Lika Nüssli „Vergiss dich nicht“ Graphic Novel, Vexer

Ein deutlicheres Statement für die Graphic Novel, für das bei einem Kunstbuchverlag erschienene Buch, für die Arbeit von Lika Nüssli hätte es nicht geben können. Als offizieller Schlusspunkt des 10. Wortlaut Literaturfestivals wurde in den Räumen des Kunstmuseums St. Gallen die Buchtaufe von „Vergiss dich nicht“, dem ersten Graphic Novel der Künstlerin gefeiert.

Der Vorführraum im Kunstmuseum St. Gallen war übervoll. Während einzelne Bildseiten des neuen Buches an die Wand projieziert wurden, unterhielten sich die Künstlerin Lika Nüssli und die Kuratorin des Cartoonmuseums in Basel Anette Gehrig über die Motivationen, den Entstehungsprozess, die Absichten und die Freuden der Buchentstehung. Davon, dass der Comic, die Graphic Novel für viele noch immer eine Nischensparte ist, war der Andrang der Kulturinteressierten im Untergeschoss des Museums an diesem Sonntag trotz wärmender Frühlingssonne nichts zu spüren.

Schon früh schien „Vergiss dich nicht“ unter einem guten Stern zu stehen und gewann 2016 als Projektidee das grosse Comicstipendium der Deutschweizer Städte; Bern, Luzern, St. Gallen, Winterthur und Zürich. Die Grenzgängerin Lika Nüssli, die von Bildender Kunst, Performance, Bilderbüchern für Kinder und einem grossen gesellschaftspolitischen Engagement vieles beackert, besuchte während einer langen Zeit die dement gewordene Mutter in einem Heim.

Besuche, die anfangs lange nur aus gegenseitigem Schweigen bestanden, wurden in jenem Moment, als Stift und Papier zum Raum der Begegnungen wurden zu ganz anderen Besuchen. Mit dem Zeichnen und Skizzieren wurden Mutter und Tochter zu einem Teil eines in sich geschlossenen Kosmos. Lika Nüssli begann zeichnend zu sammeln, begleitet von ihrer Mutter. So wie die Begegnungen mit der Mutter an Greifbarkeit verloren, gewann diese durch Erinnerungen, vermengt mit der gefühlten Absurdität und Surrealität einer Demenzstation.

Eindrücklich an Lika Nüsslis Auseinandersetzen mit dem langsamen Verschwinden ihrer Mutter ist die zärtliche Liebe und der Respekt, der aus dem Geschehen im Buch, den gezeichneten Welten spricht. Da ist nichts von Anklage, keine Bitterkeit, höchstens ein Anflug von Trauer. Lika Nüssli schafft eine Welt in ihrer ganz eigenen Zeichensprache, beschreibt eine Parallelwelt, Menschen, die ihre einstigen Umlaufbahnen verloren haben, entwurzelte Individuen, die wie Topfpflanzen ohne Zuwendung, Pflege und Hilfe zugrunde gehen.

Intime Szenen einer Begegnung, Geschichten von verlorener Heimat, Verdingkindern, Verlust und der Macht der Erinnerung an einem Ort der Auflösung, in einem Haus, in dem nicht nur auf Seiten der Insassen Welten, Nationen und Geschichten aneinanderstossen.

Eine Liebeserklärung an ihre Mutter, die mit jenem Satz endet, den Likas Mutter als letzten ganz über die Lippen brachte: „I nähm nomol eis, wenn‘s nomol eis gäb.“

Lika Nüssli, 1973 in Gossau SG geboren, im Restaurant Schäfli aufge­wachsen. Nach dem Vorkurs in Romanshorn, einem England­auf­enthalt und einer Ausbildung zur Textil­de­si­gnerin in Herisau studierte sie Illus­tration an der Hochschule für Design + Kunst in Luzern. Seit 2003 arbeitet sie als freischaffende Künstlerin in St.Gallen. Lika Nüssli unterrichtet im Propä­deutikum der Schule für Gestal­tung und an der Talent­schule in St.Gallen Illus­tra­tion und Zeichnen. Seit 2014 organisiert sie die Comic-Lesungen im Rahmen von WORTLAUT an den St.Galler Litera­turtagen. Im Kunstraum NEXTEX kuratiert sie eine Comicaus­stellung und eine Performans-Reihe.

Webseite Lika Nüssli

Webseite Vexer Verlag

Zora del Buono „Death valley coffee shock“

Als ich Rodriguez an der Polizeistation 70 Miles Junction ablieferte, war er schon fünf Stunden tot. Fünf Stunden sind eine lange Zeit bei der Hitze, und deshalb war ich erleichtert, als ich ihn dem Sheriff übergeben konnte. Sie haben einen Kühlraum für solche Fälle. Vielleicht klingt das jetzt ein wenig gleichgültig, aber so ist es nicht gemeint. Rodriguez war mir in den vier Tagen unseres Zusammenseins sehr nah gekommen, ich möchte sagen, wir waren Freunde. Dass ich ihn so schnell verlieren musste, bedauere ich. Und seinen toten Körper durch die Wüste zu chauffieren war grauenvoll, ich bin sicher, ich werde noch in Jahren nachts erwachen und ihn auf dem Beifahrersitz sehen, den Kopf an die Scheibe gelehnt, die kurzen Beine seltsam gestreckt, diesen kleinen Mann mit den langen Haaren, die so kräftig und glänzend waren, dass jede Echthaarperückenfirma ihm einen horrenden Preis dafür geboten hätte. Ich hatte ihm den Hut aufgelassen und auch die Brille nicht abgesetzt, weil er sie im Wachzustand stets trug, eine grün verspiegelte Pilotenbrille, ich weiss nicht, wie er das aushalten konnte, immer dieser Blick auf die Welt durch froschgrünes Glas. Das Kissen mit den Kaffeebohnen hatte ich zwischen die Scheibe und seinen Kopf geschoben, aber es war weggerutscht, so hatte ich es ihm in den Schoss gelegt und seine Hände darauf zusammengefaltet, nicht damit es aussah, als bete er, sondern damit seine Arme nicht herunterbaumelten während der Fahrt, an die in der Hitze schnell einsetzende Totenstarre hatte ich nicht gedacht vor lauter Aufregung.

Rodriguez und ich sind im selben Jahr geboren, 1961. Das stellten wir in der Bar in Veracruz, in der wir uns kennengelernt hatten, schnell fest. Man fühlt sich Menschen des selben Jahrgangs ja auf eigentümliche Weise nah, sogar dann, wenn man aus unterschiedlichen kulturellen Räumen kommt, so wie wir. Rodriguez war Mexikaner, ich bin Schweizer. Ich bin einer von jenen Männern mittleren Alters, die man in der Zürcher Altstadt in den Kneipen herumsitzen und vor den Kneipen herumstehen sieht. Einer von denen, die Zeit im Überfluss haben. Wir sehen einander alle ähnlich, leicht ergraut, die dünner werdenden Haare im Nacken etwas zu lang, die Jeans etwas zu ausgebeult, viele von uns sind Fotografen oder Schreiber oder Künstler oder Handwerker, Instrumentenbauer zum Beispiel. Fast alle rauchen wir. Solche wie mich gab es schon immer; als ich ein Kind war, sahen sie auch so aus, glaube ich mich zu erinnern, sie waren mir nie unangenehm.

T. hatte mich nach monatelangem Hin und Her mit einer SMS endgültig abserviert, der Satz lautete: Ich liebe dich nicht, wie du mich liebst; ich will eine Pause. Das mit den Pausen kennt man ja, das wird nichts mehr. Deshalb war ich nach Mexiko geflogen. Und hatte Rodriguez in der Bar kennengelernt. Ihm ging es an jenem Abend blendend, ganz im Gegensatz zu mir. Er hatte Pläne, bahnbrechende Pläne, und er teilte sie mir umgehend mit. Er wolle in die Vereinigten Staaten reisen, er habe nämlich eine Geschäftsidee. Männer wie ich haben oft Geschäftsideen, in Zürichs Kneipen stehen wir gerne am Tresen, trinken Rotwein und erzählen einander davon. Ich bin also ein grosser Freund von Geschäftsideen. Rodriguez, so erfuhr ich, besass eine bescheidene Kaffeeplantage in den Bergen hinter Veracruz, er war einer jener fünfundzwanzig Millionen Kleinbauern, die die Welt mit Kaffeebohnen versorgen, handgepflückt. Er wolle sich, so sagte er, mit seinen Bohnen von den anderen Bauern abheben, er strebe nach Höherem. Um den Marktpreis – el precio del mercado – eines Produktes anzuheben, müsse es sich von anderen durch eine gezielte Werbemassnahme unterscheiden. Und die fände er in Amerika, im Valle de la muerte, dem Tal des Todes. Ich war beeindruckt. Er wolle sich umschauen, ob er einen abgeschiedenen Platz finde, wo er seine frisch geernteten und gewaschenen Bohnen zum Trocknen auslegen könne. Dann könne er den Kaffee so nennen: Coffea arabica – Valle de la muerte. Die Idee sei ein Knaller, das müsse ich doch zugeben. Es gebe ja auch diesen schottischen Whisky, der über den Äquator geschifft werden müsse, bevor er verkauft werden dürfe. Der sei weltberühmt! Ich war wirklich beeindruckt. Und ich hatte nichts zu tun. Also begleitete ich Rodriguez auf seiner Fahrt nach Norden, drei Tage waren wir quer durch Mexiko unterwegs, ich schlief in mittelmässigen Hotels, Rodriguez auf dem Hotelparkplatz im Auto zusammengekauert, er meinte, er wolle die Kaffeebohnen nicht unbeaufsichtigt lassen. Sein Mazda war in einem beklagenswerten Zustand, zudem roch es darin eigentümlich. Die feuchten Bohnen, erklärte Rodriguez, er habe sie in Kissen und Decken eingenäht, der Grenze wegen. Er wisse nicht genau, ob Kaffeeimport legal sei, er fürchte aber eher nicht. Ich machte mir keine Sorgen, man hat ja in den Wochen, nachdem man verlassen worden ist, sowieso das Gefühl, das Leben sei am Ende angelangt. Es sind irgendwie grossartige Wochen, ich habe sie schon mehrmals durchlebt. Bei Lichte besehen war bislang immer ich derjenige, der verlassen worden ist. Und nie war ich so wagemutig wie in den aufgewühlten Zeiten danach.

Wir kamen problemlos über die Grenze. Ich wedelte mit meinem roten Pass, der Immigration Officer wurde sofort freundlich, murmelte etwas von einem Schweizer Urgrossvater, Amstutz oder so, vielleicht sprach er auch von Amsteg. Rodriguez nahm sogar für einen Moment seine Brille ab. Er hatte goldenglänzende Augen, einen liebenswürdigen Blick. Ich glaube, wir sahen vertrauenserweckend aus. Vielleicht war der Beamte auch nur müde. Auf alle Fälle ging alles sehr schnell, Grenzzaun und illegale Immigranten hin oder her. Von Douglas aus dauerte es weitere neun Stunden, bis wir unser Ziel erreicht hatten: das Death Valley.

Natürlich kannten wir die Geschichten von jenen Leuten, die vom Highway abfahren, um auf Sandpisten durch die Gegend zu holpern und dann verloren zu gehen. Man liest immer wieder davon, Gerippe, die Jahre später aufgefunden werden, Zeichen menschlichen Lebens, Wasserflaschen hinter Kakteen, ein kaputtes Handy, ein zerfledderter Personalausweis, all diese Sachen. Aber, das war ja gerade der Witz an Rodriguez’ Plan: Wir mussten eine möglichst abgelegene Stelle finden, an der er sein zukünftiges Geschäft aufbauen – oder besser gesagt: auslegen – konnte. Wir übernachteten im Amargosa Opera House, ein im Laufe der Jahrzehnte schäbig gewordenes Kulthotel am Eingang des Tals. Die Zeiten der Theateraufführungen unter der Regie einer exzentrischen Besitzerin waren längst vorbei, ausser uns war nur noch ein holländisches Paar zu Gast, sie stritten ausdauernd. Wir wollten früh schlafen, blieben aber an der Bar hängen. Nach ein paar Schnäpsen schlug ich im Scherz vor, wir sollten unsere Testamente schreiben, man wisse ja nie, Klapperschlangen und so. Rodriguez ging erstaunlicherweise sofort darauf ein, rief laut nach Stift und Papier. Echt jetzt?, fragte ich. Klar, sagte Rodriguez. Ich verzog mich an den Tisch mit der Eckbank, dachte kurz nach und setzte T. als Alleinerbin ein. Das war natürlich reine Boshaftigkeit, sie würde zwar rund zwölftausend Franken erben, hätte allerdings auch ungeheuer viel Aufwand mit den zahllosen Kleinigkeiten, die es nach einem Todesfall zu erledigen gab, zumal bei einem unordentlichen Menschen wie mir. Gleichzeitig wäre sie gerührt und würde ihr Leben lang von einem schlechten Gewissen geplagt. Zudem müsste sie sich meine Fotoalben anschauen und würde mich lieben für immer. T. war die perfekte Wahl. Bei Rodriguez dauerte das Schreiben kaum länger. Beide steckten wir die kleingefalteten Testamente in unsere Brieftaschen. Dann ging ich ins Bett und er ins Auto.

Ich kann die Geschichte hier abkürzen. Wir fanden am nächsten Tag nach langer Suche tatsächlich einen geeigneten Platz, weit abgelegen, nicht sandig, nicht steinig, nicht hügelig. Ein flaches Stück Land, im Hintergrund waren kahle Berge zu sehen. Rodriguez stürzte aus dem Auto, breitete Tücher auf dem Boden aus und riss zitternd vor Aufregung seine Kissen und Decken auf. Die Kaffeebohnen, die herauskullerten, sahen anders aus, als ich es erwartet hatte. Blass, gräulich, unspektakulär. Sie waren trocken, aber eben noch nicht sonnengetrocknet. Und die Sonne schien gnadenlos, die Hitze war wirklich grotesk. Wie lange die hier liegen müssten, fragte ich etwas bang, doch Rodriguez schwieg. Er kauerte am Boden, verteilte die Bohnen über die Tücher und streichelte sie liebevoll mit den Händen, manchmal zupfte er ein Resthäutchen ab. Vielleicht war es dieses versonnene Liebkosen, das mich derart rührte, dass ich keine spöttische Bemerkung machte; der Mann liebte seine Bohnen wirklich. Ich setzte mich in den Schatten des Autos und schaute Rodriguez nur zu, beobachtete seine rauhen Bauernhände, die plötzlich unfassbar zart zu sein schienen. Es war still, sehr still. Sämtliche Geräusche fehlten. Einmal blickte er auf und hob glückstrahlend beide Daumen. Sein Business – bisiness, wie er immer sagte – würde funktionieren.

Dann fiel er um. Rodriguez kippte einfach zur Seite. Sein Kopf stürzte auf den ausgetrockneten Boden, vom langen Haar umringt, die Brille hing ein wenig schief. Es kann kein lautes Geräusch gewesen sein, aber mir war, als ob ein Donnergrollen durch das Tal gezogen wäre, eine Art verzögerter Knall, mit einem bebenden Nachhall. Es muss die Hitze gewesen sein oder der Schock, der mein Gehirn anders arbeiten liess. Ich wusste sofort, dass er tot war. Ich schleppte ihn zum Auto und hob ihn auf den Beifahrersitz. Wir rumpelten Ewigkeiten über diese Piste zurück auf den Highway und dann direkt zur Polizeistation. Der Sheriff wunderte sich nicht sehr, ein Herzstillstand in der Wüste ist kein ungewöhnlicher Tod. Ich überreichte ihm die Brieftasche. Erst da erfuhr ich den vollständigen Namen meines Freundes: Ruben Ramón Rodriguez. Ich blickte durch das Fenster und sah, wie zwei Polizisten den Leichnam ins Gebäude trugen. Als ich mich zurückdrehte, sagte der Sheriff: Sie sind also der Alleinerbe? Was bin ich, fragte ich. Der Alleinerbe. Wir müssen das aber erst prüfen, bevor Sie den Wagen übernehmen dürfen. Ich liess mir Rodriguez’ Testament zeigen. Und tatsächlich, da stand mein Name. Und davor: mi fiel amigo. Ich war sehr bewegt.

Nun sitze ich also in dieser Ödnis in einer Polizeistation, warte und friere. Sie kühlen hier wie die Verrückten. Sobald alles geregelt ist, werde ich ins Tal des Todes zurückgehen und die Bohnen einsammeln, hoffentlich finde ich den Abzweig noch. Danach fahre ich nach Mexiko und schaue mir meine kleine Plantage an. Ich werde mit einem Kumpel in der Schweiz telefonieren, dessen Stiefbruder in einem Kaffeeladen arbeitet. Ich werde eine Werbekampagne lancieren und einen neuen Espresso auf den Markt bringen, einen höllenstarken. Er wird Coffea arabica – Valle de la muerte – limited edition Ruben Ramón Rodriguez heissen. Ja, so wird das sein.

Zora del Buono wurde 1962 in Zürich als Tochter einer Schweizerin und eines Italieners geboren. Sie studierte Architektur an der ETH Zürich und an der Hochschule der Künste Berlin und arbeitete als Entwurfsarchitektin und Bauleiterin in Berlin. Sie gehört zu den Gründungsmitgliedern von mare – die Zeitschrift der Meere und war stellvertretende Chefredakteurin. Von Zora del Buono sind in Buchform bisher die Romane „Canitz› Verlangen“ und „Big Sue“ sowie „Hundert Tage Amerika“, Aufzeichnungen einer mehrwöchigen Autofahrt von Neufundland nach Florida, die Tunnelnovelle “Gotthard”, das Baumbuch „Das Leben der Mächtigen“ und zuletzt bei C. H. Beck der Roman „Hinter Büschen, an eine Hauswand gelehnt“.

Aharon Appelfeld «Meine Eltern», Rowohlt

Im Gedenken an den grossen Autor Aharon Appelfeld, der am 4. Januar 2018 fast 86 jährig gestorben ist.

Sommer 1938, jüdische Sommerfrischler am Fluss Prut in Rumänien. Noch hält die Welt den Atem an. Noch kracht es nicht, kein Kanonenlärm, keine Bomben, dafür rumort es überdeutlich, bricht offener Hass hervor, während man sich unter Juden tröstet und beschwichtigt.

Aharon Appelfelds Roman, kurz vor seinem Tod im Dezember 2017 erschienen, ist ein Erinnerungsbuch. Eines an seine Eltern, an einen bekümmerten, pessimistischen Vater, der am Menschen zweifelt und an eine überaus fürsorgliche Mutter, die Geschichten liebt, trotz allem stets an das Gute glaubt und dem zehnjährigen Erwin, Appelfelds Protagonisten in seinem Roman, was die Juden in der Gesellschaft nach und nach verlieren.

Aharon Appelfeld selbst war im Sommer 1938 erst sechs. Das Erwin in seinem Roman «Meine Eltern» schon zehn ist, lässt erahnen, dass der Roman weit mehr sein soll als ein Erinnerungsbuch an seine leiblichen Eltern, seine wirkliche Kindheit. Aharon Appelfeld relativiert alle Fragen nach dem «Autobiographischen». «Meine Eltern» ist auch ein Erinnerungsbuch an eine verlorene Zeit. Jenen letzten, wenn auch nicht mehr wirklich heiteren Sommer, der den Übergang markiert von grossbürgerlicher Selbstverständlichkeit zu beinahe einem Jahrzehnt jüdischer Apokalypse.

Man sonnt sich im Sommer 38 in den Wiesen am Fluss. Man reitet mit geliehenen Pferden durch die Landschaft, sitzt abends vor dem gemieteten Sommerhaus und geniesst, was einem nur noch die Natur geben kann; «Frieden». Umgeben von Menschen, die genau spüren, dass eine neue Zeitrechnung begonnen hat: Karl König, ein Schriftsteller, der an seinen Fähigkeiten zweifelt. Eine Wahrsagerin, die aus den Händen die Zukunft liest der Missachtung verzweifelt. Pepi, die einmal mit einem Christen liiert war und in diesem besonderen Sommer auf Männerschau ist. Der Einbeinige, der sein Bein im letzten Weltkrieg verlor oder Doktor Zajger, der sich nur hier am Fluss vor seiner Arbeit retten kann.
Für sie alle bildet sich in diesem Sommer «ein Riss zwischen dem, was war, und dem, was kommen würde».

Selbst in den Stimmen der Bauern der Umgebung, die ihre Häuser und Pferde vermieten, sie mit Lebensmitteln versorgen, selbst jene des Kutschers, der sie zurück in die Stadt fährt; Hass, Misstrauen und Feindseligkeit.
Vater und Mutter Erwins repräsentieren den grossen Teil der damaligen unter Generalverdacht stehenden Juden: Der Vater längst säkularisiert, die Mutter eine stille, alles andere als demonstrative Gläubige. Und trotzdem schien auf allen jüdischen Gesichtern ein Blutmal zu wachsen, unauslöschlich.

Jener Sommer am Fluss wird zum Wende- und Brennpunkt. Während die einen der Depression verfallen, fröhnen die andern erst recht der Zerstreuung. Während bei den einen die Ahnung zur Gewissheit wird, entschuldigen und wischen andere jede schwarze Wolke weg.
«Meine Eltern» ist ein einzigartiges Buch, weil es die Momente beschreibt, in denen die Lunte brennt, sich das Höllengewitter zusammenbraut, die stinkende Suppe überkocht.

«Solange man noch Kaffee und Kuchen serviert, ist das ein Zeichen, dass das Leben seinen gewohnten Gang geht.»

In Büchern wie «Auf der Lichtung» oder «Tzili» beschrieb Aharon Appelfeld seine eigene Odyssee als Junge in den ukrainischen Wäldern, stets auf der Hut vor seinen Häschern, quer durch einen Krieg, quer durch einen Kontinent. «Meine Eltern» ist auch ein Erinnerungsbuch an einen verlorenen Frieden, an nie zurückgewonnene Geborgenheit. Ein zartes Buch über einen Moment der Weltgeschichte, der sich nicht grausamer hätte wandeln können.

Aharon Appelfeld, 1932 in Jadowa in der rumänischen Bukowina geboren und 2018 bei Tel Aviv gestorben, zählt zu den bedeutendsten Schriftstellern Israels und zugleich «zu den großen Erzählern Osteuropas» (Imre Kertész). Nach Verfolgung und Krieg, die er im Ghetto, im Lager, dann in den ukrainischen Wäldern und als Küchenjunge der Roten Armee überlebte, kam er 1946 nach Palästina. In Israel wurde er später Professor für Literatur. Seine hochgelobten Romane und Erinnerungen wurden in fünfunddreissig Sprachen übersetzt, auf Deutsch erschienen zuletzt «Meine Eltern», «Ein Mädchen nicht von dieser Welt» und «Auf der Lichtung». Über Aharon Appelfeld, der unter anderem mit dem Prix Médicis und dem Nelly-Sachs-Preis ausgezeichnet wurde, sagte Philip Roth: «So einzigartig wie das, worüber er schreibt, ist Appelfelds Sprache.»

Elvira Dones «Hana», ink press

Albanien, bis 1990 eine weitgehend abgeschottete Diktatur und danach ein dem Auseinanderbrechen preisgegebener Staat, existiert bis heute in den krassen Gegensätzen zwischen Städten wie Tirana und gesellschaftlich und landschaftlich abgeschnittenen Landstrichen wie der Norden. Kein Wunder halten sich dort in den Bergen, in vergessenen und von vielen verlassenen Tälern Bräuche und Traditionen, die mittelalterlich erscheinen.

«Wenn du eine Frau bist und Albanerin und eine Katholikin aus den Bergen mit deinem schuldigen und von den Kommunisten verbannten Jesus, bleibt dir nichts anderes übrig, als jenes Elend zu verdrängen. das zu schlucken sie dich gezwungen haben, während sie es dir als Leben verkauften.»

Eine dieser aus dem späten Mittelalter stammende Tradition sind «Schwurjungfrauen»: Wenn eine Familie keine Söhne hat, dann schwört eine der Töchter, sich künftig wie ein Mann zu benehmen und bis ans Ende ihrer Tage ein Mann zu bleiben. Von dem Moment an übernimmt sie / er alle Funktionen und Rollen eines Mannes und wird auch als solcher respektiert.

So wird am 6. November 1986 Hana zu Mark. Als Mädchen verlor sie ihre Eltern, wuchs bei Tante und Onkel auf. Und als ihre Tante an ihrer Herzschwäche stirbt und ein bösartiger Tumor auch das Leben ihres Onkels, des einzig übrig gebliebenen Verwandten auszulöschen droht, scheint es nur eine Möglichkeit zu geben, nach dem drohenden Tod des Onkels nicht ungeschützt zum Freiwild zu werden; eine arrangierte Heirat. Aber Hana will nicht heiraten. Sie ist 19, studiert Literatur an der Universität der albanischen Hauptstadt Tirana. Sie ist alles andere als hinterwäldlerisch. Hana fühlt sich ohnmächtig ihrer verstorbenen Tante und ihrem kranken Onkel verpflichtet. Der einzige Weg, den Besitz und das Andenken an ihre Familie nicht wie vieles andere dem Untergang und Zerfall preiszugeben, ist ein Schritt in eine andere Welt, ein hoher Preis ohne Weg zurück. Das ländliche Albanien ist eine archaische Gegend, ein Land in Traditionen und Sitten gefangen, nicht zuletzt im Würgegriff von Blutrache, die ganze Teile von Familien, vornehmlich die Männer, zwingt, im Verborgenen zu leben.

Aber Hana ist auch nach einem Jahrzehnt als Mark nicht vergessen. Eine Cousine, die wie viele andere mit ihrer Familie auswanderte und in den USA eine neue Existenz aufbaute, schreibt Hana Briefe. Und im Oktober 2001, fast 15 Jahre nach der ersten Metamorphose, beginnt der langsame Weg vom kettenrauchenden, trinkfesten Mark zurück zu Hana, der nur in grösstmöglicher Distanz von ihrer Heimat die zweite Metamorphose gelingen kann. Wieder eine Verwandlung, mit der sie alles verlieren kann und wieder aufnimmt, was sie einst für immer ablegte.

Elvira Dones ist ein äusserst feinfühliges Buch gelungen. Ein Roman, der alles andere als reisserisch eine Geschichte von einem eingeschlossenen Leben zwischen den Geschlechtern erzählt. Von unumkehrbar scheinenden Situationen, der Häutung mit einer vieltausend Kilometer weiten Flucht, nicht leichter wird. Elvira Dones schrieb nicht einfach eine Reportage, sondern ein zartes Porträt einer mehrfachen Wandlung, eine Geschichte im krassen Gegensatz zwischen Albanien und den USA. So sehr Tradition und Sitten das sind, was die Verbleibenden in den Bergen Albaniens zusammenhält, so weit weg droht sich Hana in der Anonymität der US-amerikanischen Gesellschaft zu verlieren. Nur Familie, genau jene Bande, die sie in Albanien zum Mann, zur Schwurjungfrau werden liess, hilft ihr, in der absoluten Fremde zu sich selbst zurück. Ein ganz besonderer Entwicklungs- und Befreiungsroman.

Im Mai 2018 erscheint von Elvira Dones bei ink press «Kleiner sauberer Krieg»:
Kosovo-Krieg: 24. März 1999, Einsatz der Nato: 1. Luftangriff, bis 12. Juni 1999, Pristina. Die Bomben regnen auf Pristina, die Stadt ist von Serben umgeben, niemand bewegt sich. Rea, Nita und Hana, drei junge Frauen, stecken in einer Wohnung fest und warten: Kein Strom, kein Wasser, kein Telefon. Im Fernsehen schaut die ganze Welt diesem kleinen sauberen Krieg zu. Leben oder sterben, es spielt keine große Rolle. Elvira Dones gibt ihren drei Protagonistinnen eine Stimme, um das erste Mal den Kosovo-Krieg aus der Sicht der Frauen zu erzählen.

Elvira Dones ist eine schweizerisch-amerikanische Schriftstellerin und Dokumentarfilmerin albanischer Herkunft. Nach sieben Romanen in ihrer Muttersprache hat sie die zwei aktuellsten in ihrer adoptierten Sprache Italienisch geschrieben: «Verine giurata» (2007) und «Piccola guerra perfetta» (2011). Ihre Bücher sind in verschiedene Sprachen übersetzt.
Laura Bispuris Debütfilm «Vergine giurata/Sworn Virgin», basierend auf «Hana» und mit Alba Rohrwacher als Hauptdarstellerin, wurde an der Berlinale 2015 uraufgeführt und u.a. in New York, San Francisco und Hongkong ausgezeichnet. «Hana» ist ihr erster Roman auf Deutsch.
Adrian Giacomelli geboren 1981, lebt und arbeitet als Übersetzer, Autor und freier Künstler in Frankfurt am Main.

 

John Burnside „Ashland & Vine“, Knaus

Ich hörte John Burnside an der BuchBasel 2017 im vergangenen November zum ersten Mal. John Burnside ist ein schottischer Bär. Ein Mann, dessen Leben sich in sein Gesicht und in seine Stimme grub. Ein Mann, dem man alles zutraut, auch den Mut, seine Geschichte irgendwo in den USA anzusiedeln, mit Themen, die die Staaten schon mehr als ein Jahrhundert umtreiben; traumatische Kriege, Rassenhass und Bürgerrechtsbewegungen, Selbstjustiz, Drogen und Gewalt.

Jean lebt zurückgezogen in einem viel zu gross gewordenen Haus mit Zimmern, die sie längst nicht mehr bewohnt, in denen Geschichten, Erinnerungen eingeschlossen sind. Sie ist alt geworden, hackt Holz vor ihrem Haus, nicht nur, um Brennholz für den Winter zu bekommen. Ihr Leben ist am Ende. Was sie lebendig bleiben lässt, ist das stille Erinnern im Takt der Axt.

Kate ist jung, meist von Alkohol zugedröhnt oder masslos verkatert. Sie lebt bei Lauritz, einem Dokumentarfilmer, der sie in lichten Stunden durch die Aussenbezirke der Stadt schickt auf der Jagd nach Geschichten. Bis sie, obwohl die Adresse nicht auf Lauritz Liste steht, in Jeans Garten steht und die beiden Frauen ins Gespräch kommen. Jean macht Kate ein Angebot. Bleibt diese von nun an trocken, trinkt keinen Alkohol mehr, erzählt Jean ihr ihre Geschichte, ihre Geschichten. Und als wäre dies der Moment gewesen, den Kate brauchte, um von der Sauferei loszukommen, aufzuwachen, bleibt sie wirklich trocken. So trocken, dass es sogar Lauritz merkt, dass mit seiner sonst so willigen Mitbewohnerin etwas passiert.

«Wenn Menschen Geschichten erzählen, lügen sie, was die Ereignisse betrifft, aber nicht über die anderen Dinge, da lügen sie nicht – zumindest nicht absichtlich.»

Dabei zeigt es sich, dass beide, die alte Jean und die junge Kate, eine Geschichte loszuwerden haben. Beide verloren ihren Vater, Kate durch den Alkohol und Jean durch einen ungesühnten Mord an der Kreuzung «Ashland and Vine». Beide Frauen schleppen Geschichten mit sich herum, von denen sie sich nur distanzieren können, wenn sie erzählt sind, geteilt. Erst erzählt, ergeben Geschichten einen Sinn. Beide tragen Geheimnisse mit sich herum, deren Last sie niederdrückt, verunmöglichen, ein befreites Leben zu führen. Beide sind nicht nur verwundet, sondern jede auf ihre Art allein gelassen, zurückgelassen. Beide von ihren Liebsten, die ihnen am meisten bedeuteten, verlassen.

Jean wartet auf den Tod. Dass Kate in ihrem Garten erschien, war wie ein Zeichen und eine letzte Chance, vielleicht doch noch mit den Gespenstern aus ihrer Vergangenheit Frieden zu schliessen. Mit den «Mächtigen», die hinter dem Mord an ihrem Vater nie ihr Gesicht zeigen mussten, mit ihrem Bruder Jeremy, der damals auf Seiten der Alliierten in den Krieg zog, um für sein Vaterland zu kämpfen und als Gebrochener und an der Seele Verstümmelter aus diesem Krieg zurückkehrte, mit dem Verschwinden der beiden Kinder ihres Bruders, Simon und Jennifer, beide in den Wirren des Kalten Krieges, Simon als Deserteur in Vietnam und Jennifer im bewaffneten Untergrund, abgetaucht. Und mit Lee! Lee war nicht nur Jeans Geschäftspartnerin, sondern ihre grosse Liebe, die aber einen Geck heiratete und mit der Hochzeit für immer verschwand.

John Burnside erzählt ganz behutsam aus dem Leben zweier ganz unterschiedlicher Frauen, einer jungen, die die Liebe bisher nicht finden konnte und einer alten, die sie endgültig verloren glaubt. John Burnside ist ein grosser Erzähler. Einer, der in grossen Bögen erzählt, Personen bis in ihre Feinheiten lebendig macht, der Gefühlswelten plastisch formt, einem das Personal in seinem Buch zu Freunden macht. Trotz der 400 Seiten ist «Ashland & Vine» leicht zu lesen. Burnside fesselt bis ganz zum Schluss mit der Preisgabe von Geheimnissen und lässt genauso viel verschlüsselt, um die Geschichte glaubhaft bleiben zu lassen.

John Burnside, geboren 1955 in Schottland, ist einer der profiliertesten Autoren der europäischen Gegenwartsliteratur. Der Lyriker und Romancier wurde vielfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Corine-Belletristikpreis des ZEIT-Verlags, dem Petrarca-Preis und dem Spycher-Literaturpreis.

Dana Grigorcea „Die Dame mit dem maghrebinischen Hündchen“, Dörlemann

Eine Novelle über den Beginn einer Liebe. Die transformierte Geschichte Anton Tschechows „Die Dame mit dem Hündchen“, die er 1899 schrieb, in die Gegenwart, nach Zürich versetzt. Eine zufällige Begegnung, die offenlässt, ob es ein grosser Beginn oder schon das leise Ende ist.

Ein warmer Frühlingstag am See. Hungrig nach Sonne und Wärme sitzen die Menschen in Cafés und spazieren an der Seepromenade. An einem der Tische treffen sich Anna, die Ballerina, mit ihrem Hündchen und Gürkan, der Gärtner. Sie verheiratet mit einem Arzt, er, ein Kurde, vor vielen Jahren mit seiner Familie aus der Türkei in die Schweiz gezogen. Sie beide in einer Atempause. Entgegen ihren Gewohnheiten wird aus der Zufälligkeit ein gemeinsamer Spaziergang, bei dem Anna nicht nur zuhört. Gürkan fasziniert; sein Gesicht, seine Stimme und die scheue Art, die ihn von den sonstigen Avancen anderer Männer abhebt. Anna fühlt sich hingezogen, nicht nur weil er jünger als sie zu sein scheint. Sie treffen sich wieder, immer wieder, fast jeden Tag. Gürkan entschuldigt sich für seine Küsse. Während er sich immer tiefer in den Zwist mit seinem Gewissen manövriert, treibt es Anna immer offensichtlicher hin, ihre Leidenschaft für diesen Mann in die Öffentlichkeit zu tragen. Während es Gürkan zu zerreissen droht, provoziert sie immer offensiver das Schicksal. Etwas, was auch ihr Mann spürt und die Umgebung an Ihrem Arbeitsplatz. So sehr, dass sie unverhofft zu einem vielleicht letzten Engagement als Primaballerina kommt. Noch einmal eine Hauptrolle. Gürkan droht in seinem inneren Zwist zu versinken, während der Stern Annas noch einmal alles überstrahlen soll.

Und trotzdem; Anna fragt sich „War sie denn wirklich verliebt?“ Ein Mann nur Mittel zum Zweck? Ein Spiel? Irgendwann taucht Anna am Wohnort Gürkans auf, in einer Gegend mit Wohnblöcken. Einmal provoziert sie ein Treffen mit ihm und seiner Frau auf einem Flohmarkt in seinem Wohnort. Ein Treffen, das ihr zu gefallen scheint, während es ihn in Panik versetzt.

“Die Dame mit dem Hündchen“ von Anton Tschechow ins Jetzt versetzt. Die Gewichte sind vertauscht und doch bleibt in der Novelle von Dana Grigorcea viel vom Liebreiz Tschechows Novelle. Eine Lektüre für einen Abend. Als hätte ein Musiker ein Stück neu arrangiert. Die Liebe zweier Menschen, die zur Lüge zwingt.

Herausgegeben vom Dörlemann Verlag in Zürich, einem Verlag, der sich in ganz besonderer Weise um das gute und schöne Buch bemüht. Ein Verlag, der der Novelle „Die Dame mir dem maghrebinischen Hündchen“ mit viel Mut schon jetzt das Kleid eines „kleinen“ Klassikers gibt. Mit Sicherheit ein Geschenk an die Stadt Zürich. Ein Buch wie ein Spaziergang im Frühling am See.

Dana Grigorcea liest im Rahmen der von Christian Berger und mir organisierten Lesereihe mit jungen Schweizer Autorinnen am Samstag, den 3. November 2018, 20 Uhr, im Theater 111, in St. Gallen. Für weitere Informationen klicken Sie hier.

Dana Grigorcea, geboren 1979 in Bukarest, studierte Deutsche und Niederländische Philologie in Bukarest und Brüssel. Mit einem Auszug aus dem Roman „Das primäre Gefühl der Schuldlosigkeit“ wurde Dana Grigorcea in Klagenfurt beim Ingeborg Bachmann-­Wettbewerb 2015 mit dem 3sat-­Preis ausgezeichnet. Ihr Erstling „Baba Rada. Das Leben ist vergänglich wie die Kopfhaare“ ist im Oktober 2015 ebenfalls im Dörlemann Verlag erschienen. Nach Jahren in Deutschland und Österreich lebt sie mit ihrem Mann, dem Schriftsteller Perikles Monioudis, und Kindern in Zürich.

Daniela Danz „Aber heute Nacht treffen wir uns wieder im Waldkasino“

Aber heute Nacht treffen wir uns wieder im Waldkasino und sitzen mit den rußigen Brüdern schwarz im Rauch wie eine Wand kommt der Regen herab in die Senke es geht um die Grenzen die oben auf dem Pass von den Patrouillen abgefahren werden es geht um uns unser Einsatz wird in die Loren verladen und zur Furt gebracht wo tagsüber die Passgänger sich das Wasser über den Schädel schöpfen: es gibt dieses Glitzern von Nähe und Abstand – doch das Kasino ist lang schon zerfallen und wir stehen im Dämmerlicht der Buchen nur um zu sagen: ich weiß nicht was sie hier taten die Köhler die Schmuggler und was aus uns wird wenn die
schwarzen Kübel voll sind mit Laub und Schnee und
selbst nachts das Kasino verriegelt bleibt für zwei die
zu wenig Tricks kannten etwas ins Trockne zu bringen Brombeergestrüpp überwuchert langsam den Boden

Daniela Danz wurde 1976 in Eisenach geboren und lebt in Kranichfeld. Sie studierte Kunstgeschichte und Germanistik in Tübingen, Prag, Berlin, Leipzig und Halle und promovierte über den Krankenhauskirchenbau der Weimarer Republik. Seit 2002 ist sie freiberufliche Autorin und Kunsthistorikerin. Mehrere Jahre arbeitete sie als Kunstinventarisatorin für die Evangelische Kirche in Mitteldeutschland. 2010 gründete sie die internationale Schülertextwerkstatt svolvi und bekleidet seit dieser Zeit einen Lehrauftrag an der Universität Hildesheim. Daniela Danz ist Mitglied der Akademie der Wissenschaften und Literatur Mainz und leitet seit 2013 das Schillerhaus in Rudolstadt.

Rezension von „Lange Fluchten“ auf literaturblatt.ch, ein »Roman voller Verzweiflung und Schmerz, in bildhafter, starker Sprache, mit Sätzen die sich tief einbrennen«
(Gallus Frei, Literaturblatt, 06.04.2016)

Milena Michiko Flašar „Herr Katō spielt Familie“, Wagenbach

Herr Katō ist pensioniert, aber so gar nicht im Ruhestand. Da ist sein Herz, der Druck auf seinem Brustkorb, das Schwitzen, für das er sich schämt. Das Drängen seiner Frau, sich untersuchen zu lassen und die Liste, auf der sich all die Dinge sammeln, die schon so lange zu tun wären. Bis Herr Katō auf dem Friedhof eine junge Frau trifft, die ihm ein ganz eigenartiges Angebot macht.

Milena Michiko Flašar, die mit ihrem 2012 erschienenen Roman «Ich nannte ihn Krawatte» auf der Longlist zum Deutschen Buchpreis stand und ihr unspektakuläres Buch über 100000 Mal verkaufen konnte, erzählt wieder über einen einfachen Mann. Einem Mann, der mit seiner Pensionierung aus seiner Welt fällt, dem man seine Aufgabe nahm, der sich trotz Familie und langer Ehe alleine und fremd fühlt.

Milena Michiko Flašar antwortete mir auf ein paar Fragen über ihr neustes, beim Wagenbach Verlag erschienenes Buch.

Als „Motto“ Ihres Buches stehen fünf japanische Schriftzeilen, ohne Übersetzung, wie Wortgeister. Verraten Sie, was dort geschrieben steht? Das mit den Wortgeistern finde ich sehr treffend…ohne den Sinn der Zeichen verstehen zu können, vermitteln sie dem Leser, der Leserin dennoch eine bestimmte Gestalthaftigkeit. Sie strahlen etwas aus.
Hier aber meine – zugegeben: laienhafte – Übersetzung (die Zeilen sind Teil eines Pop-Songs):
„Wie war doch gleich die Zukunft, die ich mir erträumt hatte?
Lebwohl, mein gestriges Ich.
Am Himmel Flugspuren –
wohin soll ich bloß nach Hause gehen?“

Im Roman «Ich nannte ihn Krawatte» war es die Geschichte eines jungen Mannes, der sich nach Jahren in seinem Zimmer, eines freiwilligen Einschliessens und Ausschliessens, zurück in die Welt ausserhalb seiner kleinen Welt traut. Ein gesellschaftliches Phänomen, das in Japan schon lange zu beobachten ist und jene Menschen als Hikikimori benennt, ein Phänomen, das aber längst bis in den Westen aufzuspüren ist. Im neuen Roman «Herr Katō spielt Familie» ist es der ältere Mann, pensioniert, der in den Raum zischen Türen fällt, einen bodenlosen Raum, selbst zuhause, wo seine Frau Moos von der Treppe vor dem Haus kratzt, den Raum vor den für immer verschlossenen Türen seines Arbeitsplatzes.

Die Wunde der Trennung von Arbeit, Pflicht, Aufgabe, Sicherheit und Rhythmus blutet noch stark. Eine Lebenssituation, die nicht nur in der japanischen Gesellschaft zu grosser Verunsicherung führen kann. Obwohl Sie mit Ihrem Jahrgang noch weit weg davon sind, was liess Sie Herr Katō erfinden? Die Idee vom Ruhestand, der einem dann doch keine Ruhe lässt, hat mich schon jahrelang beschäftigt, wohl weil das ja – sowohl für Jung als auch Alt – eine grundlegende Thematik ist: Womit identifizieren wir uns? Mit dem, was wir leisten? Oder gibt es da noch einen anderen Teil in uns, der – egal, wie viel wir auch leisten mögen – davon unberührt bleibt? Sehr umgetrieben hat mich u.a. auch das sog. Retired Husband-Syndrom – das späte Zeichen für einen Zusammenbruch, der eigentlich schon viel früher stattgefunden hat. Es macht die vielen nicht wieder gut zu machenden und zunächst kleinen Fehler deutlich, die in einer Ehe – aber auch in anderen Beziehungen – große Folgen haben können. 

Manchmal trifft Herr Katō auf seinen ziellosen Spaziergängen einen Obdachlosen, «den einzigen, den sie hier haben, eine Art lebendiges Denkmal», einer, dem man gibt, was man nicht mehr braucht, der einem mit kantigen Sprüchen bedient, solchen, die Herr Katō tiefer treffen, als er sich zugestehen will. Vor allem dann, wenn der Obdachlose den Zwist mit seiner Frau in seinem Gesicht zu erkennen scheint.

Sie schreiben über Herr Katōs Ehe „Die Fremdheit, die zwischen ihnen stand, sie das einzig Vertraute war, was sie miteinander verband.“ Niemand in Ihrem Buch ist dem andern wirklich nahe, nicht einmal die Kinder den Eltern. Viel mehr Nähe entsteht in Zufälligkeiten, in der Welt neben der Wirklichkeit. Wo bleibt das „Erkennen“? Das «Erkennen» ist hier ein flüchtiger Moment und passiert – paradoxerweise – nur dort, wo Herr Katō jemand anderen spielt als sich selbst, ja, es scheint fast so, als ob er im Unechten echt, im Echten aber unecht wäre. Etwas, was wir wohl alle zu einem Großteil nachempfinden können: Wie oft freuen wir uns etwa auf das Treffen mit alten Freunden und Bekannten, nur um danach festzustellen, dass wir dem anderen im Grunde kaum nahe gekommen sind? In der phantasierten Vorfreude haben wir Worte gesagt und Dinge getan, zu denen wir uns dann, aus welchem Grund auch immer, beim tatsächlichen Wiedersehen nicht aufraffen können – eine Schieflage, die uns wiederum dazu aufruft, uns in unseren Unzulänglichkeiten zu «erkennen», uns ihrer bewusst zu werden.

Und dann taucht Mie auf, die junge Frau auf dem Friedhof, die eine Agentur besitzt, die Identitäten vermittelt. «Sie sehen mir aus wie einer, der viel zu selten und viel zu wenig gebraucht wird.» Sie trifft nicht nur einen Verlorenen, sondern mitten in sein verwundetes Herz. Ein unmoralisches Angebot? Für ein paar Stunden im Dienste anderer ein paar Stunden jemand anderer sein, der gebraucht wird, in Wahrheit aber nicht zur Verfügung steht? Milena Michiko Flašar zeigt im Kleinen, was im Grossen schon längst begonnen hat. Wird es doch immer schwieriger, zwischen Fake und Wirklichkeit zu unterscheiden. Und in immer mehr Situationen ist es einfacher und leichter, sich mit dem Unwirklichen zu arrangieren.

«Wir lügen nicht, um die Wahrheit zu verfälschen, sondern um sie zu berichtigen»

Herr Katō hat sich im Leben eingerichtet, in Gewohnheiten, Mustern, Bahnen. Wer ihn aus seinen Ängsten und Befürchtungen herausreisst, ist Mie, eine beinah geheimnisvolle junge Frau, die ihn für ihre Agentur als Opa, Ehemann und Festredner an einer Hochzeit engagiert. Etwas, was es in Japan schon zu geben scheint. Aber auch etwas, was Herr Katō aufbricht, seinen Alltag in fixen Bahnen umlenkt. Die irreale Welt als Chance? Die irreale Welt könnte man eigentlich auch mit der Literatur schlechthin gleichsetzen: Wir lesen von Ereignissen, die wir so nicht erlebt haben und auch niemals erleben werden, trotzdem gelingt es uns, sie in dem Augenblick, in dem wir von ihnen lesen, als wirklich zu empfinden und uns in sie hineinzuversetzen. Eine großartige Chance: Mal aus unseren Schuhen zu schlüpfen. Ein paar Schritte in anderen zu laufen.

Herr Katō ist ein Spiesser, einer der stolz sein will, zufrieden mit sich selbst. Einer, der sich das dauernd vor Augen führen muss, der sich geflissentlich darum bemüht, Gegenstimmen zu überhören. Einer, dem es genügt, die Idee im Kopf herumzutragen, so wie die jahrelangen Reisepläne nach Paris. Der damals gekaufte Reiseführer ist längst zerlesen und zerfleddert. Aber Herr Katōs neuer Dienst in der Agentur «Happy family» bricht ihn auf. Nicht nur auf eine Reise aus seiner verkrusteten Gegenwart, auch auf eine Reise hin zur eigenen Familie.

Ihr erster Roman „Ich nannte ihn Krawatte“, die Geschichte eines Hikikimori, war schon stille Kritik an einer leistungsorientierten Gesellschaft. Ihr neuer Roman kritisiert auch, vielleicht noch leiser als ihr letzter. Mögen Sie laute Töne nicht? Dort, wo es laut ist, hört man bisweilen nichts. Die Stille aber – in ihr offenbaren sich auch die kleinsten Geräusche. Vielleicht ist es das, was ich am Leisen schätze: Dass es ein Spektrum an Untertönen zum Klingen bringt.

«Herr Katō spielt Familie» ist der leise Roman darüber, wo man leben will. Möglichst nahe an der Wirklichkeit oder möglichst nah an den Vorstellungen davon. Über uneingelöste Versprechen, nicht nur jene, die in der Vergangenheit ausgesprochen wurden, sondern auch jene, die das Leben gab. Milena Michiko Flašar erzählt unaufgeregt, fein beobachtend und mit grossem Respekt vor ihren Protagonisten. Was im Buch in Japan spielt, ist für den Westen beispielhaft. Das Herz der Autorin pocht im Herzen Herr Katos.

Milena Michiko Flašar, geboren 1980 in St. Pölten, hat in Wien und Berlin Germanistik und Romanistik studiert. Sie ist die Tochter einer japanischen Mutter und eines österreichischen Vaters. Ihr Roman Ich nannte ihn Krawatte wurde über 100.000 Mal verkauft, als Theaterstück am Maxim Gorki Theater uraufgeführt und mehrfach ausgezeichnet. Er stand unter anderem 2012 auf der Longlist des Deutschen Buchpreises und wurde in zahlreiche Sprachen übersetzt. Die Autorin lebt mit ihrer Familie in Wien.

Webseite der Autorin 

Uwe Timm „Ikarien“, Kiepenheuer und Witsch

Mitte des 19. Jahrhunderts schrieb der Franzose Étienne Cabet den Roman “Voyage en Icarie“ (Reise nach Ikarien), einen utopischen Roman, die Gesellschaft neu zu erfinden. In Uwe Timms grossem Roman „Ikarien“ reist ein amerikanischer Soldat mit deutschen Wurzeln, Michael Hansen, durch das vom Krieg geschundene Nachkriegsdeutschland auf den Spuren des deutschen Wissenschaftlers Alfred Ploetz, den Wegbereiter der Eugenik („Erbgesundheitslehre“).

Uwe Timm ist einer jener wenigen Schriftsteller, die einem ein ganzes Leben durchs Lesen begleiten können. Vom Kinderbuch (zB. „Die Zugmaus“) übers Jugendbuch (zB. „Der Schatz auf Pagensand“), Abiturlektüre („Halbschatten“), Essays (zB. „Von Anfang und Ende“) bis zu Romanen, die unauslöschlich zu einem Begleiter des Lebens wurden (zB. „Rot“). Das schaffen nur wenige. Vielleicht noch der 2017 verstorbene Peter Härtling.

Der Roman beginnt mit einer Szene, die zeigt, worum es Uwe Timm in seinem neuen Roman geht. Der Krieg ist aus. In den Strassen einer zerstörten Stadt hüpft, springt und lacht ein tapsiger Junge. Es ist Karlchen. Seine Eltern hatten ihn 12 Jahre in ihrer Wohnung versteckt. Karlchen ist ein Junge mit Down-Syndrom. Ein Kind, dass die Nationalsozialisten unter ihrem Euthanasie-Programm umgebracht hätten, dass keinen Platz gehabt hätte im arischen Herrenrassensystem des Tausendjährigen Reiches.

In einem Interview erzählte Uwe Timm, diesen Jungen hätte es so gegeben, in der Stadt Coburg, in der die Menschen nach dem Krieg aufzuwachen schienen. Aber so ungebremst die Freude des Jungen war und so gross das Staunen, dass ehemalige Parteibonzen plötzlich die Gosse wischen, so schnell fiel das Leben wieder in alte Muster zurück. Man hänselte Karlchen wieder ungeniert und einstige Parteigrössen waren zurück in wichtigen Ämtern und Positionen.
Der Stoff habe ihn während Jahrzehnten beschäftigt, nicht nur weil Alfred Ploetz der Grossvater seiner Frau sei, sondern weil ihn der Stoff seit seinem Roman «Morenga» umtreibe, der schrecklichen Geschichte deutscher Kolonialmacht in Afrika.

Michael Hansen, ein junger amerikanischer Offizier mit deutscher Herkunft, soll nach letzten regionalen Kämpfen und Scharmützeln das Archiv des 1940 verstorbenen Arztes und Begründers der Eugenik Alfred Ploetz in Sicherheit bringen und durch Befragungen herausfinden wie die Verwicklungen zwischen den Nazis und dem Rassenhygieniker Alfred Ploetz waren. Michael Hansen macht sich auf den Weg durch ein zerstörtes Deutschland, durch Landschaften, die wie Idylle trügen und Städte, in denen Menschen in Schutt und Asche hausen. Das Deutschland der grossen Dichter und Denker, das Deutschland, das sein Vater und später die ganze Familie verliess, ein Deutschland, dass für den Rückkehrer nur schwer zu verstehen ist.

“Ikarien“ erzählt auch von der Idee vieler Erneuerer im 19. Jahrhundert, neue Gesellschaftsformen, neue Arten des Zusammenlebens zu schaffen und zu formen. Der junge Alfred Ploetz war fasziniert von den Ideen des französischen Revolutionärs Étienne Cabet, der in Amerika die Gemeinde Ikarien gründete, eine Arbeits- und Lebensgemeinschaft, die nach ganz anderen Gesetzen funktionieren sollte, ein utopisches Projekt. Ploetz besuchte jene Gemeinde noch vor Ausbruch des ersten Weltkriegs, war aber enttäuscht darüber, dass das Experiment an den Schwächen der Menschen zu scheitern drohte. In ihm wuchs die Überzeugung, dass nur in einem optimierten Menschen jene Qualitäten brauchbar werden, die eine neue Ordnung sichern würde. Aus einem Idealisten wurde ein glühender Verfechter und Begründer der Rassengesetze und all ihrer fatalen Folgen. Zucht und Züchtigung als Optimierung. Nicht unerwartet erhält Uwe Timm nach der Lektüre seines Romans viele Briefe von Leserinnen und Lesern und ihren Familiengeheimnissen, die plötzlich aufbrechen.

Michael Hansen findet den ehemaligen KZ-Häftling Wagner, einen einstigen Freund und Weggefährten Alfred Ploetz und führt mit ihm Interviews. Gespräche, die klar machen sollen, wie es zu den Auswüchsen des Rassenwahns kommen konnte. Befragungen mit einem Mann, der sich Jahre lang im Keller eines Antiquariats verstecken musste, jenem Ort, an dem auch all die verbotenen Bücher während des Naziregimes ein Asyl gefunden hatten. Hansen findet aber auch eine Zwischenwelt, ein aus der Zeit gefallenes Land, verunsicherte Menschen, Frauen ohne Männer, ein Deutschland, das nach dem Endkampf nicht nur äusserlich mit seiner Zerstörung zu kämpfen hatte.

“Man muss sich im Anderen und den Anderen in sich sehen.“

Zugegeben, „Ikarien“ ist für jene gut und spannend zu lesen, die an Geschichte interessiert sind, die nicht bloss unterhalten sein wollen, die sich mit einem solchen Buch Fragen zu stellen bereit sind, die alles andere als leicht zu beantworten sind, die sich Themen stellen wollen, die schwer verdaulich sein können. Nicht zuletzt der Frage, wie man selbst reagiert hätte in einer anderen Zeit, einem anderen Umfeld, unter anderen Vorzeichen. „Ikarien“ ist ein wichtiges Buch, ein Buch, das Stellung bezieht, gegen all die Leugner und Verdreher, die als gewählte Volksvertreter wieder Politik machen, sei es in Deutschland, Österreich oder der Schweiz. Was im 19.Jahrhundert Cabel in seinem „utopischen“ Ikarien nicht schaffte, schaffte die braune Ideologie im 20. Jahrhundert nicht, denn Gesellschaft wächst nicht aus Ideen, sondern aus den Sehnsüchten des Menschen.

Alfred Ploetz ist eine Faust-Figur, jemand, der einen Homunkulus erschaffen will, alles in den Dienst der Rationalität setzt, Empathie von Wissenschaft trennt. Ein Pakt nicht mit dem Teufel, aber mit den Nazis, dem Faschismus, in der Hoffnung, dass «Erkenntnis» zum politischen Programm wird.
Aber «Eugenik» ist keine «deutsche Erfindung», sondern eine Zeiterscheinung, die schon in den USA, Schweden und Dänemark Anwendung fand.
«Optimierung», «Selbstoptimierung, «pränatale Medizin» – Parallelen zu Gegenwart!

Uwe Timm, geboren 1940, freier Schriftsteller seit 1971. Sein literarisches Werk erscheint im Verlag Kiepenheuer & Witsch, zuletzt „Vogelweide“, 2013, „Freitisch“, 2011, „Am Beispiel eines Lebens“, 2010, „Am Beispiel meines Bruders“, 2003, mittlerweile in 17 Sprachen übersetzt, „Der Freund und der Fremde“, 2005, und „Halbschatten“, 2008. Uwe Timm wurde 2006 mit dem Premio Napoli sowie dem Premio Mondello ausgezeichnet, erhielt 2009 den Heinrich-Böll-Preis, 2012 die Carl-Zuckmayer-Medaille und den Schillerpreis 2018.

Florjan Lipuš „Seelenruhig“, Jung und Jung

Florjan Lipuš ist Stilist. „Seelenruhig“ ist kein Roman, keine Erzählung und auch kein Essay. Aber Sprachkunst, solche, die man nicht so einfach in sich hineingiessen kann. Es sind Sprachbilder, um die ich mich bemühen musste, die sich nicht so einfach erschlossen. Und doch betört mich das schmale Büchlein, bettet mich ein in eine dicke Wolke aus Fabulierfreude, rätselhaften Innenansichten und der Gewissheit, dass Sprache viel mehr erzeugen kann, als blosse Wiedergabe.

In Florjan Lipuš Seele ist keine Ruhe. Und doch passt der Titel. Der grosse Kärntner begegnet den verstorbenen Seelen; seiner Mutter, seinem Vater, seiner Grossmutter. Er streift durch die Landschaft seiner Heimat, vorbei an Orten, an denen scheinbar nur noch wenig erinnert an das, was einmal unauslöschlich schien. An die Orte seiner Kindheit. Den Stein, nicht weit vom kleinen Hof seiner Eltern, auf dem sein Vater während der Arbeit auf dem Feld ausruhte. Ein Stein, der heute mitten in einem Wald Wanderer dazu einlädt, eine Rast einzulegen. Ein Stück Wald, in dem nichts mehr an den einstigen Hof, sein einstiges Zuhause erinnert. Das vergessen sein wird, wenn er, Florjan Lipuš einmal nicht mehr sein wird.

“Ein Schriftsteller, der sein ganzes Leben an ein und demselben einzigen Text schreibt.“

Florjan Lipuš schreibt gegen das schwere Erbe seiner eigenen Lebensgeschichte an. Nicht nur dass man ihm als kleiner Junge seine Mutter durch Denunziation, Folter und Mord nahm. Da lastet auch ein stummer Vater, der ihm durch sein beharrliches Schweigen nicht nur seine Fragen, sondern auch seine Antworten vorenthielt. Antworten, nach denen Lipuš auch nach 80 Jahren noch sucht. Immer und immer wieder, mit jedem seiner Bücher, und in diesem mit ganz besonderer Perspektive. Ein Buch voller Fragen an den Vater, an seine Geschichte, an in den Tod gezerrte Geheimnisse.

“Sie wusste um den Albtraum, der früher auf ihm gelastet hatte und den sie mit vereinten Kräften vertrieben hatten, eigentlich war sie es, die an die Stelle des Albs ihre Liebkosungen und ihren Liebesüberschwang eingesetzt hatte.“

“Seelenruhig“ ist ein Buch über seine Leidenschaft. Eine Leidenschaft, die schon in seinen frühen Jahren, fühlbar, spürbar und sichtbar wird. Ein Blitzen um und über ihm. Eine feinstoffliche Wahrnehmung. Er beschreibt sie so bildhaft, spürt seinen Empfindungen nach, dass er mich mitnimmt, mich während des Lesens glauben macht, diesen ganz nah zu kommen. Auch wenn es sich im Nachhinein nur als Sehnsucht erweist, es dem Autor in dieser Weise gleichtun zu können.

“Wenn wir uns der Sprache bedienen, enthüllen wir mit ihr unseren Kern, geben wir unsere Charakterfestigkeit kund, kehren wir das Innerste nach aussen.“

Ich bewundere Florjan Lipuš für seinen Mut. Einen Mut, den er selbst wohl gar nicht als solchen erkennen würde. Er tut, was er kann. Und das kann er mit jedem seiner Bücher unverwechselbarer. Wie da einer schreibt, über Leidenschaft, Lust und Zorn. In einer Art, die mich zweifeln lässt, ob ich selbst schon zu taub, zu blind, zu einfältig bin, oder das Vergessen schon alles schluckte. Zorn dann, wenn sein ambivalentes Verhältnis zur Kirche hervortritt. Die Sehnsucht nach Entschleunigung, wenn ihn eine Kirche mit Ruhe umschliesst. Und die unverhohlene Kritik über eine Kirche, die zur Selbstreflexion unfähig ist. Eine machtversessene Kirche, darüber wie sehr sie knechtet und alles andere als an der Mündigkeit ihrer Seelen interessiert ist. In diesen Passagen des Buches ist keine Altersmilde zu spüren. Sein Text geisselt und schimpft.

Zugegeben, die „Erzählung“ verlangt einem einiges ab. Aber Florjan Lipuš belohnt mich mit einer Tiefe, von der es in der aktuellen Literatur dergleichen nicht viele gibt.

Florjan Lipuš veröffentlicht auf Slowenisch Romane, Prosa, Essays, szenische Texte. Mehrere seiner Bücher erschienen in deutscher Übersetzung. Für sein Werk erhielt er zahlreiche Auszeichnungen, zuletzt den Petrarca-Preis 2011 und den Franz-Nabl-Preis 2013.

Titelfoto: Sandra Kottonau