Siebzehn Jahre ist es jetzt her. Ich verbrachte meine ersten Island-Weihnachten im tiefen Fjord Hvalfjörður, eine knappe Autostunde von Reykjavik entfernt. Der Winter war bisher kalt und windig gewesen, bissig, aber verglichen mit Graubünden schneearm. Der Bauernhof lag seit Wochen im Schatten des Bergmassivs Esja. Manchmal tunkten die tiefen Wolken den ganzen Fjord in ein aprikosengoldenes Licht. An der Küste gefror selbst das salzige Meerwasser, doch die seltsam poröse Eisschicht zerbrach durch das Spiel der Gezeiten in tellergrosse Schollen, der Fjord gefror nie ganz zu. Gab es Schnee, verwehte ihn der Wind und häufte ihn hinterm Stall zu einem enormen Haufen an. Einmal öffnete ich die hintere Stalltür von innen – und stand jäh vor einer Wand aus Schnee. Das war nicht so schlimm: Die Kühe wollten sowieso nicht raus. Sie wiederkäuten gelassen ob den pfeifenden Winterstürmen. Der Bauer erzählte mir, dass sich Kühe in Island am 13. Weihnachtstag miteinander in Menschensprache unterhielten, aber sofort verstummten, sobald sie einen bemerkten. Wie gerne hätte ich mich mit ihnen unterhalten!
Die Weihnachten fern der Heimat zu verbringen, war ein seltsamer Gefühlskoktail aus Melancholie und Entspanntheit, Neugier und Heimweh. Zwar genoss ich die Ruhe, ich las Bücher, schaute Filme, hörte Musik, schrieb Briefe, aber ich schleppte ein schweres Herz mit mir rum. Ich wartete sehnsüchtig auf Briefpost oder Telefonanrufe aus der Heimat, und war zugleich fasziniert über die Isländer und ihre Bräuche. Einsamkeit macht zudem kreativ. Ich spürte den Drang zu schreiben, zu musizieren, zu singen. In der kleinen Holzkirche der Gemeinde, weiter hinten im Tal hatte ich eine Orgel entdeckt. Oft sass ich mutterseelenallein in dieser Kirche und machte Lärm, griff völlig enthemmt in die Tasten, keine Menschenseele weit und breit. Herrlich. Hätte jemand die Kirchtür aufgestossen, wäre ich so plötzlich verstummt, wie die Kühe am 13. Weihnachtstag. Der Priester lud mich einmal in seine Stube ein, tischte Tee auf und verwickelte mich in ein Gespräch über Gott und die Welt. Er konnte gut Deutsch, war an mir interessiert. Dieser Besuch war wie Balsam auf meine vereinsamte Seele. An Weihnachten lud mich der Bauer ein, ihn in die Messe zu begleiten, doch ich zog es vor, meine freien Stunden in der vereisten Winterlandschaft zu verbringen, hinauszuwandern, vorbei an erstarrten Wasserfällen und baumlose Berghängen. Ich erklomm einen alten Vulkankegel, der während der letzten Eiszeit entstanden war. Die Lava hatte sich einen Weg nach oben durch den Eiszeitgletscher gefressen und dabei Unmassen an Gletschereis weggeschmolzen, möglicherweise eine Gletscherflut ausgelöst. In den Flanken waren bizarre Steinformationen zu finden, schockerstarrte Lava, fremde Welt. Der Wind auf dem Vulkan war so schneidend, dass es mir den Atem verschlug. Meine klammen Finger schmerzten. Beim Abstieg trat ich unüberlegt auf eine Schneefläche, worunter sich blankes Eis verbarg. Meine Füsse schnellten in die Höhe, ich klatschte hart auf die Eisfläche und rutschte sofort die Vulkanflanke hinunter, gewann augenblicklich an Tempo. Mit Händen und Füssen versuchte ich, die Talfahrt zu verlangsamen. Vergebens. Erst der schneefreie, nackte Erdboden weiter unten stoppte mich. Ich schlitterte übers Geröll, die Steine prügelten mich, aber schliesslich kam ich zum Stillstand. Ich blieb dann eine Weile sitzen. Nichts gebrochen.
Meine ersten Weihnachten in Island lehrten mich, dass ein einziger, fataler Fehltritt genügt, um den Kurs des Lebens zu ändern. Als ich zurück auf dem Bauernhof war, erzählte mir der Bauer, dass der Priester nach mir gefragt habe, verwundert darüber, mich nicht an der Weihnachtsandacht gesehen zu haben. Er habe ihm daraufhin mitgeteilt, dass Joachim seinen Gott draussen in der Natur suchen gegangen sei, und darüber war ich ihm dankbar. Am Abend machte ich die Stallarbeit, fütterte und molk die Kühe. Seltsam. An jenem Abend fühlte ich mich, als wäre ich in Island angekommen, mit Leib und Seele, zufrieden, lebendig, aber müde. Ich freute mich auf meine Bücher, mein Bett und meine weiteren Jahre in Island. «Nur mal ganz sachte, Junge. Rupf nicht so!», sagte eine tiefe Stimme. Ich schaute mich um. Der Bauer war in der Milchkammer. «Wer ist da?», rief ich. Keine Antwort. Niemand war da. Nur die Kuh, der ich soeben das Melkzeug etwas unsanft abgenommen hatte, ich muss in Gedanken versunken gewesen sein, drehte ihren Kopf zu mir, schaute mich an, wiederkäute, steckte sich die Zunge nacheinander in beide Nasenlöcher, schnaubte – und schaute wieder nach vorn.
«Gleðileg jól og farsælt komandi ár!»
Joachim B. Schmidt «Kalmann», Diogenes, 2020, 352 Seiten, CHF 29.00, ISBN 978-3-257-07138-2
Joachim B. Schmidt, geboren 1981 in Graubünden, ist Journalist und Schriftsteller. Seine ersten drei Romane erschienen in einem kleinen Verlag aus dem bernischen Emmental (Landverlag). 2020 war «Kalmann» aus dem Hause Diogenes dann der lang ersehnte Durchbruch zu einem grösseren Publikum. Seit 2007 lebt Joachim B. Schmidt in Island, wo er mit seiner Familie in Reykjavik lebt und Touristen über die Insel führt.
Regina begann immer mit „Angie“. Der Flügel war ein wenig verstimmt und Regina mochte die Stones nicht; Mick Jagger war ihr von Anfang an unheimlich gewesen mit seinem kastenartigen Mund, den wilden Furchen um die Lippen und dem Schlenkern seiner Gliedmaßen im Scheinwerferlicht. Mit Grauen hatte sie einen Dokumentarfilm gesehen, in dem sich mehr als vierzig Jahre später die gleichen naiven Mädchen vor der Bühne die Haare rauften vor Sehnsucht nach diesem schlecht frisierten Mann. „Angie“ war eine von Reginas besten Transkriptionen. Ihre rechte Hand wurde auf den Tasten zu Micks Stimme, ein Tremolo für den langgezogenen Anlaut, das war der Trick beim Transkribieren, immer ein wenig mehr von einer Hand zu fordern als von einer Stimme. Ein paar Leute drehten sich um, lächelten in ihre Richtung oder beschwerten sich jedenfalls nicht. Der Flügel stand abseits der Restauranttische im Atrium neben einer breiten Steintreppe, die zum Haupteingang des Alten Kontors führte und über ein paar zusätzliche Stufen zu den beiden umlaufenden Galerien mit nach oben hin teurer und seltsamer werdenden Geschäften. Regina hatte dort oben einmal ein Leinenkleid für den Garten kaufen wollen, es hatte ihr gut gefallen, schlicht und blau und annähernd konturlos, mit aufgenähten Taschen für eine Bastrolle oder die Rosenschere, hatte sie gedacht, wie praktisch. Das praktische blaue Gartenkleid hatte dann ungefähr so viel gekostet wie die monatlichen Nebenkosten plus Telefonrechnung und Zeitungsabo, mal zwei. In dem Moment, als Regina das Preisschild umgedreht hatte, war ihr klargeworden, warum ihr keine der sehr jungen Verkäuferinnen angeboten hatte, ihr bei der Suche nach ihrer Größe behilflich zu sein. Sie war an dem Tag leider die letzte gewesen, die verstanden hatte, dass sie hier nicht hingehörte.
Alle Tische waren besetzt, an den Seiten bildeten sich Warteschlangen. Um diese Zeit war es laut im Alten Kontor, der Widerhall von den hohen Mauern vervielfachte Gespräche, Schritte, Tellerklirren. Es roch nach Essen. „Shopping mit Stil“, stand auf einem Banner, das von der Glasdecke ins Atrium herabhing. Regina kam aber gar nicht ins Alte Kontor, um einzukaufen. Regina kam nur, um etwa vierzig Minuten lang auf dem verstimmten Flügel Popsongs aus den späten sechziger und den siebziger Jahren zu spielen, etwa jeden zweiten Samstag im Monat, wenn sie mit dem Bus in die Stadt fuhr und besorgte, was der Supermarkt zu Hause und das Bisschen Internet, in dem sie sich zurechtfand, nicht hergaben, unter anderem passende Unterwäsche, Mandel-Honig-Kuchen mit Schlagsahne und signierte Bücher von Bestsellerautoren. Sie spielte die Lieder so, wie sie sie zurechtgelegt hatte, vor allem ihre Transkriptionen, zum Teil auch fremde, die sie durch elegantere Lösungen ausgebessert hatte. Sie wusste nicht, ob es erlaubt war, auf dem Flügel zu spielen. Da stand kein Schild. Niemand sprach sie an. Regina saß gerade mit nach unten gedrückten Schultern, sie blickte nach vorn, aber nirgendwohin. Von „Angie“ modulierte sie zu Don McLean über oder, an Tagen, an denen ihr die Selbstsicherheit löchrig vorkam, zu „Here comes the sun“, dem Beatles-Song, der ihr am besten gefiel, auch wenn nicht Paul ihn geschrieben hatte und auch wenn es sich dabei im eigentlichen Sinn nicht um einen Beatles-Song handelte, sondern um einen Titel von George Harrison, der lediglich von den Beatles eingespielt worden war, für Abbey Road nämlich, das Album war ansonsten eine künstlerische Verirrung, fand Regina, als die Beatles einander kaum mehr aushielten und über Solokarrieren und Neubesetzungen nachdachten. Die Beatles mit Eric Clapton, was hätte das werden sollen, hätte Regina in früheren Jahren gesagt, als sie noch einen Sinn darin sah, Meinungen zu vertreten, auch wenn es nicht unbedingt ihre eigenen waren.
Richtiges Lampenfieber hatte Regina nicht mehr. An Paul, George, John und Sechzigerjahre-Ringo dachte Regina wie an alte Freunde. Ihre Hände brachten den Klang hervor und der Klang breitete sich im Atrium aus, legte sich über die Banalität der Restaurant- und Einkaufsgeräusche, und sie fühlte, wie sich auch in ihr etwas ausbreitete und weit und stark und leicht wurde, ein Hochgefühl, etwas wie Freude oder Bestimmung. Früher, in den Konzertsälen, hatte sie nichts dergleichen empfunden, wenn sie die mühsam einstudierten Stücke von Skrjabin und Khatschaturjan gespielt hatte, und was den Lehrern sonst noch für Dissonanzen einfielen. Tschaikowski hätte sie gern gespielt, aber die Lehrer hielten das für schlechten Geschmack. Reginas Finger fanden die Tasten wie von alleine, sie konnte, wenn ihr der Sinn nicht nach Improvisation stand, ihre Gedanken abschweifen lassen und sich selbst beim Spielen zuhören. Burt Bacharach, was für ein Genie. Der Flügel klang soviel schöner als ihr altes Hausklavier. Zum Transkribieren war sie eher durch Zufall gekommen, jemand hatte es ihr als gute Möglichkeit empfohlen, ein wenig Geld zu verdienen, während sie an einer richtigen Karriere arbeitete. Das Musikstudium war teuer und die Aussichten auf ein Auskommen mit ernst zu nehmender Arbeit gering. Schnell hatte sich Regina einen Namen gemacht. Hervorragende Spielbarkeit, hieß es, eine „kongeniale Art der Übertragung“, sie habe das „richtige Ohr“. Bald hatte sie sich die Aufträge aussuchen können, musste sich nicht mehr mit Lynn Andersons „Rose Garden“ herumplagen oder dem unmöglichen „Delta Dawn“. Ob man eine reduzierte Melodie wie „The Chain“ überhaupt sinnvoll fürs Klavier anpassen könne? Der Verlagsredakteur hatte anfangs gezweifelt. Reginas Versuch hatte ihr viel Lob eingebracht, ein paar Einladungen zu den Partys von Leuten, die sich sonst nie mit ihr abgegeben hätten, sogar das Angebot eines Tonstudios, das Regina aber abgelehnt hatte, weil sie bei der Aussicht verzweifelte, mit diesen Leuten mithalten zu müssen, ihre Späße und Anspielungen zu verstehen, ihre Art sich zu kleiden.
Einmal hatte Regina Ringo Starr in einer Bar getroffen, als es die Beatles schon längst nicht mehr gab. Sie hatte zu hohe Schuhe angehabt und er war betrunken gewesen, sie hielten sich beide am Tresen fest. Dass es Ringo war, hatte sie erst erkannt, als er in schlechtem Deutsch in ihr Dekolletee hineinfragte, wer sie sei. Regina, hatte Regina in englischer Aussprache gesagt, um ihre Gesprächsbereitschaft zu signalisieren. Regina, Re-gin-a, Gina, ha. Regina, hatte Ringo gesagt. Lustiger Name. Ringo, lustiger Name, hatte Regina zurückgesagt. Haha, richtig, hatte Ringo geantwortet und sich mit ausgestrecktem Daumen und kleinem Finger die Hand ans Ohr gehalten wie einen Telefonhörer. Ringo: Hallo? Regina: Hallo. Ringo: Wer ist dran? Regina: Regina? Ringo: Gina. Pretty nice girl. Welch Freude. Regina: Ja. Ich freue mich auch. Ringo: Eigentlich kein richtiger Name, Regina, Gina. Regina: So heiße ich aber. Regina Hansen. Ringo: Sehr erfreut, your majesty. Regina. Regina: Sehr erfreut. Ringo: Ringo Starr ist auch kein richtiger Name. Aber er klingt gut. Regina: Ja. Ringo: Regina. Gina. Dein Name macht mich durstig. Regina: Gut, dass wir uns in einer Bar getroffen haben. Ringo: Funny girl, Gina, so clever. Komm, ich geb dir einen aus. Zwei Gin Tonic or I got to get a belly full of wine, haha.
Regina hatte gelacht, weil es Ringo Starr war. Sie fand, dass er entsetzlich nach Zigaretten stank. Auch hatte er ihr ohne Bart und aufgelaufenes Gesicht besser gefallen. Er hörte nicht auf, ihren Namen zu sagen und Unsinn zu reden, trank sehr zügig und tatschte nach ihrem Hintern. Regina fand das alles sehr unangenehm, aber was sollte sie machen, es war Ringo. Die ersten beiden Gincocktails trank sie aus, den dritten ließ sie stehen, nachdem Ringo sich entschuldigt hatte, um auf die Toilette zu gehen, und nicht zu ihr zurückgekehrt war. Sie sah, wie ihn mehrere Frauen belagerten, die deutlich älter, unansehnlicher und entschlossener waren als sie. Regina hatte den Bierdeckel unter seinem Glas herausgezogen und eingesteckt. Sie war nach Hause gegangen und hatte geweint vor Enttäuschung über Ringos Gemeinheit, auch darüber, dass sie ihm nicht hatte sagen können, dass kaum jemand die Songs der Beatles so gut kannte wie sie. Das Best of-Songbook, das sie geschrieben hatte, war damals der europaweit meistverkaufte Verlagstitel gewesen. Wenige Jahre später hatte der Verlag Regina die Mitarbeit aufgekündigt. Ihre Transkriptionen seien zu anspruchsvoll, hieß es jetzt, die Akkorde für Mädchenhände zu schwer greifbar. Auch werde weniger Klavier gespielt. Eigene Transkriptionen lohnten sich nicht mehr, man kaufe sie lieber aus dem Ausland ein. Für eine Karriere als Konzertpianistin war es damals schon zu spät. Regina vermisste die großen Konzertsäle und das Bangen vor dem Publikum nicht, den Erwartungen ihrer Lehrer, den Kritikern. Nach der Kündigung beim Verlag spielte sie jeden Tag zu Hause auf ihrem Klavier, aber kein Skrjabin oder Khatschaturjan, sondern „Raindrops keep fallin’ on my head“ und immer wieder die Beatles. Als das Geld zu Ende ging, gab sie Inserate auf: „Erf. Klavierspielerin bietet Unterricht, alle Niveaustufen.“ Es kamen dann vor allem untere Niveaustufen und füllten Reginas Wohnzimmer mit schiefen Tonleitern. Sie beschwerte sich nicht. Den wenigen guten Schülern gab sie ihre Transkriptionen zu spielen, „Hey Jude“ und „Rocket Man“, nie aber „Here comes the sun“.
Das Beatles-Medley spielte Regina erst zum Schluss. Paul, John, George und Sechzigerjahre-Ringo sangen den Hintergrund zu den Tischgesprächen. Für ein paar Minuten war sie am Ursprung der Musik, wie ein fünfter Beatle. Jetzt war es für vieles zu spät. Für Kinder war es zu spät. Für einen Mann ohne Übergewicht, der im Bett nicht schnarchte und die Initiative für gemeinsame Ausflüge ergriff, war es zu spät. Um ihren Körper zu sportlichem Ansehen umzuformen, war es zu spät. Um sich eigene Stücke zu notieren, sie auswendig zu lernen und am Sonntag im Kulturhaus neben der Kirche zu Kaffee und Kuchen zu spielen, war es nicht zu spät, aber es war sinnlos. Regina setzte zu „Let it be“ an, das war ihr letzter Song. Sie dachte an die schöne Anekdote, wie Pauls verstorbene Mutter ihm im Traum erschienen war, um ihn mit diesen Worten zu trösten. Ein bisschen Trost, dachte Regina, ein bisschen Trost für euch, ihr armen Seelen im Alten Kontor. Niemand klatschte, als sie fertig war und der letzte Akkord unter dem Glashimmel verklang. Regina nahm ihre Einkaufstüten, ging die Steintreppe hinauf zum Ausgang und verschwand im Gedränge der Fußgängerzone.
Elise Schmit wurde 1982 in Luxemburg geboren und ist dort aufgewachsen. Sie hat Germanistik und Philosophie an der Universität Tübingen studiert. Nach zwei längeren Aufenthalten in Tübingen und einem kürzeren in Paris lebt und arbeitet sie seit 2012 wieder in Luxemburg. Mehrfach wurden ihre Texte beim Concours littéraire national in Luxemburg ausgezeichnet, unter anderem die Erzählung «Im Zug». «Stürze aus unterschiedlichen Fallhöhen» ist ihre erste eigenständige Buchveröffentlichung.
Zwiebeln sind etwas Gutes. Man findet sie in fast jeder Küche der Welt und gleichzeitig gibt es auf der Welt auch sehr viele Zwiebeln, eine Win-win-Situation ist das. Gekocht schmecken sie süss, gebraten saftig und roh pikant. Ein wirklich erstaunliches Gemüse. Das Zwiebelschälen mögen viele trotzdem nicht. Es gibt sehr viele schlechte Metaphern darüber, die man gar nicht zitieren möchte. Es gibt allgemein viele Metaphern zur Zwiebel, was zeigt, wie wichtig sie für die Menschen ist. Die Zwiebel ist auch wichtig für die Tiere. Nachts singen zum Beispiel die Bauernhoftiere Lieder über die Zwiebel, das ist etwas, was nur ganz wenige wissen. Denn die gekochte Zwiebel gibt der Speise Würze und auch Süsse und sie passt zu jedem Gemüse. Und zu jedem Fleisch, ein Fakt, über den die Bauernhoftiere nachts mit Schrecken singen.
Menschen haben auch schon über die Zwiebel gesungen, aber das kam oft nicht gut heraus. «Ich habe eine Zwiebel auf dem Kopf, ich bin ein Döner» von Tim Toupet ist ein Beispiel. Und das ist eines der wenigen Probleme, die die Zwiebel hat: Sie hat keine Zwiebelgottheit. Denn wenn die Zwiebel eine Zwiebelgottheit hätte, würde sie jeden Menschen, der zu diesem Lied tanzt, auf einen Dönerspiess spiessen und im Fladenbrot verkaufen. Mit viel Rotkraut. Auch das Rotkraut ist ein wunderbares Gewächs. Es sieht super aus und schmeckt trotzdem gut. Wie die Zwiebel ist es, was die Witterung anbelangt, sehr genügsam und im Geschmack rezent bis zum Abwinken. Was so ein Rotkraut und so eine Zwiebel einander wohl alles zu erzählen hätten. Traurig sind sie ob all diesem mediterranen Gemüse, welches man ihnen hierzulande vorzieht. Gemüse ohne Konsistenz, Gemüse, das zu achtzig Prozent aus Wasser besteht und schlapp in den Regalen hiesiger Lebensmittelläden vor sich hin fault. Welche Freude ist da zum Beispiel der Anblick eines wackeren Knollenselleries! Der daneben ganzjährig vor Kraft strotzt und geduldig auf den unteren Regalen auf uns wartet! Auch der Knollensellerie ist ein wunderbar bekömmliches Gemüse, am besten natürlich mit der Zwiebel genossen. Was der Zwiebel nebst einer Gottheit fehlt, ist eine gute Lobby, zum Beispiel in der Regierung. Die Zwiebel-LobbyistInnen hätten hinter den Säulen des Säulengangs des Bundeshauses, dort, wo die ZigarettenlobbyistInnen mit ihren Bauchladen voller Gratiszigaretten und -feuerzeugen warten, die PharmalobbyistInnen mit ihren gratis Modafinil, Ritalin, Temesta und Xanax und die WaffenlobbyistInnen mit ihren … Wir wollen es gar nicht wissen. Also eben dort sollten die Zwiebel-LobbyistInnen kleine Küchen betreiben, dank derer sie sofort tolle Zwiebelgerichte darbieten könnten: Zwiebelsuppe, Zwiebelkuchen, gefüllte Zwiebeln, Zwiebelringe oder Zwiebel-Pakora. Die Zwiebel-LobbyistInnen müssten gar nichts dazu sagen, die Zwiebeln würden sich selbst genügend bewerben. Da sich die Zwiebel selbst aber nicht gern in den Vordergrund drängt, gibt es leider nur wenige Speisen, die primär auf ihr basieren. Vielmehr verhilft sie allen anderen Speisen zur wirklichen Bekömmlichkeit. Ganz anders als arrogantes Gemüse wie etwa die Spargel, der Kürbis oder die dominante Tomate. Die Zwiebel ist ein schüchternes, zurückhaltendes Gemüt, welches deshalb ständig unterschätzt oder, ganz schlimm, vergessen geht: Die Zwiebel!! Die doch Dreh- und Angelpunkt jedes Gerichtes ist, wird viel zu oft vergessen.
Anäis Meier «Über Berge, Menschen und insbesondere Bergschnecken», Mikrotext, 2020, 96 Seiten, CHF 23.90, ISBN 978-3-948631-01-7
Anaïs Meier, 1984 in Bern geboren, studierte Film und Medien an der Filmakademie Baden-Württemberg in Ludwigsburg und Literarisches Schreiben am Schweizerischen Literaturinstitut in Biel. Monatliche Kolumne «Aus dem Réduit» in der Fabrikzeitung, Zürich. 2013 Mitbegründerin von Büro für Problem und 2018 von RAUF. Im August 2020 erschien der Kurzgeschichtenband «Über Berge, Menschen und insbesondere Bergschnecken» bei mikrotext, im Herbst 2021 der Roman «Mit einem Fuss draussen» bei Voland & Quist.
Dans une ruelle piétonne de Prenzlauer Berg, coincée entre un bar à bières et un fast-food coréen, la Librairie du Nouveau Monde est le paradis du bibliophile. – Vous avez la forme d’une libraire, mademoiselle Schulz. Vous n’avez pourtant pas une coiffure qui vous distingue, disons, d’une teinturière ou d’une enseignante au primaire (même s’il est exclu que vous soyez plasticienne ou coach en séduction). Vous n’avez pas non plus un regard, un sourire ou des mimiques qui vous trahissent. Il n’existe pas, spécifiquement, de nez de libraire, de sourcil de libraire, de carnation particulière; beaucoup de gens portent le même nez que le vôtre. Pourtant, en regardant votre visage, et pour peu que l’on sache différencier une femme d’une autre, on ne peut que s’écrier : «Voici une libraire!» Ce n’est pas tel élément singulier qui se surajoute à votre visage; c’est tout un masque qui se compose, lentement, en imperceptibles mouvements de fond. Vous deviendrez de plus en plus libraire, mademoiselle. Vous vous aggraverez. Les contours de votre visage, de votre masque, de votre vie (ces mots sont synonymes), seront de plus en plus nets. Oh, vous ne faites pas que vendre des livres, je le sais bien! Vous pratiquez la randonnée, la cuisine asiatique, vous donnez pour les aveugles et vous aimez, tard le soir, vous enfiler un doigt dans le derrière en écoutant Beethoven (particulièrement le majeur, particulièrement les derniers quatuors). Pourtant, vous serez toujours une libraire qui randonne, une libraire qui cuisine, une libraire qui donne – et une libraire qui se socratise lorsqu’elle rentre chez elle. Mademoiselle Schulz pouffe. – Et qui vous dit que j’attends toujours d’être rentrée chez moi? Franck sniffe un trait de cocaïne à même la couverture du Tanzaï et Néadarné de Crébillon fils (dans l’édition Pékin Lou-Chou-Chu-La de 1734). Après avoir reniflé bruyamment, il dit, amusé, presque hilare: – Voyons, mademoiselle, vous n’avez eu ici de plaisir que vaguement intellectuel, discrètement historique. Votre jouissance se tient quelque part entre la poussière et le néant. Mais votre provocation vous a coûté une rougeur; n’investissez pas à perte! Tournez-vous, je vous prie! Ayant troussé la vieille libraire, Franck baise langoureusement son cul. Elle proteste. Il ne lui en maintient les cuisses que plus fermement; il y plante les ongles. Il se réjouit de ces fesses ridées comme d’un festin précieux. Il hume, il embrasse, il lèche, il mord. «Pas comme cela, Franck! se récrie la libraire. Vos doigts, vous me promettez vos doigts! Et voilà que vous m’arrosez de postillons, me faites la croupe en bave, me sarclez de morsures! Pour qui vous prenez-vous?» Elle se redresse, furieuse. – Pardonnez mon appétit. J’ai toujours quelque répugnance à me servir de mes mains, sauf s’il s’agit de faire craquer une reliure ou de tuer un homme. La vieille glousse. – Voilà l’une de vos phrases, de vos trouvailles, suffisantes pour éblouir vos pucelles, vos bardaches. Avec moi, ça ne prend pas. Ouvrez-moi le cul et fermez votre gueule. – Si la Poésie s’en mêle! Franck retire sa chevalière, qu’il pose sur la table. Il inspire profondément et glisse son majeur entre les fesses de la libraire, puis son index. Il la débourre enfin à quatre doigts; il la fait virevolter dans les coins, sur les «éditions originales», sur les «autographes», sur les «beau papier», tous les «Hollande», tous les «Japon», tous les «maroquins rouges». Les amants tournoient. Le sol craque, tremble. Ils percutent une étagère. Bam! Trois Marmontel en tombent. Ils achoppent contre un pupitre: quatre Ronsard. Ils repartent en arrière, piétinent indifféremment Cazotte, Chénier et Thiers. Cette débauche! C’est un affolement. C’est une furie. Les vélins volent! Verlaine y passe. Sa poésie. Sa prose. En feuillets libres, en pluie d’agrafes. Les deux amants bondissent de l’autre côté de la pièce. Index, majeur, annulaire. Franck entonne un chant letton. Ils glissent sur un «grand format» ;Restif de la Bretonne. Ils se reprennent in extremis.» L’arrière-boutique! L’arrière-boutique!» glapit mademoiselle Schulz. Ils y parviennent; c’est une forêt de «débrochés», de «désagrafés», d’in-folio sans ordre ni rigueur. Ils s’y faufilent, y rèptent, s’y lovent – tout au cœur. L’Histoire. La Culture. La Poussière. La touffeur de tout ça! L’étranglement par les racines. Et les milles insectes, les cancrelats poilus, les mites tenaces. Les voilà pris à la gorge, aux organes, investis de haut en bas. Ils sont maintenant pressés de finir. Franck s’ankylose, il se sent las, il se sent triste. La douairière beugle, se tord, elle vesse profusément. Elle s’effondre, finalement, sur les œuvres complètes de Montesquieu (Belin, 1817). Mademoiselle Schulz reprend place derrière le bureau de chêne. Légèrement rouge, elle roule une cigarette en lorgnant Franck qui dispose une autre ligne sur la couverture du Crébillon. – Etes-vous toujours convaincu que je ne sois qu’une libraire, mon ami? – Par la gueule et par le cul, pour pasticher votre poésie. – Mais vous-même, Franck… Il sourit. – Je vous interdis de parler de moi. Franck referme le volume de Tanzaï et Néadarné. Il glisse trois billets de cinq-cents euros sur le comptoir, baise brièvement la bouche de mademoiselle Schulz, et sort de la librairie. À côté, le fast-food coréen promet une réduction sur le bibimbap végétalien.
Quentin Mouron: «L’Âge de l’héroïne» (Editions La Grande Ourse, Paris 2016)
Quentin Mouron, Schriftsteller und Dichter mit schweizerisch-kanadischen Wurzeln wurde 1989 in Lausanne geboren und verbrachte seine Kindheit in Québec. Er schrieb bisher fünf Romane und avancierte schnell zum Stern am Himmel der jungen Literatur in der Romandie und in Frankreich.
Eins ist Schwarm und Schwarm ist eins Unter den Flossen raue Rampen so steigen Beigezeiten abertausend Glasaalkinder über ihre Sohlengleiten Wir haben Oberwasser
Räderschlagend mahlt und wendet ein Mühlenstein das Dreistromland
Im Mäanderbecken schwankt der Spiegel
Doppelhelix formt den Turmfischpass Stromaufwärts Archimedes Kronenhaupt Kann die Wanderlinge singen hören Ich halte eine Muschel an mein Ohr Effervo. Aqua. Laborare.
Mit Laufwasser leise tröpfelnd Hingetreten Auf was sich an den Stufen staut
Fällt was gesammelt in den Schacht
II. Windfrequenzen
Schlag auf Schlag trifft Uns ein Schatten Schneisen in den Vogelflug Ein Windmühlband am Hügelrand Der Kampf beginnt
Grün klagt grün Und nichts wird grüner Strukturelle Festigkeit
Das letzte Opfer ist die Landschaft
Wucht und Unwucht hängt sich an die Rotorblätter Altersmüder Großwindräder Viertel des Jahrhunderts später Wenn ein Schild bestimmt Neglegere. Vento intermisso.
Unhörbar kommt ein Schall gekrochen Wir halten fest An Nichts das bleibt
Alles steht hier nur zur Pacht
III. Lichtvolten
Eins in einer Milliarde Härchen auf deinem feinen Nacken Glühwurmenden in der Abendstunde wenn du auf den Schindeln kniest Der Winkel stimmt
Faltergleich hebt und senkt ein Sonnenwind die neuen Flügel
Der Tag verebbt in kurzen Wellen
Metall zieht sich durch Metall Du stehst frei Hand auf meinem Giebel und drehst dem Wetterhahn eine Zauberformel in sein Ohr Iridie, Platina, lucescit!
Die Zukunft ist aus Sand gebaut mit Sonnenhonig prall die blauen Waben
Cornelia Travnicek, geboren 1987, lebt in Niederösterreich. Studium der Sinologie und Informatik, arbeitet als Researcher in einem Zentrum für Virtual Reality und Visualisierung. Für ihre literarischen Arbeiten wurde sie vielfach ausgezeichnet. 2012 erschien mit grossem Erfolg ihr Debütroman «Chucks», der 2015 verfilmt wurde. Nach dem Roman «Junge Hunde» (2015) und dem Gedichtband «Parablüh» erschien 2019 ihr erstes Kinderbuch «Zwei dabei» (illustriert von Birgitta Heiskel).
Stuart Weaver erschrak nicht, als das Licht ausging. Auch nicht, als die ersten Stöße des Bebens die Bücher aus den Regalen warfen. Er setzte sich unter einen der Schreibtische und wartete. Die nächsten Wellen erschütterten Boden und Wände, es regnete noch mehr Bücher, die Regale und Karteischränke kippten und landeten krachend auf den Monitoren und Tastaturen, den Telefonapparaten und Wasserspendern, den Druckern und Fotorahmen und Kaffeetassen. Weaver hörte die Stockwerke über sich einstürzen, ein dumpfes Grollen wie von vereistem Schnee, der über ein Dach rutscht. Alles ging sehr schnell, dann herrschte Stille.
Der erste Gedanke, den er in seinem Kopf zu fassen kriegte, war: Ich habe die Wette mit Sheldon Hoffman gewonnen. Der zweite: Gott sei Dank ist außer mir niemand im Gebäude, nicht einmal die Putztruppe. Seine Armbanduhr zeigte zwei Minuten vor drei. Er tastete nach der Taschenlampe am Gürtel, zog sie aus der Halterung und schaltete sie ein. Der Lichtstrahl durchdrang Dunkelheit und Staub und traf auf liegende Regale, verstreute Bücher und einen Bürostuhl. Alles blieb ruhig, dennoch wartete Weaver. Er versuchte, normal zu atmen, und presste die Beine zusammen, damit sie aufhörten zu zittern.
Nach einer Weile kroch er unter dem Tisch hervor und richtete sich vorsichtig auf. Er hustete, wischte die Brillengläser an der Uniformjacke ab. Die Decke war noch da, wo sie sein sollte. Er versuchte, sich den großen Lesesaal, die Bücherausleihe und die Büros über ihm in Trümmern vorzustellen, aber es gelang ihm nicht. Der Kegel der Taschenlampe erfasste eine Wand voller Plakate, Fotos und Zeichnungen. Jetzt erst wurde ihm klar, wo er sich befand: im Raum mit den Kinderbüchern. Ausgerechnet, seufzte er, und seine Stimme klang heiser und fremd. Der Tank des Wasserspenders war unversehrt geblieben. Weaver füllte einen Plastikbecher und trank ihn leer. Er wollte einen zweiten füllen, überlegte es sich aber anders. Vielleicht würde er eine Weile hier drin festsitzen, bis die Bergungstruppen ihn finden würden. Er stellte den Becher auf einen der Schreibtische und legte den Inhalt seiner Taschen daneben: ein Mobiltelefon, eine Ersatzbatterie für die Taschenlampe, ein Rapportbuch mit Bleistift, eine Brieftasche mit Ausweisen und etwas Geld, ein Hershey’s Almonds Schokoriegel, Münzen für den Kaffeeautomaten in der Eingangshalle. Er wählte Sheldon Hoffmans Nummer, dann die des Notrufs, aber es gab keinen Empfang. Wahrscheinlich waren die Sender in der Nähe zerstört, oder der Schutt über ihm ließ keine Signale durch.
Er bahnte sich einen Weg zu der Tür, durch die er gekommen war und die er korrekt hinter sich geschlossen hatte. Sie ließ sich nicht öffnen. Dahinter waren die Regale mit den Architekturbüchern umgestürzt und blockierten die Tür. Architekturbücher. Er musste beinahe lachen. Die zweite Tür konnte er einen Spalt weit aufdrücken und in den Flur hineinleuchten, der zu den Toiletten für die Angestellten und zum Treppenhaus führte. Hier versperrten gekippte Blechschränke und herabgefallene Deckenplatten den Weg. Weaver zog die Uniformjacke aus und setzte sich auf einen Bürostuhl. Hoffentlich ist Sheldon nichts passiert, dachte er. Und den anderen Nachbarn. Aber das war naiv.
Als er aufwachte, konnte er kaum glauben, geschlafen zu haben. Die Uhr zeigte elf nach sieben. Er brauchte einen Moment, um zu realisieren, was vier Stunden zuvor geschehen war. Verzweiflung erfasste ihn, aber er schüttelte sie ab, indem er sich aufrappelte und die Schubladen der Schreibtische und die Schränke durchsuchte. Außer einer Taschenlampe und mehreren Batterien fand er eine angebrochene Packung Butterkekse, eine Blechschachtel voller Pfefferminzbonbons, eine Dose mit gesalzenen Erdnüssen, eine unversehrte Tafel Schokolade, eine Flasche Eistee, eine halbe Flasche Wasser und eine Thermoskanne mit einem Rest schwarzen Kaffees. Die Bibliotheksverwaltung wusste, dass er hier war, und würde die Suche nach ihm einleiten. Man würde ihn innerhalb der nächsten vierundzwanzig Stunden finden, im schlimmsten Fall würde er zwei Tage ausharren müssen. Zu trinken hatte er genug, Kalorien würde er kaum verbrauchen.
Er warf sich ein paarmal gegen die Tür zum Flur, aber sie gab nur wenige Zentimeter nach. Er setzte sich wieder hin und rieb sich die Schulter. Ein Schluck Gin mit Sheldon wäre jetzt genau das Richtige, dachte er. Plötzlich rannen ihm Tränen über die Wangen. Er wischte sie weg und hob wahllos eines der Bücher vom Boden auf. Ein Bilderbuch. Sprechende Mäuse, Hasen in gestrickten Pullovern. Kinderkram. Er ließ das Buch fallen und griff nach einem anderen. Ein Bär als Pilot eines Heißluftballons. Das nächste voller Ferkel, die Eisenbahn fahren. Eines über das Kind einer Pfauendame und eines Truthahns, das nicht weiß, ob es Trau oder Pfruthahn ist. Ein Hundeastronaut, der auf einem von Katzen bewohnten Mond landet. Noch mehr sprechende Mäuse. Und so weiter. Weaver wurde erneut von Verzweiflung ergriffen. Er schaltete die Taschenlampe aus und legte sich wieder hin, die zusammengerollte Uniformjacke als Kopfkissen. Warum hatte ihn das Erdbeben nicht nebenan erwischt, wo die Zeitungen und Zeitschriften auslagen? Oder wenigstens bei den Geschichtsbüchern. Sogar die Belletristikabteilung wäre ihm lieber gewesen, obwohl er sich nichts aus Romanen machte. Nicht einmal als Kind hatte er Kinderbücher gelesen. Er hatte keine besessen, nie welche geschenkt bekommen. Seine Mutter hatte ihm nie vorgelesen, sein Vater erst recht nicht. Seine Eltern waren andauernd umgezogen, pachteten eine neue Farm, eine neue Autowerkstatt, eine neue Imbissbude, einen neuen Tabakladen.
Wenn Stuart Weaver es recht bedachte, hatte er gar keine Kindheit gehabt. Jedenfalls keine, an die er sich erinnern konnte. Oder wollte. Alles, was ihm aus jener Zeit im Gedächtnis haften geblieben war, waren endlose Reisen durch das ganze Land, ausgeräumte oder mit alten Möbeln vollgestellte Häuser und Wohnungen, schäbige Motelzimmer, in denen er vor einen flimmernden Fernseher gesetzt wurde, miefige Matratzen, auf denen er lag und dem ewigen Streit seiner Eltern lauschte, kaputte Traktoren, kaputte Hebebühnen, kaputte Kaffeemaschinen, aufgeschlagene Zeitungen und mit Kugelschreiber markierte Anzeigen von Leuten, die jemanden suchten, der optimistisch oder dumm genug war, einen Eisenwarenladen in Arnold, Nebraska, eine Wäscherei in Greybull, Wyoming, oder ein Bestattungsunternehmen in Lima, Ohio, zu pachten.
Zwei Stunden später begann Weaver damit, die Bücher zu sortieren. Die Bilderbücher ohne Text für die ganz Kleinen kamen auf einen Stapel, die Bilderbücher mit Text auf einen anderen. Schmale Bücher mit Illustrationen und wenig Text in großer Schrift stapelte er ebenso separat wie die Bücher, die für Kinder zwischen sieben und zwölf Jahren gedacht waren. Die Bücher für jugendliche Leser ab dreizehn bildeten am Schluss vier Türme. Zu seiner Erleichterung befanden sich darunter ein paar Werke, von denen er gehört hatte. Eines davon war Mark Twains »Ein Yankee aus Connecticut an König Artus’ Hof«, ein anderes »Wolfsblut« von Jack London. Nachdem er alle Bücher geordnet hatte, setzte er sich an einen Tisch und begann zu lesen.
aus einer von Michael Krüger herausgegebenen Anthologie mit dem Titel «Folge Deinem Traum», mit freundlicher Genehmigung des Autors
Rolf Lappert liest am Donnerstag, den 14. Januar 2021 aus seinem Roman «Leben ist ein unregelmäßiges Verb» um 19.30 Uhr im Literaturhaus Thurgau in Gottlieben. Moderation: Gallus Frei-Tomic
Rolf Lappert «Das Leben ist ein unregelmäßiges Verb», Hanser, 2020, 992 Seiten, CHF 39.90, ISBN 978-3-446-26756-5
Rolf Lappert wurde 1958 in Zürich geboren und lebt in der Schweiz. Er absolvierte eine Ausbildung zum Grafiker, war später Mitbegründer eines Jazz-Clubs und arbeitete zwischen 1996 und 2004 als Drehbuchautor. Bei Hanser erschienen 2008 der mit dem Schweizer Buchpreis ausgezeichnete Roman «Nach Hause schwimmen», 2010 der Roman «Auf den Inseln des letzten Lichts», 2012 der Jugendroman «Pampa Blues» und 2015 der Roman «Über den Winter». 2020 erscheint sein neuer Roman «Leben ist ein unregelmäßiges Verb» im Carl Hanser Verlag.
Erklären konnte ich es mir nicht. Ich nahm es hin, wie das Geräusch unseres Atems, wie das Sirren der Mücken, das Hämmern eines Spechts, das Knirschen unserer Schritte auf dem Weg. Wie die fliegenden Spinnfäden, die Tautropfen auf den Farnen, das honigfarbene Harz der Tannen (das ich nie unterließ zu berühren). Dieses Licht, das zwischen den Bäumen aufleuchtete, wenn wir lange in den Bergen blieben, tröstlich, ahnungsvoll, wie das Lodern eines Leuchtturms in der Dämmerung. Ein Fixpunkt am Horizont, der die Dunkelheit der Wälder erhöhte. Auf einer unserer Erkundungen fragte ich meinen Vater, was das für ein Licht war, und warum es immer leuchtete, wenn wir in den Bergen waren. Vater blieb stehen, zündete sich eine Zigarette an und wandte sich der dunklen Flanke der Berge zu, die jetzt so abweisend dalagen, kein Umriss einer Tanne war zu sehen, kein Weg. Auf unserer Seite zögerndes, violettes Abendlicht. Er sagte, es sei ganz einfach: Hinter diesen Wäldern sei ein Fluss, an diesem Fluss stünde ein Haus, in diesem Haus säßen zwei Freunde. Sie waren es, sie zündeten ein Licht an, weil sie die Schritte zusammenzählten, die wir am Tag gegangen waren. Es leuchtete mir augenblicklich ein. Ein Fluss. Ein Haus. Zwei Freunde, die unsere Schritte zählten.
Ich glaubte lange an diese Geschichte. Irgendwann war sie fort. Wie die mit Kartoffelstärke behandelte Bettwäsche, die mein Bruder und ich übermütig rieben, um sie wieder weich zu machen. Meine Aufpasserdienste, wenn mein Bruder sich mit einem Mädchen traf, und ich ihn danach heimlich ins Haus ließ, sobald ein Steinchen gegen die Fensterscheibe flog. Die aufgeschichteten Matratzen im Zimmer der Großmutter, die aus einer Zeit stammten, da jederzeit Gäste zu erwarten waren, und die in meiner Erinnerung bis zur Decke reichten; nur eine Handbreit bis zum Plafond. Großmutter, die erkannte, aus welchem Brunnen im Dorf wir Wasser geholt hatten, das beste Paprikasch zubereitete, und, wenn sie die Entmutigung ankam, die oberste Matratze nahm, sie auf die Terrasse schleifte und unter freiem Himmel schlief. Sie warnte uns Brüder, keine Grimassen zu schneiden, das Gesicht bliebe sonst so, und sie sagte auch, wir sollten nicht so viel trinken vor einer Mahlzeit, sonst bekämen wir Frösche im Bauch. Und an diese Frösche glaubte ich ebenso wie an die beiden Freunde.
Schönheit kann sich nicht so gut verbergen wie die Wahrheit, sagte Vater. Er sagte es, wenn wir durch die Berge streiften, und er sagte es auch, wenn er vor Mutters Bild innehielt, das auf der Kommode neben der Eingangstür stand. Ein helles Gesicht, wellige, glänzende Haare, ein gerader, schmaler Mund. Ich fragte mich, ob er mit ihr auch so wenig gesprochen hatte. Er sehnte sich am Ende jedes Arbeitstags nach der Stille der Berge. Er konnte dem unendlichen Monolog eines Vogels zuhören, und vergessen, dass jemand bei ihm war. Beneidete jeden Fels, jede Pflanze um ihr Schweigen.
Ich bin immer durch die Türen gegangen, die offen standen. Ob es die richtigen waren, weiß ich nicht. Eine Tür führte mich in den Westen. Durch eine Tür kam Julie, und durch eine andere ging sie fort. Manche Türen blieben verschlossen, zu manchen Träumen fand ich den Eingang nicht. Manche Leute sagten, ich sei klug. Andere, ich sei egoistisch. Wiederum andere hielten mich für zugänglich. Das waren allerdings Freunde. Harro lernte ich auf einer Tagung kennen. Er setzte sich neben mich, sah aus, als bräuchte er ein frisches Hemd und gute vierundzwanzig Stunden Schlaf. Wie sich herausstellte, sah er immer so aus, als hätte er nicht geschlafen, wirres Haar, blasse Haut, Ringe unter den Augen, wasserglasgroß. Dazu die eindringlichste Stimme, tief, kratzig, melodiös, und die Gabe, das, was gesagt wurde, und das, was gesagt werden würde, zusammenzufassen oder vorwegzunehmen, je nachdem. Die Wahrheit zieht es vor, sich zu verbergen. Vielleicht tut sie uns damit einen Gefallen, vielleicht hält sie uns damit bei Laune. Sie verbirgt sich in Geschichten (auch jene, die man sich selbst gern erzählt), Glaubenssätzen, Anschuldigungen – die man nicht zurücknehmen kann, wie sehr man es auch möchte. Man meint, man sei ihr als Erwachsener näher denn als Kind. Hexen ziehen aus dem Wald aus, Gespenster aus dem Schrank, Frösche mögen keine Mägen. Karla war lange Zeit mit Anlauf ins Bett gesprungen, aus der fixen Idee heraus, es könne sich jemand darunter versteckten und nach ihren Fesseln greifen. Jona behauptete, er könne sich durchs Schlüsselloch in andere Zimmer stehlen, wenn er Hausarrest hatte. Zuletzt gehen die Dinge ineinander über, wie in das Aprilabendlicht der Berge getaucht. Hell und Dunkel sind nicht so leicht voneinander zu unterscheiden, das Überflüssige rückt fort.
Ich erinnere mich, wie Vater beim Glockenläuten an den Seilen hochgezogen wurde. Wie Großmutter die Schuhe meines Bruders versteckte, damit er abends nicht aus dem Haus konnte. Wie Polizisten die Luft aus meinen Fahrradreifen ließen und die Ventile mitnahmen, weil ich Julie auf dem Lenker ausgefahren hatte. Wie ich mit Harro an einer Bar saß, wir tranken und sahen einander kaum an. Wie Jona am Flughafen vergaß, sich umzudrehen, und Karla im letzten Moment die Hand zum Abschied hob. Ich spüre, wie lahm die Zunge im Mund lag, weil sie sich in einer anderen Sprachfärbung zurechtfinden musste, und erkenne, dass ich Vater über die Jahre ähnlich geworden bin. Die Sehnsucht nach dem Wald ist groß, dem Gleißen, Glühen, Flimmern, dem Rauschen, Summen, Vibrieren, das es nur in den Bergen gibt. Leise, weil es nicht mich meint, laut genug, um die Gedanken zu besänftigen.
Ob man mit etwas davonkommt, ist fraglich. Ich warte noch immer auf das Geräusch des Steinchens an der Fensterscheibe. Großmutter liegt auf der Terrasse und sieht in den Sternenhimmel. Wenn ich die Hand ausstrecke, berührt sie den Plafond. Julie sitzt lachend auf dem Lenker. Karla und Jona verlangen eine Geschichte. Harro füllt unsere Gläser auf. Vater betrachtet die dunkle Seite der Berge und raucht. Und wenn es Abend wird, hinter den Wäldern, zünden die beiden Freunde ein Licht an und zählen meine Schritte. Deine auch?
Iris Wolff «Die Unschärfe der Welt», Klett – Cotta, 2020, 216 Seiten, CHF 30.90, ISBN 978-3-608-98326-5
Iris Wolff, geboren 1977 in Hermannstadt, aufgewachsen im Banat und in Siebenbürgen. 1985 Emigration nach Deutschland. Studium der Germanistik, Religionswissenschaft und Grafik & Malerei in Marburg an der Lahn. Langjährige Mitarbeiterin des Deutschen Literaturarchivs Marbach und Dozentin für Kunst- und Kulturvermittlung. Bis März 2018 Koordinatorin des Netzwerks Kulturelle Bildung am Kulturamt in Freiburg. Mitglied im Internationalen Exil-PEN. Lebt als freie Autorin in Freiburg im Breisgau.
Eine Auslandschweizerin hat nie frei. In ihrem Kopf vergleicht sie dauernd das Ausland mit der Schweiz. Und die Schweiz mit dem Ausland. Egal, wo sie unterwegs ist, ob in der Schweiz oder im Ausland, immer ist dieser eine Satz mit dabei: Wenn ich hier bin, ist daheim dort und wenn ich dort bin, ist daheim hier. Vor wenigen Tagen war dieser Satz noch in Paris, nun reist er mit mir durch die Schweiz.
Wenn ich hier bin, ist daheim dort und wenn ich dort bin, ist daheim hier.
«Du bist ja nirgends mehr daheim!», bemerkte vor einiger Zeit meine Tante. «Ich bin eben an zwei Orten daheim!», entgegnete ich, etwas vorschnell. Und kam dann ins Grübeln. An zwei Orten daheim fühlt sich vermutlich anders an. Dann würde sich mir das eine Daheim nicht immer entziehen, wenn ich mich ihm nähere und das andere in die Ferne rückt. Aber eigentlich bezog sich die Bemerkung meiner Tante auf den Umstand, dass sich zwischen das Hier und das Dort, zwischen die Schweiz und Frankreich, hin und wieder Arbeitsaufenthalte in Osteuropa schieben. Damals kam ich gerade von einem zweimonatigen Einsatz in Moldawien zurück. Werde ich in Osteuropa gefragt, wo ich daheim bin, dann lautet meine Antwort spontan Paris. Aber nie, wirklich nie, ohne zu präzisieren, dass das richtige Daheim in der Schweiz ist. Daheim A und Daheim B. Das ergibt zwei Daheims. Habe ich ja gesagt.
Meine Berner Freundin redet anders als ich. Sie sagt zum Beispiel «dörthie», dorthier also. «Am Mänti fahre mer of Adubode, dörthie het’s im Momänt aber o no ke Schnee», sagt sie öppe. Oder: «Ke Ahnig, was dörthie los esch.»
Ich habe mich immer lustig gemacht über das Wort «dörthie», denn entweder ist man hier oder dort, dort oder hier. Dorthier war für mich ein Unwort, ein unentschiedenes Wischiwaschi, das weder hier noch dort sein will, sich nicht festlegen mag.
Jetzt klingt das Wort ganz anders. Es ist ein eigentliches Zauberwort. Denn es vereint das Dort mit dem Hier. Dorthier. Ich kann hier sein und gleichzeitig dort. Dorthier. Ich bin nicht mehr hin- und hergerissen zwischen Heimat und Gastland. Dorthier. Das ist, kurz gesagt, der Idealzustand einer Auslandschweizerin. In Gedanken zügle ich meine beiden Daheims ins Dorthier, lasse sie zu einem verschmelzen, und sage in der Sprache meiner Freundin, dass «e dörthie dehei be».
Alexandra von Arx „Ein Hauch Pink“, Knapp Verlag, 2020, 152 Seiten, CHF 29.00, ISBN 978-3-906311-67-8
Alexandra von Arx, geboren 1972 in Olten, lebte acht Jahre in Paris, wo der vorliegende Text entstanden ist. Mitten im Lockdown erschien ihr Romandebüt «Ein Hauch Pink», gefolgt von «Hundsteinhüttenbuchrandnotizen».
wallen Sie trauen Sie sich über den weg prasseln Sie auf sich selber herunter übergehen Sie sich unterlaufen Sie ihresgleichen beflaggen Sie ihre fersen versohlen Sie sich artig wadeln und schenkeln Sie alles
vertreten Sie sich zergehen Sie sofort und entlassen Ihre anwesenheit auf der stelle unken Sie unken Sie quietschen Sie sich ganz in sich hinein
und siezen Sie sich
blüteln Sie sich voll fliedern Sie den winter zweigen Sie ab blättern Sie sich hin stammeln Sie verlauben Sie verstauben Sie treffen Sie jetzt erst Ihre vorkehrungen fallen Sie hinter sich her und über sich hin
verbarrikadieren Sie sich im vogelbauer zwitschern Sie formeln berechnen Sie seemannslieder zählen Sie geschichten
ziehen Sie sich auseinander zweifeln Sie sich heftig aus quengeln Sie sich zueinander
und siezen Sie sich
feuern Sie sich nieder erden Sie ihr werweißen wassern Sie ihr wasweissich lüften Sie sich auf und davon
dementieren Sie die elemente vierteln und sieben Sie sich durch und durch und siezen Sie sich
kaufen Sie sich ein nichtsichtgerät zweierlei käslochbohrer einen halben aubläser (bei verwunderungen) viele lustwagen und zehbrillen für alle hühneraugen
gähnen Sie ihre gedanken verlegen Sie ihre überlegungen verstauen Sie den verstand beschlafen Sie die vernunft träumen Sie sich munter
und siezen Sie sich
wringen Sie mit sich selbst gehen Sie ein schmeißen Sie sich zusammen knittern Sie sich kreuz und quer falten Sie sich bunt scheinen Sie durch und durch fad fasern Sie sich aus sich selbst heraus legen Sie sich mit sich zusammen oder hängen Sie verkehrt herum
aber siezen Sie sich
kreiden Sie sich jetzt von unten bis oben ein verschreiben Sie sich aber subito satzen Sie sich nun gänzlich ab füllen Sie die wörter und gellen Sie die silben benoten Sie die betonungen und lachen Sie pausen los
spannen Sie sich endlich verduzen Sie augenblicklich nichten Sie nichten Sie mit und siezen Sie sich siezen Sie sich gefälligst siezen Sie sich endlich
Hugo Ramnek «Die Schneekugel», Wieser Verlag, 2020, 120 Seiten, CHF 30.90, ISBN 978-3-9902937-9-9
Hugo Ramnek, geboren 1960 in Klagenfurt/Celovec, aufgewachsen in Bleiburg/Pliberk, studierte Anglistik und Germanistik in Wien und Dublin und besuchte die Schauspiel-Schule Zürich. Er lebt seit 1989 als Schriftsteller, Gymnasiallehrer und Leseperformer in Zürich. Im Wieser Verlag erschienen: «Der letzte Badegast» (2010), ausgezeichnet mit der Anerkennungsgabe der Stadt Zürich, «Kettenkarussell (2012), nominiert für den Bachmannpreis, «Momentum, Texte zu Bildern von Arno Popotnig» (2013), «Meine Ge-Ge-Generation: Eine Jukebox» (2017) und «Das Letzte von Leopold» (2019), zuletzt «Die Schneekugel. Ein Roman in Erzählungen» (2020).
Wenn die Nacht dann / fällt sind es gleich Millionen km im Quadrat Wie sollen zwei Zeilen / dies alles durchmessen mit ihren Zollstöckchen und Vers- mäßchen Wer Glück hat / hält sich an den Rand der Dateien (in den Dämmerschleifn der Ufer) hofft dort deine Lippen zu finden (um 5 Uhr morgens) : die Landmassen des Tags Wo sonst / lässt sich auf- tauchen im ersten Licht sich schütteln wie ein Hund : allem Unheil entronnen
Weiter nichts
Ein (Jänner) Tag / der hinausläuft ins Grau Wir trinken aus Leichtsinns- Tassen / ver- steckn uns hinter Kosenamen Warum nicht (alles) aufzählen die vertanen Jahre all die entglittnen / Möglichkeiten : und plötzlich alles hergeben wollen
Auf deinen Wangen Granatapfel- farbn und im Hecheln der Sekunden (Liebesschwüre) : wieder warten auf Schnee
Rien
Wir aßen zu Mittag aßen zu Abend Nichts als ein Hinhalten der Stunden
Dann irgendwann / das Zu- nachten buchstabiern lentement (Silbe für Silbe) Und dein Kopf in meinem Schoß : Nichts / nichts über die Städte zieht Rauch Flüchtig / wie alles
In die Nacht
Das Versprechen / sich nicht aus den Augen zu verliern Die Sträucher / die sich ducken im Wind Und Schnee / der auf Felder fällt (in glänzende Ackerfurchen) Weit draußen die Häuser zusammen- gedrängt
Schritt für Schritt verliern die Bilder an Farbigkeit verblassen im milchigen Licht im Flockengestöber / das übers Hirn zieht : doch noch / ist es nicht
Sepp Mall «Schläft ein Lied», Haymon, 2014, 80 Seiten, CHF 24.90, ISBN 978-3-7099-7142-0
Sepp Mall, geboren am 1955 in Graun/Südtirol, lebt und arbeitet in Meran. Autor, Lehrer und Herausgeber. Schreibt vor allem Lyrik und Romane, ist aber auch als Übersetzer sowie mit Hörspielen und Theaterstücken an die Öffentlichkeit getreten. Diverse Preise und Stipendien, u.a. Meraner Lyrikpreis 1996. Für die Arbeit an dem Gedichtband „Holz und Haut“ (2020) erhielt Sepp Mall das Grosse Literaturstipendium 2017/18 des Landes Tirol.
Im kommenden Herbst erscheint bei Haymon neu: «Holz und Haut» Gedichte.