mit seinen 70 Jahren seinen Zenit wahrscheinlich schon überschritten hat. Man beauftragt die Mitorganisatorin Beatriz, sich dem Pianisten anzunehmen, mit ihm nach dem Konzert den Abend mit einem Essen zu beschliessen. Beatriz ist sich nicht sicher, was sie von dem Auftrag halten soll, erst recht nicht, weil sich schon vom ersten Moment an, selbst während des Konzerts, ein seltsames Gefühl der Distanziertheit dem um eine Generation älteren Künstler einschleicht.
Der Pole erweist sich als galant, wenn auch etwas hölzern, was auch daran liegt, dass er die einzig gemeinsame Sprache, das Englische, bei weitem nicht so gut beherrscht wie Beatriz. Beatriz spürt, dass ihr Gegenüber weit mehr in dem Zusammentreffen sieht als sie selbst. Aber man verabschiedet sich höflich. Wenig später treffen immer wieder Nachrichten ein. Nach etlichen sprachlichen Umgarnungen, auf die Beatriz meist nicht einmal antwortet, schreibt Witbold: Sie beschützen mich. Ich spüre Frieden in mir. Ich sage zu mir, ich muss sie finden, sie ist mein Schicksal. Eine Nachricht, die sie gleichermassen verunsichert wie schmeichelt und betört. Sätze, die in ihrer erkalteten Ehe Lichtjahre entfernt liegen, die mehr Resonanz finden, als ihr lieb ist, versucht sie doch mit allen Mitteln, Witolds Begehren kleinzureden.
J.M. Coetzee «Der Pole», S. Fischer, aus dem Englischen von Reinhild Böhnke, 2023, 144 Seiten, CHF ca. 29.90, ISBN 978-3-10-397501-7
Aber als Witold sie einlädt, sie nach Brasilien mit auf seine Konzerttour zu begleiten und ihr Mann, nachdem sie diesem vom Ansinnen des Pianisten erzählt, dem nur wenig Beachtung zu schenken scheint, bricht sie vorerst den Kontakt ab, bis sie den Künstler dann doch in die Finca ihres Mannes auf Mallorca einlädt, auf neutrales Terrain, in ein Anwesen mit einem Nebengebäude, in das sie den Gast einquartiert. Das seltsame Gefühl der Verunsicherung, des Misstrauens dem um mehr als 20 Jahre älteren Besuch bleibt, auch wenn dieser zurückhaltend bleibt. Aber an einem der Abende, sie essen gemeinsam in der Finca, sagt Beatriz: Ich werde die Hintertür nicht abschliessen. Wenn du dich einsam fühlst in der Nacht und einen Besuch machen willst, bitte. Es werden vier Nächte, die sie gemeinsam verbringen. Nächte in bedeckter Leidenschaft. Nächte, die für Witold alles bedeuten und für Beatriz nur Gabe sind. Beatriz macht nach der letzten Nacht Schluss, kühl und unmissverständlich. Witold reist ab und die beiden sehen sich nie wieder. Es treffen zwar noch immer Nachrichten ein, die Beatriz aber meistens nicht einmal liest.
Jahre später erreicht sie die Nachricht, Witold Walczykiewicz sei nach langer Krankheit in Polen, in seiner Heimatstadt Warschau gestorben. Telefonisch erfährt sie von dessen Tochter, dass in der Wohnung ein Karton auf sie warte, eine Hinterlassenschaft. Und weil sich die Überführung dieses Kartons komplizierter erweist als angenommen, reist Beatriz nach Polen, lässt sich die Wohnungstür öffnen und findet einen Karton mit einem Manuskript. Fast hundert Gedichte und Begleittext. Beatriz verbringt eine Nacht in der kalten, überraschend einfach eingerichteten Wohnung des Verstorbenen und beschliesst die Gedichte übersetzen zu lassen. Liebesgedichte an sie, leidenschaftliche Anbetungen an eine Liebe, die so nicht sein konnte.
Beatriz fühlt sich vom Umstand, dass da ein Mann war, der seine letzte Lebenszeit an den Tasten einer Schreibmaschine verbrachte und stets sie vor Augen hatte, mit eigenartigem Befremden und einem Glück, das sie verunsichert. Als Witold lebte, erbarmte sie sich seiner, gab ihm, was er begehrte, auch seinen Tod scheint das Schicksal Beatriz viel tiefer zu bewegen, bis hin zu einem seltsamen Gefühl des Glücks.
„Der Pole“ ist ein seltsames, überraschendes Buch, vor allem dann, wenn man schon mehr von J.M. Coetzee gelesen hat. Aufgegliedert in kurze, durchnummerierte Texte, bleibt was geschieht in einem eigenartig kühlen Licht. „Der Pole“ ist keine Liebesgeschichte, weil sie aus der Sicht der Katalanin geschrieben ist und einem der alte Mann während des Lesens eigentlich bloss Leid tut. Beatriz mag seine Chopininterpretationen nicht, sie mag sein Auftreten nicht, seinen alten Körper, nicht einmal seine Gedichte, seinen ganz persönlichen, leidenschaftlichen Nachlass. Und trotzdem gab sie ihm Anlass genug zu glauben, sie wäre der angestrebte „Frieden“ in seinem Leben. Man mag Beatriz nicht während des Lesens, man versteht sie nicht einmal, so wenig wie sie sich selbst.
„Der Pole“ ist ein kurzer, konzentrierter, äusserst raffiniert komponierter Roman, der mich mit einer guten Portion Ratlosigkeit zurücklässt, die den Roman nachhaltig macht.
J. M. Coetzee, der 1940 in Kapstadt geboren wurde und von 1972 bis 2002 als Literaturprofessor in seiner Heimatstadt lehrte, gehört zu den bedeutendsten Autoren der Gegenwart. Er wurde für seine Romane und sein umfangreiches essayistisches Werk mit vielen internationalen Preisen ausgezeichnet, u. a. zweimal mit dem Booker Prize, 1983 für «Leben und Zeit des Michael K.» und 1999 für «Schande». 2003 wurde ihm der Nobelpreis für Literatur verliehen. Coetzee lebt seit 2002 in Adelaide, Australien.
Reinhild Böhnke wurde 1944 in Bautzen geboren und ist als literarische Übersetzerin in Leipzig tätig. Sie ist Mitbegründerin des sächsischen Übersetzervereins. Seit 1998 überträgt sie die Werke J. M. Coetzees ins Deutsche, ausserdem hat sie u.a. Werke von Margaret Atwood, Nuruddin Farah, D.H. Lawrence und Mark Twain ins Deutsche übertragen.
Der heilige Mungo ist Schutzpatron einer Kathedrale in der schottischen Stadt Glasgow. Aber die Heiligen scheinen Glasgow vergessen zu haben. Im zweiten Roman des in Glasgow aufgewachsenen Autors Douglas Stuart stemmt sich der nicht einmal 16jährige Mungo gegen grassierende Gewalt, toxische Männlichkeit und selbstzerstörerische Ausweglosigkeit.
In den 1970er und 1980er Jahren wurden in der Arbeiterstadt Glasgow eine ganze Reihe Minen und Fabriken geschlossen. Eine ganze Stadt rutschte in Massenarbeitslosigkeit. Noch heute gilt Glasgow als eine jener Städte mit massiver Jugendkriminalität und überdurchschnittlich hohem Drogenkonsum. In Douglas Stuarts preisgekrönten Debüt „Shuggie Bain“ war dieses düstere Szenario schon einmal Kulisse für einen Roman, der zwischen Zartheit und Brutalität hin- und herpendelte.
Mungos Mutter ertrinkt in ihrer Alkoholsucht und schnappt nach den Resten eines Lebenstraums. Nichts ist geblieben nach einer frühen Ehe, drei Kindern, dem Tod des Mannes, bevor Mungo, der Jüngste, zur Welt gekommen war und der Aussichtslosigkeit, der Familie den erhofften Halt geben zu können. Hamish, der älteste, gibt den Ton in seiner Gang ein, vertickt Drogen und lechzt dauernd nach der nächsten Konfrontation mit den verfeindeten Gangs, den Katholiken, wilden Gewaltorgien, bei denen keine Regeln gelten und man bis zum Äussersten geht. Mungos Schwester Jodie versucht ihrem jüngeren Bruder das zu geben, was die meist abwesende Mutter längst vergessen hat, ein Nest, ein bisschen Wärme, in all der Grobheit etwas Zärtlichleit. Die Mutter nicht da und wenn doch im Suff, der Bruder in Sorge, dass aus Mungo kein richtiger Mann werden würde, denn alle um Mungo herum spüren, sehen und wissen, dass der grosse Junge mit dem tiefen Blick und den schmalen Händen anders ist als die meisten anderen.
Douglas Stuart «Young Mungo», Hanser Berlin, 2023, übersetzt aus dem Englischen von Sophie Zeitz, 416 Seiten, CHF ca. 37.90, ISBN 978-3-446-27582-9
Mungo lernt James kennen, einen Jungen aus der Nachbarschaft, Halbwaise wie er. Aber James ist Katholik, kaum ein Steinwurf von ihm weg und doch in einer anderen Welt. James eigentliches Zuhause ist ein Taubenschlag auf dem Dach seines Hauses, den er einst, nach dem Tod seiner Mutter, zusammen mit seinem Vater gebaut hatte. Zwischen Mungo und James wächst eine Schicksalsgemeinschaft. Zum einen, weil sie beide hoffen, dereinst diesen Ort verlassen zu können. Zum andern, weil sie spüren, dass zwischen ihnen etwas zu wachsen beginnt, eine Liebe, ein Begehren, dass dort nicht sein kann und darf.
Mungo hat in seiner Welt keinen Platz. Auf einem Ausflug, zu dem man ihn mehr zwingt als drängt, zusammen mit zwei zwielichtigen Gestalten, wird Mungo nicht bloss aufs Übelste missbraucht und in eine ausweglose Rolle gezwängt, sondern in Situationen manövriert, die ihn zu dem zwingen, was ihm eigentlich widerstrebt, woraus er sich halten will, nicht zuletzt darum, weil ihm sein Freund James unmissverständlich zu spüren gibt, dass es eine gemeinsame Zukunft nur dann gibt, wenn er aus dem scheinbar Vorgegebenen, Unausweichlichen aussteigt.
Am Schluss des Romans kehrt Mungo abgekämpft, blutverschmiert und verwundet in seine Strasse zurück in ein Leben ohne Hoffnung und Perspektive. „Young Mungo“ liest sich nicht leicht. Eine beinah dystopische Welt, die aber in den 80ern spielt, in einer Stadt, die den Menschen die Zukunft genommen hat, in einer Gesellschaft aus Gewalt und verbaler Gewalt, einer Welt, in der es keine Entscheidungen mehr gibt nur den von den Zwängen des Überlebens vorgezeichneten Pfad. Der Roman lebt von Gegensätzen, dort die Momente des Friedens zwischen Mungo und seiner Schwester Jodie oder die Zartheit in den zaghaften Zärtlichkeiten zwischen Mungo und seinem neuen Freund James. Dort die Entgleisungen der Mutter, die Gewalt in verkommenen Mietskasernen, die Schlachtzüge der verfeindeten Gangs, die Vorstellungen dessen, was Männer und Frauen sein müssen.
Was an Liebe und Zärtlichkeit in einem stinkenden Meer aus roher Gewalt und tiefem Hass schwimmt, reicht nicht aus, um sich zu befreien. „Young Mungo“ ist von shakespearescher Kraft und apokalyptischer Intensität.
Douglas Stuart, geboren und aufgewachsen in Glasgow, studierte am Royal College of Art in London. Nach seinem Abschluss zog er nach New York, wo er als Modedesigner arbeitete. Für seinen ersten Roman, Shuggie Bain, der in 40 Ländern erschien und zum Weltbestseller wurde, erhielt er den Booker Preis 2020. «Young Mungo» (2023) ist sein zweiter Roman.
Sophie Zeitz, 1972 geboren, lebt in Berlin. Sie übersetzt aus dem Englischen, u. a. Werke von Henry David Thoreau, Joseph Conrad, John Green und Marina Lewycka und ist dafür mehrfach ausgezeichnet worden.